FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Heft 107 / 2021 GEGEN VERGESSEN FÜR DEMOKRATIE Gegen Vergessen FÜR DEMOKRATIE Informationen für Mitglieder, Freunde und Förderer von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. Schwerpunktthema: Politische Umgangsformen weitere Themen: ■ Interviewmit Zeitzeugin Wendelgard von Staden ■ General Rommel und unsere Erinnerungskultur Informationen zur politischen Bildungsarbeit
EDITORIAL Liebe Freundinnen und Freunde von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.! Die Bewältigung der Corona-Pandemie stellt die wohl größte politi- das Recht systematisch nicht beachtet wird. Die teilweise emotional sche und gesellschaftliche Herausforderung für die Bundesrepublik geführte Diskussion darüber, ob sich die Verwaltungsgerichte nicht Deutschland seit ihrem Bestehen dar. Das Bündel an Maßnahmen, zu stark durch die medial vermittelten Schreckensszenarios haben mit denen Gesetzgeber, Regierung und Verwaltung auf Bundes- einschüchtern lassen, gehört ebenfalls zu einer funktionierenden und Länderebene versuchen, eine weitere Ausbreitung der Pande- Demokratie. Kontraproduktiv erscheint dagegen eine Rhetorik, die mie zu verhindern und die Zahl der Opfer zu begrenzen, reicht von sich demonstrativ nicht mehr auf die Komplexität des Gegenstan- schlichten Verhaltensempfehlungen über den Aufbau von Impfzen- des und auf sachliche Argumente einlässt. tren und die Bereitstellung von Finanzhilfen bis hin zu nächtlichen Ausgangssperren, Versammlungsverboten und Betriebsschließun- Wer mit düsterem Gestus die „Corona-Diktatur“ beschwört, wer gen. Dadurch geraten auch die Staatsstrukturprinzipien, auf denen Paragraf 5 des Infektionsschutzgesetzes, der den Erlass von Rechts- unser Gemeinwesen fußt – Demokratie, Rechtsstaat, Föderalismus verordnungen ermöglicht, als „Hindenburg-Klausel“ desavouiert, und Sozialstaatlichkeit – unter Druck. wer der „Erosion des Rechtsstaats“ das Wort redet, der will in aller Regel nicht mehr in den Austausch treten, sondern lediglich seiner In den vergangenen Monaten sind viele der getroffenen Maßnah- Wut und Enttäuschung Raum geben und Aufmerksamkeit gene- men im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit den Grundrechten und rieren. anderen verfassungsrechtlichen Vorgaben kritisch hinterfragt wor- den. Das ist notwendig in einer lebendigen Demokratie, die von der Es stellt sich aber nicht erst seit der Pandemie die Frage, wie die Kul- offenen Auseinandersetzung lebt. Das gilt gerade auch in Zeiten tur der politischen Auseinandersetzung wieder in Bahnen gelenkt der Krise. Das Grundgesetz kennt zwar viele Regeln, die es zulassen, werden kann, die ein gemeinsames Lernen und Wachsen in der auf Krisen, Notstands- und Ausnahmesituationen besonders zu re- Auseinandersetzung ermöglicht. Mit genau diesem Thema befas- agieren (vgl. z. B. Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG; Art. 11 Abs. 2 GG; Art. 35 sen sich mehrere Beiträge in der vorliegenden Ausgabe der Zeit- Abs. 2 GG; Art. 91 GG; Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG; Art. 115 Abs. 2 S. schrift. Denn gerade die Fähigkeit zu konstruktiver Kommunikation 3 GG), es stellt die Grundrechte aber nicht unter einen wie immer hält Demokratien in Krisen robust. gearteten Ausnahmevorbehalt. Als Abwehrrechte sollen diese Re- geln den Bürger gerade auch in Sondersituationen schützen. Jede Ich bin mir sicher, dass Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. in hoheitliche Maßnahme muss vor ihrem Hintergrund gerechtfertigt seiner Überparteilichkeit eine Chance hat, hier im Bereich der poli- werden. Dabei spielt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine tischen Bildung wichtige Akzente zu setzen. Als neuer Vorsitzender zentrale Rolle, der bei Prognoseentscheidungen aber nicht leicht zu freue ich mich darauf, mit Ihnen gemeinsam diese Herausforderung operationalisieren ist. anzunehmen. Wo schnell gehandelt werden muss, da werden auch Fehler ge- macht. Wenn einzelne Entscheidungen deshalb von Gerichten als unverhältnismäßig zurückgewiesen werden, ist dies allein noch kein Grund zur Beunruhigung. Denn Unrecht herrscht erst, wenn Ihr Andreas Voßkuhle Die Einschränkungen infolge des Covid-19-Virus‘ machen es notwendig, dass viele Tätigkeiten der Geschäftsstelle weiterhin im Homeoffice erledigt werden. Sie erreichen uns zuverlässig über info@gegen-vergessen.de. IMPRESSUM Herausgegeben von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V., Stauffenbergstraße 13-14, 10785 Berlin Telefon (0 30) 26 39 78-3, Telefax (0 30) 26 39 78-40, info@gegen-vergessen.de, www.gegen-vergessen.de Bankkonto: Sparkasse KölnBonn · IBAN DE45 3705 0198 0008 5517 07 · BIC COLSDE33XXX Titelgrafik: Atanassow-Grafikdesign, Dresden (unter Verwendung von Pixabay-Silhouetten) Redaktion: Liane Czeremin, Dr. Dennis Riffel, Theresa Ostertag, Thomas Stein, Dr. Michael Parak (V.i.S.d.P.) Lektorat: Ines Eifler, Görlitz Gestaltung: Atanassow-Grafikdesign, Dresden Druck: B&W MEDIA-SERVICE Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH Die Zeitschrift wird klimaneutral auf FSC-zertifiziertem Papier gedruckt. Die Herausgabe dieser Zeitschrift wurde gefördert durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Der Bezugspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Namentlich gekennzeichnete Beiträge stellen keine Meinungsäußerung der Redaktion oder des Vereins dar. Die Redaktion überlässt die Entscheidung über eine Verwendung gendergerechter Sprache den Autorinnen und Autoren. ISSN 2364-0251 2 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021
INHALT Inhaltsverzeichnis Die Themen in dieser Ausgabe SCHWERPUNKTTHEMA Rechtsstaatlichkeit und demokratische Kultur in der Krise 4 Demokratische Streitkultur für eine pluralistische Gesellschaft 7 Interview: „Die Demokratie lässt sich nicht von der Zuschauerbank aus verteidigen“ 11 WEITERE THEMEN Margot-Friedländer-Preis 14 Interview: „Wir waren entschlossen, unser Land zu einer guten Demokratie zu machen“ 16 BLOG MIGRATIONS-GESCHICHTEN.DE Der neue Blog von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. 20 Antiasiatischer Rassismus (in Zeiten von Corona) 20 ANALYSE UND MEINUNG Mit „Rechten“ reden? 22 Hitlers Lieblingsgeneral und unsere demokratische Erinnerungskultur 25 AUS UNSERER ARBEIT Vorstand wählt Andreas Voßkuhle zum Vorsitzenden 28 Radikalisierung im Netz – wie Extremisten uns im Netz manipulieren 29 RAG Mittleres Ruhrgebiet: Lernen durch Erinnern 31 RAG Münsterland: Zerreißproben, die Zeitzeugen nie vergessen konnten 33 RAG Münsterland: Die Feuer dürfen nicht größer werden 34 RAG Rhein-Ruhr-West: Integrativ wirken, nicht eskalierend 37 RAG Rhein-Ruhr-West: Zum Schutze der Republik 37 RAG Rhein Main: Erinnern in Auschwitz, auch an sexuelle Minderheiten 39 RAG Mittelhessen: Ein vergessenes Opfer der NS-Krankenmorde: 40 Marianne Krombach aus Gießen NAMEN UND NACHRICHTEN Dem heiteren Aufklärer Walter H. Pehle 43 Stefan Querl neuer Beauftragter gegen Antisemitismus in Münster 44 REZENSIONEN Vom Überleben des Herzens. Eine Annäherung 45 Gerettete und ihre RetterInnen. Jüdische Kinder im Lager Gurs 46 IMPRESSUM 2 VORSTAND UND BEIRAT 47 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021 3
SCHWERPUNKTTHEMA Andreas Voßkuhle Rechtsstaatlichkeit und demokratische Kultur in der Krise Menschen auf der ganzen Welt haben in den vergangenen Monaten mit bangem Blick in Richtung Amerika geschaut. Es lag allen deutlich vor Augen, dass die Geschehnisse dort international bedeutende Auswirkungen nach sich ziehen würden. In Europa vermittelten die unvorstellbaren Abläufe während und nach den US-Präsidentschaftswahlen eine Ah- nung davon, was auch europäischen Gesellschaften in Hinsicht auf die politische Kultur in Zukunft drohen könnte. Die Stürmung des Kapitols in Washington von aufgebrachten Anhängern Donald Trumps am 6. Januar 2021 markierte einen traurigen Höhepunkt der Missachtung demokratischer Institutionen und Verfahren in den USA. Doch auch in Europa sind sowohl die auf das Erbe der Französischen Revolution einen nachhaltigen Erfolg. Vor dem Hin- Rechtsstaatlichkeit als auch die demo- und des britischen Parlamentarismus stüt- tergrund des grausamen Krieges und des kratischen Gepflogenheiten bereits unter zen. Daneben schauten progressive Kräfte Völkermordes an den Juden beschlos- Druck geraten. So haben wir in einzelnen schon damals auf die USA, allerdings nicht sen die Mütter und Väter des deutschen EU-Staaten eine Entmachtung der Verfas- mit bangem, sondern mit bewundern- Grundgesetzes, in der neuen Verfassung sungsgerichte erlebt, und rechtspopulis- dem Blick. Vor allem die optimistischen die Demokratie und den Rechtsstaat eng tische Bewegungen bemühen sich vieler- Beobachtungen des französischen Rechts- miteinander zu verzahnen. orts zunehmend, gängige demokratische wissenschaftlers und Philosophen Alexis Spielregeln außer Kraft zu setzen. Was ist de Tocqueville „Über die Demokratie in Zusammenwirken von Rechtsstaat da geschehen, und wie können wir dem Amerika“ hatten großen Einfluss auf die und Demokratie entgegenwirken? Europäer. Die Demokratie sichert die Selbstbestim- Erfolgsgeschichte der Demokratie Auch Abgeordnete der Frankfurter Pauls- mung des Volkes, indem sie die Bildung, kirche beriefen sich bei ihrem Entwurf für Legitimation und Kontrolle derjenigen Zunächst gilt es sich bewusst zu machen, eine Verfassung unter anderem auf die Organe organisiert, die staatliche Herr- dass die Entwicklung von Demokratie 1835 erschienene Schrift von Tocqueville. schaftsgewalt gegenüber der Bürgerin und Rechtsstaat in Europa seit dem Ende Der Verfassungsentwurf der Paulskirchen- und dem Bürger ausüben. Der Rechts- des Zweiten Weltkrieges vor allem eine versammlung begründete dann eine par- staat zielt hingegen auf Begrenzung und Erfolgsgeschichte ist, die ihren Ursprung lamentarisch-demokratische Traditions- Bindung staatlicher Herrschaftsgewalt im nicht erst 1945 hatte. linie in Deutschland, die zwar mehrfach Interesse der Sicherung individueller Frei- gebrochen wurde, sich jedoch schließlich heit – besonders durch die Anerkennung Wichtige Meilensteine für diese Erfolgs- durchsetzte. Indes brachten hier erst die der Grundrechte, der Gesetzmäßigkeit geschichte haben schon die europäischen bitteren Erfahrungen mit dem Scheitern der Verwaltung und durch unabhängige Demokratiebewegungen in der Mitte des der Weimarer Republik und mit der Schre- Gerichte. 19. Jahrhunderts gesetzt. Sie konnten sich ckensherrschaft des Nationalsozialismus Diese Konzeption hat nicht nur einen der Der Sturm auf das Kapitol in Washington D.C. am 6. Januar ist zum Sinnbild für die Krise der politischen Kultur liberalsten und offensten Staaten der Welt in den USA geworden. ermöglicht, sie hat auch außergewöhnli- Foto: Tyler Merbler / flickr.com chen Wohlstand und sozialen Ausgleich befördert. In den Nachkriegsjahrzehnten setzte sich der demokratische Rechtsstaat in immer mehr Ländern durch, bis der Fall des Eisernen Vorhangs einige Beobachte- rinnen und Beobachter veranlasste, den endgültigen Sieg von Demokratie und Rechtsstaat zu verkünden und das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) aus- zurufen. Die Gewissheit der Nachkriegsgeneration und ihrer Nachfahren, auf dem richtigen Weg zu sein, ist plötzlich für viele überra- 4 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021
SCHWERPUNKTTHEMA Foto: Arne Schmidt / Konzeptautoren.de Plakate für eine Pro-Europa-Demonstration in Berlin 2017. Die Gewissheit der Nachkriegsgeneration und ihrer Nachfahren, auf dem richtigen Weg zu sein, ist plötzlich verloren gegangen. schend verloren gegangen. Dies lässt sich chologie (Stichwort: „Wutbürger“, „dif- Möllers treffend bemerkt hat: „Moralis- vielfältig begründen. Einerseits mit dem fuse Abstiegsängste“), bestimmte Gesell- mus und politische Empfindsamkeit er- rasanten sozialen Wandel, andererseits schaftsschichten zu pathologisieren. Dies setzen weder Argumente noch politische mit Krisen auf verschiedenen Ebenen: lenkt Wasser auf die Mühlen der Populis- Konflikte.“ Deshalb sollte man den Popu- etwa der internationalen Finanzkrise, der ten, die den anti-elitären Affekt gern be- lismusvorwurf sparsam verwenden. europäischen Staatsschuldenkrise, der feuern, indem sie auf eine herablassende Migrationskrise, der Klimakrise und nun Haltung des (urbanen) Akademikermilieus Auch von dem Versuch, populistischen der Corona-Pandemie. Hinzu kommen gegenüber der „normalen“ Bevölkerung Strömungen das Wasser abzugraben, in- Rückschläge in den internationalen Bezie- hinweisen. Mittlerweile haben diese po- dem man ihre Protagonisten demonstrativ hungen und das Aufkommen neuer For- pulistischen Bewegungen und Parteien aus dem demokratischen Diskurs aus- men des Terrorismus. Viele Menschen – mit ihrem Hang zu dreisten Provokatio- schließt, halte ich jenseits der durch das so die Diagnose – hat dieser andauernde nen und Lügen sowie über die intensive Grundgesetz gezogenen Grenzen wenig. Krisenmodus nachhaltig verunsichert. Nutzung digitaler Kommunikationswege In der Demokratie muss darauf geachtet eine Polarisierungsdynamik der öffentli- werden, nicht in einen moralischen Abso- chen Debatte erzeugt, der demokratische lutismus zu verfallen, der Gegenpositio- Demokratische Kultur und Akteure kaum mehr Einhalt gebieten kön- nen mit Intoleranz begegnet. Kommunikation nen. Was kann hier getan werden? An den Mühen der politischen Ebene im Die Schwierigkeiten zahlreicher Menschen Wege aus der Polarisierung Rahmen demokratischer Verfahren führt aus der Mitte der Gesellschaft, mit sozia- dabei kein Weg vorbei. Erforderlich ist lem Wandel und Krisen umzugehen, hat Zunächst sollten wir etwas Ballast abwer- eine beständige argumentative Ausein- die Politik in den vergangenen Jahren viel- fen: Schrille Töne, persönliche Angriffe, andersetzung mit einzelnen politischen leicht zu wenig beachtet. Denn hier geht vermeintliche Tabubrüche – wo die Grenze Forderungen. Gerade auch in „heiklen“ es um Bürgerinnen und Bürger, die nicht zwischen lebhafter Auseinandersetzung Politikfeldern müssen demokratische Par- offensichtlich benachteiligt sind, sondern und Verrohung der politischen Sitten ver- teien Farbe bekennen und konkrete Hand- eher unter dem Radar der öffentlichen Auf- läuft, wird immer umstritten sein. Allein: lungsoptionen aufzeigen, damit die Wäh- merksamkeit ein normales Leben leben. Fehlendes demokratisches Bewusstsein lerinnen und Wähler Alternativen haben. ist dadurch nicht zwingend indiziert. Die Statt kommunikativ auf die Bedürfnisse Demokratie des Grundgesetzes ist keine Damit kein Missverständnis entsteht: So- der Menschen einzugehen, hat sich bei „Kuschel-Demokratie“. Sie lebt von der weit es zu eindeutigen rechtlichen Grenz- einigen Akteuren eine Neigung entwi- leidenschaftlichen Auseinandersetzung, überschreitungen kommt – seien es ckelt, mit soziologischen Großdeutungen zu der auch eine kraftvolle Rhetorik und Schmähungen und Volksverhetzungen (Stichwort: „Globalisierungsverlierer“) und prägnante Zuspitzungen gehören. Oder durch einzelne Politikerinnen und Politiker, ihren Übergängen in die kollektive Psy- wie der Rechtswissenschaftler Christoph seien es Verstöße gegen demokratische » Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021 5
Foto: GVFD-Archiv SCHWERPUNKTTHEMA Politische Bildung soll kein Besserwissen vorsetzen, sondern als Empowerment verstanden werden. Hier ein Workshop zum ARGUTRAINING WIeDERSPRECHEN FÜR DEMOKRATIE. » und rechtstaatliche Spielregeln – müssen paternalistisches Besserwissen vorsetzen. Die Situation der Gesellschaften in den diese konsequent sanktioniert werden. Deshalb brauchen wir politische Bildung, USA und Europa lässt sich nicht gleichset- Das ist zuvörderst Aufgabe der staatlichen verstanden als Empowerment. zen, und auch innerhalb der EU bestehen Institutionen und der unabhängigen Ge- aus der historischen Entwicklung heraus richte. Bei dieser anspruchsvollen Aufga- Herausforderungen durch große Unterschiede im Grad der Polari- be sollte eine wache Zivilgesellschaft den Digitalisierung sierung. So haben sich in der Bundesre- Verantwortlichen beständig auf die Finger publik der über Jahrzehnte entwickelte schauen. Und wo staatliche Sicherheitsor- Eine der größten Herausforderungen bil- starke Mittelstand und eine auf Interes- gane auf europäischer Ebene durch popu- det hierbei die Verlagerung der politischen senausgleich ausgerichtete Regierungspo- listische Regierungen schon korrumpiert Diskussion aus dem Alltag – Arbeitsplatz, litik lange Zeit stabilisierend ausgewirkt. oder beseitigt worden sein sollten, müssen Sport, Freundes- und Familienkreis – in die Aber auch die deutsche Demokratie ver- die Mechanismen der Europäischen Union digitalen Netzwerke. trägt sich nicht mit der seit einigen Jah- und der Völkerrechtsgemeinschaft greifen. ren wachsenden Tendenz, Feindbilder zu Jedes Zurückweichen führt hier unweiger- Indem ihre Algorithmen zur Herausbildung schüren. Im Gegenteil: Die Anerkennung lich in den Abgrund! von „Filterblasen“ und „Echokammern“ des Anderen als gleich und frei, die Ach- beitragen, wird uns Einheit vorgespie- tung des Anderen in seiner politischen Schließlich gilt es, mit politischer Bildung gelt, wo in Wirklichkeit Vielfalt das Leben Überzeugung unter Verzicht auf einen bestehenden Fehlvorstellungen über die prägt. In den USA hat sich seit dem Auf- Absolutheitsanspruch, die Offenheit für Funktionsweise des demokratischen Pro- kommen der Tea-Party-Bewegung – also Argumentation und, wenn nötig, Kom- zesses und zu hohen Erwartungen an die schon vor Donald Trump – gezeigt, wie promiss, die Loyalität gegenüber einer ak- Politik entgegenzuwirken. Gerade das diese digitalen Mechanismen für gezielte tuellen Mehrheitsentscheidung. Auf die- Zusammenwirken von demokratischem Falschinformationen, Polarisierungen und ses demokratische Ethos ihrer Bürgerinnen Mehrheitsprinzip und der Begrenzung der den Aufbau von Feindbildern genutzt und Bürger ist die deutsche – wie jede – Macht der Mehrheit durch den Rechtsstaat werden können. Als Folge sehen wir dort Demokratie angewiesen. ■ wird in seiner Notwendigkeit landläufig heute eine gespaltene Gesellschaft, in der unterschätzt. Unser Grundgesetz will den das einst tiefe Gefühl der US-Amerikaner kritischen und informierten, vor allem aber für die Idee eines „Common Sense“ im neugierigen Bürger. Bildungsangebote Sinne ihres Gründervaters Thomas Paine sollen ihm Orientierung bieten, aber kein zu schwinden scheint. Prof. Dr. Dres. h. c. Andreas Voßkuhle ist Präsident des Bundesverfassungsgerichts a. D., Hochschullehrer und Vorsitzender von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. 6 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021
SCHWERPUNKTTHEMA Manon Westphal Demokratische Streitkultur für eine pluralistische Gesellschaft Orientierungen für die politische Bildung Unsere Gesellschaft ist von unterschiedlichen Interessen, Identitäten und Weltanschauungen geprägt. Der damit verbun- dene tiefgreifende Pluralismus ist eine gesellschaftliche Realität, die liberale Gesellschaften anerkennen müssen. Daraus ergibt sich allerdings die Herausforderung, Meinungsverschiedenheiten auszuhalten und Konflikte auszutragen. Für ei- nen erfolgreichen Umgang mit dieser Herausforderung braucht es eine Streitkultur, die demokratische Werte und Prinzi- pien lebt und pflegt. Im Folgenden wird beschrieben, warum Pluralismus, Konflikt und werden muss. Deshalb ist es aus zwei Pluralismus mit Konflikt einhergeht und es demokratische Streitkultur Gründen wichtig, über Merkmale einer so wichtig ist, sich über Merkmale einer demokratischen Streitkultur nachzuden- demokratischen Streitkultur Gedanken zu Eine demokratische Streitkultur ist insbe- ken. Erstens ist Streit nicht gleich Streit. machen. Anschließend wird ein Vorschlag sondere deshalb wichtig, weil Pluralismus Es gibt verschiedene Formen des Streitens unterbreitet, welche Merkmale eine de- nicht einfach nur harmonische Vielheit ist. und eine funktionierende Demokratie ist mokratische Streitkultur auszeichnen soll- Pluralismus birgt Konfliktpotenzial, weil auf bestimmte angewiesen. Demokrati- ten. Es werden vier Prinzipien beschrieben: Bürger*innen auf Grundlage ihrer Inter- sche Streitkultur ist ein Sammelbegriff für Dissenstoleranz, Inklusivität, Einigungsfä- essen, Identitäten und Weltanschauungen die Prinzipien demokratiefreundlicher und higkeit und Ergebnisvorläufigkeit. Welche unterschiedliche Ansprüche daran stellen, -förderlicher Streitformen. Zweitens genü- Kompetenzen brauchen Bürger*innen, wie die Gesellschaft und deren Regeln ge- gen die besten Prinzipien nicht, wenn sie um selbstbestimmt und im Sinne einer staltet sein sollten. nicht Teil der gesellschaftlichen Praxis sind demokratischen Streitkultur am Streit mit und mit Leben gefüllt werden. anderen teilnehmen zu können? Der Bei- Die Verpflichtung liberaler Demokratien trag gibt hier Impulse, welche Rolle die den Pluralismus anzuerkennen, be- Was aber sind die Merkmale politische Bildung ein- deutet, dass Streit als ein nor- einer demokratischen Streit- nehmen kann. maler, alltäglicher Modus kultur? Was heißt es, Kon- demokratischen flikte auf eine demokra- Zusammenlebens tiefreundliche Art und anerkannt Weise auszutragen? » Grafik: Atanassow-Grafikdesign, Dresden Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021 7
SCHWERPUNKTTHEMA » Prinzipien einer demokratischen Gesellschaften verändern und neue Sicht- Zugeständnisse, nicht dadurch, dass die Streitkultur weisen entstehen, während andere an Meinungsverschiedenheiten Relevanz verlieren, ist es notwendig, das überwunden werden. Ich schlage vier Prinzipien als elementare Spektrum regelmäßig anzupassen. Zwei- Weil Meinungsver- Merkmale einer demokratischen Streitkul- felsohne ist mit der so verstandenen In- schiedenheiten tur vor: Dissenstoleranz, Inklusivität, Eini- klusivität ein Ideal beschrieben, dem die in pluralistischen gungsfähigkeit und Ergebnisvorläufigkeit. politische Realität oft nicht gerecht wird. Gesellschaften Damit ist Folgendes gemeint. Machtgefälle sind allgegenwärtig und zahlreich sind und sorgen dafür, dass es für einige leichter häufig kein Konsens Dissenstoleranz: Eine demokratische Streit- ist, sich politisch Gehör zu verschaffen, gefunden wird, kann kultur lebt davon, dass Mitglieder einer Ge- als für andere. In einer inklusiven, de- der Kompromiss meinschaft gegenseitig anerkennen, dass mokratischen Streitkultur ist es aber eine wichtige sie berechtigt sind, am politischen Streit stets möglich, solche Umstände zu pro- Möglichkeit sein. teilzunehmen. Wo Andersdenkenden das blematisieren und einzufordern, dass sich Recht abgesprochen wird, für ihre Sicht- das Spektrum verändert und erweitert. Ergebnisvor- weisen einzutreten und am politischen läufigkeit: Prozess teilzuhaben, wird eine Grund- Einigungsfähigkeit: Ein drittes Merkmal Eine demo- voraussetzung demokratischen Streits einer demokratischen Streitkultur ist, kratische unterlaufen. Die Demokratietheoretikerin dass sie nicht nur unterschiedliche Mei- Streitkultur Chantal Mouffe hat diesen Gedanken da- nungen gegenüberstellt, sondern Eini- lebt davon, durch veranschaulicht, dass sie zwischen gungen ermöglicht und als wichtige po- dass die Be- Feind*innen und Gegner*innen unter- litische Leistungen wertschätzt. Politische teiligten die scheidet. Der ‚andere‘ soll nicht als ein Entscheidungen sind zwar oft Ergebnisse Vorläufigkeit Feind betrachtet werden, den es zu zer- von Mehrheitsentscheidungen, aber es getroffener Entscheidungen akzeptieren. stören gilt, sondern als ein ‚Gegner‘. Wir gibt immer wieder Situationen, in denen Demokratischer Streit ist ein fortlaufender bekämpfen seine Ideen, aber er hat das es wichtig ist, Einigungen zwischen wi- Prozess, der kein Ende findet, indem strit- Recht sie zu verteidigen. So verstanden ist derstreitenden Positionen zu erreichen. tige Fragen endgültig entschieden wer- Dissenstoleranz ein elementarer Bestand- Zum Beispiel, wenn allen Parteien der den. Das hat unter anderem mit der Wan- teil demokratischer Streitkultur: Die Ak- Streitgegenstand so wichtig ist, dass sie delbarkeit von Gesellschaften zu tun. Wo teur*innen akzeptieren den Pluralismus nicht bereit sind, eine Lösung zu akzep- sich die in einer Gesellschaft vorhandenen und die Notwendigkeit, sich mit anderen tieren, die ihre Interessen außer Acht lässt. Identitäten, Interessen und Sichtweisen Sichtweisen auseinanderzusetzen. stetig verändern, muss es auch möglich Einigung bedeutet nicht unbedingt Kon- sein, die Regeln des gesellschaftlichen Zu- Inklusivität: Ein zweites Merkmal ist Inklu- sens. Manchmal gelingt es, einen Konsens sammenlebens neu zu verhandeln. sivität. Das Spektrum derjenigen, die am zu finden. Das heißt eine Lösung, die alle demokratischen Streit teilnehmen, sollte Beteiligten für richtig halten. Wo dies nicht Kompetenzen für die Praxis einer de- nicht zu schmal sein. Es sollte alle Identitä- möglich ist, gibt es eine andere mokratischen Streitkultur ten, Interessen und Sichtweisen, die eine Möglichkeit, sich demokratische Gesell- zu einigen, Eine demokratische Streitkultur lebt da- schaft prägen, best- nämlich von, dass Bürger*innen Streit als etwas möglich abbil- indem potenziell Konstruktives erfahren und den. Weil sich man über Kompetenzen verfügen, die ihnen Kom- ein Mitwirken am demokratischen Streit promisse ermöglichen. Hier kann die politische bildet. Kom- Bildung einen wichtigen Beitrag dafür promisse ent- leisten, dass demokratische Streitkultur stehen durch verstetigt wird. Folgend werden einige wechsel- Kernkompetenzen benannt, die besonde- seitige re Aufmerksamkeit verdienen. Es handelt sich um Kompetenzen in der Kommuni- kation, der Kritik, im Konflikt und Urteil. Kommunikationskompetenzen: Eine Vor- aussetzung ist, über die eigenen Sichtwei- sen und die der anderen sprechen zu kön- nen. Dabei sollten vielfältige Kommunika- tionsformen berücksichtigt werden. Nicht nur rationale Argumentation, sondern auch Erzählungen eigener Erfahrungen 8 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021
SCHWERPUNKTTHEMA chen Situationen gibt es unterschiedliche Politische Institutionen sind zwar wichtig, Möglichkeiten zu entscheiden, wie man weil sie politische Prozesse rahmen, aber mit dem strittigen Gegenstand umgeht – Politik ist mehr. Der Prozess des Strei- oben wurden Mehrheitsentscheidungen tens sowohl in politischen Institutionen und Kompromisse als Alternativen ge- (z.B. im Parlament) als auch außerhalb nannt. Welche Konflikte auf dem einen von politischen Institutionen (z. B. in der oder auf dem anderen Weg gelöst werden Öffentlichkeit) ist ein mindestens genauso sollten, ist selbst eine politische Frage. Da- wesentlicher Bestandteil von Politik. rum gehört zu dem Set an Konfliktkom- petenzen die Fähigkeit, einschätzen und Politische Bildner*innen können Lernende aushandeln zu können, welcher Entschei- für die Bedeutung einer demokratischen dungsmodus gerade geeignet ist. Streitkultur sensibilisieren. Teilnehmen heißt nicht nur regelmäßig Stimmzettel in die Urteilskompetenzen: Streitkompetente Wahlurne zu legen, sondern sich mit An- Bürger*innen müssen mithilfe von Bewer- dersdenkenden aktiv auseinanderzuset- tungsmaßstäben fähig sein zu urteilen, wel- zen. Kompetent urteilen heißt nicht nur, che ausgeschlossenen oder an den Rand unter Parteien diejenigen zu bestimmen, gedrängten Sichtweisen es verdienen, be- die die eigenen Interessen vertreten, son- rücksichtigt zu werden. Manche tragen zu dern auch zu bewerten, wie auf der politi- einer demokratischen Streitkultur nicht bei, schen Bühne gestritten wird. sondern schädigen sie. Ein Beispiel dafür sind menschenverachtende Positionen. Der zweite Impuls: Die politische Bildung könnte Orte bieten, an denen demokrati- oder politischer Protest können wichtig Implikationen für die scher Streit ganz praktisch eingeübt wird. sein. Politische Bildung kann Bürger*in- politische Bildung Kritikkompetenzen lassen sich darüber nen darin unterstützen, unterschiedliche einüben, politischen Streit zu beobachten, Kommunikationskompetenzen auszubil- Was folgt für die Praxis politischer Bil- zu beschreiben und zu bewerten. Kon- den und vermitteln, dass es eine Band- dung? Die ausgeführten Überlegungen fliktkompetenzen bilden sich dadurch, breite an legitimen Wegen gibt, politische geben politischen Bildner*innen mindes- dass Lernende mit Andersdenkenden Anliegen zu äußern. tens zwei Impulse. streiten, Argumente für die eigene Sicht- weise anführen, die der anderen prüfen Kritikkompetenzen: Demokratischer Streit Der erste Impuls: Wenn sie Wissen über und gemeinsam nach Lösungen für Mei- kann dann möglichst gut die Vielfalt in Politik vermitteln, sollten sie dem Streit nungsverschiedenheiten suchen. Politische pluralistischen Gesellschaften einbinden besondere Aufmerksamkeit widmen. Po- Bildner*innen können Räume für demo- und auf Wandel reagieren, wenn aus- litische Bildung kann lehren, dass Streit kratischen Streit im Kleinen schaffen, in schließende Effekte bestehender Regeln nichts Negatives, sondern der (Normal-) denen Lernende sich und andere als streit- sichtbar gemacht und politisiert werden. Modus pluralistischer Gesellschaften ist. kompetent erleben. Um die Bandbreite an Das heißt, dass diese Ausschlüsse zu Ge- Streit kann produktiv für die Demo- Möglichkeiten, Streit zu führen und bei- genständen von Streit werden. Kritikkom- kratie sein, wenn zulegen, erfahrbar zu machen, könnten petente Bürger*innen sind in der Lage, er ‚richtig‘ unterschiedlich Ausschlüsse und Marginalisierungen zu geführt kontroverse identifizieren und unter Bezug auf das In- wird. Themen zum klusivitätsversprechen der Demokratie zu Gegenstand problematisieren. Welche Stimmen wer- gemacht den gehört? Welche nicht? Welche wer- werden. den an den Rand gedrängt, obwohl sie berechtigte Interessen haben? Politische Bildung kann Bürger*innen dabei unter- stützen Debatten, durch die ‚Brille‘ dieser Leitfragen zu betrachten und zu bewerten. Konfliktkompetenzen: Es ist wichtig Sichtweisen mitteilen und bestehende Debattenlagen kritisieren zu können, aber nicht hinreichend. Man muss ebenso fä- hig sein, mit Situationen umzugehen, in denen politische Konflikte aufbrechen und unterschiedliche Meinungen oder Forderungen aufeinandertreffen. In sol- » Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021 9
SCHWERPUNKTTHEMA Buchcover: GFVD » Bildet sich am Ende Konsens oder wenigs- ■ Literaturhinweise: tens ein Kompromiss? Auf diese Weise lernen Teilnehmer*innen zum einen ein Willems, Ulrich: Spektrum an Lösungen kennen. Zum an- Wertkonflikte als Herausforderung deren eignen sie sich einen Kompass an, der Demokratie, Wiesbaden 2016 mit dem sie durch die Konfliktlandschaft pluralistischer Gesellschaften navigieren Binder, Ulrich / Drerup, Johannes (Hg.): können. Demokratieerziehung und die Bildung digitaler Öffentlichkeit, Fazit Wiesbaden 2020 Pluralistische Gesellschaften brauchen eine Widmaier, Benedikt / Zorn, Peter (Hg.): demokratische Streitkultur, denn Plura- Brauchen wir den Beutelsbacher lismus geht Hand in Hand mit Konflikten. Konsens? Eine Debatte der politi- Zu den Prinzipien einer demokratischen schen Bildung, Bonn 2016 Streitkultur gehören Dissenstoleranz, In- klusivität, Einigungsfähigkeit und Ergeb- Wohnig, Alexander: nisvorläufigkeit. Politische Bildner*innen Zum Verhältnis von politischem und können demokratische Streitkompeten- sozialem Lernen. Eine Analyse von zen aktiv fördern, indem sie Wissen über mitteln und das Austragen von Konflik- Praxisbeispielen politischer Bildung, das konflikthafte Wesen von Politik ver- ten mit Lernenden praktisch einüben. ■ Wiesbaden 2017 Dr. Manon Westphal ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische The- Westphal, Manon: orie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Der Artikel ist eine gekürzte Fas- Kritik- und Konfliktkompetenz. Eine sung ihres gleichnamigen Beitrags in der neuen Publikation von Gegen Vergessen – Für demokratietheoretische Perspektive Demokratie e. V.: „Konstruktive Kommunikation in der Demokratie. Ein Baustein in der auf das Kontroversitätsgebot, politischen Bildung, Berlin 2020. in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2018, Die Broschüre kann kostenfrei in der Geschäftsstelle von Gegen Vergessen – Für Demo- 68. Jahrgang (13 – 14) kratie e.V. bestellt werden und steht auf der Homepage www.gegen-vergessen.de zum Download bereit. Anzeige Stimmen gegen das Schweigen* Die syrische Schriftstellerin Wijdan Nassif und die Anwältin * Empfohlen von Rafik Schami, die Leute dazu, das n, hören sie aber n. Die Angst lässt uns Joumana Seif geben Frauen eine Stimme, die in Gefäng- Träger des Preises „Gegen eren. Ich suche einen nissen und Folterkammern des syrischen Regimes gelitten Vergessen – Für Demokratie“ Stimmen gegen das Schweigen e Angst beherrsche, haben. Sie haben den Erzählungen der Betroffenen zu- erdrückung gibt ksal von so vielen Foto: GVFD-Archiv an uns, unseren gehört und ihre erschütternden Berichte dokumentiert. “ Nada vor allem jedem beste Mittel gegen Erstes Ziel des daraus entstandenen Buches ist es nicht, Schami die Unmenschlichkeit des syrischen Regimes zu belegen – dies haben andere bereits getan. Es geht den beiden Autor- Joumana Seif • Wejdan Nassif Joumana Seif • Wejdan Nassif innen vor allem darum, den Frauen eine Möglichkeit zu Stimmen geben, ihre Stimmen zu erheben und über ihre Erfahrun- gegen das Schweigen gen zu sprechen. uro Joumana Seif, Wejdan Nassif Stimmen gegen das Schweigen „Ich möchte das Buch jedem Hirnkost Verlag KG, Berlin 2020 sensiblen, vor allem jedem jungen Menschen empfehlen. Hardcover, 126 Seiten, 12,00 € Es ist das beste Mittel gegen die gefährliche Gleichgültigkeit.“ https://shop.hirnkost.de/ ISBN: 978-3-948675-62-2 (print) · 978-3-948675-63-9 (epub) · 978-3-948675-64-6 (pdf) Rafik Schami 10 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021
SCHWERPUNKTTHEMA Interview „Die Demokratie lässt sich nicht von der Zu- schauerbank aus verteidigen“ Christine Lieberknecht wurde im November 2020 vom Vorstand einstimmig zur neuen stellvertretenden Vorsitzenden von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. gewählt. Die ehemalige thüringische Ministerpräsidentin tritt damit die Nachfolge von Eberhard Diepgen an, der sein Amt nach 13 Jahren aus Altersgründen abgegeben hat. Im Interview berichtet sie über ihre politischen Prägungen und über die Schwerpunkte, die sie in ihrer ehrenamtlichen Arbeit für den Verein setzen will. Frau Lieberknecht, was hat Sie Foto: privat bewogen, sich nach Ihrem Rückzug aus der Thüringer Landespolitik nun bei Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. einzubringen? Demokratie verträgt kein „Ohne mich“, sie lebt von dem „Mit mir“, so hat es sinngemäß unser erster Bundespräsident Theodor Heuss einmal formuliert. Es ge- hört zu meiner Lebenserfahrung, dass sich die Demokratie von der Zuschau- erbank aus nicht gewinnen und auch nicht verteidigen lässt. Verteidigt wer- den muss sie aber, und zwar jeden Tag immer wieder neu. Dabei sind für mich die Lehren aus den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund meiner eigenen Familienge- schichte, besonders wichtig. Christine Lieberknecht. Sie sind in Weimar geboren und leben Gegensätze auf so engem Raum haben re veranstaltet und Gespräche mit den auch heute noch in dieser Region. mich seit meiner Jugend beschäftigt. Einwohnern von Hottelstedt initiiert, die Es gibt kaum eine mittelgroße Stadt sich in den 1980er Jahren noch an vieles in Deutschland, die über Jahrhunder- Als Gemeindepfarrerin waren Sie im Zusammenhang mit dem Konzentra- te hinweg so sehr mit der wechsel- in den letzten Jahren der DDR für tionslager erinnern konnten. Sie waren haften deutschen Geschichte und das Gebiet zuständig, auf dem die Zeitzeugen. Im ehemaligen Konzentra- Kultur verwoben war wie Weimar. Gedenkstätte Buchenwald liegt. tionslager und dessen Umgebung habe Wie hat die Geschichte der Stadt Welche Bedeutung hatte dieser ich Führungen veranstaltet und damit Ihr Denken beeinflusst? Umstand für Ihre tägliche Arbeit? versucht, den ausschließlich auf den An- Ich habe, abgesehen von meiner Studien- Wenn man es historisch genau nimmt, tifaschismus der DDR gerichteten Blick zeit in Jena, mein ganzes Leben im Wei- dann ist das Konzentrationslager auf al- zu erweitern. Das alles hat mich geprägt. marer Land, also unmittelbar „vor den ter Hottelstedter Flur errichtet worden. Toren der Stadt“ gelebt, bis heute. Meine Hottelstedt war ein Filialort meines Pfarr- Der Pfarrer Paul Schneider, Mitglied Großeltern kamen vor dem Ersten Welt- amts. Die Hottelstedter Bauern mussten der Bekennenden Kirche, wurde krieg aus Hannover und Darmstadt nach für die Errichtung des Lagers ihr Land ver- bereits vor Ausbruch des Zweiten Weimar, um dort Kunst zu studieren. kaufen oder wurden zwangsenteignet. Weltkrieges in Buchenwald ermordet. Später waren sie dem Bauhaus verbun- Später wurde das Lager territorial nach Er hätte damals sein Leben wahr- den. Sie hatten fünf Söhne, von denen Weimar eingegliedert. Ich war also nicht scheinlich retten können, wenn er drei den Krieg nicht überlebten. Gleich- im rechtlichen Sinne für dieses Gebiet sich den Bedingungen des Regimes zeitig ist Weimar als Stadt der deutschen zuständig, habe mich aber moralisch in gebeugt hätte. Was haben Sie aus Klassik, von Kunst und Kultur, nicht mehr der Pflicht gesehen. Mich haben das un- der Biografie von Schneider mitge- zu denken ohne die Barbarei des natio- erschrockene Auftreten des „Predigers nommen, der als unbeugsamer nalsozialistischen Konzentrationslagers von Buchenwald“ und sein Widerstand „Prediger von Buchenwald“ galt? auf dem Ettersberg nur wenige Kilometer gegen den Nationalsozialismus sehr in- Diese Frage hat mich während meiner von der Stadt entfernt. Diese extremen teressiert. Ich habe dazu Jugendsemina- pfarramtlichen Tätigkeit sehr berührt. » Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021 11
SCHWERPUNKTTHEMA » Nicht nur am Beispiel von Paul Schnei- formationszeit sind für Sie heute feste Überzeugung von der Notwendig- der, auch in der Auseinandersetzung noch von besonderer Bedeutung? keit des eigenen Protestes helfen, Angst mit Dietrich Bonhoeffer habe ich mich Im Spätsommer und beginnenden Herbst zu überwinden und für die eigene Mei- immer wieder gefragt: Wäre auch ich 1989 ging es zunächst um eine Demo- nung offensiv einzustehen. bereit, für meine Überzeugungen einzu- kratisierung der DDR, um mehr und stehen, selbst wenn ich dafür mit mei- vor allem echte Beteiligung am gesell- Wie kann man diese Erfahrungen nem Leben bezahlen müsste? Ich denke, schaftlichen Leben, um Mitbestimmung heutigen Schülern vermitteln, die erst diese Frage lässt sich am Ende nur in der aus den Vorstellungen und Gedanken nach der Friedlichen Revolution gebo- jeweiligen ganz konkreten Situation be- der Menschen heraus und nicht länger ren wurden und die Geschichte nicht antworten. Die Erfahrung, dass es auch nach den Maßgaben der SED-Diktatur. mehr aus eigenem Erleben kennen? bei mir im Verlauf des Herbstes 1989 Wir wollten uns die Chance auf ein frei- Die Erfahrung mangelnder Partizipati- den Moment der Bereitschaft gab, per- es Leben in einer freien Gesellschaft, in onsmöglichkeiten gehört auch heute sönliche Risiken einzugehen und nicht Demokratie und Rechtsstaatlichkeit er- zum Alltag vieler Lernenden, auch wenn mehr zurückzuweichen, habe ich erlebt. streiten. Hunderttausende DDR-Bürger die Situation nicht mit der DDR-Diktatur Wie später durch die Aufarbeitung der kehrten damals der DDR den Rücken vergleichbar ist. Auch haben junge Men- Unterlagen der Staatsicherheit bekannt und wählten den Weg der Ausreise. schen ein feines Gespür für mangelnde wurde, waren die Internierungslager für Ich gehörte zu denen, die sagten: Wir Wahrhaftigkeit oder gar Unwahrheiten. die Aktiven des Herbstes 1989 in der müssen hier etwas verändern. Ob das Eine Motivation zum Engagement für die DDR vorbereitet. Zum Glück ist die Ge- gelingen würde, war allerdings sehr Friedliche Revolution ist heute nicht we- schichte anders verlaufen und wir haben fraglich. Trotzdem versuchten wir es – niger dringend als damals, nämlich die eine bisher einzigartige Friedliche Revo- und waren erfolgreich. Meine Lehren: Forderung nach „Gerechtigkeit, Frieden lution erleben dürfen. Ein Staat, der auf Dauer seinen Bürgern und Bewahrung der Schöpfung“. Diese die Partizipation verweigert, wird die damaligen Sorgen betreffen auch heute Sie waren im September 1989 eine Unterstützung durch seine Bürger ver- junge Menschen ganz unmittelbar. der Unterzeichnerinnen des „Briefes lieren. Unwahrhaftigkeit und Lügen der aus Weimar“, in dem die DDR-Block- Regierenden werden früher oder später Was hat Sie damals veranlasst, partei CDU aufgerufen wurde, die immer entlarvt werden. Die Menschen Ihr Gemeindeamt abzugeben und Kooperation mit der SED zu beenden. solidarisieren sich gegen die Machtha- in die Politik zu gehen? Welche Erfahrungen aus der Trans- ber. Gemeinschaft mit anderen und die Ja, das ist eine ganz eigene Geschichte. Eine politische Karriere hatte ich damals Der Bahnhof von Weimar im „Bauhaus-Jahr“ 2019. Die Stadt steht für die deutsche Klassik, das Bauhaus und die überhaupt nicht in meiner Lebensplanung erste deutsche Demokratie. Aber nur wenige Kilometer entfernt wurde in der NS-Zeit das Konzentrationslager gehabt. Es gehört wohl zu den Eigenhei- Buchenwald eingerichtet. Diese Gegensätze auf engem Raum haben Christine Lieberknecht früh beschäftigt. ten von Revolutionen, dass man hinterher an Schreibtischen arbeitet, vor die man Foto: Archiv GVFD vorher nicht einmal hätte treten dürfen (lacht). Schließlich konnten mich die Mit- streiter in meiner Partei davon überzeu- gen, als „Reformerin“ aus den Reihen der Friedlichen Revolution in der neu gewonnenen Demokratie nun auch po- litische Verantwortung zu übernehmen. Sie haben in der thüringischen CDU schnell Karriere gemacht und wurden 1990 gleich Ministerin. In der ersten Legislaturperiode waren Sie die ein- zige Frau im Kabinett. War das eine harte Schule? Wenn Sie mediale Betrachtungen über den politischen Start von 1990 lesen, dann ist da von „Laienspielerschar“ und „das hält nicht bis Weihnachten“ die Rede. Für mich sind daraus fast drei Jahr- zehnte hauptamtliche Politik geworden. Doch der Anfang war hart, ohne Frage. Tage mit 16 bis 18 Arbeitsstunden wa- ren die Regel. Und als einzige Frau im Kabinett brauchte ich schon einiges an Durchsetzungsvermögen. 12 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021
SCHWERPUNKTTHEMA Foto: Claus Bach, Sammlung Gedenkstätte Buchenwald Das Arrestgebäude auf dem Gelände der Gedenkstätte Buchenwald. Hier wurde Pfarrer Paul Schneider über ein Jahr lang in Einzelhaft eingesperrt und misshandelt. Was würden Sie aus diesen Erfahr- Welche Themen und welche Ansätze mahnend in die Wunde lege: Wehret den ungen heraus jungen Frauen heute sollten aus Ihrer Sicht in den kommen- Anfängen. Und natürlich bedeutet unser raten, die in die Politik gehen den Jahren für Gegen Vergessen – globales und digitales Zeitalter nicht au- möchten? Für Demokratie e.V. eine zentrale tomatisch mehr Demokratie. Wir haben Ich würde sagen: Liebe junge Frauen, Rolle spielen? alle Hände voll zu tun. Wir brauchen viel ihr seid hier genau richtig. Habt Mut Jede Generation hat ihre eigene Zeit und klugen Geist und viele aktiv Mitwirkende, und zeigt Durchsetzungsfähigkeit. Na- muss ihre Erfahrungen machen. Dennoch um die rasanten Veränderungen überall türlich müsst ihr überzeugt sein von eu- ist es Verantwortung und Pflicht der Äl- um uns herum demokratisch gestalten zu rer Sache. Und ihr müsst die Menschen teren, auf die Lehren unserer Geschichte können. „Demokratie in unserer globalen mögen. Dann schafft ihr es auch, die aufmerksam zu machen. Es ist an uns, Welt“ und „Demokratie und Digitalisie- notwenigen Mehrheiten für politische den Bogen von Erlebnissen in einer Dikta- rung“ – das sind zwei Mega-Themen, de- Mandate und für politisches Gestalten tur in die Alltagswelt von heute zu schla- nen ich mich stellen möchte. ■ zu bekommen. gen. Da gibt es Situationen, in denen Gefahr im Verzug ist und ich den Finger Die Fragen stellte Liane Czeremin. Ein herzliches DANKESCHÖN geht an alle Spenderinnen und Spender unseres Aufrufes vom Dezember 2020. Ihre Hilfe in Höhe von insgesamt 16.211,08 EUR Wir bedeutet eine großartige Unterstützung der Arbeit unserer Regionalen Arbeitsgruppen. sagen Damit können wir einen Teil der pandemie- bedingen Einnahmeausfälle ausgleichen. Danke! Ihr / Euer Andraeas Dickerboom Dr. Michael Parak Sprecher der Regionalen Arbeitsgruppen Geschäftsführer Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021 13
WEITERE THEMEN Esther Spicker Wie jugendpartizipatives Engagement in der postmigrantischen Erinnerungskultur gelingt Ein solches Jugendgremium ist die „Junge Jury“, die bei der Vergabe des Margot- Friedländer-Preises der Schwarzkopf-Stif- tung Junges Europa mitentscheidet. Be- nannt nach der Zeitzeugin und Holocaust- Überlebenden Margot Friedländer ruft der Preis seit 2014 Jugendliche dazu auf, sich mit dem Holocaust, seiner Zeug*in- nenschaft, seiner Überlieferung und sei- nen Spuren bis in die Gegenwart in inter- aktiven Projekten auseinanderzusetzen. Ziel ist es, die Erinnerung an die Verbre- chen des Nationalsozialismus auch in den jüngeren Generationen lebendig zu hal- ten und junge Menschen dabei zu unter- stützen, sich gegen heutige Formen von Antisemitismus, Antiziganismus und an- dere Formen rassistischer Ausgrenzung sowie für eine pluralistische postmigran- tische Gesellschaft einzusetzen. Jessica Agirman, Jurymitglied des Margot- Friedländer-Preises, sagt: „Viel gelernt, viel geschafft und unglaub- lich viel Inspiration dafür gewonnen, wei- ter anzupacken und mit dem, was man leisten kann, die Welt ein bisschen zu verändern.“ Die Junge Jury des Margot-Friedlän- der-Preises Innerhalb des Auswahlverfahrens der Preisprojekte schreibt die Schwarzkopf- Zeichnung Copyright: @ Illustration Moshtari Hilal Stiftung jährlich ein Jugendgremium aus, die „Junge Jury“. Dabei handelt es sich Wenn in Entscheidungsgremien oder einer diges Gremium – etwa eine junge Jury – um eine Gruppe von zwölf Menschen Jury über Projekte oder Förderungen ent- gegründet werden, in dem spezifische al- zwischen 16 und 24 Jahren, die sich mit schieden wird, die Kinder und Jugendliche tersgerechte Sichtweisen eingebracht wer- den rund 60 eingereichten Projektideen betreffen, sollten diese möglichst mit am den können. Grundvoraussetzung ist in für den Margot-Friedländer-Preis ausein- Tisch sitzen und an Entscheidungen be- beiden Fällen, dass das bestehende Gre- andersetzen. Im Rahmen eines mehrtägi- teiligt werden. Ein Gremium kann durch mium bereit ist, die Entscheidungsmacht gen Seminars reflektieren die Jurymitglie- stimmberechtigte junge Menschen er- zu teilen. der über ihre individuellen Bezüge zu den gänzt werden. Oder es kann ein eigenstän- Kriterien des Preises und diskutieren, was 14 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021
WEITERE THEMEN ihnen bei den Projekten besonders wichtig Geht es wie in diesem Beispiel um his- über, welche Projekte umgesetzt werden: ist. Durch Workshops und Diskussions- torisch-politische Bildung, werden junge Meist legt die Organisation bereits in der runden mit Expert*innen zu postmigran- und vielfältige Perspektiven häufig nicht Ausschreibung Kriterien fest. Oft erfassen tischer Erinnerungskultur, Verbindungen in Entscheidungsprozesse einbezogen. diese Kriterien aber nicht die Lebensrea- zwischen antisemitischen und rassistischen Gerade wenn es darum geht, eine Erin- litäten junger Menschen in ihrer Vielfalt. Denkmustern und deren Konsequenzen in nerungskultur zu gestalten, zu der alle Um das zu verändern, kann eine junge Vergangenheit und Gegenwart wird der Menschen mit unterschiedlichen biogra- Jury schon früh in die Entwicklung einer Blick der jungen Jurymitglieder besonders fischen Bezügen eine Verbindung herstel- Ausschreibung und der Bewertungskrite- für vielfältige, gleichberechtigte Teilhabe len sollen, kommt es auf unterschiedliche rien einbezogen werden. Durch die Be- und Zusammenleben in der postmigranti- Perspektiven und Schwerpunkte in der gegnung in einer jungen Jury, wo Vielfalt schen Gesellschaft geschärft. Die Jugend- Erzählung unserer Geschichte an und die geschätzt und erlebt wird, können junge lichen einigen sich auf rund zehn Projekte, Reflektion der eigenen biografischen Be- Menschen frühzeitig für ihr Vorhaben ge- die in ihren Augen preiswürdig sind, und züge. Um den Zusammenhang zwischen stärkt werden, sich für eine pluralistische übergeben diese Auswahl an die Jury des Vergangenheit und Gegenwart in Bezug und offene Gesellschaft einzusetzen. Margot-Friedländer-Preises, die eine finale auf Diskriminierungen von Minderheiten Entscheidung über die Projekte trifft. oder Lebensentwürfen abseits der wei- Jurymitglied Nicolas Langauer sagt: ßen Mehrheitsgesellschaft heute verste- „Durch das Seminarprogramm der Jun- Jurymitglied Elif Bayat sagt: „Ich bin un- hen zu können, sollten (junge) Menschen gen Jury habe ich eine neue Perspektive glaublich dankbar, Teil der Jungen Jury sich mit historischen Kontinuitäten poli- vor allem auf den aktuellen Antisemi- des Margot-Friedländer-Preises zu sein. tischer, staatlicher und gesellschaftlicher tismus erlangt. Am Juryprozess an sich Alle Projekte sind inspirierend und ermu- (Macht-)Strukturen seit dem Nationalso- war das Herausfordernde die Auswahl tigend: Im innersten Kern setzen sie sich zialismus auseinandersetzen. der besten Projekte aus einem großen mit dem Holocaust auseinander und er- Pool toller Ideen. Ich glaube, dass uns reichen junge Menschen durch Nachhal- Worüber auch immer die Mitglieder eines als Gruppe diese Erfahrung, für ein ge- tigkeit und Praxis.“ Jugendgremiums (mit-) entscheiden, sei es meinsames Ziel manchmal hart arbeiten über Ideen in einem Wettbewerb, über die zu müssen, viel Kraft für die Zukunft ge- Anregungen für die Ausgestaltung Besetzung eines neuen Postens oder dar- geben hat.“ ■ von Jugendgremien Aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre möchte die Schwarzkopf-Stiftung einige Hinweise geben, worauf bei der Einrichtung eines Jugendgremiums zu achten ist. Am Anfang steht die Analyse: Wer sitzt bislang am Entscheidungstisch? Wie kommt es zur Auswahl und Besetzung? Welche Kompetenzbereiche und welches Wissen sind vertreten? Danach lässt sich häufig klarer benennen, wer mitentschei- den sollte. Die Stiftung bietet jungen Menschen Ziel ist es, allen jungen Menschen als An- Möglichkeiten für Begegnungen, für die gehörigen einer pluralistischen, inklusiven Sind etablierte Gremien und Entschei- persönliche Entwicklung und für aktive und demokratischen Migrationsgesell- dungsträger*innen bereit, ihre Entschei- zivilgesellschaftliche Teilhabe. Im Rahmen schaft Gehör zu verschaffen. dungsgewalt zu teilen, sollte bei der des Kompetenznetzwerks Zusammenle- Zusammensetzung eines jungen Gremi- ben in der Einwanderungsgesellschaft https://schwarzkopf-stiftung.de/margot- ums – wie insgesamt bei Gremien – ein setzt sich die Schwarzkopf-Stiftung da- friedlaender-preis/ weiteres Machtgefälle berücksichtigt und für ein, die politische Teilhabe von Kin- https://schwarzkopf-stiftung.de/junge- durchbrochen werden. Die Besetzung von dern und Jugendlichen unabhängig jury/ Gremien und Jurys (ob jung, alt oder von ihrer Herkunft zu fördern. Dafür https://schwarzkopf-stiftung.de/young- gemischt) sollte gesellschaftliche Vielfalt schafft sie Beratungs-, Qualifizierungs- ambassador-against-antisemitism/ abbilden und unterschiedliche Lebens- und Dialogangebote für Fachkräfte, https://www.instagram.com/beyond_ situationen und -entwürfe reflektieren. Multiplikator*innen und Ehrenamtliche a_single_story/ Hierbei kann es hilfreich sein, Multipli- der Kinder- und Jugendhilfe im Kontext https://www.instagram.com/schwarz- kator*innen zu identifizieren und sie bei von Pluralismus und Differenz. kopfstiftung/ der Werbung für Gremienmitarbeit um Unterstützung zu bitten. Esther Spicker ist Projektmanagerin in der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa. Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 107 / März 2021 15
Sie können auch lesen