Gesellschaftliche Sozialintegration - Konzeptionelle Grundlagen und offene Fragen

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FGZ Working Paper Nr. 2            Juni 2022

Gesellschaftliche
Sozialintegration
Konzeptionelle Grundlagen
und offene Fragen

                              Daniela Grunow
                              Patrick Sachweh
                                Uwe Schimank
                          Richard Traunmüller
Empfohlene Zitierweise
Daniela Grunow, Patrick Sachweh, Uwe Schimank und Richard Traunmüller. 2022. Gesellschaftliche Sozialintegration. Konzeptionelle Grundlagen
und offene Fragen. FGZ Working Paper Nr. 2. Leipzig: Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt. fgz-risc.de/wp-2.

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Angle-Right Autor:innen: Prof. Dr. Daniela Grunow, Teilinstitut Frankfurt a.M.
            E-Mail grunow@soz.uni-frankfurt.de | Tel: 069 79836645 (Sekretariat)
Angle-Right Redaktion: Dr. Taylan Yildiz, FGZ Forschungskoordination
            E-Mail: t.yildiz@em.uni-frankfurt.de | Tel.: 069 79831468
Angle-Right Verlag: Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt
            Dr. Mathias Rodatz, FGZ Publikationsmanagement
            FGZ Geschäftsstelle Leipzig | Universität Leipzig | Nikolaistraße 6-10 | 04109 Leipzig
            E-Mail: mathias.rodatz@uni-leipzig.de | Tel.: 0341 9737762

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                              creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0.
FGZ Working Paper Nr. 2 (Juni 2022)

Gesellschaftliche Sozialintegration.
Konzeptionelle Grundlagen und offene Fragen

Daniela Grunowa , Patrick Sachwehb , Uwe Schimankb und Richard Traunmüllera
Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt
a
  Teilinstitut Frankfurt a.M.
b
  Teilinstitut Bremen

Abstract. Ist der soziale Zusammenhalt gefährdet? In diesem Papier bieten wir mit dem Konzept der Sozialintegration
einen analytischen Zugriff auf Zusammenhaltsprobleme von Gegenwartsgesellschaften an. Wir stellen drei grundlegende
Fragen: (1) Wie wird Sozialintegration erzeugt? D. h. welches sind ihre zentralen Mechanismen? (2) Ist Sozialintegration
eine funktional notwendige Voraussetzung für Gesellschaften, wie die Sorge um ihre Erosion andeutet? Oder ist sie ein
Ziel an sich, das heißt ein normativ erstrebenswerter Zustand? (3) Was sind die Kosten der Sozialintegration für die
Gesellschaft insgesamt, ihre einzelnen Mitglieder oder bestimmte soziale Gruppen? Wir fragen hier nach der dunklen Seite
der Sozialintegration, d. h. ihren unbeabsichtigten Nebenwirkungen.

Keywords. Empirische Sozialforschung, Gesellschaftstheorie, Konflikt, Sozialintegration, Sozialtheorie, Zusammenhalt

     n den letzten Jahrzehnten wurden und werden Gegen-                           mung, von den aktuellen Krisen zu abstrahieren und unsere

I    wartsgesellschaften durch eine Reihe von Krisen
     erschüttert, die im Verdacht stehen, den gesellschaftli-
chen Zusammenhalt zu gefährden. Die globale Finanz- und
                                                                                  Ausführungen in den breiteren Kontext von Bedingungen,
                                                                                  Ingredienzien und Bezugsgrößen gesellschaftlichen Zusam-
                                                                                  menhalts zu stellen.
Wirtschaftskrise und die daraus resultierenden Staatsschul-                          Die oft zu hörende Einschätzung, dass der gesellschaftli-
denkrisen, die Krise der Eurozone, die Folgen der ›Migra-                         che Zusammenhalt gefährdet sei, bedürfte einer kritischen,
tionswelle‹ des Sommers 2015, die Klimakrise, die COVID-                          analytisch informierten Reflexion. Im Einzelnen stellen sich
19-Pandemie und zuletzt die sozialen und wirtschaftlichen                         viele offene Fragen zur Konzeptualisierung von Sozialin-
Folgen des Ukrainekriegs werfen immer wieder Fragen zur                           tegration, ihren Erscheinungsformen, Bedingungen und
Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf (Ger-                            Determinanten sowie ihren Wirkungsweisen und Effekten
hards et al. 2019; Lahusen und Grasso 2018; Lengfeld 2017;                        einschließlich ihrer für Gesellschaften und Gruppen poten-
Lux 2018; Rippl und Seipel 2018; Sachweh 2020; van Bavel                          ziell kontraproduktiven Nebenwirkungen. Unser Ziel in
et al. 2020).                                                                     dieser Debattenlage ist es, mithilfe des Konzepts der Sozi-
   Der vorliegende Beitrag1 rahmt diese Diskussionen sozio-                       alintegration den Sozialwissenschaften, darunter denjeni-
logisch, indem er die Probleme, die diese verschiedenen                           gen Forschenden des Forschungsinstitut Gesellschaftlicher
Krisen gemeinsam haben, in eine etablierte soziologische                          Zusammenhalt (FGZ), die sich in der Tradition empirisch-
Forschungstradition zur gesellschaftlichen Sozialintegra-                         analytischer Herangehensweisen an soziale Phänomene ver-
tion übersetzt (Parsons 1951: 36-45; Lockwood 1964; Fried-                        orten, konzeptionelle Werkzeuge und Perspektiven an die
richs/Jagodzinski 1999; Holmwood 2006). Diese Rahmung                             Hand zu geben, um hierzu empirisch fundierte Antworten
ermöglicht es uns erstens, auf drängende politische Debat-                        zu erarbeiten.
ten als Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit                          Indem wir dieses empirisch-analytische Verständnis
einer analytischen Distanz zu reagieren, die in den theore-                       von gesellschaftlichem Zusammenhalt als Sozialintegration
tischen Konzepten und empirischen Forschungsmethoden                              explizieren, treten wir also zum einen mit anderen Sozialwis-
der Soziologie begründet ist. Zweitens erlaubt unsere Rah-                        senschaftlerinnen und -wissenschaftlern, die gesellschaftli-
                                                                                  chen Zusammenhalt anders begreifen, in eine Diskussion:
1
    Es handelt sich um eine deutschsprachige und gekürzte Fassung des Einlei-     Was sind die Stärken und Schwächen ihres Herangehens im
    tungskapitels für das Sonderheft 2023 der Kölner Zeitschrift für Soziologie   Vergleich zu unserem? Zum anderen adressieren wir mit
    und Sozialpsychologie zum Thema Social Integration, das in englischer Spra-
    che erscheinen wird. Für zahlreiche hilfreiche Hinweise zu dieser Fassung     unserem Vorschlag aber auch Kulturwissenschaftlerinnen
    danken wir Taylan Yildiz.                                                     und -wissenschaftler und fragen: Können sie mit unseren
Grunow/Sachweh/Schimank/Traunmüller: Gesellschaftliche Sozialintegration                                                                          2

Überlegungen für ihre Fragestellungen an gesellschaftlichen                       siven sozialen Probleme zurückzuführen, die sich in Europa
Zusammenhalt etwas anfangen?                                                      in Folge jener gesellschaftlichen Umwälzungen eingestellt
   Zur Eingrenzung dessen, was wir hier leisten wollen, ist                       hatten, die die Französische Revolution und die industri-
es zunächst sinnvoll, die Perspektiven einer allgemeinen                          elle Revolution nach sich zogen (Müller 2021). Seitdem
Sozialtheorie und einer Theorie der modernen Gesellschaft                         sind immer wieder Debatten über den Zustand oder die
zu unterscheiden.2 Bei Ersterer handelt es sich um eine ahis-                     Gefährdung gesellschaftlicher Sozialintegration aufgekom-
torische, abstrakte Perspektive, die die Mikro-, Meso- und                        men. Von den frühen Ängsten vor dem Niedergang einer –
Makroebene der Sozialintegration umfasst.3 Die zweite Per-                        angeblich bis dahin funktionierenden – Gemeinschaft durch
spektive, die wir in diesem Beitrag fokussieren wollen, kon-                      Kapitalismus, Verstädterung, Individualisierung und Plura-
zentriert sich im Gegensatz dazu auf den gegenwärtigen                            lisierung bis hin zu aktuellen Befürchtungen im Zusammen-
Zustand und die künftige Entwicklung des Zusammenhalts                            hang mit Migrationsprozessen und globalen Abhängigkei-
in Gegenwartsgesellschaften und die damit verbundenen                             ten zieht sich eine unablässige Beschäftigung der Soziologie
Herausforderungen. Aus dieser Perspektive ist die Makro-                          mit der Sozialintegration der modernen Gesellschaft. Die
ebene der Gesellschaft als Ganzes der Bezugspunkt, und                            verwendete Begrifflichkeit ist dabei alles andere als einheit-
nicht die interne Integration gesellschaftlicher Teilbereiche                     lich. Neben dem hier vorgeschlagenen Konzept der Sozialin-
wie etwa der Wirtschaft oder des Bildungssystems, von                             tegration wurden und werden Begriffe wie soziale Kohäsion
Organisationen, sozialen Gruppen oder von Interaktions-                           (Dragolov et al. 2013), compliance (Etzioni 1975), Konformität
situationen. Zeitlich konzentrieren wir uns auf die Gegen-                        (Deitelhoff/Schmelzle 2023), Solidarität (Durkheim 1964)
wart und nähere Zukunft, dabei allerdings berücksichti-                           oder Zusammenhalt (Deitelhoff et al. 2020) genutzt. Gemein-
gend, dass gegenwärtige und zukünftige Gegebenheiten,                             sam ist diesen Begriffen, dass Kooperation und Koordination
Aussichten und Aspirationen immer auch durch vergan-                              als Modi von Sozialintegration verstanden werden. Weitere
gene Ereignisse und Erfahrungen geprägt sind.                                     einschlägige Begriffe wären Identifikation mit einer sozialen
   Wir sind von der Relevanz einer kritischen Reflexion der                       Ordnung, Sozialkapital (Putnam 2000), Konsens (Graham
These, dass der soziale Zusammenhalt – in unserer Kon-                            1984) oder Vertrauen. Als Gegenbegriffe von Sozialintegra-
zeption, die Sozialintegration – westlicher Gegenwartsge-                         tion dienen u. a. Konflikt, Devianz, Rebellion, Rückzug, Miss-
sellschaften gefährdet sei, überzeugt. Im Folgenden stel-                         trauen oder Anomie – und damit höchst unterschiedliche
len wir zunächst die aus unserer Sicht wichtigsten Bau-                           Phänomene.
steine eines Konzepts der Sozialintegration für das hier skiz-                       Sowohl die Synonyme als auch die Antonyme suggerieren
zierte Erkenntnisinteresse vor. Zweitens formulieren wir                          allerdings schnell ein zu einfaches Verständnis von Sozialin-
drei große Leitfragen, die unseres Erachtens von besonderer                       tegration als konsensbasiert, das insbesondere dem Zusam-
Bedeutung sind, um theoretisch wie empirisch gehaltvolle                          menhalt differenzierter, pluralisierter und sich unablässig
und reflektierte Beiträge zur gegenwärtigen und zukünf-                           wandelnder moderner Gesellschaften nicht gerecht wird.
tigen Sozialintegration von Gegenwartsgesellschaften zu                           Moderne Gesellschaften beruhen nicht auf einer übergrei-
leisten und so die Forschung zum gesellschaftlichen Zusam-                        fenden Übereinkunft bezüglich geteilter Werte, Weltsichten,
menhalt voranzubringen. Zu jeder dieser Leitfragen stel-                          Religionen, politischer Überzeugungen etc. Im Gegenteil
len wir Überlegungen zu deren Einordnung, zu unklaren                             bringt die Moderne in all diesen und weiteren Hinsichten
Aspekten und ungelösten theoretischen oder empirischen                            Differenzen hervor. Diese werden zudem nicht bloß hinge-
Problemen an und schlagen Ansatzpunkte vor, die aus unse-                         nommen und toleriert, sondern als wünschenswert ange-
rer Sicht analytisches Potenzial haben. Wir schließen mit                         sehen und gefördert – etwa als Quelle von Innovationen in
einem Fazit zu den aktuellen und zukünftigen Herausfor-                           Wissenschaft und Technik, in der Kunst oder mit Blick auf
derungen, denen sich die Forschung zum gesellschaftlichen                         Lebensweisen. Die Sozialintegration der Moderne ist kein
Zusammenhalt stellen muss.                                                        groupthink (Janis 1972), also eine ständige wechselseitige
                                                                                  Bestätigung, dass man sich einig ist, sondern sie kultiviert
                                                                                  ganz im Gegenteil eine grundsätzliche Offenheit für Kon-
1 Das Konzept der Sozialintegration                                               flikte, also kommunizierte Uneinigkeiten. Dies ist das para-
                                                                                  doxe Wesen der Sozialintegration moderner Gesellschaften:
In diesem Abschnitt geht es zunächst um das Konzept der
                                                                                  Es handelt sich um soziale Ordnungen, die zwar nicht nur,
Sozialintegration. Manche mögen die folgenden Ausfüh-
                                                                                  aber doch ganz wesentlich fortwährender Irritation bedür-
rungen als ›langen, steinigen Weg‹ empfinden; weil aber
                                                                                  fen, um als flexible und leistungsfähige Ordnungen fortzu-
das, was unter Sozialintegration verstanden wird, in der
                                                                                  bestehen.
soziologischen Literatur teilweise sehr unterschiedlich ist,
erscheint uns eine genauere Klärung unerlässlich, damit wir
nicht aneinander vorbeireden.
  Die Soziologie wurde sehr früh in ihrer Fachgeschichte
                                                                                  1.1 Zwei analytische Bezugspunkte
mit Phänomenen konfrontiert, die man als Krisenerschei-
nungen gesellschaftlicher Sozialintegration bezeichnen                            Bevor wir eine theoretische Perspektive präsentieren, die zu
kann – insbesondere mit der Anfang des 19. Jahrhunderts                           diesen Realitäten moderner Gesellschaften passt, sind zwei
drängend aufkommenden ›sozialen Frage‹. Man könnte                                analytische Bezugspunkte zu unterscheiden, hinsichtlich
sogar so weit gehen, die Geburt der Soziologie auf die mas-                       derer Sozialintegration betrachtet werden kann:
2
                                                                                  Angle-Right Auf der einen Seite kann man an der gesellschaftlichen
  Zu dieser Unterscheidung siehe Luhmann (1984, 14-16) und Lindemann
  (2018, 14-16.)                                                                              Integration bestimmter Kategorien von Personen, also
3
  Aus dieser Perspektive wäre die Sozialintegration von Arbeitsteams in                       Gruppen interessiert sein. In welchem Maße halten sich
  einer zeitgenössischen Organisation oder von kleinen Gruppen australischer                  beispielsweise Angehörige der oberen im Vergleich zu
  Aborigines vor dreitausend Jahren ebenso relevant wie die Sozialintegra-
  tion der heutigen Vereinigten Staaten im Hinblick auf Konflikte entlang                     den mittleren Mittelschichten an die Gesetze, sprechen
  verschiedener Dimensionen (etwa ethnicity, race und class).                                 mit ihren Nachbarinnen und Nachbarn und haben Ver-

                                                    FGZ Working Paper Nr. 2 (Juni 2022) · fgz-risc.de/wp-2
Grunow/Sachweh/Schimank/Traunmüller: Gesellschaftliche Sozialintegration · 1 Das Konzept der Sozialintegration                                 3

            trauen in die Demokratie? Wenn man Fragen wie diese                    vor, die in der Wirtschaft gebraucht werden; und dies kann
            verfolgt, kann man bestimmte Kategorien von Perso-                     zu Problemen in bestimmten Wirtschaftsbranchen oder in
            nen als in bestimmten Hinsichten mehr oder weniger                     der Wirtschaft insgesamt führen.
            in die deutsche Gesellschaft integriert einstufen. Richard                Aus dieser Perspektive können die Teilsysteme der moder-
            Münch (2015: 243) spricht hier von »actor integration«.                nen Gesellschaft einander gegenseitig mit vielfältigen Pro-
Angle-Right Auf der anderen Seite kann man sich für die übergrei-                  blemen konfrontieren. Das klingt zunächst einmal so, als
            fende Sozialintegration einer Gesellschaft – etwa Deutsch-             hätte die funktionale Differenzierung eine Vielzahl von Pro-
            lands – interessieren. Wie sehr vertrauen die Gesell-                  blemzonen gesellschaftlicher Integration hervorgebracht.
            schaftsmitglieder einander, wie viel Konsensus besteht                 Doch das Gegenteil ist der Fall: Die meisten dieser potentiel-
            bezüglich bestimmter Werte, welcher Anteil der Bevölke-                len Probleme gesellschaftlicher Systemintegration erreichen
            rung hält sich an bestimmte Normen? Mit solchen Fragen                 niemals ein Ausmaß, das für die Gesellschaft insgesamt kri-
            richten wir den Blick auf »action integration« (Münch                  tisch wäre. Genau dies ist ein Ergebnis funktionaler Differen-
            2015: 43) einer gegebenen gesellschaftlichen Ordnung                   zierung: die Fragmentierung – durch Multiplizierung – von
            – das Ausmaß der Passung oder Nicht-Passung dessen,                    Problemzonen gesellschaftlicher Integration. Die historische
            was alle Gesellschaftsmitglieder denken und tun.                       Entwicklung moderner Gesellschaften zeigt, dass immer
Beide Bezugspunkte sind wichtig – doch sie lenken unsere                           wieder verlässliche Mechanismen des Umgangs mit solchen
Aufmerksamkeit auf sehr unterschiedliche Aspekte von                               Problemen gesellschaftlicher Systemintegration gefunden
Sozialintegration. Auch wenn man – wie wir – an der über-                          wurden (Schimank 1999).
greifenden Sozialintegration einer Gesellschaft, also gesell-                         Das Fehlen wirklich kritischer Probleme gesellschaftlicher
schaftlicher Sozialintegration, interessiert ist, kann es aller-                   Systemintegration erweist sich im generellen Funktionie-
dings aufschlussreich oder sogar unerlässlich sein, sich mit                       ren der gesellschaftlichen Teilsysteme; und zwar obwohl es
der Integration von Gruppen in die Gesellschaft zu beschäf-                        immer wieder punktuelle medienwirksame Skandale des
tigen. Wenn man beispielsweise Gründe für die Vermutung                            Nicht-Funktionierens gibt. Die Gesellschaftsmitglieder kön-
hat, dass bestimmte Gruppen die gesellschaftliche Sozialin-                        nen so ein prinzipielles »Systemvertrauen« (Luhmann 1973:
tegration gefährden könnten, macht es Sinn, genauer hinzu-                         50-66) entwickeln – also etwa Vertrauen in Geldwertstabili-
schauen, wie die Gruppenmitglieder gesellschaftlich inte-                          tät, die Demokratie oder in wissenschaftliches Wissen. Das
griert sind und in welchen Hinsichten es Integrationspro-                          Niveau an Systemintegration ist vor diesem Hintergrund
bleme geben könnte.                                                                eine wichtige Größe, die das Niveau gesellschaftlicher Sozi-
                                                                                   alintegration mitbestimmt: Je höher erstere, desto höher ceris
                                                                                   paribus letztere. Solange die Wirtschaft oder das Gesund-
1.2 Systemintegration                                                              heitswesen funktionieren, kommen die allermeisten Gesell-
                                                                                   schaftsmitglieder nicht auf die Idee, klammheimlich ihre
Nachdem unser analytischer Bezugspunkt geklärt ist, kann                           Gefolgschaft zu verweigern oder gar offen zu rebellieren.
man sich nun der Frage zuwenden, um welche Eigenschaf-                             Umgekehrt gilt freilich: Das Niveau an Systemintegration
ten einer Gesellschaft es geht, wenn man über ihre Sozialin-                       hängt entscheidend auch davon ab, wie hoch die gesell-
tegration spricht. Eine sehr abstrakte erste Antwort Niklas                        schaftliche Sozialintegration ist. Denn Systemintegration
Luhmanns (1997: 603) lautet, dass Integration ein Merk-                            wird – anders als das aus systemtheoretischer Perspektive
mal zusammengesetzter Einheiten ist, die aus miteinander                           gesehen wird – von Akteuren, letztlich individuellen Perso-
verknüpften Elementen bestehen. Auf dieser Abstraktions-                           nen, vollzogen. Das Funktionieren von Gesellschaft resul-
ebene könnte man ebenso gut über die Integration einer                             tiert folglich daraus, dass Individuen verlässliche Agenten
Maschine, des menschlichen Körpers oder einer Symphonie                            der Logiken und Wechselbeziehungen der verschiedenen
sprechen. Die Gesellschaft ist zweifellos eine Einheit, die                        gesellschaftlichen Teilsysteme sind. Wenn Individuen in
aus einer Vielzahl von Untereinheiten zusammengesetzt ist.                         ihren – zumeist – Berufsrollen diese ›funktionale Mission‹
Sozialintegration bezieht sich insofern auf die Beziehungen                        – aus welchen Gründen auch immer – als essentiellen Teil
zwischen den Untereinheiten einer Gesellschaft.                                    ihrer gesellschaftlichen Sozialintegration vernachlässigen,
   In Luhmanns systemtheoretischer Betrachtung sind die                            steht gesellschaftliche ›Systemintegration‹ vor einem Pro-
primären Untereinheiten der funktional differenzierten                             blem.
modernen Gesellschaft deren Teilsysteme – Wirtschaft, Poli-                           Systemintegration ist damit ein wichtiger Bestandteil der
tik, Wissenschaft, Intimbeziehungen usw. Entsprechend                              Integration moderner Gesellschaften und hängt wie dar-
interessiert sich Luhmann hier vor allem für Systeminte-                           gestellt eng mit Sozialintegration zusammen. Im Weiteren
gration – die Abstimmung der Wechselwirkungen zwischen                             konzentrieren wir uns jedoch, angesichts der aktuell domi-
gesellschaftlichen Teilsystemen, so dass keines von ihnen                          nierenden Diagnosen zu den Gefährdungen gesellschaftli-
den anderen unlösbare Probleme bereitet (Luhmann 1977:                             chen Zusammenhalts, auf die Sozialintegration.
242-248).4 So ist beispielsweise das Bildungssystem neben
seinen anderen Funktionen, etwa für die Persönlichkeitsent-
wicklung oder die Herausbildung staatsbürgerlicher Kom-                            1.3 Akteure und einander überschneidende
petenzen, auch für die Vermittlung wichtiger Qualifikatio-
                                                                                       soziale Ordnungen
nen verantwortlich, die in der Industrie benötigt werden;
und wenn es diese Funktion über längere Zeit vernachläs-
                                                                                   Sozialintegration beschreibt die Integration von Akteuren
sigte, würde dies zu einer mangelnden Systemintegration
                                                                                   in eine soziale Ordnung. Die Akteure müssen die Ordnung
zwischen Bildung und Wirtschaft führen. Die Schulen und
                                                                                   – umgangssprachlich ausgedrückt – ›mittragen‹. Im ersten
Hochschulen brächten nicht die Art von Arbeitskräften her-
                                                                                   Schritt betrachtet man also actor integration – aber mit Blick
4
    Zur Unterscheidung von Sozial- und Systemintegration siehe Lockwood            auf action integration, also den Zustand der betreffenden
    (1964) und Mouzelis (1997).                                                    sozialen Ordnung.

                                                     FGZ Working Paper Nr. 2 (Juni 2022) · fgz-risc.de/wp-2
Grunow/Sachweh/Schimank/Traunmüller: Gesellschaftliche Sozialintegration · 1 Das Konzept der Sozialintegration                                         4

            Wichtig ist hierbei zunächst, in Rechnung zu stellen, dass                         schaftliche Sozialintegration stärken – etwa bei einer
Akteure nicht nur individuelle Personen sind, und dass                                         Staatskirche, die ihre Angehörigen nicht nur in religiösen
eine soziale Ordnung nicht unbedingt eine gesellschaftliche                                    Belangen, sondern umfassend als Gesellschaftsmitglieder
Ordnung ist:                                                                                   diszipliniert.
Angle-Right Zwei Arten von Akteuren sind zu unterscheiden: individu-               Angle-Right Umgekehrt kann ein geringes Maß an Sozialintegration
            elle Personen und composite actors (Scharpf 1997: 52-60).                          einer sozialen Ordnung unterhalb der Gesellschaftsebene
            Letztere bestehen aus einer Mehrzahl individueller Per-                            die gesellschaftliche Sozialintegration schwächen. Hier-
            sonen. Weiterhin können zwei Arten von composite actors                            für wäre eine Zunahme des bowling alone (Putnam 2000)
            unterschieden werden: kollektive Akteure wie Kleingrup-                            ein Beispiel – etwa von Wohnvierteln, in denen die Nach-
            pen, Massen oder soziale Bewegungen sowie korporative                              barinnen und Nachbarn nichts miteinander zu tun haben
            Akteure, insbesondere Organisationen und Nationalstaa-                             und wo die Kriminalitätsraten steigen, weil niemand sich
            ten.                                                                               für andere verantwortlich fühlt.
Angle-Right Mit Blick auf soziale Ordnungen unterhalb der Gesell-                  Angle-Right Auch ein hohes Maß an Sozialintegration einer sozia-
            schaftsebene sind mehrere einander überschneidende                                 len Ordnung unterhalb der Gesellschaftsebene kann die
            Dimensionen zu betrachten. Es gibt große soziale Ord-                              gesellschaftliche Sozialintegration schwächen; z.B. wenn
            nungen wie etwa gesellschaftliche Teilsysteme und kleine,                          eine hochgradig geschlossene soziale Bewegung, die sich
            oft nicht sehr langlebige soziale Ordnungen wie einzelne                           für die Unabhängigkeit einer Region einsetzt, die gesell-
            Interaktionen oder Kleingruppen. Soziale Ordnungen                                 schaftliche Ordnung nicht mehr anerkennt.
            können informeller Natur sein, etwa Nachbarschaften,                   Angle-Right Schließlich kann ein geringes Maß an Sozialintegration
            oder formalisiert wie rechtliche Verfahren oder Organi-                            einer sozialen Ordnung unterhalb der Gesellschaftsebene
            sationen. Bestimmte Arten sozialer Ordnung sind inein-                             die gesellschaftliche Sozialintegration auch stärken. Ein
            ander verschachtelt – insbesondere Interaktionen, die im                           Beispiel hierfür wäre eine soziale Klasse ohne Klassen-
            Rahmen von Organisationen stattfinden, die wiederum in                             bewusstsein und politische Organisationen, die gemein-
            gesellschaftlichen Teilsystemen angesiedelt sind.5 Soziale                         same, gegen die etablierte gesellschaftliche Ordnung
            Ordnungen können einander aber auch überlappen –                                   gerichtete Interessen nicht zu mobilisieren und durch-
            etwa ein gesellschaftliches Teilsystem wie die Wissen-                             zusetzen vermag.
            schaft und ein Milieu wie die Mittelschichten: Viele, aber             Für alle vier Möglichkeiten gibt es viele empirische Beispiele.
            nicht alle wissenschaftlich Tätigen sind Mittelschichtan-              Eine wichtige Aufgabe weiterer Forschungen besteht darin,
            gehörige, aber die meisten Mittelschichtangehörigen sind               Bedingungen dafür zu spezifizieren, wann welche dieser
            keine Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.                        Möglichkeiten auftritt.
Wir interessieren uns hier für die Sozialintegration indivi-
dueller Personen in die Gesellschaft. Wir betrachten also
beispielsweise nicht Großkonzerne hinsichtlich ihrer Steu-                         1.4 Wohlgeordnete Einheit
ermoral oder den inneren Zusammenhalt der Mafia. Wir
widmen uns auch nicht der Sozialintegration von Ordnun-                            Betrachtet man die individuellen Akteure und deren han-
gen unterhalb der Gesellschaftsebene wie beispielsweise                            delndes Zusammenwirken untereinander im Rahmen einer
einer Nachbarschaft oder einer Gesprächsrunde bei einer                            gesellschaftlichen Ordnung, lässt sich nun fragen: Wie muss
Feier – auch wenn das ebenfalls relevante soziologische The-                       dieses Zusammenwirken beschaffen sein, um die Sozialin-
men sind.                                                                          tegration der gesellschaftlichen Ordnung sicherzustellen?
            Es ist allerdings für die Betrachtung gesellschaftlicher               Zurück zu Luhmanns abstrakter Charakterisierung von Inte-
Sozialintegration oftmals unumgänglich, die sozialen Ord-                          gration: Eine zusammengesetzte Einheit wie die Gesellschaft
nungen unterhalb der Gesellschaftsebene, in die Perso-                             ist dann wohlintegriert, wenn zwischen den Akteuren als
nen integriert sind, zur Kenntnis zu nehmen. Denn die                              Elementen die Relationen – also das handelnde Zusammen-
gesellschaftliche Sozialintegration einer Person geht aus                          wirken – hinreichend geordnet sind, also die gesellschaftli-
der Gesamtheit ihrer Integrationen in diese teils ineinander                       che Ordnung tragen und nicht untergraben. Anders gesagt
verschachtelten, teils nebeneinander bestehenden sozialen                          ist gesellschaftliche Sozialintegration dann gegeben, wenn
Ordnungen hervor. Zwar ist auch die Gesellschaft selbst                            sich eine hinreichende Anzahl der Gesellschaftsmitglieder
eine soziale Ordnung, in die sich Gesellschaftsmitglieder                          in ihrem handelnden Zusammenwirken hinreichend in die
unmittelbar integrieren können – insbesondere als imagined                         gesellschaftliche Ordnung einfügen – was einen geordneten
community (Anderson 2006) des ›Volkes‹, formalisiert als                           Wandel dieser Ordnung einschließt.
Staatsangehörigkeit. Für sich allein würde diese Direktin-                            Das extreme Gegenteil von Sozialintegration – für Talcott
tegration in die Gesellschaft aber längst nicht ausreichen.                        Parsons (1937) der analytische Startpunkt seiner Überlegun-
Die gesellschaftliche Sozialintegration bedarf vielmehr der                        gen zu Georg Simmels (1908: 21-30) berühmter Frage: »Wie
multiplen Integrationen von Personen in vielfältige soziale                        ist Gesellschaft möglich?” – wird in Thomas Hobbes (1973:
Ordnungen unterhalb der Gesellschaftsebene.                                        64) ebenso berühmtem Szenario eines »warre, as if of every
            Die Sozialintegration einer Person in soziale Ordnungen                one against every one” skizziert, das vor dem Erfahrungs-
unterhalb der Gesellschaftsebene trägt also zur gesellschaft-                      hintergrund der frühmodernen Religionskriege in Europa
lichen Sozialintegration bei, kann sie aber auch schwächen.                        und insbesondere England zu sehen ist. Weniger extreme
Wir betonen hier vier mögliche Ausprägungen des Verhält-                           Zustände fehlender Sozialintegration kennzeichnen etwa
nisses beider Integrationsebenen:                                                  Edward Banfields (1967) amoral familism, also das geringe
Angle-Right Ein hohes Maß an Sozialintegration einer sozialen Ord-                 Vertrauen in Mitmenschen jenseits der eigenen Familie in
            nung unterhalb der Gesellschaftsebene kann die gesell-                 Süditalien, oder Robert Putnams (2000) bowling alone, der
                                                                                   die Diagnose einer Erosion von Sozialkapital in den USA
5
    Zu dieser Ebenendifferenzierung siehe Luhmann (1975).                          während der zurückliegenden Jahrzehnte gestellt hat. Alle

                                                     FGZ Working Paper Nr. 2 (Juni 2022) · fgz-risc.de/wp-2
Grunow/Sachweh/Schimank/Traunmüller: Gesellschaftliche Sozialintegration · 1 Das Konzept der Sozialintegration                                  5

drei Szenarien nennen, nebenbei bemerkt, fehlende Sozial-                          von fremdenfeindlichen Gruppen angegriffen werden. Viele
integration als entscheidende Ursache dafür, dass die Vor-                         solcher Aktivitäten tragen zur gesellschaftlichen Sozialinte-
teile von Koordination und Kooperation beim handelnden                             gration bei, auch wenn die Handelnden das selbst gar nicht
Zusammenwirken nicht zum Tragen kommen können. So                                  bemerken oder es ihnen egal ist. Viele Leute respektieren
stellt Hobbes (1973: 65) klar, dass in einer Situation totali-                     beispielsweise einfach deshalb bestimmte Regeln, weil sie
sierter Gewalt »the life of man, solitary, poor, nasty, brutish,                   gelernt haben, dass sich das so gehört; dass ihre von anderen
and short« ist; für Banfield ist amoral familism der wichtigste                    registrierte Regeltreue dann auch eine Vorbildfunktion hat,
Erklärungsfaktor für die wirtschaftliche Rückständigkeit                           ist eine Wirkung ihres Handelns, die sie sich oft gar nicht
Süditaliens; und Putnam bringt den Niedergang der US-                              klar machen.
amerikanischen Zivilgesellschaft damit in Zusammenhang,                               Akteure tragen auch dann zur gesellschaftlichen Sozial-
dass immer mehr Menschen unter Langeweile und Einsam-                              integration bei, wenn sie bestimmte geltende Werte oder
keit leiden. Alle drei Betrachtungen unterstreichen also ex                        Regeln in Frage stellen. Demokratie als Grundmechanis-
negativo die wichtigen positiven Effekte gesellschaftlicher                        mus des geordneten Aushandelns kontroverser Regelun-
Sozialintegration.                                                                 gen des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist das beste
   Was gewährleistet sein muss, damit ein hinreichendes                            Beispiel einer prozeduralen Konfliktbearbeitung, die nie-
Niveau gesellschaftlicher Sozialintegration besteht, wird –                        mals zu einer endgültigen Einigung gelangt, sondern ganz
wieder sehr abstrakt – von Luhmann (1997: 603) als »Reduk-                         im Gegenteil dazu auffordert, Einigungen immer wieder
tion der Freiheitsgrade« der Elemente der aus ihnen und                            neu zu hinterfragen. Konflikt ist also nicht automatisch
ihren Relationen sich zusammensetzenden Einheit benannt.                           eine Schwächung gesellschaftlicher Sozialintegration, son-
Die individuellen Gesellschaftsmitglieder müssen also auf                          dern kann umgekehrt zu deren Stärkung beitragen (Deitel-
bestimmte Handlungsalternativen, die sie in ihrem Reper-                           hoff/Schmelzle 2023). Demokratie ist gewissermaßen ein
toire haben, die sich aber der gegebenen gesellschaftlichen                        konflikt-einhegender Konflikt: Solange alle Seiten sich auf
Ordnung nicht fügen würden, verzichten – auch wenn diese                           sie einlassen, werden destruktive Konflikte verhindert.
Alternativen persönlich sehr attraktiv sind. Versicherungs-
betrug oder Steuerunehrlichkeit z.B. könnten für bestimmte
Personen relativ risikolos möglich und sehr einträglich sein;
                                                                                   1.5 Normative Konnotationen
dennoch müssen sie der Versuchung widerstehen, weil sol-                           Einige der Beispiele haben bereits gezeigt, dass Betrachtun-
ches Verhalten ein Sich-bereichern auf Kosten derer, die sich                      gen gesellschaftlicher Sozialintegration oft starke normative
an die Regeln halten, wäre; und wenn es um sich griffe,                            Konnotationen haben. Ist die Gesellschaft, um deren Sozial-
nähme die gesellschaftliche Sozialintegration Schaden. Ver-                        integration es geht, eine ›gute‹ oder ›schlechte‹ Gesellschaft?
allgemeinert heißt das: Wenn zu viele Gesellschaftsmitglie-                        Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich von der Welt-
der geltende Regeln missachten und dies geteiltes Wissen                           sicht und den Werten des Beobachtenden ab – gleichgültig,
aller wird, verlieren diese Regeln ihre bindende Kraft. Wenn                       ob es sich um eine Sozialwissenschaftlerin, einen Journalis-
Ego vermutet, dass viele andere sich nicht mehr an die                             ten, eine Politikerin oder einen interessierten Bürger han-
Regeln halten, legt das Ego die Schlussfolgerung nahe, selbst                      delt. Nazideutschland – um ein Extrembeispiel zu wählen
ebenfalls, wo immer es vorteilhaft ist, von den Regeln abzu-                       – konnte in den ersten Jahren des Regimes, im Vergleich
weichen, um nicht der Dumme zu sein.                                               zur Weimarer Republik, als gut integrierte Gesellschaft
   Im Vergleich zu klammheimlichen individuellen Ver-                              eingestuft werden, in der großzügige Sozialleistungen für
letzungen gesellschaftlicher Sozialintegration kann deren                          Arbeitslose und schlecht bezahlte Arbeitnehmerinnen und
offene kollektive Zurückweisung und Bekämpfung viel                                Arbeitnehmer bereitgestellt wurden – solange es sich bei
schneller eskalieren – etwa in Form von Aufständen oder                            ihnen nicht um Personen mit jüdischem, kommunistischem
Revolutionen. Die Tea Party-Bewegung in den USA, die                               oder sozialdemokratischem Hintergrund handelte. Ähnlich
mit dazu beitrug, die Republikanische Partei auf die Linie                         konnten die Olympischen Spiele 1936 in Deutschland als
von Donald Trumps politischer Agenda zu bringen, oder                              erfolgreiche Inszenierung gesellschaftlicher Sozialintegra-
die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre waren soziale                            tion gelten. Nach der nationalen Demütigung durch den
Bewegungen, die etablierte Einverständnisse mit der jewei-                         verlorenen Weltkrieg gewannen viele Deutsche ein neues
ligen gesellschaftlichen Sozialintegration aufkündigten. Bei                       Selbstbewusstsein als imagined community (Anderson 2006).
Unruhen in den Banlieus französischer Großstädte, um ein                           Doch eine gesellschaftliche Sozialintegration, die in starkem
anderes Beispiel heranzuziehen, wurden Autos angezün-                              Maße aus dem othering – der Abwertung und Exklusion bis
det, Geschäfte geplündert und Polizisten sowie Unbeteiligte                        hin zur systematischen massenhaften Tötung bestimmter
angegriffen; und mit diesen und weiteren Aktivitäten wurde                         Kategorien von Menschen – erwächst, ist für die allermeis-
zum Ausdruck gebracht, dass man grundlegende Kompo-                                ten moralisch nicht akzeptabel.
nenten der existierenden gesellschaftlichen Ordnung nicht                             Heißt das umgekehrt, dass alle Menschen alle anderen
länger respektierte.                                                               akzeptieren müssen, egal was deren Meinungen, Lebens-
   Neben solchen beiläufigen oder gezielten Schwächun-                             weisen oder Werte sind? Für viele Menschen ist eine gesell-
gen gesellschaftlicher Sozialintegration durch individuelles                       schaftliche Sozialintegration, die niemanden ausschließt,
Handeln und handelndes Zusammenwirken gibt es auch                                 inakzeptabel. Nicht nur, weil man dann auch nationalsozia-
Aktivitäten, die zu deren Wahrung und Stärkung beitra-                             listische und andere menschenverachtende Gruppierungen
gen – ob beabsichtigt oder als unbeabsichtigte Nebenwir-                           einbeziehen müsste – sondern auch, weil akzeptable Weisen,
kung eines ganz anders motivierten Handelns. So zeigen                             sein Leben zu führen, sich unterscheiden; und selbst wer für
die Menschen auf verschiedene Weisen, dass sie stolz darauf                        seine eigene Lebensweise keine Überlegenheit beansprucht,
sind, Deutsche oder Bürgerinnen und Bürger Europas zu                              möchte durch die Lebensweisen anderer vielleicht nicht zu
sein, oder dass sie solidarisch mit ihren Nachbarinnen und                         sehr gestört werden. Um ein politisch unanstößiges Beispiel
Nachbarn sind, die wegen ihres Migrationshintergrunds                              zu geben: Wer gerne ruhig lebt, sucht sich keine Wohnung

                                                     FGZ Working Paper Nr. 2 (Juni 2022) · fgz-risc.de/wp-2
Grunow/Sachweh/Schimank/Traunmüller: Gesellschaftliche Sozialintegration · 1 Das Konzept der Sozialintegration                                            6

in der Partymeile der Stadt – auch wenn er überhaupt nichts                          positive state of affairs.« Wir haben – weil Integration im All-
dagegen hat, wenn andere bis tief in die Nacht lautstark                             tagsdenken ein positiv besetzter Begriff ist – eine Neigung,
feiern.                                                                              auch soziologisch das Fehlen oder den Rückgang von Sozi-
   Normative Fragen wie die angeschnittenen sollen hier                              alintegration automatisch als ernsthaftes gesellschaftliches
nicht vertieft werden – nicht zuletzt, weil wir uns als                              Problem einzustufen; umgekehrt haben wir kein hinreichen-
Autorinnen- und Autorenteam ja gar nicht sicher sein kön-                            des Sensorium dafür, dass zu viel Integration ebenso proble-
nen, dass wir stets zu denselben normativen Urteilen kämen.                          matisch sein kann. Leider hat die soziologische Begriffsver-
Die Wertorientierungen von Sozialwissenschaftlerinnen                                wendung diese irreführende Prämisse eines wenig reflek-
und -wissenschaftlern können so divers sein wie in der                               tierten Alltagsdenkens bislang zumeist reproduziert und
Gesamtbevölkerung. Doch wir wollen an dieser Stelle dar-                             bestärkt, statt sie kritisch zu hinterfragen.
auf aufmerksam machen, dass solche normativen Aspekte                                   Wegen dieser Voreingenommenheit auch journalistischer
manchmal geradezu kaum entwirrbar mit den analytischen                               und politischer Beiträge zu gesellschaftlichen Debatten
Fragen, die uns interessieren, verknäuelt sind. Mit anderen                          über Integration ist es hier nicht notwendig, detailliert auf
Worten: Wir können es letztlich kaum vermeiden, Wertur-                              Desintegration einzugehen. Denn die Erscheinungsformen
teile über eine ›gute‹ Gesellschaft mit uns herumzuschlep-                           von zu wenig gesellschaftlicher Integration sind wohlbe-
pen, ohne es immer zu merken, wenn wir gesellschaftliche                             kannte Phänomene. Analytisch haben wir Desintegration
Integration untersuchen. Fast die einzige Chance, dass diese                         zudem bereits als unzureichende ›Reduktion von Freiheits-
versteckten Wertungen aufgedeckt werden, besteht darin,                              graden‹ des Handelns und handelnden Zusammenwirkens
dass im wissenschaftlichen Diskurs die Wertungen Egos                                bestimmt. Devianz, exzessiver Egoismus ohne Rücksicht auf
durch Alter erkannt werden – und umgekehrt.                                          das Gemeinwohl, destruktive soziale Konflikte oder Rebel-
                                                                                     lionen sind wohlbekannte und typische Manifestationen
                                                                                     einer desintegrierten gesellschaftlichen Ordnung.
1.6 Desintegration und Überintegration                                                  Überintegration besteht demgegenüber in einer zu weitge-
                                                                                     henden ›Reduktion von Freiheitsgraden‹, wie sie sich vor
Zurück zur analytischen Betrachtung. Wir haben bereits
                                                                                     allem in einer Unterdrückung von Individualität und Inno-
einige Male von Desintegration als Gegensatz zu einer wohl-
                                                                                     vation durch alle Arten von rigoroser sozialer Kontrolle
integrierten gesellschaftlichen Ordnung gesprochen. Sehr
                                                                                     zeigt. Extremzustände der Überintegration sind gesellschaft-
oft werden diese beiden Zustände als Pole eines Kontinu-
                                                                                     liche Ordnungen, die totalen Institutionen (Goffman 1973)
ums von mehr oder weniger Integration gesehen. Sinnvoll
                                                                                     bzw. greedy institutions (Coser 1974) ähneln. Geläufige aktu-
an dieser Betrachtungsweise ist es, Integration als eine gra-
                                                                                     elle Beispiele sind Gesellschaften, die von strengen religiö-
duelle Eigenschaft anzusehen. Es gibt nicht nur entweder
                                                                                     sen Autoritäten beherrscht werden, so wie Iran nach der
Integration oder keine Integration. Die beiden Extreme von
                                                                                     Machtübernahme der Mullahs, oder ideologisch dogmati-
totaler Integration und Null-Integration sind vielmehr nur
                                                                                     sche politische Regimes, wie z.B. in den früheren und teil-
logische Denkmöglichkeiten, die real nie vorzufinden sind.
                                                                                     weise noch weiter existierenden kommunistischen Ländern.
Stattdessen haben wir stets irgendein Mischungsverhältnis
                                                                                     Ein Hauptproblem solcher überintegrierten Gesellschaften
von mehr oder weniger Integration. Wenn man unter diesem
                                                                                     besteht darin, dass Formen von Kreativität und daraus her-
Blickwinkel eine bestimmte Gesellschaft zu einem bestimm-
                                                                                     vorgehende Innovationen – nicht nur technischer, auch wis-
ten Zeitpunkt betrachtet, kann man etwa feststellen, dass
                                                                                     senschaftlicher, künstlerischer und sozialer Art – immer
sie heute etwas weniger integriert ist als vor zwanzig Jahren;
                                                                                     stärker, außer in Nischen, erstickt werden, so dass es sich
und vielleicht lässt sich vermuten, dass dies ein Trend ist,
                                                                                     diesbezüglich um, wie Michel Crozier (1970) es für Frank-
der sich auch zukünftig fortsetzen wird. Womöglich gibt es
                                                                                     reich diagnostizierte, blockierte Gesellschaften handelt. Münch
aber auch Gesellschaften, die regelmäßig in mehr oder weni-
                                                                                     (2015: 245) stellt dazu fest: »social integration levels down
ger langen Wellen zwischen mehr und weniger Integration
                                                                                     differences and thus the richness of cultures and social life as
oszillieren.6
                                                                                     well as the potential for innovation and change. Thus, we can
   Dass gesellschaftliche Sozialintegration ein graduelles
                                                                                     say that a balance of integration and at least some disinte-
Phänomen ist, reicht allerdings zu ihrer Charakterisierung
                                                                                     gration is a necessary prerequisite for preserving the poten-
noch nicht aus. Diese Vorstellung geht zumeist noch mit
                                                                                     tial for diversity and innovation.« Weil auch Münch noch
der der Prämisse einer Dualität von Integration und Des-
                                                                                     im Spektrum Integration/Desintegration denkt, bleibt ihm
integration einher. Stattdessen ist es aber analytisch viel
                                                                                     sprachlich nichts anderes übrig, als Desintegration partiell
gewinnbringender, von einem Spektrum möglicher gradu-
                                                                                     positiv zu besetzen. Einfacher ist es, wie wir hier vorschla-
eller Zustände gesellschaftlicher Sozialintegration zwischen
                                                                                     gen, das Spektrum von Des- und Überintegration als zwei
völliger Desintegration auf der einen Seite und völliger Über-
                                                                                     gleichermaßen dysfunktionale Ausprägungen der gesell-
integration auf der anderen auszugehen. Empirisch finden
                                                                                     schaftlichen Sozialintegration zu denken.
wir also nicht bloß zu wenig, sondern auch zu viel Integration
                                                                                        Es ist nicht schwierig, Zustände der Desintegration auf
als zwei Arten problematischer Zustände, und ein wohlin-
                                                                                     der einen und der Überintegration auf der anderen Seite
tegrierter Zustand ist eine Balance irgendwo dazwischen.
                                                                                     zu explizieren. Für diese beiden problematischen Extreme
   Solch eine Betrachtungsweise löst sich auch von einer oft
                                                                                     des Spektrums haben wir ein gutes Sensorium. Doch wann
vorzufindenden normativen Unterstellung, dass mehr Inte-
                                                                                     ist eine gesellschaftliche Ordnung wohlintegriert? Dieser
gration stets besser sei als weniger Integration. Münch (2015:
                                                                                     mittlere Zustand ist nicht so einfach zu bestimmen, was an
245) stellt hier richtig: »Social integration is not an overall
                                                                                     zwei wichtigen Merkmalen von Integration liegt. Das erste
6
    Amitai Etzionis (1993; 1997) ›kommunitaristische‹ Vorstellung einer ›guten‹      besteht darin, dass sich Integration im Allgemeinen, und
    Gesellschaft beruht beispielsweise theoretisch auf einem funktionalen Ant-
    agonismus von gesellschaftlicher Ordnung und individueller Autonomie.
                                                                                     Sozialintegration im Besonderen, gut negativ bestimmen las-
    Empirisch betrachtet er gesellschaftliche Dynamiken eines Hin-und-her zwi-       sen: als Fehlen von Des- wie Überintegration.7 Doch damit
    schen diesen beiden Polen einer höheren bzw. geringeren Sozialintegration
                                                                                     7
    (Lange 2000).                                                                        Wie bereits angemerkt, lenkt Luhmann (1977: 242) die Aufmerksamkeit

                                                       FGZ Working Paper Nr. 2 (Juni 2022) · fgz-risc.de/wp-2
Grunow/Sachweh/Schimank/Traunmüller: Gesellschaftliche Sozialintegration · 1 Das Konzept der Sozialintegration                                  7

liegt noch keine positive Charakterisierung von Integration                        wie eine angemessene quantitative oder qualitative Reprä-
vor. Eng verbunden mit dieser nur negativen Charakterisie-                         sentation von ihm auszusehen hat. Wie misst man beispiels-
rung einer wohlintegrierten gesellschaftlichen Ordnung ist                         weise Patriotismus – wenn man dies als Aspekt gesellschaft-
zweitens der Tatbestand, dass dieser Zustand der Wohlinte-                         licher Sozialintegration versteht – quantitativ? Einige stan-
griertheit ein unscheinbarer ist. Anders gesagt, fällt nieman-                     dardisierte Fragen, um Patriotismus als individuelle Einstel-
dem – auch nicht den soziologischen Beobachtenden, sofern                          lung zu messen, operationalisieren ihn in sehr allgemeinen
sie sich nicht explizit darauf fokussieren – auf, dass die                         Formulierungen, so dass dieselbe Frage in unterschiedli-
betreffende Gesellschaft gerade wohlintegriert ist. Solange                        chen Ländern und zu verschiedenen Zeitpunkten genutzt
die Balance ohne Probleme von Des- oder Überintegration                            werden kann, während andere Frageformulierungen viel
gewahrt ist, ist Integration kein Thema, sondern ein laten-                        spezifischer auf bestimmte Ereignisse und Verhaltenswei-
ter Zustand.8 Erst wenn die gesellschaftliche Ordnung in                           sen in einem Land zugeschnitten sind. Haben spezifischere
einer der beiden Richtungen aus der Balance gerät oder zu                          oder generellere Formulierungen eine höhere Validität und
geraten droht, wird Sozialintegration als Erfordernis einer                        Reliabilität? Eine allgemeine Antwort auf diese Frage gibt
gut funktionierenden Gesellschaft manifest und rückt in die                        es nicht; sie muss vielmehr fallweise immer wieder neu
kollektive Aufmerksamkeit.                                                         geprüft werden. Wir wissen darüber hinaus von der häufig
                                                                                   zu verzeichnenden Kluft zwischen Einstellungen und Han-
                                                                                   deln. Sind daher Operationalisierungen von Patriotismus,
1.7 Die empirische Ermittlung gesellschaftlicher                                   die auf Handlungspraktiken abzielen, verlässlicher? Und
    Sozialintegration                                                              welche Praktiken könnten geeignet sein? In den USA könnte
                                                                                   man vielleicht fragen, ob jemand im Vorgarten des eige-
Wenn gesellschaftliche Sozialintegration im gerade erläu-                          nen Wohnhauses die Nationalflagge gehisst hat oder nicht.
terten doppelten Sinne eine hochgradig latente Variable ist,                       Und was ist mit Menschen, die in Mietshäusern ohne eige-
hat das Implikationen für deren empirische Beschreibung                            nen Garten wohnen? In Ländern wie Deutschland wäre das
und Erforschung. Nur ihr Fehlen können wir einigermaßen                            Bemessen von gehissten Flaggen vor Eigenheimen eine den
präzise umschreiben, und sie fällt ansonsten nicht ins Auge,                       real gegebenen Patriotismus völlig unterschätzende Ope-
sondern bedarf einer gezielten Aufmerksamkeitsfokussie-                            rationalisierung. Noch viele andere Beispiele könnten sol-
rung, um sichtbar zu werden. Aus dieser Latenz folgt, dass                         che Operationalisierungsprobleme verdeutlichen, doch der
es alles andere als trivial ist, adäquate Indikatoren für die                      generelle Punkt dürfte klar sein.
verschiedenen Aspekte von gesellschaftlicher Sozialintegra-                           Der nächste Schritt einer empirischen Ermittlung gesell-
tion auszumachen. Der Versuch von Jürgen Friedrichs und                            schaftlicher Sozialintegration besteht darin, empirische
Wolfgang Jagodzinski (1999: 19-21), Indikatoren für Sozi-                          Daten zu finden oder selbst zu erheben, die zu den gewähl-
alintegration auf der Makro-, Meso- und Mikro-Ebene zu                             ten Indikatoren und ihren Operationalisierungen passen.
unterscheiden, und ihre kritische Diskussion dieser Indi-                          Manchmal gibt es gute Indikatoren für den uns interessie-
katorenliste ist zwar schon mehr als zwanzig Jahre her,                            renden Integrationsaspekt, und wir haben auch gute Ope-
demonstriert aber nach wie vor die zu beachtenden Fall-                            rationalisierungen dafür konstruiert, müssen dann aber zur
stricke dieses ersten Schritts zur empirischen Erfassung von                       Kenntnis nehmen, dass es keine passenden empirischen
Sozialintegration. Um nur drei Beispiele aus ihrer Bestands-                       Daten gibt und eine eigene Erhebung nicht in Frage kommt.
aufnahme herauszugreifen: Sind hohe Scheidungsraten ein                            Vielleicht verbietet es der Datenschutz, dass eine benötigte
Makro-Indikator mangelnder gesellschaftlicher Sozialinte-                          Kombination von Daten über bestimmte Personen zusam-
gration? Oder wären unglücklich zusammenlebende, nicht-                            mengestellt wird; oder die Kosten der Erhebung sind zu
geschiedene Paare ein Makro-Indikator gesellschaftlicher                           hoch; oder es stellt sich für internationale Vergleiche heraus,
Überintegration? Dasselbe könnte für einen hohen Grad an                           dass die Daten in manchen Ländern vorliegen, aber nicht
gemessenem Patriotismus gefragt werden. Und was besa-                              in anderen; oder, wenn man an Zeitreihen interessiert ist,
gen hohe Zahlen von Nichtwählenden? Geht Nichtwählen                               scheitert man daran, dass die benötigten Daten zwar für
stets auf eine fundamentale Ablehnung von Demokratie                               heute vorliegen oder ermittelt werden könnten, aber nicht
zurück? Oder kann es sein, dass eine Zunahme der Nicht-                            für die Vergangenheit.
wählenden, ganz im Gegenteil, Zufriedenheit damit zum
                                                                                      All diese Probleme mit Indikatoren, Operationalisierun-
Ausdruck bringt, wie die Regierung die gesellschaftliche
                                                                                   gen und Daten können natürlich bei jeder Art von empi-
Ordnung gestaltet?9
                                                                                   rischer Studie auftauchen. Möglicherweise ist aber gesell-
   Weitere Probleme der empirischen Bestimmung von
                                                                                   schaftliche Sozialintegration eine jener Variablen, die empi-
gesellschaftlicher Sozialintegration zeigen sich bei der Ope-
                                                                                   risch besonders schwierig zu fassen ist. Weitere Überlegun-
rationalisierung von Indikatoren. Bei beinahe jedem bis
                                                                                   gen und Erfahrungen hierzu könnten die empirischen Pro-
heute genutzten Indikator hat es Probleme damit gegeben,
                                                                                   bleme präzisieren, was ein erster Schritt zu ihrer Überwin-
                                                                                   dung wäre.
  darauf, wenn er gesellschaftliche Integration – mit Blick auf Systeminte-
  gration – als einen Zustand definiert, in dem keines der gesellschaftlichen         Es gibt noch eine weitere Schwierigkeit der empiri-
  Teilsysteme irgendeinem der anderen unlösbare Probleme bereitet.                 schen Ermittlung gesellschaftlicher Sozialintegration. Diese
8
  Ausnahmen sind denkbar, wenn ein Zustand der Des- oder Überintegra-
  tion in einen der Wohlintegriertheit überführt wird – insbesondere, wenn
                                                                                   Schwierigkeit bezieht sich auf den Untersuchungsschritt,
  dies durch gezielte Maßnahmen geschieht. Wenn z.B. in einem städtischen          der auf die Zusammenstellung der Daten folgt. Sozialin-
 ›Problemviertel‹ die Kriminalitätsraten deutlich gesenkt werden, ist das ein      tegration empirisch zu untersuchen kann erst einmal dar-
  Anlass, die erfolgreiche Re-Integration dieses Viertels zu thematisieren.
9
  Diese Deutung wurde in der US-amerikanischen Politikwissenschaft der
                                                                                   auf abzielen, sie in bestimmten Hinsichten deskriptiv zu
  1950er Jahre vorgeschlagen (Lipset 1959: 181). Für das damalige Deutsch-         messen – für verschiedene Länder oder Zeitpunkte. Wenn
  land, kurz nach dem Nationalsozialismus, hätte man einer solchen Sicht der       man freilich ein bestehendes Niveau an gesellschaftlicher
  Dinge sicherlich skeptisch gegenübergestanden – was zeigt, dass dasselbe
  Verhalten in unterschiedlichen Kontexten sehr unterschiedlich verstanden         Sozialintegration gemessen und zwischen Ländern oder
  werden kann und muss.                                                            Zeitpunkten verglichen hat, schließen sich zwei Erklärungs-

                                                     FGZ Working Paper Nr. 2 (Juni 2022) · fgz-risc.de/wp-2
Grunow/Sachweh/Schimank/Traunmüller: Gesellschaftliche Sozialintegration · 1 Das Konzept der Sozialintegration                                               8

fragen an. Die erste bezieht sich auf Sozialintegration als                                    trauen. Vertrauen zwischen Akteuren ist eine weitere
abhängige Variable: Was sind die Ursachen für ein bestimm-                                     grundlegende Orientierung für handelndes Zusammen-
tes Niveau und für Niveauunterschiede zwischen Ländern                                         wirken von Personen, Gruppen oder Organisationen. Bis
und Zeitpunkten? Die zweite Frage nimmt Sozialintegration                                      zum Beweis des Gegenteils wird unterstellt, dass andere
als unabhängige Variable in den Blick: Was sind die gesell-                                    Regeln befolgen, Versprechen und Verträge einhalten und
schaftlichen Auswirkungen unterschiedlicher oder sich wan-                                     – selbst dann, wenn sie erkennbar eigeninteressiert agie-
delnder Niveaus an Sozialintegration? Mit beiden Erklä-                                        ren – keine ›unfreundlichen Akte‹ begehen, also beispiels-
rungsfragen werden wir uns in diesem Beitrag noch näher                                        weise nicht stehlen, sondern kaufen. Aus dieser Sicht
beschäftigen. An dieser Stelle weisen wir aber bereits darauf                                  bemisst sich gesellschaftliche Sozialintegration an der
hin, dass es oft nicht einfach ist, in den empirischen Daten                                   Anzahl der Gesellschaftsmitglieder, die vertrauenswür-
Sozialintegration von ihren Ursachen und Wirkungen zu                                          dig sind, und dem Ausmaß und den Hinsichten, in denen
unterscheiden.10                                                                               dies gilt. Auch hier gilt: Zu viel Vertrauen läuft auf ein
                                                                                               blindes Sich-verlassen auf die guten Absichten der ande-
                                                                                               ren hinaus, das leicht ausbeutbar ist. Das ist genauso pro-
1.8 Ingredienzien gesellschaftlicher                                                           blematisch wie zu viel Misstrauen. In der Moderne, in der
    Sozialintegration                                                                          eine große Zahl von Interaktionen mit Fremden, jeden-
                                                                                               falls mit Personen, die einem nicht nahestehen, stattfin-
Wir kommen nun auf eine Frage der analytischen Konzep-                                         den, wird Vertrauen durch ein ›gesundes Misstrauen‹ als
tualisierung zurück, die wir am Anfang dieses Abschnitts                                       ›realistische‹ Vorkehrung dagegen, ausgenutzt zu wer-
angedeutet haben, als wir die Synonyme und Antonyme                                            den, eingeschränkt. Viele Arten von institutionalisierten
von Integration angeführt haben. Aus welchen Bestandtei-                                       Checks and Balances sind Erscheinungsformen dieses
len setzt sich gesellschaftliche Sozialintegration zusammen?                                   ›gesunden Misstrauens‹, das nicht persönlich gemeint ist,
Wir schlagen hierzu eine Kombination von vier Ingredien-                                       sondern eine Reaktion darauf darstellt, dass die Moderne
zien vor. Jedes davon ist in den einschlägigen soziologischen                                  die Verfolgung von Eigeninteressen in anonymen Kon-
Diskussionen, teils unter mehreren Benennungen, bekannt;                                       kurrenzkonstellationen freisetzt.
und unterschiedliche soziologische Denkrichtungen heben
                                                                                   Die beiden weiteren Ingredienzien gesellschaftlicher Sozial-
verschiedene dieser Ingredienzien besonders hervor.
                                                                                   integration beziehen sich auf Ko-Interaktionen beim handeln-
            Die ersten beiden Ingredienzien gesellschaftlicher Sozial-             den Zusammenwirken verschiedener Akteure:
integration stellen Ko-Orientierungen des Handelns dar – oft-
                                                                                   Angle-Right Ingredienz 3: Sozialintegration als Konformität. Diese Ingre-
mals auch als Einstellungen oder Überzeugungen bezeich-
                                                                                               dienz bezieht sich auf die Fügsamkeit mit Normen aller
net:
                                                                                               Art. Diese Normen können von rechtlichen Regeln bis
Angle-Right Ingredienz 1: Sozialintegration als Konsens.11 Konsens
                                                                                               zu informellen Sitten und Gebräuchen reichen – unab-
            bezieht sich auf evaluative und normative Orientierun-
                                                                                               hängig davon, ob Fügsamkeit durch Macht oder gar
            gen dazu, was erstrebenswert und was verpflichtend
                                                                                               Gewalt, durch Anreize oder durch Überzeugung erzielt
            ist, sowie auf kognitive Orientierungen hinsichtlich der
                                                                                               wird.12 Ein Minimalniveau an Fügsamkeit beinhaltet nicht
            faktischen Beschaffenheit der Welt. Hinsichtlich dieser
                                                                                               mehr als die Beachtung von »Muss-Normen« (Dahren-
            Ingredienz bestimmt sich das Niveau an gesellschaftli-
                                                                                               dorf 1967: 147/148). Ein höheres Niveau schließt demge-
            cher Sozialintegration daran, wie viele Gesellschaftsmit-
                                                                                               genüber ein besonderes Engagement für die gesellschaft-
            glieder wie viele dieser Orientierungen in welchem Aus-
                                                                                               liche Ordnung ein – etwa zivilgesellschaftliche Aktivitä-
            maß teilen. Berücksichtigt man, dass eine wohlintegrierte
                                                                                               ten. Mit Blick auf diese Ingredienz wird das Niveau an
            gesellschaftliche Ordnung eine Balance zwischen Des-
                                                                                               gesellschaftlicher Sozialintegration dadurch bestimmt,
            und Überintegration darstellt, gibt es mit Blick auf Kon-
                                                                                               wie viele Gesellschaftsmitglieder welches Ausmaß an
            sens zwei problematische Tendenzen: starker Dissens –
                                                                                               Konformität mit bestehenden Normen zeigen. Devianz
            im Extremfall eine gesellschaftliche Polarisierung verfein-
                                                                                               und andere Arten der Missachtung bestehender Normen
            deter Bevölkerungsgruppen wie lange Zeit in Nordirland
                                                                                               sind Erscheinungsformen von Desintegration, während
            – oder exzessiver Konsens mit erzwungener Fügsamkeit
                                                                                               eine ritualistische Konformität mit nicht hinterfragten
            gegenüber religiösen, politischen oder anderen Dogmen.
                                                                                               und Individualität einschränkenden Normen Überkon-
            Gegen übergriffige Konsensforderungen betont die westli-
                                                                                               formität darstellt. Die westliche Moderne hat im Vergleich
            che Moderne produktiven Dissens – wie er insbesondere
                                                                                               mit früheren Gesellschaftsformen eine größere Toleranz
            demokratischen Formen der Konfliktbewältigung inne-
                                                                                               für Nonkonformität institutionalisiert, insbesondere hin-
            wohnt. Produktiver Dissens erfordert zivilisierte Modi
                                                                                               sichtlich unterschiedlicher Lebensweisen. Diese Toleranz
            des Umgangs mit Konflikten, insbesondere die Vermei-
                                                                                               schließt eine offene Artikulation von Dissens ein, toleriert
            dung von Gewalt. Des Weiteren müssen alle beteilig-
                                                                                               aber keine Sanktionen, insbesondere keine gewaltsamen.
            ten Akteure einen möglichst großen Konsens über die
            Beschaffenheit ihres Dissens haben (Miller 1992), damit                Angle-Right Ingredienz 4: Sozialintegration als Kooperation. Koopera-
            Aushandlungen oder Mehrheitsentscheidungen spezifi-                                tion reicht von eigeninteressierten Zusammenschlüssen,
            sche Ergebnisse anstatt vager Kompromisse, mit denen                               z.B. als resource pooling (Coleman 1974), was die strategi-
            niemand etwas anfangen kann, hervorbringen.                                        sche Pflege von Sozialkapital für zukünftige Gelegenhei-
                                                                                               ten einschließt, bis zu generalisierter Reziprozität (Steg-
Angle-Right Ingredienz 2: Sozialintegration als wechselseitiges Ver-
                                                                                               bauer 2011: 67-86) und altruistischer Solidarität (Gould-
10
   Robert D. Putnams (2000) Studien zum Sozialkapital können dies verdeutli-                   ner 1984). Hinsichtlich Kooperation hängt das Niveau der
   chen. Größeres zivilgesellschaftliches Engagement wird auf mehr Vertrauen                   gesellschaftlichen Sozialintegration von der Anzahl und
   in die Mitmenschen zurückgeführt, das in dichten sozialen Netzwerken ent-                   Reichweite kooperativer Beziehungen zwischen Gesell-
   steht, die aber wiederum ein Aspekt zivilgesellschaftlichen Engagements
   sind.
11                                                                                 12
   Giegel (1992) bietet einen nach wie vor guten Überblick hierzu.                      Siehe zu dieser Unterscheidung der Typen von Fügsamkeit Etzioni (1975).

                                                     FGZ Working Paper Nr. 2 (Juni 2022) · fgz-risc.de/wp-2
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