Gefahren-Szenarien der Freisetzung von

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Gefahren-Szenarien der Freisetzung von
CARL FRIEDRICH VON WEIZSÄCKER ZENTRUM FÜR
NATURWISSENSCHAFT UND FRIEDENSFORSCHUNG

    Gefahren-Szenarien der Freisetzung von
            Plutonium durch einen
         erfolgten Abschuss mit einem
            Raketenabwehrsystem

             Wiebke Plenkers,
            Martin B. Kalinowski

            Occasional Paper No. 7
               Dezember 2008
Gefahren-Szenarien der Freisetzung von
Gefahren-Szenarien der Freisetzung von Plutonium
    durch einen erfolgten Abschuss mit einem
             Raketenabwehrsystem

                  Occasional Paper No. 7

                      Dezember 2008

           Wiebke Plenkers, Martin B. Kalinowski

         Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für

          Naturwissenschaft und Friedensforschung

                   Universität Hamburg
Gefahren-Szenarien der Freisetzung von
2
Inhaltsverzeichnis

!
1.! Einleitung ............................................................................................................................ 5!
     1.1.! Allgemeine Informationen zu den verschiedenen Raketen-Typen und Trajektorien... 5!
     1.2.     Das geplante US Raketenabwehrsystem ...................................................................... 7
2.! Grundlegende Details zu Flugphasen und Raketenabwehr................................................. 9!
     2.1.! Startphase : Boost-Phase .............................................................................................. 9!
     2.2.     Mittlere Flugphase : Midcourse-Phase....................................................................... 11
     2.3.! Wiedereintrittsphase : Terminal-Phase ...................................................................... 13!
3.! Szenarien möglicher Gefahren durch Raketenabwehr ...................................................... 14!
     3.1.! Shortfall ...................................................................................................................... 14!
     3.2.! Nuklearexplosion im Weltraum: Elektromagnetischer Impuls .................................. 16!
     3.3.! Gefahr durch herabstürzende Raketenteile ................................................................ 16!
     3.4.! Gefahren durch die Verteilung von Plutonium .......................................................... 18!
        3.4.1.      Eigenschaften von Plutonium.............................................................................. 18
        3.4.2.! Dosisleistungsfaktoren ........................................................................................ 19!
        3.4.3.! Gesundheitsschäden - Szenarien von Plutonium Verteilung .............................. 21!
4.      Schlussfolgerung............................................................................................................... 23
5.! Anhang: ............................................................................................................................. 24!
     5.1.! Allgemeine Definitionen und Abkürzungen .............................................................. 24!
     5.2.! Bibliografie................................................................................................................. 25!

                                                                      3
4
1. Einleitung

In den letzten Jahren haben Raketenabwehrsysteme wieder erneut große Aufmerksamkeit
bekommen. So wurde im Jahr 2002 die US amerikanische Ballistic Missile Defense
Organization (BMDO) in Missile Defense Agency (MDA) umbenannt und erhielt im Zuge
einer Neuorientierung mehr Handlungsspielraum für die Aufgabe, die USA sowie Verbündete
von aller Art Raketen zu beschützen. Aus dem vorigen National Missile Defense (NMD)
Programm wurde das Ground-Based Midcourse System (GMD), das zusammen mit dem Sea-
Based Midcourse System zukünfig Raketen in der mittleren Flugphase bekämpfen soll. Damit
legten die USA wieder konkrete Pläne zur Installation eines umfangreichen
Raketenabwehrsystems vor und kündigten am 13. Juni 2002 den ABM-Vertrag.
Seitdem gibt es erneut kontroverse Diskussionen über den Sinn von Raketenabwehrsystemen,
sowie die Wahrscheinlichkeit künftiger nuklearer Bedrohungen.

Präsident George W. Bush unterzeichnete am 23. Dezember 2002 die Presidential National
Security Directive 23 (PNSD-23) zur Installation eines umfangreichen Raketenabwehrsystems
ab 2004. Inzwischen nehmen die Ideen zunehmend Gestalt an, wie z.B. das Unterschreiben
der Verträge mit Polen (am 15.08.2008) und Tschechien (am 08.07.2008) zeigt.1 Die
amerikanischen Pläne dort, auf europäischen Boden, Militärbasen für die Raketenabwehr zu
errichten, stoßen jedoch nicht nur in der EU auf Misstrauen und die Furcht vor einer neuen
allgemeinen Aufrüstung. Besonders Russland sieht die amerikanischen Pläne sehr kritisch.
Am 26. April 2007 kündigte Präsident Putin nach harscher Kritik an den geplanten US-
Raketenabwehreinrichtungen in Polen und Tschechien und der NATO-Politik einseitig den
KSE-Vertrag (Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa).2 Zwar ist es mit der
derzeitigen Technik unmöglich ein wirklich funktionsfähiges, nicht durch Gegenmaßnahmen
überwindbares Raketenabwehrsystem zu errichten und des Weiteren beteuern die USA, dass
das GMD nicht gegen russische ICBMs gerichtet sei. Jedoch befürchtet Russland durch
Technikfortschritt die langfristige Modernisierung des Systems, sodass die russische nukleare
Abschreckung an Bedeutung verlieren würde und im Extremfall Russland direkt durch das
GMD geschädigt werden könnte.

Während sich die meisten Auseinandersetzungen vor allem mit der politischen Bedeutung und
den Folgen der Installation der Raketenabwehr beschäftigen, soll das vorliegende Papier die
grundlegenden technischen Details von Raketenabwehr und mögliche Gefahrenszenarien, z.B.
von Plutoniumausbreitung, bei einer „erfolgreichen“ Abwehr beleuchten.

     1.1. Allgemeine Informationen zu den verschiedenen Raketen-Typen und
          Trajektorien
Raketen werden international nach ihrer Reichweite eingeteilt und benannt (siehe Tabelle 1).
Ihre Flugbahn verläuft weitgehend ballistisch und abhängig von der Reichweite, tritt die
Rakete dabei aus der Atmosphäre heraus. Die größte Reichweite haben
Interkontinentalraketen (ICBMs), deren Trajektorie in Abbildung 1 dargestellt ist.

 1
     Vgl. Tagesschaubeitrag vom 15.08.2008: http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video363146_bcId-
     _ply-internal_res-flash256_vChoice-video363146.html und Tagesschaubeitrag vom 08.07.2008 :
     http://www.tagesschau.de/ausland/radarstation2.html (19.08.2008)
 2
     Vgl. „Russland friert Rüstungskontrolle“ ein http://www.tagesschau.de/ausland/meldung36690.html
     (26.04.08)
                                                    5
Derzeit können ICBMs von den fünf anerkannten Kernwaffenstaaten (Volksrepublik China,
Frankreich, Großbritannien, Russland und USA) gebaut werden. Etwa 25 weitere Staaten
besitzen Raketen ab 500 km Reichweite oder versuchen in ihren Besitz zu gelangen. Darunter
sind fünf Länder (Israel, Indien, Pakistan, Iran und Nord-Korea), die bereits Raketen mit
Reichweiten von über 1000 km getestet haben.3 Aus Sicht der US-amerikanischen Regierung
stellen sogenannten „Schurkenstaaten“4 wie Nordkorea und der Iran die größte Bedrohung
dar.

Da die Trajektorie möglicher Raketen von diesen Ländern zu den USA zum Teil über Europa
verläuft, planen die US-Streitkräfte zwei Basen in der EU zu errichten (Stationierung von
Raketen in Polen sowie Tschechien).
        Klassifikation                                        Reichweite              Beispiel
        Kurzstreckenrakete                                    500 - 1000 km           Scud-
        shorter-range intermediate nuclear force                                      Technologie
        (SRINF) missile
        Mittelstreckenrakete                                  1000 - 5500 km          Taepodong-1
        longer-range intermediate nuclear force
        (LRINF) missile
        Interkontinentalraketen                               über 5500 km            Minuteman
        Intercontinental Ballistic Missile (ICBM)

       Tabelle 1: Raketenklassifikation laut INF-Vertrag
       (Quelle: INF-Treaty http://www.fas.org/nuke/intro/missile/basics.htm bzw.
       http://www.state.gov/www/global/arms/treaties/inf1.html#treaty)

                                                       Die Flugphase wird im Allgemeinen in drei
                                                       Phasen unterteilt:
                                                       Nach dem Zünden der Raketenantriebe wird die
                                                       Rakete während der so genannten Boost-Phase
                                                       kontinuierlich beschleunigt. Sind alle Antriebe
                                                       ausgebrannt (burnout) trennt sich meist der
                                                       Gefechtskopf von dem Raketenantrieb und
                                                       fliegt unbeschleunigt auf einer ballistischen
                                                       Bahn weiter. Diese Mittelflugphase wird auch
                                                       Midcourse-Phase genannt. In dieser Phase legt
                                                       der Gefechtskopf den größten Teil seines
                                                       Weges zurück (außerhalb der Atmosphäre).
                                                       Nach dem Wiedereintritt in die Atmosphäre
                                                       beginnt die letzte Flugphase, die so genannte
                                                       Terminal-Phase. Der Gefechtskopf wird zu
                                                       einem Re-entry Vehicle (RV), das gegen die
                                                       hohe Reibungshitze geschützt sein muss. Durch
Abbildung 1:                                           die Atmosphärenreibung wird das RV stark
Einteilung der Flugbahnen einer ICBM                   erhitzt und abgebremst. Durch die starke
(Quelle:                                               Beschleunigung in Richtung Erde erfolgt nach
http://www.cbo.gov/ftpdocs/56xx/doc5679/               einigen Sekunden der Einschlag.
07-22-MissileDefense.pdf)
  3
      Vgl. European Parliament: Missile Defence and European Security. Brüssel. November 2007. S. 3
  4
      Von der amerikanischen Regierung geprägter politischer Begriff für autokratische Staaten, die (angeblich)
      im Besitz von Massenvernichtungswaffen sind und des Staatsterrorismus bzw. der Terrorismusförderung
      verdächtigt werden.
                                                        6
1.2. Das geplante US Raketenabwehrsystem
Das US-amerikanische geplante globale Ballistic Missile Defense System (BMDS)
beabsichtigt mit Land-, See-, Luft- und Weltraum gestützten Abwehrsystemen in allen drei
Phasen die Angreiferrakete per Radar zu detektieren, zu verfolgen und mittels verschiedener
Systeme zu zerstören (siehe Abbildung 2).
Kleinere Raketenabwehrsysteme waren zuvor schon von den USA und auch anderen Staaten
entwickelt und benutzt worden (z.B. das israelische Arrow Weapon System).

Abbildung 2: Das strategische Raketenabwehrsystem der USA
(Quelle: Möckli, Daniel: US-Raketenabwehr: Eine strategische Herausforderung für Europa.
Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich, April 2007, Nr. 12, 2. Jahrgang, S.2)

Beim BMDS soll schon kurz nach dem Start ein Frühwarnsatellit eine gestartete Rakete
erfassen, Alarm auslösen und die ermittelten Daten an die zuständige Instanz melden. Um
besonders Raketen aus dem Iran möglichst frühzeitig zu detektieren, planen die USA
ebenfalls die Installation eines leistungsstarken Radars, der European Midcourse Radar
(EMR), in der Nähe von Prag. Dieser soll fähig sein, Zielobjekte zu unterscheiden, zu
identifizieren und die Bahn zu verfolgen.
Daraufhin soll noch in der Atmosphäre versucht werden mittels eines Airborne Lasers5, der
sich derzeit noch in der Entwicklung befindet, oder einer Antiraketenrakete die Rakete zu
zerstören. Gelingt das nicht, so wird während des gesamten weiteren Fluges in der Midcourse-
Phase eine Radarstation die Flugbahn des Gefechtskopfes verfolgen und somit zur genauen
Berechnung der Bahn beitragen. Mithilfe dieser Daten soll daraufhin das Ground-based
Midcourse Defense (GMD) System mit einem raketengestütztem kill vehicle (KV) den
Gefechtskopf außerhalb der Atmosphäre zerstören.
Bei der Abfangrakete handelt es sich um Boden gestützte Interzeptoren, die z.B. von der
geplanten Militärbasis im Norden von Polen (Stützpunkt von 10 Interzeptoren) abgeschossen
werden sollen und laut US-Angaben optimal für die europäische Raketenabwehr geeignet
seien. Weitere Interzeptoren sind bereits in Fort Greely/Alaska und Vandenberg/California
stationiert. Insgesamt sollen in den nächsten Jahren 54 bodenstationierte Interzeptoren (GBI)
aufgestellt werden.

 5
     Für Airborne Laser siehe Seite 9
                                             7
Die Abfangraketen sind in einigen Faktoren herkömmlichen ICBMs sehr ähnlich. So sind sie
ähnlich groß und besitzen zwei Antriebsstufen (von je 21500 kg), die den Minuteman-ICBMs
entstammen. Das KV wiegt dagegen nur etwa 70 kg und kann bis zu 40 % schneller werden,
als eine ICBM. Damit könnte es z.B. eine russische ICBM „einholen“.
Nachdem sich das KV von seinem ausgebrannten Raketenantrieb getrennt hat, fliegt es auf
den Gefechtskopf zu. Trifft es diesen erfolgreich, wird wegen der hohen kinetischen Energie
der Gefechtskopf vollständig zerstört. Sollte jedoch das KV den Sprengkopf verfehlen (z.B.
wegen Täuschkörpern), so ist nach dem Wiedereintritt in die Atmosphäre ein weiterer
Versuch geplant, den Sprengkopf in der Endphase abzuschießen. Dazu sollen Systeme wie
Patriot, THAAD, seegestützte Missile Defense (Aegis/SM3) oder MEADS genutzt werden.
Die zuletzt genannten BMD-Systeme haben wegen der hohen Endgeschwindigkeit des
Sprengkopfes nur sehr begrenze Abfangfähigkeiten.

                                            8
2. Grundlegende Details zu Flugphasen und Raketenabwehr

     2.1. Startphase : Boost-Phase
Nach dem Start einer Rakete wird diese mittels eines (evtl. mehrstufigen) Antriebs
beschleunigt. Diese erste Flugphase (Boost-Phase, Antriebsphase) findet zum größten Teil
noch innerhalb der Atmosphäre statt. Bei Interkontinentalraketen (ICBMs) beträgt die Boost-
Phase etwa 170 s (bis 150 km Höhe) für eine ICBM mit Feststoffantrieb bzw. 240 s (bis 200
km Höhe) für eine Rakete mit Flüssigtreibstoffantrieb.6 Innerhalb der Atmosphäre wird die
Rakete durch Luftmoleküle abgebremst und ist besonderen Spannungen und
Temperaturschwankungen ausgesetzt. Außerhalb der Atmosphäre sind diese Faktoren
vernachlässigbar klein, sodass die Geschwindigkeit nur von der Beschleunigung durch den
Raketenantrieb abhängt.
Bei Kurzstreckenraketen ist die Boost-Phase wesentlich kürzer (SRINF: unter 100 s (z.B. Al-
Hussein), befindet sich dann noch in der Atmosphäre (etwa in 50 km Höhe) und hat maximal
50 km Entfernung in der Projektion auf den Boden zurückgelegt. Somit ist der Flugkörper
frühestens in der Midcourse-Phase außerhalb der Atmosphäre. Kurzstreckenraketen
verbleiben bei kurzen Strecken vollständig in der Atmosphäre.
Bei Mittelstreckenraketen ist die Boost-Phase nur etwas kürzer als bei
Interkontinentalraketen, jedoch befindet sich die Rakete dann noch in der Atmosphäre
(LRINF: unter 150 s, etwa 80 km Höhe) und hat maximal 240 km Entfernung auf dem Boden
zurückgelegt. Somit ist der Flugkörper erst in der Midcourse-Phase außerhalb der
Atmosphäre.

Raketenabwehr:
Grundsätzlich werden für die Raketenabwehr während der Boost-Phase innerhalb der
Atmosphäre drei Möglichkeiten diskutiert: Die Zerstörung der Rakete durch den direkten
Abschuss mit einer Anti-Raketen-Rakete oder die indirekte Zerstörung entweder durch das
Eindringen von durch Sprengstoff freigesetzte Interzeptorfragmenten in die Triebwerke, das
Lenksystem oder den Raketenmotor, oder durch einen Airborne-Laser, der die Rakete durch
punktuelles Aufheizen schädigen und somit zum Absturz bringen soll.
Bei dem Airborne-Laser handelt es sich um einen in einem Flugzeug montierten
Hochenergielaser (Laser mit einer kontinuierlichen Leistung über 20 kW), der derzeit in den
USA entwickelt wird. Damit soll es möglich sein, sich einer Rakete in der Boost-Phase bis zu
einer großen Entfernung von einigen 100 km zu nähern, um diese durch die Lasterstrahlung
zu schädigen und somit die Rakete zum Absturz zu bringen. Für das Airborne Laser
Programm wurde seit 1998 etwa 5 Milliarden US Dollar aufgewendet.7 Mit einer
Verzögerung von sieben Jahren hat nun der Einbau des Hochenergielasers in ein Flugzeug
begonnen. Laut diesem Kongressreport hat die US Air Force ebenfalls alternative
Einsatzmöglichkeiten studiert, darunter auch der Einsatz des Airborne Lasers zum Abschalten
oder Zerstörern von Satelliten. Damit könnte der Airborne Laser also auch als Anti-Satelliten-
Waffe (ASAT) eingesetzt werden.

Die American Physical Society hat 2003 in einer umfangreichen Studie aufgezeichnet, dass
mit den bisherigen Möglichkeiten ICBMs nicht effektiv abgewehrt werden können. Da das
Zeitfenster für einen Boost-Phase Abschuss sehr klein ist, müsste die Anti-Raketen-Rakete

 6
     Vgl. American Physical Society (APS) Study Group: Report on Boost-Phase Intercept Systems for National
     Missile Defense. Scientific and Technical Issues. July 2003. S.263ff
 7
     Vgl. CRS Report for Congress. Airborne Laser (ABL): Issues for Congress.
     http://fas.org/sgp/crs/weapons/RL32123.pdf
                                                     9
sehr nah an dem Abschussort der feindlichen Rakete stationiert sein. Es wären maximal zwei
bis drei Minuten Zeit bevor die Rakete sich von ihren Sprengköpfen trennt. Von Schiffen
abgeschossene Kurz- und Mittelstreckenraketen könnten jedoch abgewehrt werden, wenn die
Entfernung vom Startpunkt der Abfangrakete zum Abschussort der angreifenden Rakete nicht
mehr als 40 km beträgt. Allerdings ist die Boost-Phase für Kurz- und Mittelstreckenraketen
sehr kurz.
Airborne Laser könnten mit Flüssigtreibstoffantrieb ICBMs nur teilweise und
feststoffangetriebene ICBMs überhaupt nicht zerstören.8
Theodore Postol und Richard L. Garwin sind jedoch mit ähnlichen Berechnungen zu dem
Ergebnis gekommen, dass das Abfangen währen der Boost-Phase möglich sei, wenn das Land
klein genug ist, um die Abfangtechniken nah genug am Startort der Rakete installieren zu
können.
Eine „erfolgreiche“ Raketenabwehr in der Boost-Phase zerstört jedoch mit großer
Wahrscheinlichkeit nur die Trägerrakete und nicht den Sprengkopf, d.h. es bliebe das
Problem, dass der Sprengkopf ungehindert ballistisch weiterfliegt und unbeeinflussbar
herabkommt. Abhängig vom Zeitpunkt des Abschusses und der bis dahin erfolgten
Beschleunigung verändert sich der Auftreffpunkt und die Flugbahn wird im Vergleich zu der
ursprünglich geplanten verkürzt („shortfall“).

Jan Stupl hat berechnet, dass Kurz- und im Grenzfall auch Mittelstreckenraketen in der Boost-
Phase keine ausreichende Höhe erreichen, um von einem Airborne Laser, der sich außerhalb
der Reichweite der Luftabwehrraketen der gegnerischen Streitkräfte befindet, zerstört zu
werden.9 Der Laserstrahl wird durch atmosphärische Turbulenzen und Absorption an
Luftmolekülen so geschwächt, dass er nicht mehr genügend Hitze auf der Raketenoberfläche
entwickeln kann. Erst ab einer bestimmten Höhe (über 50 km), bei der die Atmosphäre eine
geringere Dichte hat, ist ein erfolgreicher Einsatz möglich. Diese Höhe wird jedoch in der
Boost-Phase nur von ICBMs erreicht.
Allerdings gibt es zahlreiche Schwierigkeiten beim Einsatz eines Airborne Lasers. Wegen des
kurzen Zeitfensters für den erfolgreichen Lasereinsatz, muss sich das Flugzeug (Träger des
Lasers) bereits beim Start der ICBM in der Luft befinden. Außerdem gibt es wiederum einige
Möglichkeiten, die notwendige Hitzeentwicklung zu verhindern. Eine Gegenmaßnahme ist
z.B. die Beschichtung der Rakete mit einem spiegelnden Material, sodass ein Teil der
Laserenergie zurückgestrahlt wird. Ebenso könnte die Rakete mit einem Hitzeschild (ähnlich
dem Sprengkopf, der dieses für den Wiedereintritt in die Atmosphäre benötigt) verkleidet
werden. Eine andere Möglichkeit wäre, der Rakete einen Drall zu verleihen, sodass die
Bestrahlung einer einzigen Stelle unmöglich wird. 10

Im Falle einer erfolgreichen Raketenabwehr würde in der Regel nur die Rakete beschädigt
und der Sprengkopf jedoch intakt bleiben. Das birgt in jedem Fall die Gefahr, dass der
konventionelle Sprengkopf beim Aufprall am Boden explodieren oder auch schon der
alleinige Aufschlag des Sprengkopfes zur Freisetzung von Plutonium führen kann. Bei einer

 8
      Vgl. American Physical Society (APS) Study Group: Report on Boost-Phase Intercept Systems for National
      Missile Defense. Scientific and Technical Issues. July 2003. S. 295 f
 9
      Vgl. Stupl, Jan: Hochenergielaserwaffen – naturwissenschaftliche und friedenspolitische Bewertung.
      Zusammenfassung der Projektergebnisse. Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft
      und Friedensforschung (ZNF), Hamburg, März 2008, S.7 ff.
 10
      Vgl. Stupl, Jan: Untersuchung der Wechselwirkung von Laserstrahlung mit Sturkturelementen von
      Raumflugkörpern. Dissertation an der Universität Hamburg, 2008. Sowie: Hochernergielaserwaffen –
      naturwissenschaftliche und friedenspolitische Bewertung. Zusammenfassung der Projektergebnisse. Carl
      Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung (ZNF), Hamburg, März
      2008.
                                                     10
erfolgreichen Zerstörung des Sprengkopfes würde ebenfalls Plutonium freigesetzt, jedoch in
der Höhe des Abschusses.
Zwar ist es fast undenkbar, dass das Raketenabwehrsystem direkt eine Kernexplosion durch
eine Art „Kurzschluss“ in der Steuerelektronik auslöst. Jedoch wäre die Gefahr weitaus
gravierender, wenn der Zündmechanismus (z.B. Höhensensor oder Zeitzünder) noch
funktionstüchtig wäre und somit eine nukleare Explosion auslösen könnte.

   2.2. Mittlere Flugphase : Midcourse-Phase
Nachdem die letzte Antriebsstufe ausgebrannt ist, werden im Normalfall die Raketenantriebe
abgestoßen und der Sprengkopf bewegt sich außerhalb der Atmosphäre mit einer konstanten
Beschleunigung, sodass die Raketenbahn genau berechenbar ist. Allerdings gibt es die
Überlegung moderne ICBMs teilweise mit kleinen Triebwerken auszustatten, sodass die
Rakete bis kurz vor dem Einschlag manövriert werden könnte. Dadurch verläuft die Flugbahn
nicht mehr rein ballistisch, sodass die Abwehr erschwert wird.
Bei ICBMs dauert die Midcourse-Phase etwa 25 min und ist damit die längste der drei
Flugphasen. Die Rakete fliegt auf einer elliptischen Umlaufbahn in einem suborbitalen Flug.
Der höchste Punkt der Umlaufbahn (Apogäum) beträgt je nach Flugbahn etwa 1400 km (siehe
Abbildung 1).

Außer bei Mehrfachsprengköpfen (MIRV), bei denen jedem einzelnen Sprengkopf bei seiner
Freisetzung im Weltraum eine bestimmte Richtung gegeben wird, sind nur deren hoch
komplizierte Weiterentwicklung, die maneuvrierfähigen Reentry-Vehicels (Maneuverable
Reentry Vehicle (MARV)) fähig von der ballistischen Flugbahn abzuweichen. MARV
können mit Hilfe von Lagekontrolltriebwerke gering manövriert werden. Dies würde
eventuell ausreichen, um kurzfristig einem entgegenkommenden kill-vehicle auszuweichen.
Allerdings ist die technische Umsetzung sehr schwierig.

Bei Kurz- und Mittelstreckenraketen verläuft die Flugbahn während der Midcourse-Phase
ebenfalls außerhalb der Atmosphäre, jedoch in einem kleinen Zeitraum: Eine SRINF (LRINF)
tritt etwa 100 s (150 s) nach Start aus der Atmosphäre heraus und legt vor Wiedereintritt
innerhalb von etwa 350 s etwa 75% der Gesamtreichweite zurück.

Raketenabwehr:
Sprengköpfe von ICBMs sollen im Weltraum in der Midcourse-Phase durch einen Abschuss
mit einem raketengestützten kill-vehicle abgeschossen werden, sodass der Sprengkopf allein
durch die kinetische Energie des kill-vehicles vollständig zerstört und damit unschädlich
würde.

Dieses Vorgehen bietet mehrere Vorteile, vor allem, dass die Flugphase relativ lang ist und
damit dass das Zeitfenster für die Entscheidungstreffung und Befehlsausführung relativ groß
ist. Mehrere Verteidigungsmaßnahmen und –versuche sind möglich. Da die Raketenabwehr in
der Midcourse-Phase im Idealfall weit entfernt von dem planmäßigen Sprengkopfziel
durchgeführt werden kann, wird die Systemverletzbarkeit verringert.
Außerdem ist hervorzuheben, dass bei dem erfolgreichen Abschuss des Sprengkopfes dieser
vollständig zerstört wird, sodass keine Gefahr durch einen shortfall besteht.
Die US-Regierung schätzt die Auswirkungen jedoch nur sehr gering ein: Laut einer
Informationsbroschüre des US Department of Defense/Department of State zu den geplanten
amerikanischen Raketenabwehrstützpunkten in Europa verdampfe beim Zusammenprall von
Gefechtskopf und Interzeptor auf Grund der großen kinetischen Energie ein Teil von beiden

                                            11
Körpern und der Rest zerfällt in kleine Bruchstücke. Außerdem sollen amerikanische Tests
zeigen, dass nur sehr wenige Bruchteile die Erde erreichen, die maximal eine Länge von 21
cm aufweisen würden. Die Wahrscheinlichkeit für Opfer läge bei 3 in 1000 Abschüssen bis 1
in 2.5 Millionen Abschüssen, abhängig von der Bevölkerungsdichte.11
Diese Daten beruhen wahrscheinlich auf Radarbeobachtungen (Auflösung 15cm), möglichen
Fundstücken bei bisherigen US-Tests oder Computersimulationen. Diese Aussagen sind
jedoch in mehrerer Hinsicht haltlos: Es werden weder Messtechnik noch andere Belege
angegeben, sodass die Genauigkeit und damit die Korrektheit allgemein fragwürdig ist.

Auch wenn die Midcourse-Phase somit wesentlich besser für die Raketenabwehr geeignet
scheint, gibt es jedoch auch zahlreiche Möglichkeiten, die Raketenabwehr mit Täuschkörpern
und anderen Gegenmaßnahmen zu umgehen:
Da außerhalb der Atmosphäre die Beschleunigung konstant bleibt und somit Masse belanglos
wird, bewegen sich leichte und schwere Körper auf dem gleichen Weg und mit derselben
Beschleunigung. Folglich bewegt sich ein Sprengkopf ebenso schnell wie ein
metallbeschichteter Ballon mit sehr viel geringerer Dichte. Somit ist es für einen
Angreiferstaat relativ einfach, einen Sprengkopf mit Sprengkopfattrappen zu versehen, die
ohne großen Ballast zu verursachen mitgeführt und zahlreich im Weltraum ausgesetzt werden.
Eine zusätzliche Möglichkeit bestünde darin, den Sprengkopf selbst in einen Ballon zu
platzieren. Die Raketenabwehr wäre damit selbst mit formsensitiven Sensoren unfähig
zwischen den verschiedenen Flugkörpern zu unterscheiden.
Des Weiteren existieren viele andere Täunschungsmöglichkeiten, darunter reentry-vehicle
reorientation, low-power jammers (Störsender für Radarsignale) und chaff12.
Da die Anzahl der Interzeptoren begrenzt ist, hat damit ein Angreiferstaat immer die
Möglichkeit mit einer genügend großen Anzahl von Täuschkörper die Raketenabwehr zu
umgehen. Laut einer Studie der Union of Concerned Scientists, die unter anderem von den
amerikanischen Raketenabwehr-Experten Theodore Postol (MIT) und Richard L. Garwin
mitgeschrieben wurde, kann jedes Land, das fähig ist Nuklearwaffen zu bauen, ebenfalls
erfolgreich Täuschkörper einsetzen.13 So argumentierte auch der National Intelligence
Estimate (NIE), das die aktuelle Sicherheitslage der USA beurteilt, im September 1999.14
Folglich wäre eine Raketenabwehr in der Midcourse-Phase mit großer Wahrscheinlichkeit
nicht erfolgreich.

Da die Midcourse-Zeit für Kurz-/Mittelstreckenraketen wesentlich kürzer als bei ICBM ist
(etwa 370 s), ist das Abwehren dementsprechend schwieriger.
Allerdings ist es für Kurzstreckenraketen, die nicht aus der Atmosphäre austreten, wesentlich
schwieriger Täuschkörper in Form von Attrappen erfolgreich einzusetzen, da diese innerhalb
der Atmosphäre Reibung ausgesetzt sind und somit an ihrer Flugbahn von dem echten
Gefechtskopf unterschieden werden können. Jedoch ist es in der Atmosphäre recht einfach,
den Sprengkopf zu steuern.

 11
      Vgl. US Department of Defense/Department of State: Proposed U.S. Missile Defense Assets in Europe. 07-
      MDA-2650 (15 JUN 07). http://www.mda.mil/mdalink/pdf/euroassets.pdf (21.10.2008)
 12
      Engl. für „Düppel“: Lametta-ähnliche Staniol- oder metallbedampfte Kunstfaser - Fäden, die sich bei
      Radarbestahlung wie Dipolantennen verhalten und somit die Radarwellen stören
 13
      Vgl. Union of Concerned Scientists, MIT Security Studies Program: Countermeasures. A Technical
      Evaluation of the Operational Effectiveness of the Planned US National Missile Defense System
      http://www.ucsusa.org/assets/documents/global_security/CM_all.pdf (12.08.2008).
 14
      Vgl. Lewis, George N., Postol Theo dore A.: The European missile defense folly. In: Bulletin of the Atomic
      Scientists. Vol. 64, No. 2, Mai/Juni 2008, S. 32-39. http://www.thebulletin.org/files/064002009.pdf S. 34
      (21.10.2008).
                                                       12
2.3. Wiedereintrittsphase : Terminal-Phase
Beim Wiedereintritt des Gefechtskopfes in die Atmosphäre wird er durch die Luftmoleküle
gebremst. Dabei muss er Hitze (mehrere tausend Grad) und Verspannungskräften standhalten
ohne sich zu verformen oder gar zu verglühen. Deswegen muss er ähnlich wie ein Raumschiff
mit einem Hitzeschild versehen sein. Dabei handelt es ich um ein so genanntes ablatives
Hitzeschild, das durch sein (teilweises) Verglühen den Sprengkopf kühlt. Dieser besteht z.B.
aus Glasfaser-Verbundwerkstoffen und/oder Kunststoffschaum (Polystyrol).
Da das reentry-vehicle über ein funktionsfähiges Hitzeschild verfügt, ist der erfolgreiche
Wiedereintritt bei großen Winkeln nicht von dem Wiedereintrittswinkel abhängig. Nur ein
sehr flacher Eintrittswinkel könnte den erfolgreichen Wiedereintritt verhindern. Durch den
eigenen Spin wird das RV außerdem stabilisiert. Folglich wird auch bei einem veränderten
Flugbahnverlauf und einem daraus resultierenden leicht geänderten Wiedereintrittswinkel das
RV im Regelfall nicht verglühen.

Raketenabwehr:
Die Terminal-Phase ist für alle Raketentypen sehr kurz und der Sprengkopf erfährt eine so
große Beschleunigung, dass es fast unmöglich ist, in dieser Phase einen Sprengkopf
abzuschießen. Grundsätzlich kann man sagen, dass umso weiter die Reichweite einer Rakete
ist, desto schwieriger ist das Abfangen in der Endphase.
So tritt beispielsweise eine ICBM mit etwa 7 km/s in die Atmosphäre ein und erreicht in
weniger als einer halben Minute den Boden. Bei Kurz- und Langstreckenraketen kann die
Phase auf Grund der geringeren Beschleunigung etwas länger verlaufen.

                                            13
3. Szenarien möglicher Gefahren durch Raketenabwehr
   3.1. Shortfall
Die größte Gefahr bei einer „erfolgreichen“ Raketenabwehr besteht durch den Abschuss
während der Boost-Phase. Erfolgt hingegen der Abschuss während der Midcourse-Phase, so
wird der Sprengkopf bei direkter Kollision höchstwahrscheinlich vollständig zerstört. Somit
kann dieser Fall bei der Gefahrenbetrachtung vernachlässigt werden, da die durch die
Kollision entstandenen Plutoniumpartikel im Weltraum verteilt werden und nur in geringem
Maße unmittelbar in die Erdatmosphäre eintreten. Ein Teil wird zudem auf dem Weg
verglühen, sodass keine bemerkenswert hohe Konzentration an Plutoniumteilchen den
Erdboden erreicht.
Des Weiteren tragen die im Weltraum verbleibenden Partikel wegen der subortibalen Höhe
auch keinen relevanten Beitrag zur Weltraumschrotproblematik bei. Viele Fragmente
verweilen nicht lange im All oder sind auf Bahnen, wo sich keine Satelliten befinden.

Die Boost-Phase stellt hingegen eine große Gefahr der Verteilung von Plutonium in der
Atmosphäre dar, weil es laut der APS sehr schwierig und derzeit scheinbar unmöglich ist, den
Sprengkopf direkt abzuschießen und zu zerstören. Stattdessen ist es weitaus wahrscheinlicher,
dass zwar durch die Raketenabwehr die Antriebsstufe zerstört wird, jedoch nicht der
Gefechtskopf. Damit kann ein shortfall nicht verhindert werden, sodass Plutonium sowohl in
der Luft als auch bei dem Aufprall auf die Erde freigesetzt werden kann. Derzeit sind
Sprengköpfe zwar normalerweise mit der sogenannten „one-point-safety“ gesichert, dass ihr
chemischer Sprengstoff bei einem ungeplanten Absturz nicht zündet. Jedoch zeigen die
Beispiele der Atombombenunfälle von Palomares (1966) und Thule in Grönland (1968), dass
dies trotzdem geschehen kann und dann große Gebiete radioaktiv verseucht werden.
Außerdem ist es wichtig zu erkennen, dass ein Angreiferstaat eventuell gerade beabsichtigen
könnte, auch in Falle eines shortfalls eine chemische oder gar nukleare Explosion zu
veranlassen. Dies könnte insbesondere dann denkbar sein, wenn sich der Angreifer durch die
Schädigung eines Drittlandes oder Verbündete des Gegners einen Profit verspricht. Zwar
wäre dann das Raketenabwehrsystem nicht direkt für die nukleare Explosion verantwortlich,
aber eventuell würde der Angreiferstaat dennoch versuchen, den Besitzer des
Raketenabwehrsystems als politische Ursache zu beschuldigen.
Der Aufschlagort des shortfalls ist von verschiedenen Parametern abhängig. Wenn es zu einer
Zerstörung des Raketenantriebes kommt, ist die bis dahin erlangte Höhe entscheidend, ob der
Sprengkopf nah oder fern von dem Startort auftritt. Wegen der benötigten Reaktionszeit kann
der Abschuss der ICBM jedoch selten so früh sein, dass der shortfall den Angreiferstaat selber
trifft. Weit wahrscheinlicher ist, dass die Rakete einen großen Teil ihrer Beschleunigung
erfolgreich erfährt, sodass der Sprengkopf nach dem Triebwerkabschuss auf einer
ballistischen Flugbahn weiterfliegt und eventuell in der Nähe des ursprünglichen Zielstaates
herab kommt. Beispielsweise könnte bei einem verhinderten Angriff auf die USA je nach
Startort Kanada oder Europa Opfer des shortfalls werden. Ähnliches wird erwartet, wenn
durch einen Airborne-Laser die Antriebe nur beschädigt und nicht vollständig zerstört
werden. Der Sprengkopf wird dann von seiner Bahn abgelenkt und fliegt mit dem
verbleibenden Raketenantrieb auf dieser neuen Bahn weiter.
Aus Sicht der USA, ist der shortfall jedoch scheinbar nicht problematisch. So meinte Richard
Garwin, langjähriger Berater diverser US-Regierungen zu Militärtechnologie und
Rüstungskontrolle, dass bei einem shortfall weniger Menschen zu Schaden kämen als bei der
nuklearen Explosion am ursprünglich vorgesehenen Ziel. Dies zeige der Vergleich von
Bevölkerungsdichten von möglichen Angriffszielen (wichtige Großstädte) mit den Gebieten,
die von einem shortfall betroffen sein könnten. Dadurch würde der Gesamtschaden etwa um
den Faktor 100 verringert. Garwin zitierte während einem Vortrag an der National Defense
University in Washington für die Abschätzungen möglicher Schäden in Europa eine Studie
                                             14
der US-Regierung. Demnach würden bei einer Explosion des nuklearen Sprengkopfes an
einem zufälligen Ort in Europa im Mittel 1300 Personen sterben.15
Dieser Vergleich ist jedoch aus mehreren Gründen unerheblich. Schließlich ist bei einem
Abschuss einer ICBM nicht deren einprogrammiertes Ziel bekannt, welches durchaus auch
ein weniger bevölkerungsreiches Gebiet sein könnte (z.B. militärische Gebäude, Raketensilos
etc). Im ungünstigen Fall könnte bei einem shortfall in Europa eine Region mit hoher
Bevölkerungsdichte betroffen sein. Davon wären dann auch unbeteiligte Länder betroffen.
Deswegen müsste eine in jeder Hinsicht erfolgreiche Raketenabwehr einen shortfall ganz
vermeiden.

Abbildung 3 zeigt als Beispiel die Bahn für den möglichen shortfall einer ICBM, die im Irak
auf die USA abgeschossen wurde. Dies ist ein hypothetischer Fall, da der Irak keine Raketen
mit dieser Reichweite besitzt.

Abbildung 3: Mögliche Bahn einer ICBM, die im Irak auf die USA gezielt wurde,
entlang Bahn ist ein shortfall vorstellbar
(Quelle der Karte: Google Earth)

Eine weitere, wenn auch geringere Gefahr, besteht ebenfalls durch die Teile der Rakete, die
diese während ihrer Flugzeit ab stößt (Raketenantrieb). Abhängig von der Höhe und der
Geschwindigkeit, erreichen die Trümmer sehr hohe kinetische Energien (TNT-Äquivalent).
Diese Gefahr ist jedoch unabhängig von der Raketenabwehr.

 15
      Vgl. Garwin, Richard L.: Comments on Boost-Phase Intercept. Dezember 2003.
      http://www.fas.org/rlg/031208-boost.pdf (21.10.2008) bzw. Ruppe, David: U.S. Plans I: Sea-Based Defense
      Against Boosting Missiles Could Work, Scientist Says. In: Global Security Newswire, 15. August 2003.
      http://www.nti.org/d_newswire/issues/newswires/2003_8_15.html#5 (21.10.2008)
                                                     15
3.2. Nuklearexplosion im Weltraum: Elektromagnetischer Impuls
Eine nukleare Explosion des Sprengkopfes im Weltraum direkt ausgelöst durch ein
Raketenabwehrsystem ist unwahrscheinlich. Eine andere Möglichkeit wäre, dass der
Sprengkopf mit einem funktionstüchtigen Fernzünder versehen wäre, was technisch schwer
umzusetzen ist. Denkbar wäre dann ein Szenario, bei dem der Angreiferstaat rechtzeitig
bemerkt, dass eine Antiraketen-Rakete den Sprengkopf zerstören soll und somit bevor diese
den Sprengkopf treffen kann, eine frühe Nuklearexplosion ausgelöst wird. Das Zeitfenster
dafür ist aber sehr kurz. Ein anderes mögliches Szenario wäre dagegen, wenn der Angreifer
mit einem Höhen- oder Zeitzünder so ausstattet, dass eine exoatmosphärische Explosion
gewollt ist (unabhängig von einem Raketenabwehrsystem).
Bei einer Explosion in sehr großer Höhe bestünde zwar keine Gefahr durch Hitze oder Feuer,
aber ein erheblicher Schaden könnte durch einen Elektromagnetischen Impuls (EMP)
entstehen. Würde eine Atombombe etwa in einer Höhe von 100 km gezündet (high-altitude
nuclear explosion: HANE), so könnten sämtliche Satelliten im Low Earth Orbit (LEO), also
etwa in einer Höhe von etwa 200 bis 1200 km, zerstört werden.16 Die Folge wäre ein
Zusammenbruch der Kommunikation, sowie aller elektrischen Geräte, die auf Satelliten
angewiesen sind. Erreicht der elektromagnetische Impuls die Erde, so können jegliche
elektrischen Geräte gestört oder sogar zerstört werden.17 Ursache sind die bei der Explosion
freigesetzten Elektronen und Protonen, die vom Erdmagnetfeld beschleunigt werden. Durch
die im Weltraum verbleibende Strahlung könnten Satelliten im Extremfall bis zu zwei Jahren
gestört werden. Angesichts der Tatsache, dass heutzutage Infrastruktur und Wirtschaft eng an
die Funktionsfähigkeit von Satellitenkommunikation gebunden sind, könnte dadurch eine
globale Krise ausgelöst werden.
Somit wäre es nicht nur möglich, dass ein Staat einen EMP über einem anderen Staat zündet,
um dessen Infrastruktur lahm zu legen. Sondern es wäre sogar denkbar, dass ein Staat z.B. zur
Abschreckung eine nukleare Bombe in hinreichender Höhe über dem eigenen Land zündet,
um somit global andere Länder zu schädigen. Allerdings müsste der Staat dabei in Kauf
nehmen, selbst direkt geschädigt zu werden und eventuell einen Gegenschlag von den
beschädigten Ländern zu erfahren. Dabei ist es wohl nicht anzunehmen aber dennoch
denkbar, dass der Gegenschlag nuklearer Natur sein könnte. Schließlich erscheint es nicht
angemessen die Schädigung elektrischer Geräte mit den horrenden Auswirkungen einer
Atombombe, die viele Menschenleben kosten würde, zu vergelten.

      3.3. Gefahr durch herabstürzende Raketenteile
Auch herabstürzende Raketenteile stellen je nach Größe und Material selbst ohne Sprengstoff
schon aufgrund ihrer hohen eigenen kinetischen Energien ein beachtliches Gefahrenpotential
dar. Bei den Fragmenten kann es sich sowohl um planmäßige Überreste handeln (z.B. um
Treibstofftankteile, die nach dem vollständigen Verbrennen des Treibstoffes von der Rakete
abgestoßen werden), als auch um unbeabsichtigte Bruchstücke, wie z.B. bei Raketenunfällen
oder aber auch bei der Raketenabwehr eines kriegerischen Angriffs.
Raketen werden von Weltraumbahnhöfen gestartet, die meistens in einem nicht bzw. sehr
dünn besiedelten Gebiet liegen. Um die Bewohner des Landes zu schützen, existiert rund um
den Weltraumbahnhof ein weitläufiges freies Gebiet, auf das die zu erwartenden
Raketenabfälle abstürzen können. Die Raketenflugbahn wird meistens so berechnet, dass
mögliche Bruchstücke in der Atmosphäre verglühen oder ins Meer stürzen. Trotzdem kommt

 16
      Vgl. Steer, Ian: Blind, deaf and dumb. In : Jane’s Defence Weekly, 23.10.2001.
      http://www.globalsecurity.org/org/news/2002/nuke_explosion.htm (01.12.2008)
 17
      Vgl. Spencer, Jan: America’s Vulnerability to a different Nuclear Threat: An Electromagnetic Pulse. In:
      The Heritage Foundation Backgrounder, Vol. 2, Washington D.C., 26.05.2000.
                                                       16
es immer wieder zu Vorfällen, bei denen Fragmente außerhalb des dafür vorgesehenen
Gebietes abstürzen. Ein Beispiel dafür bietet der weltweit größte Raketenstartplatz Baikonur
im Süden Kasachstans. Für die Bereitstellung der Fläche von 6.717 m! zahlt Russland jährlich
$115 Millionen an die kasachische Regierung in Astana. In den letzten 40 Jahren sind laut
Experten insgesamt etwa 2.5 t Weltraumschrott auf das Gebiet Altai gefallen.18 Der
Aufprallort war dabei nicht immer im vorgesehenen Bereich, sondern ebenfalls in der Nähe
von bewohntem Gebiet. So gab es verschiedene gerichtliche Verfahren, bei denen Bauern, in
deren unmittelbarer Nähe einige Meter lange Fragmente heruntergefallen sind, um
Schadenersatz klagten.

Spektakulär war der Absturz einer Proton-M Trägerrakete kurz nach dem Start am
6.September 2007, bei der in der 139. Flugsekunde in einer Höhe von 76 km plötzlich die
Triebwerke der zweiten Stufe ausfielen. Nach dem Absturz wurden über 119 herabgefallene
Fragmente bis zu 400 km vom Startpunkt entfernt gefunden. Zwei dieser Teile wiesen eine
Masse von über 400 kg auf und befanden sich 40 km nah zur Stadt Dscheskasgan.19 Eine
Einschlagsstelle war 45 Meter groß und 20 Meter tief.20 Während des Starts hatte die
Trägerrakete rund 649 Tonnen toxischen Treibstoff an Bord, zum Zeitpunkt des Absturzes
wurden 219 Tonnen Treibstoff freigesetzt. Bei den aufwändigen Aufräumarbeiten waren 200
Personen im Einsatz auf einer Gesamtfläche von 1700 km!. 12 Personen dekontaminierten
den Aufprallort bis Bodenproben Mitte Oktober schließlich ergaben, dass der Boden nicht
mehr verseucht ist.
Es war das sechste Mal, dass eine von Baikonur gestartete Rakete während der Startphase
abstützte. 21

Bei diesem Beispiel handelt es sich um einen Unfall ohne Einwirkung von Raketenabwehr.
Allerdings kann es exemplarisch für ein Szenario stehen, bei dem der Absturz der Rakete
durch ein Raketenabwehrsystem ausgelöst wird.

Abgestürzte Raketenfragmente sind gefährlich, da sie wegen ihrer hohen kinetischen Energie
eine Bomben ähnliche Wirkung aufweisen. Stürzt beispielsweise ein Raketenfragment von
500 kg aus einer Höhe von 80 km auf die Erde, so besitzt es einer potentielle Energie von 400
Megajoule. Diese obere Abschätzung, bei der noch Verluste durch Luftreibung abzuziehen
sind, entspricht etwa 100 kg TNT-Äquivalent und damit der Sprengkraft einer typischen
Bombe.

 18
      Vgl. Ria Novosti: Another Siberian villager seeks damages for fallen rocket parts. 09. 04. 2008.
      http://en.rian.ru/world/20080409/104154144.html (21.10.2008)
 19
      Vgl. Russianspaceweb : Proton fails during launch . http://www.russianspaceweb.com/proton_jcsat11.html
      (21.10.2008)
 20
      Vgl. Ria Novosti: Teile der abgestürzten Proton-Rakete in Kasachstan bereits gefunden. 07.09.2007
      http://de.rian.ru/society/20070907/77259344.html (21.10.2008)
 21
      Vgl. Ria Novosti: Russian Proton-M rocket with Japanese satellite crashes on launch. 06.09.2007
      http://en.rian.ru/russia/20070906/76959319.html (21.10.2008)
                                                        17
3.4. Gefahren durch die Verteilung von Plutonium
Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die gesundheitsschädlichen Eigenschaften
von Plutonium gegeben.

         3.4.1. Eigenschaften von Plutonium
Plutonium ist ein Schwermetall der Gruppe der Actinoide und besitzt die Ordnungszahl 94. In
der Natur kommt Plutonium nur in sehr geringen Spuren vor. Weit größer sind die Mengen,
die künstlich in Kernkraftwerken erzeugt werden. Durch Neutroneneinfang von Uran-238 und
zwei aufeinander folgende Beta-Zerfälle bildet sich Plutonium-239 (Brüten). Durch weitere
Neutroneneinfänge können auch andere Isotope entstehen.
Für Atombomben wird das so genannte waffenfähige Plutonium verwendet. Dabei handelt es
sich um Plutonium bei dem der Anteil mit 240Pu geringer als 7 % ist.

Plutonium ist sowohl giftig als auch radioaktiv, wobei die Radioaktivität die weitaus
gefährlichere Wirkung besitzt. Die chemische Giftigkeit liegt im Rahmen jedes anderen
Schwermetalls. So beträgt die für Menschen tödliche Dosis einige Milligramm.
Plutonium ist ein Alpha-Strahler. Es hat zwar eine hohe spezifische Aktivität (je nach Isotop
zwischen 3 und 600 GBq/g z.B. für Pu-239 2,3 GBq/g), jedoch nur mit einer sehr geringen
Reichweite. In Gewebe beträgt die Reichweite etwa 50 Mikrometer, sodass die Haut bereits
einen genügenden Schutz vor äußerer Bestrahlung darstellt. Gelangt Plutonium allerdings
durch Inhalation in den Körper (innere Bestrahlung), so reichen schon 27 Nanogramm aus,
um die Jahresmaximaldosis zu erreichen (siehe Tabelle 4).

Inkorporiertes Plutonium hat im Körper eine Halbwertszeit von etwa 100 Jahren. Folglich
würde innerhalb eines Menschenlebens eine in der Jugend aufgenommene Plutoniummenge
zu weniger als 50% ausgeschieden. Plutonium ist löslich und kann zu Krebs führen.

Sobald Plutonium in Kontakt mit Luft kommt, oxidiert es zu Plutoniumdioxid, das etwa ein
siebenfach größeres Volumen als das Ausgangsvolumen von Plutoniummetall annimmt22
(siehe Tabelle 2).
Plutoniumdioxid ist äußerst gefährlich, da Partikel von weniger als einem Mikrometer
Durchmesser als Aerosol oder Staubteilchen leicht eingeatmet werden und sich zunächst in
der Lunge ansammeln. Sie werden nur sehr langsam wieder ausgeschieden, weil
Plutoniumdioxid stabil ist und sich die Partikel im Blut praktisch nicht lösen.23 Somit können
schon kleinste Dosen Lungenkrebs verursachen.

Wenn die Partikel klein genug sind, gelangen sie über das Blut z.B. zu den Lymphknoten
sowie allen weiteren Körperteilen. Plutonium lagert sich vor allem an der Knochenoberfläche
(ca. 60%), in der Leber (ca. 15 %) und in der Niere (ca. 10 %) an.
Für ein Aerosol von etwa 1"m Durchmesser würde etwa 15 % des inhalierten PuO2 tief in der
Lunge mit einer Halbwertzeit von 1,4 Jahren verbleiben.

Die Inhalation einer größeren Menge PuO2 führt zu Lungenschäden, Lungenfibrose und etwa
nach einem Jahr zum Tod. Eine kleinere Menge führt mit einer geringen Wahrscheinlichkeit

 22
      Vgl. US Department of Energy: Plutonium Working Group Report on Environmental, safety and health
      vulnerabilities associated with the department’s plutonium storage. 1994. S.9
 23
      Vgl. Barleon, Leopold; Chauvistré, Eric; Daase, Christopher; von Ehrenstein, Dieter; Eisenbart, Constanze;
      Gmelin, Wilhelm; Häckel, Erwin; Kankeleit, Egbert; Marauhn, Thilo; Pistner, Christoph; Ratsch, Ulrich:
      Wohin mit dem Plutonium? Optionen und Entscheidungskriterien. FEST, Reihe B, NR. 31, September
      2004. http://www.ianus.tu-darmstadt.de/kankeleit/2004Plutonium.pdf , S. 36.
                                                       18
langfristig (typischerweise nach einer Latenzzeit von etwa 20-30 Jahren) zu Lungenkrebs und
kann damit ebenfalls tödlich sein.
Durch die Anreicherung in den Knochen kommt es zu einer langfristigen Bestrahlung des
Knochenmarks, also des blutbildenden Systems, wodurch Leukämie ausgelöst werden kann
(etwa nach einer Latenzzeit von 2-10 Jahren).
Die radioaktive Bestrahlung der körpereigenen Keimdrüsen kann ebenso ein Erbgutschaden
auslösen, der sich in Missbildungen oder Erkrankungen in der Nachfolgegeneration äußern
kann.

   Form und Umgebungsbedingungen:                               Reaktion:
 Ungeteiltes Metall bei Raumtemperatur        Relativ inert, oxidiert langsam
 (korrodiert)
 Abgespaltenes Metall bei Raumtemperatur      Reagiert schnell zu Plutoniumdioxid (PuO2)
 Fein abgespaltene Teilchen
 unter 1 mm Durchmesser                       Entzündet sich spontan bei etwa 150°

 Teilchen über 1 mm Durchmesser               Entzündet sich spontan bei etwa 500°
 Feucht, höhere Temperaturen                  Reagiert schnell zu Plutoniumdioxid (PuO2)

Tabelle 2: Reaktion von Plutonium mit Luft
(Quelle: Physical, Nuclear, and Chemical, Properties of Plutonium
http://www.ieer.org/fctsheet/pu-props.html bzw. US Department of Energy, "Assessment of
Plutonium Storage Safety Issues at DOE Facilities," DOE/DP-0123T (Washington, DC: US
DOE, Jan 1994.)

Offene Wunden und Ingestion tragen ebenfalls zur inneren Dosis bei. Da diese Partikel aber
zum Teil wieder ausgeschieden werden, stellen diese beiden Möglichkeiten eine geringere
Gefahr als Inhalation da.

Ebenfalls kann am Boden abgelagertes PuO2 wieder in die Luft aufgewirbelt werden
(Resuspension). Jedoch ist diese Konzentration wesentlich geringer als direkte Verteilung in
der Atmosphäre und damit ebenfalls klein gegenüber der direkten Inhalation. Bei sehr hoher
Kontamination spielt dies dennoch eine bedeutende Rolle.

       3.4.2. Dosisleistungsfaktoren
Radioaktivität wird in der Einheit Becquerel (Bq) (atomare Zerfälle pro Sekunde) gemessen.
Um die Schädlichkeit der Radioaktivität im Strahlenschutz anzugeben, wird die Einheit
Sievert (Energie pro Masse) genutzt. Sie gibt die Äquivalentdosis an, d.h. die biologische
Wirkung der ionisierenden Strahlung als Produkt des Qualitätsfaktors Q und der
aufgenommenen Energiedosis D (gemessen in Gray). Die Organdosis ergibt sich aus dem
Produkt eines zum Organ definierten Strahlungsgewichtungsfaktor (dimensionslos) und der
Äquivalentdosis, die auf dieses Organ wirkt.
Die natürliche jährliche Strahlendosis beträgt in Deutschland im Mittel 2 - 3 mSv.
Um zu berechnen, welche Auswirkungen eine einmal vom Körper aufgenommene
Radioaktivitätsmenge im Laufe des Lebens haben wird, werden die sogenannten
Dosisfaktoren verwendet (50-Jahre-Folgedosis bei Erwachsenen bzw. 70-Jahre-Folgedosis bei
Kindern).
Die internationale Strahlenschutzkommission ICRP (International Commission on
Radiological Protection) hat für Einzelpersonen der Bevölkerung sowie Personen mit

                                            19
beruflicher Strahlenexposition Grenzwerte berechnet und veröffentlicht. Sie dienen in
Deutschland als Grundlage für den Strahlenschutz.
  für Einzelpersonen der                        mit verschiedenen
  Bevölkerung                      Inhalation   Absorptionsklassen               Ingestion

  Lungenabsorptionsklassen         F(fast)      M (medium)       S (slow)
  Knochenoberfläche                4,0E-04      1,5E-03          1,8E-04         8,20E-06
  Leber                            8,4E-04      3,3E-04          3,9E-05         1,7E-06
  Lunge                            7,0E-06      3,3E-05          8,7E-05         1,4E-08
  Niere                            1,6E-05      6,4E-06          8,0E-07         3,4E-08
  effektiv                         1,2E-04      5,0E-05          1,6E-05         2,5E-07

  für Personen bei beruflicher
  Strahlenexposition
                                                M (nicht                         nicht
                                                spezifizierte    S (unlösliche   spezifizierte   unlösliche
  Lungenabsorptionsklassen                      Verbindungen)    Oxide)          Verbindungen    Oxide
  Knochenoberfläche                             1,0E-03          9,1E-05         8,2E-06         1,6E-06
  Leber                                         2,1E-04          1,9E-05         1,7E-06         3,4E-07
  Lunge                                         2,1E-05          4,7E-05         1,4E-08         2,9E-09
  Niere                                         4,1E-06          3,9E-07         3,3E-08         6,7E-09
  effektiv                                      3,2E-05          8,3E-06         2,5E-07         5,3E-08

Tabelle 3: Dosiskoeffizienten für Pu-239 in Sv/Bq bei innerer Strahlenexposition laut
der Strahlenschutzverordnung vom 20. Juli 2001
Die Lungenabsorptionsklassen geben an, wie schnell eine Substanz aus der Lunge ins
Blut absorbiert wird (entsprechend ihrer Löslichkeit).
(Quelle: http://www.bfs.de/de/bfs/recht/dosis.html)

Die Dosisgrenzwerte pro Kalenderjahr werden ebenfalls in der Strahlenschutzverordnung
festgelegt. Für Einzelpersonen der Bevölkerung liegt die maximale effektive Dosis pro Jahr
bei 1mSv und für Personen bei beruflicher Strahlenexposition bei 20 mSv. Außerdem wird für
diese Berufsgruppe auch noch ein Grenzwert für die verschiedenen Organe angegeben, z.B.
für die Knochenoberfläche 300 mSv und die Lunge 150 mSv.

Daraus ergeben sich für Plutoniumdioxid (unlöslich) bei Inhalation folgende Maximalwerte
pro Jahr (siehe Tabelle 4):

                                                                             entspricht
                                 Grenzwerte            Aktivität
                                                                            etwa Pu- 239
    Einzelpersonen
                                  effektiv               63 Bq                   27ng
   der Bevölkerung

     Personen bei
      beruflicher                 effektiv             2400 Bq                   1µg
  Strahlenexposition
                           Knochenoberfläche             33 Bq                   14ng

 Tabelle 4: Maximalwerte für Plutoniumdioxid (unlöslich) pro Jahr bei Inhalation (nach
 dem gültigen Grenzwert in Deutschland)

                                                  20
3.4.3. Gesundheitsschäden - Szenarien von Plutonium Verteilung
Zum Vergleich mit den hier relevanten Daten wird Bezug genommen auf die rund 12 PBq
Plutonium, die durch die historischen Kernwaffentests in die Atmosphäre gelangt sind, wovon
das meiste durch oberirdische Kernwaffentests vor 1963 freigesetzt wurde.24 Das Verhältnis
von 240Pu zu 239Pu in der Atmosphäre wird mit 0.163 berichtet.25 Daraus lässt sich berechnen,
dass insgesamt 4,48 t Plutonium in die Atmosphäre eingebracht worden sind, davon 4,29 t
239
   Pu. Aus dieser und anderen kleineren Quellen (u.a. Wiederaufarbeitungsanlagen,
Tschernobyl) resultiert eine globale Verteilung, die in den mittleren Breiten der nördlichen
Hemisphäre in den 90er Jahren Quartalsmittelwerte der bodennahen Luft von 0,4 nBq/m3 bis
4 nBq/m3 erreichte.26

Zur Untersuchung der möglichen Risiken und Gesundheitsschäden durch die Verteilung von
Plutonium (z.B. durch einen „shortfall“ oder auch durch den Absturz nach einem
missglückten Raketenstart) wird hier auf eine Studie von Steve Fetter and Frank von Hippel
Bezug genommen, die 1990 in der Zeitschrift Science & Global Security veröffentlicht
wurde.

Laut Steve Fetter and Frank von Hippel ist selbst im schlimmsten Fall der
Plutoniumzerstreuung nicht mit starken Dosen außerhalb des direkten Zentrums zu rechnen27 .
Deshalb werden an dieser Stelle nur die Folgen der Inhalation einer mittleren Dosis und die
damit verbundene Krebsgefahr behandelt.
Die Autoren zeigen anhand drei verschiedener Modelle zur Einschätzung der Krebsgefahr,
dass die Inhalation von PuO2 etwa einen Risikofaktor von 3-12 Krebstoten pro Milligramm
eingeatmeten Waffenplutoniums darstellt28.
Für die gesamte Weltbevölkerung von 6,7 Milliarden Menschen folgt daraus bei einer
globalen Hintergrundkonzentration von 1 nBq/m3 eine Rate von 60 bis 250 zusätzlichen
vorzeitigen Krebstoten pro Jahr.29
Zur Schätzung der Krebsgefahr bei den genannten Szenarien wird die verbreitete Annahme
verwendet, dass die Gefahr linear mit der Dosis wächst.
Abhängig von der Bevölkerungsdichte und den Wind- und Wetterbedingungen kann mit dem
wedge-Model für die atmosphärische Ausbreitung die Anzahl an Krebstoten durch
unmittelbare Inhalation geschätzt werden (vgl. Tabelle 5).

Ein worst-case Szenarium, bei dem 30 km entfernt vom Stadtkern von Seattle 10 kg
Waffenplutonium freigesetzt werden und der Wind in Richtung der Stadt weht, ergibt
schätzungsweise bei trockenen Verhältnissen 20-2000 Krebstote.
Da sich diese Zahl jedoch über einen längeren Zeitraum verteilt, kann eventuell keine erhöhte
regionale Krebsrate festgestellt werden.30

 24
      Vgl. Eisenbud, Merril; Gesell, Thomas: Environmental Radioactivity. Fourth Edition. Academic Press: San
      Diego 1967, S. 310.
 25
      Vgl. Krey, P.W.: Remote plutonium contamination and total inventories from Rocky Flats. Health Physics
      30, 1976, S. 209-214.
 26
      Vgl. Arnold, D.; Wershofen, H: Plutonium isotopes in ground-level air in Northern Germany since 1990.
      Radioanalytical and Nuclear Chemistry, 234, No. 2, 2000, S. 409-413.
 27
      Vgl. Fetter, Steve; Hippel, Frank von: The Hazard from Plutonium Dispersal by Nuclear-warhead
      Accidents. In: Science & Global Security, 1990, Volume 2, S. 2l-41
 28
      Vgl. Fetter, Steve; Hippel, Frank von: The Hazard from Plutonium Dispersal by Nuclear-warhead
      Accidents. In: Science & Global Security, 1990, Volume 2, S. 23
 29
      Eine Atemrate von 15,6 Liter pro Minute wird angenommen.
                                                      21
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