Iga.Report 44 - Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation - Initiative Gesundheit und Arbeit

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Iga.Report 44 - Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation - Initiative Gesundheit und Arbeit
iga.Report                                  44

                                                       Themenschwerpunkt
                                                         New Work

Evolution der Unternehmens-
                                                 Die Initiative
                                                 Gesundheit und Arbeit

und Arbeitsorganisation
                                                 In der Initiative Gesundheit und
                                                 Arbeit (iga) arbeiten gesetzliche
                                                 Kranken- und Unfallversicherung
                                                 zusammen, um arbeitsbedingten
                                                 Gesundheitsgefahren vorzubeugen.
                                                 Gemeinsam werden Präventions-
                                                 ansätze für die Arbeitswelt weiter-
Neue Perspektiven für Prävention und Gesund-     entwickelt und vorhandene Methoden
                                                 oder Erkenntnisse für die Praxis
heitsförderung durch Arbeit 4.0                  nutzbar gemacht.

                                                 iga ist eine Kooperation von
Arjan Kozica, Madlen Müller und Pia Roser        BKK Dachverband, der Deutschen
                                                 Gesetzlichen Unfallversicherung
                                                 (DGUV), dem AOK-Bundesverband
                                                 und dem Verband der
                                                 Ersatzkassen e. V. (vdek).

                                                 www.iga-info.de
Iga.Report 44 - Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation - Initiative Gesundheit und Arbeit
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iga.Report 44

Evolution der Unternehmens-
und Arbeitsorganisation

Neue Perspektiven für Prävention und Gesund-
heitsförderung durch Arbeit 4.0

Arjan Kozica, Madlen Müller und Pia Roser
Zusammenfassung

Technologische und gesellschaftliche Entwicklungen, wie die
digitale Transformation, der demographische Wandel oder
die zunehmende Individualisierung von Lebensverläufen,
verändern die Arbeitswelten. Zahlreiche Organisationen ge-
stalten entsprechend ihre Arbeitsorganisationen um. Als
neue Leitvorstellung gilt das agile Unternehmen, in dem der
Mensch mit seinen kommunikativen und kreativen Fähigkei-
ten in den Mittelpunkt rückt. Miteinher gehen allerdings ge-
sundheitliche Risiken, die der Aufmerksamkeit bedürfen. Be-
rater und Beraterinnen, die die verschiedenen Konzepte und
die richtigen Ansatzpunkte für Sicherheit und Gesundheit in
neuen Arbeitswelten kennen, können die Risiken gezielt ad-
ressieren. Die vorliegende Studie unterstützt Beratende da-
bei, indem verschiedene Möglichkeiten der Gestaltung von
Arbeitsorganisation vorgestellt und Ansatzpunkte für die
Präventionsarbeit und die Betriebliche Gesundheitsförde-
rung (BGF) abgeleitet werden.

Unter dem zusammenfassenden Begriff Arbeit 4.0 stellt die-
ser Report die agile Organisation, die Soziokratie und die
Holokratie, sowie die evolutionäre Organisation vor. Gemein
ist diesen Konzepten die Betonung von Selbstorganisation
und Selbstverantwortung der Beschäftigten, die Abflachung
von Hierarchien, die stärkere Sinnorientierung und Flexibili-
tät sowie die umfassendere Integration von Leistungspoten-
tialen der Beschäftigten. Bezogen auf diese Konzepte wer-
den drei Ansatzpunkte für die Präventionsarbeit und die BGF
ausgearbeitet: Erstens bieten die Merkmale der neuen For-
men der Arbeitsorganisation Anknüpfungspunkte für die Prä-
ventionsarbeit und die BGF. Zentraler Gedanke ist es, die
(Gesundheits-)Kompetenzen der Beschäftigten zu entwi-
ckeln. Die steigende Selbstverantwortung führt dazu, dass
gesundheitliche Themen zunehmend eigenverantwortlich
wahrgenommen werden, wofür entsprechende Kompeten-
zen erforderlich sind. Zweitens ergibt sich ein Ansatz für die
Präventionsarbeit und die BGF aus den Veränderungsprozes-
sen im Zuge der Umgestaltung von Arbeitsorganisationen.
Gesundheitliche Belastungen sind in Phasen der Verände-
rung besonders hoch und Präventionsthemen müssen dann
entsprechend direkt eingebracht werden. Drittens müssen
sich Beratende für Prävention und BGF in den neuen Formen
von Arbeitsorganisation zurechtfinden und wissen, wie sie
Gesundheitsthemen gezielt einbringen können. Dies gelingt
vor allem dann, wenn sich diese Fachleute selbst agile Ar-
beitsmethoden aneignen.
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung                                                                  4

1   Einleitung                                                                   7

2   Arbeit 4.0 und neue Konzepte der Arbeitsorganisation                        8

2.1 Treiber und integrative Konzepte neuer Arbeitswelten                         8

    2.1.1 Treiber für neue Arbeitswelten                                         8

    2.1.2 Ursprung und Bedeutung von New Work                                   9

    2.1.3 Ursprung und Bedeutung von Arbeit 4.0                                 9

    2.1.4 Arbeit 4.0 und New Work im Vergleich                                  10

2.2 Neue Konzepte der Unternehmens- und Arbeitsorganisation                     11

    2.2.1 Agile Organisation                                                    11

    2.2.2 Soziokratie und Holokratie                                            12

    2.2.3 Evolutionäre Organisation                                             17

2.3 Gemeinsamkeiten neuer Organisationskonzepte                                 20

3   Gesundheitliche Auswirkungen von Arbeit 4.0                                 21

3.1 Wandel betrieblicher Prävention und Gesundheitsförderung durch Arbeit 4.0   23

3.2 Neue Perspektiven und Ansatzpunkte für die Beratung                         23

    3.2.1 Gestaltungsmöglichkeiten in Veränderungsprozessen                     24

    3.2.2 Chancen und Risiken für die Beratung                                  24

    3.2.3 Erweiterung der Beratungsthemen                                       28

4   Fazit und Ausblick                                                          29

5   Literaturverzeichnis                                                        30

6   Abbildungsverzeichnis                                                       36

7   Tabellenverzeichnis                                                         36
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation

1      Einleitung

Arbeit 4.0, New Work, Holacracy, agiles Arbeiten und die        bereich verankert, sondern vollständig unternehmensextern
evolutionäre Organisation: Diese und andere aktuell disku-      sind. Die vor Ort geltenden Regeln und Abläufe müssen dann
tierte Begriffe verdeutlichen, dass sich die Organisation von   erst erschlossen, die damit verbundenen Risiken identifiziert
Arbeit verändert. Gründe dafür sind der technologische Wan-     und Ansatzpunkte für Prävention und BGF erarbeitet wer-
del, die zunehmende Internationalisierung, beschleunigte        den. Die klassischen Konzepte der Arbeitsorganisation (z. B.
Innovations- und Produktzyklen sowie innovative Dienstleis-     hierarchische Organisation) sind Beratern und Beraterinnen
tungen, beispielsweise auf Grundlage umfangreicher und          in der Regel bekannt. Mittlerweile müssen sie aber vermehrt
unstrukturierter Daten (Ewinger et al., 2016; Hackl et al.,     in Organisationen wirken, die sich an Ideen der Arbeit 4.0
2017). Kundenwünsche werden intensiver berücksichtigt           orientieren. Um die Präventionsarbeit und die BGF auf jene
und die Wertschöpfungsprozesse in den Unternehmen verän-        neuen Konzepte und deren Risiken abstimmen zu können, ist
dern sich substantiell. Das hierarchische Organisationsprin-    es förderlich, wenn sie neue Arbeitsorganisationskonzepte in
zip stößt an seine Grenzen, da es zu wenig Flexibilität und     ihrer Beratung einordnen und deren Relevanz für ihre Arbeit
Innovation ermöglicht (Hackl et al., 2017). Als neue Leitvor-   im jeweiligen Kontext bewerten können.
stellung gilt das agile Unternehmen. In diesem rückt der
Mensch mit seinen kommunikativen und kreativen Fähigkei-        Der vorliegende Bericht ermöglicht eine Auseinandersetzung
ten in den Mittelpunkt, der Grad der Selbstorganisation in      mit neuen Formen der Arbeitsorganisation und deren Bedeu-
Teams steigt und die individuelle Selbstverantwortung der       tung für die betriebliche Prävention und Gesundheitsförde-
Beschäftigten wird wichtiger (Hofert, 2018; Kühl, 2015).        rung. Zunächst werden die in der Praxis existierenden Aus-
                                                                prägungen neuer Arbeitsorganisationsformen vorgestellt.
Die neue Art und Weise, Arbeit zu organisieren, bringt Chan-    Neben den integrativen Begriffen Arbeit 4.0 und New Work
cen mit sich. So können die Beschäftigten ihr Berufs- und       rücken hier auch das agile Arbeiten, die Soziokratie/Holokra-
Privatleben besser miteinander vereinbaren, wenn die zeitli-    tie sowie die evolutionäre Organisation in den Fokus. An-
che und räumliche Flexibilität steigt (Gálvez et al., 2011;     schließend werden drei Ansatzpunkte für die Präventionsar-
Troup & Rose, 2012). Sie können zudem stärker mitentschei-      beit und die BGF diskutiert. Der erste Ansatzpunkt adressiert
den, auch bei betrieblichen Strategien oder beim Gehalt         die individuellen (Gesundheits-)Kompetenzen. Die steigende
(Franke et al., 2019; Kühl, 2015). Stichworte wie Demokrati-    Selbstverantwortung von Individuen und Teams verlagert
sierung und Augenhöhe verdeutlichen diesen Aspekt (Sattel-      auch die gesundheitlichen Themen zunehmend in die Eigen-
berger et al., 2015). Neben den Chancen bergen die neuen        verantwortung der Beschäftigten. Doch damit diese stärker
Formen der Arbeitsgestaltung allerdings auch Risiken. Dazu      selbstverantwortlich für ihre Gesundheit sorgen können, sind
zwei Beispiele: Steigt der Grad der Selbstorganisation an,      besondere Kompetenzen erforderlich. Der zweite Ansatz-
sind Mitarbeitende stärker als bislang gefordert, ihre Arbeit   punkt nimmt betriebliche Veränderungsprozesse in den Blick,
selbst zu gestalten. Fehlen ihnen die entsprechenden Kompe-     da die gesundheitlichen Belastungen für Beschäftigte in die-
tenzen, können sie mit den neuen Anforderungen überfor-         ser Phase besonders hoch sind. Präventionsthemen müssen
dert sein (Schubert, 2016). Selbstorganisation auf Teamebe-     in dieser Zeit bewusst eingebracht werden. Der dritte Ansatz-
ne kann dazu führen, dass soziale Konflikte weniger als         punkt bezieht sich auf veränderte Anforderungen bei der Be-
bislang über Hierarchie geklärt werden können. Teaminterne      ratung in Unternehmen. Beratende müssen sich in den neuen
Auseinandersetzungen können sich dadurch chronifizieren         Organisationsstrukturen zurechtfinden und wissen, wie sie
und negativ auf die Gesundheit der Teammitglieder auswir-       Gesundheitsthemen zielführend einbringen können. Dies ge-
ken (Kühl, 2015).                                               lingt besser, wenn sie sich selbst agile Arbeitsmethoden an-
                                                                eignen und so bei neuen Formen der Arbeitsorganisation
Diese Entwicklungen stellen die Präventionsarbeit und die       fachlich anschlussfähig bleiben.
Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) vor neue Heraus-
forderungen. Beratende kommen in der Regel von außen in
die zu unterstützenden Unternehmen, Abteilungen und
Teams. Dies gilt insbesondere, wenn sie nicht in einem Stabs-

                                                                                                                iga.Report 44 | 7
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation

2       Arbeit 4.0 und neue Konzepte der Arbeitsorganisation

Aktuell diskutiert die Fachwelt unterschiedliche Konzepte für     Die demografischen Entwicklungen wirken sich weitreichend
neue Formen der Arbeitsorganisation. In diesem Kapitel wer-       auf die Organisationen aus. Die seit ca. 30 Jahren relativ kon-
den zunächst die Treiber neuer Arbeitswelten sowie die inte-      stante Geburtenrate sowie eine immer weiter ansteigende
grativen Konzepte New Work und Arbeit 4.0 erläutert. An-          Lebenserwartung führen dazu, dass die Erwerbsbevölkerung
schließend werden drei neue Arbeitsformen vorgestellt, die        bei ansteigendem Durchschnittsalter abnimmt. Unterneh-
momentan in der Praxis, die meiste Resonanz erzeugen: Agi-        men müssen zunehmend mit einer sinkenden Anzahl an Be-
les Arbeiten, Soziokratie, deren spezifische Weiterentwick-       werbungen, einem Fachkräftemangel sowie mit einer älter
lung Holokratie, sowie die evolutionäre Organisation.             werdenden Belegschaft umgehen (BPM, 2018). Das bedeu-
                                                                  tet, dass Organisationen für potentielle Arbeitskräfte mög-
                                                                  lichst attraktiv sein und ihren Beschäftigten beispielsweise
2.1     Treiber und integrative Konzepte                          flexible Arbeitsmodelle ermöglichen müssen. Letztere wer-
        neuer Arbeitswelten                                       den vor allem von jüngeren Bewerbern und Bewerberinnen
                                                                  gefordert. Der demografische Wandel sorgt somit dafür, dass
                                                                  Organisationen auf neue Arbeitsmodelle umsteigen.
Gesellschaftliche und technologische Veränderungen führen
derzeit dazu, dass Konzepte wie Arbeit 4.0 und New Work an        Der Wertewandel in der Gesellschaft führt dazu, dass Le-
Bedeutung gewinnen. Die Begriffe werden in Wissenschaft           bensentwürfe stärker individualisiert werden (Ewinger et al.,
und Praxis derzeit intensiv diskutiert und bezeichnen eine        2016). Unternehmen müssen sich künftig zunehmend mit
grundlegende und nachhaltige Veränderung der Arbeitswelt          heterogenen Werten und Anforderungen an die Arbeit ausei-
(Hackl et al., 2017). Beide Begriffe sind breit gefasst und       nandersetzen. Vor allem den jüngeren Generationen sind
schließen unterschiedliche Entwicklungen ein, wie Arbeit zu-      Work-Life-Balance, individualisierte Arbeitszeiten sowie
kunftsfähig gestaltet werden kann.                                Nachhaltigkeit wichtig (Hesse, 2014). Während aber die ei-
                                                                  nen unter Work-Life-Balance einen Gleichgewichtszustand
2.1.1 Treiber für neue Arbeitswelten                              zwischen Arbeit und Freizeit verstehen, verstehen Andere
                                                                  darunter, Arbeit und Privatleben strikt zu trennen. Darüber
Mehrere Rahmenbedingungen und Entwicklungen fördern               hinaus existiert das Konzept des Work-Life-Blending. Darun-
die Veränderungen der Arbeitswelt und damit die Popularität       ter versteht sich die ständige Erreichbarkeit für Privates in
von New Work und Arbeit 4.0. Drei Punkte werden nachfol-          der Arbeit und für Arbeitsbelange im Privaten. Für solch un-
gend stellvertretend für diverse Entwicklungen thematisiert:      terschiedliche Wertvorstellungen sind klassische Organisati-
die Digitalisierung, die demografischen Veränderungen und         onsmodelle nicht flexibel genug (Ameln & Wimmer, 2016).
der gesellschaftliche Wertewandel.                                Die Herausforderung besteht somit darin, Arbeitsorganisati-
                                                                  on stärker zu flexibilisieren und Möglichkeiten zu bieten, die
Die Digitalisierung ermöglicht digitale Arbeitsprozesse, in de-   den unterschiedlichen Wertvorstellungen der Beschäftigten
nen Arbeitsaufgaben über digitale Tools zu jeder Zeit und an      entsprechen (Hackl et al., 2017).
jedem beliebigen Ort außerhalb des Büros bearbeitet werden
können. Arbeitsaufgaben können über Laptops, Tablets oder         Es gibt bislang keine belastbaren Daten, wie die genannten
Smartphones erledigt werden und erfordern nicht mehr              Treiber zur Verbreitung von Arbeit 4.0 und New Work beitra-
zwingend eine physische Anwesenheit der Beschäftigten.            gen. Offizielle Erhebungen, aber auch nichtwissenschaftliche
Dadurch wird die zeitliche und örtliche Entgrenzung der Ar-       Online-Umfragen (z.B. Kununu, 2020) beschränken sich auf
beitswelt vorangetrieben (Pfeiffer, 2012; Picot & Neuburger,      einzelne Aspekte von Arbeit 4.0 und New Work, wie etwa mo-
2008; Kaiser & Kozica, 2014). Organisationen können zuneh-        biles Arbeiten beziehungsweise Homeoffice (Grunau et al.,
mend transparent agieren, indem digitale Informationen frei       2019). Es kann aber davon ausgegangen werden, dass die Ide-
zugänglich gemacht werden. Hierdurch entstehen neue For-          en von Arbeit 4.0 und New Work in zahlreichen Unternehmen
men der Beteiligung der Beschäftigten.                            diskutiert werden und vielfach Veränderungen auslösen.

8 | iga.Report 44
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation

2.1.2 Ursprung und Bedeutung von New Work                       Das im Themenschwerpunkt vorliegende Verständnis von
                                                                New Work geht von Veränderungen in der Arbeitswelt aus,
Der ursprüngliche Begriff der Neuen Arbeit geht auf den So-     die in Schwerpunktthemen behandelt werden. Drei wesentli-
zialphilosophen Frithjof Bergmann zurück, der bereits vor       che Veränderungsdimensionen werden durch New Work ad-
über 20 Jahren ein alternatives Modell zur klassischen Lohn-    ressiert, und zwar People, Place und Technology (siehe auch
arbeit entwickelte. Bergmanns Modell der Neuen Arbeit sieht     www.iga-info.de/themen/new-work/). Die iga bezieht die Di-
vor, dass jeder Einzelne zu je einem Drittel klassischer Er-    mension People auf die Beschäftigten und deren Einstellun-
werbsarbeit nachgeht, Arbeit verrichtet, die er persönlich      gen, Werte, Sinnorientierung und Anforderungen an Organi-
wirklich möchte, und sogenannte „High-Tech-Eigen-Produk-        sationen sowie auch auf verschiedene Formen von Führung.
tion“ (Technologien für die Eigenherstellung von lebensnot-     Als neue Anforderungen an New Work nennen Hackl et al.
wendigen Dingen) betreibt (Hackl et al., 2017). Der heutige     (2017) oder Hofmann et al. (2019) etwa die Möglichkeit zur
Begriff New Work geht über dieses Verständnis hinaus und        Selbststeuerung, Partizipation und Selbstentwicklung, zur
wird allgemeiner als der spezifische Begriff der Neuen Arbeit   freien Gestaltung von Arbeit sowie zur Sinnstiftung. Außer-
nach Frithjof Bergmann verwendet.                               dem solle die Arbeit ein soziales Umfeld für die Beschäftigten
                                                                darstellen. Die Dimension Place umfasst die Rahmenbedin-
New Work dient heute vielmehr als Oberbegriff für neue An-      gungen von Arbeit, so beispielsweise die Arbeitszeit und den
forderungen an Arbeit und eine damit einhergehende inno-        Arbeitsort (DGUV, 2016). Als ein wesentliches Merkmal von
vative Arbeitsgestaltung (Hackl et al., 2017). Vertreter und    New Work gilt die zeitliche und örtliche Flexibilisierung von
Vertreterinnen von New Work beziehen den Begriff auf ver-       Arbeit (Hofmann et al., 2019), die durch die Digitalisierung
schiedene Aspekte, wie beispielsweise Personalbeschaffung       von Arbeitsprozessen immer mehr ermöglicht wird (Reddy &
(Rekrutierung), Motivation, Zusammenarbeit, Unterneh-           Reinartz, 2017; Picot & Neuburger, 2008). Zur Veränderungs-
menskultur, Kommunikation, Personalentwicklung und Ler-         dimension Technology zählen schließlich die technologischen
nen sowie Führung und Organisationsformen (Brommer et           Rahmenbedingungen innerhalb von Organisationen, die
al., 2019). Nicht immer sind die mit New Work verbundenen       ebenfalls durch die voranschreitende Digitalisierung der Ar-
Ansätze und Ideen grundlegend neu (Brommer et al., 2019;        beitswelt beeinflusst werden (Rau & Hoppe, 2020). Hierzu
Martela, 2019) und häufig wird der Begriff recht unspezifisch   zählen beispielsweise die genutzte Hard- und Software im Un-
verwendet. Trotz reger Diskussionen auf Konferenzen und         ternehmen, die Umstellung von analogen auf digitale Arbeits-
anderen Tagungsformaten wie Meet-Ups oder Open Spaces           prozesse, oder die Vernetzung und Integration von Arbeits-
gibt es zudem kein einheitliches Verständnis von New Work.      schritten oder Maschinen.

                                                                2.1.3 Ursprung und Bedeutung von Arbeit 4.0
  New Work – Aktueller Themenschwerpunkt in iga
                                                                In engem Zusammenhang mit der Digitalisierung der Arbeits-
  iga greift das Thema New Work derzeit auf und initiiert       welt steht der Begriff Arbeit 4.0, der häufig im selben Kon-
  eine Reihe von Einzelprojekten unter dem Themen-              text wie New Work verwendet wird. Der Begriff Arbeiten 4.0
  schwerpunkt „New Work“. Im Fokus der Projekte stehen          wurde durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
  die Veränderungsprozesse, mit denen Unternehmen und           (BMAS) im Jahr 2015 geprägt und schließt sich begrifflich an
  Beschäftigte konfrontiert sind, und dazu passende neue        die früheren Stufen der Entwicklung von Arbeit an (siehe
  Ansätze für die Prävention und betriebliche Gesundheits-      hierzu Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2015):
  förderung. Die Ergebnisse sollen die Beratung zu              – Arbeiten 1.0 beschreibt die beginnende Industriegesell-
  Sicherheit und Gesundheit in Unternehmen unterstützen.           schaft und die ersten Arbeiter-Organisationen. Neuerun-
                                                                   gen in der Produktionsweise, der Organisation von Arbeit
  www.iga-info.de > Themen > New Work                              und auch den Gesellschaftsstrukturen gehen v.a. auf die
                                                                   Einführung der Dampfmaschine am Ende des 18. Jahrhun-
                                                                   derts zurück.
                                                                – Arbeiten 2.0 zeichnet sich durch die beginnende Massen-
                                                                   produktion im Zuge der Industrialisierung sowie die An-

                                                                                                                iga.Report 44 | 9
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation

  fänge des Wohlfahrtsstaates am Ende des 19. Jahrhunderts           2.1.4 Arbeit 4.0 und New Work im Vergleich
  aus.
– Arbeiten 3.0 beschreibt die anschließende, auf sozialer            Für die Begriffe Arbeit 4.0 und New Work existieren keine
  Marktwirtschaft basierende, Konsolidierung des Sozialstaa-         einheitlichen Definitionen und sie werden häufig synonym
  tes und der Arbeitnehmerrechte im Laufe des 20. Jahrhun-           verwendet. Dennoch können Anhaltspunkte identifiziert wer-
  derts.                                                             den, anhand derer die Begriffe unterschieden werden kön-
– Arbeiten 4.0 ist durch eine zunehmende Flexibilisierung,           nen. So wurde der Begriff New Work insbesondere durch in-
  Dezentralisierung und Virtualisierung von Arbeit und Ar-           teressierte Personen und Unternehmen (v.a. Beratungs-
  beitswelten zu Beginn des 21. Jahrhunderts gekennzeich-            unternehmen, Vortragsredner und -rednerinnen („Speaker“),
  net (Hackl et al., 2017). Die Entgrenzung von Zeit und             Einzelberatende und die Start-Up-Szene) populär (vgl. Tabelle
  Raum sowie eine immer weitreichendere Vernetzung füh-              1). Der Wunsch nach demokratischen Unternehmensstruktu-
  ren dazu, dass die Beschäftigten permanent erreichbar              ren und unmittelbarer Mitbestimmung, nach Zeit- und Orts-
  sind und so die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben            autonomie und einer besseren Work-Life-Balance steht im
  zunehmend verschwimmen. Gleichzeitig entstehen durch               Mittelpunkt. Der Fokus von New Work liegt auf den Individu-
  den kulturellen und gesellschaftlichen Wandel neue An-             en in der Organisation, deren Werte und Anforderungen an
  sprüche an Dienstleistungen, Produkte und der Arbeit               gute Arbeit sowie die sich daraus ergebende Gestaltung neu-
  selbst, die es zukünftig zu gestalten gilt. Bisher ist noch        er Arbeitswelten. New Work bezieht sich dabei besonders auf
  offen, wie Organisationen und Arbeitswelten in Zukunft             positive Aspekte neuer Arbeitswelten und wird häufig über
  aussehen werden.                                                   zusammenstellende Listen „guter“ Elemente von „New Work“
                                                                     charakterisiert. Hierzu gehören z. B. Mitbestimmung, Selbst-
Basierend auf den grundlegenden Merkmalen, wird in die-              organisation und neue Vergütungsmodelle („New Pay“).
sem Report Arbeit 4.0 als erwerbsorientierte Arbeit verstan-
den, die sich durch ein hohes Maß an Virtualisierung von Ar-         Arbeiten 4.0 wurde hingegen in öffentlichen Institutionen
beitsmitteln, Vernetzung von Personen und Flexibilisierung           wie dem BMAS geprägt und hat damit seinen Ursprung auf
von Arbeitsorten, -zeiten und inhalten auszeichnet. Arbeit 4.0       der Governance-Ebene. Dementsprechend wird Arbeit 4.0
bzw. Arbeiten 4.0 steht zudem für die veränderten Erwartun-          stärker von Ministerien, in öffentlichen Ausschreibungen
gen der Beschäftigten in Bezug auf Beteiligung, Autonomie            oder Forschungseinrichtungen verwendet (vgl. Tabelle 1). Ar-
und Sinnstiftung durch die Arbeit.                                   beitsgestaltung wird hier umfassender verstanden und es

Tabelle 1: Gegenüberstellung von New Work und Arbeit 4.0

                                     New Work                                       Arbeit 4.0

 Verbreitung                         In Unternehmen, der Start-Up-Szene             Auf Governance-Ebene entstanden,
                                     und in der Beratung                            Verwendung des Begriffs in offiziellen
                                                                                    Veröffentlichungen

 Fokus                               Individuen, Anforderungen an gute              Neue Technologien, Entgrenzung von
                                     Arbeit aus Sicht der Einzelnen, eklektische    Arbeit, konkrete Themen neuer Arbeits-
                                     Themensammlung zur Charakterisierung           welten (z. B. Homeoffice)
                                     von New Work

 Akteure                             Freie Beratende, interessierte Führungs-       Ministerien, Forschungseinrichtungen,
                                     kräfte z. B. in Foren                          zunehmend Unternehmen

 Begriff                             Auf positive Aspekte fokussiert, eklektisch    Neutraler, integrativer und an konkreten
                                                                                    Konzepten (Homeoffice, Arbeitszeit)
                                                                                    orientiert

10 | iga.Report 44
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation

werden neben den positiven Aspekten ebenso die negativen         reichste Konzept für moderne Formen der Arbeitsorganisation.
Aspekte in den Blick genommen. So kann eine aus der              Die agile Organisation grenzt sich von klassischen Organisati-
New-Work-Bewegung geforderte gesetzliche Änderung beim           onsformen ab, die durch feste Machtstrukturen und langwieri-
Arbeitszeitgesetz für abhängige Beschäftigte erhebliche Risi-    ge Entscheidungsprozesse geprägt sind (Brückner & Ameln,
ken bergen. Die integrative und neutrale Bedeutung von Ar-       2016). In agilen Organisationen besitzen Teams ein hohes
beit 4.0 liegt auch diesem Report zugrunde.                      Maß an Eigenverantwortung bezüglich der Arbeitsorganisa-
                                                                 tion und Bottom-up-Vorgehensweisen stehen im Vorder-
                                                                 grund (Hofert, 2018; Kaltenecker, 2017).
2.2     Neue Konzepte der Unternehmens-
        und Arbeitsorganisation                                  Erstmals beschrieben wurde die Grundidee in den 1970er
                                                                 Jahren durch den ehemaligen McKinsey-Vorstand Tom Peters
                                                                 und die Professorin Rosabeth Moss Kanter (Hofert, 2018;
Die veränderten Anforderungen an Arbeit führen dazu, dass        Summerer & Maisberger, 2018). Mit Agilität bezeichneten sie
unter dem Leitgedanken der Arbeit 4.0 zunehmend innovati-        die flexible und aktive Anpassungsfähigkeit von Unterneh-
ve Konzepte der Arbeitsorganisation aufgegriffen werden. Zu      men an Marktveränderungen (Hofert, 2018). Aufgrund im-
den bekanntesten Ansätzen zählen die Konzepte der Agilität,      mer dynamischer werdender Märkte entwickelte sich das
Soziokratie und Holokratie sowie der evolutionären Organi-       Konzept der Agilität in den darauffolgenden Jahren weiter.
sation. Diese Konzepte stellen (anders als der umfassendere      Im Jahr 2001 veröffentlichte ein Softwareentwickler-Team
Begriff der Arbeit 4.0) spezifische Ansätze der Arbeitsorgani-   um Kent Beck das sogenannte agile Manifest (Beck et al.,
sation dar. Der Begriff Arbeitsorganisation umfasst laut Nis-    2020), das die Grundannahmen des agilen Arbeitens bein-
sen & Bartscher, 2018 (o. S.) die                                haltet. Zu diesen Grundsätzen zählen:
                                                                 1. Die Autonomie von und Interaktion zwischen Individuen
      „Gestaltung nach Art, Umfang und Bedingungen aller            stehen über Prozessen.
      Elemente des Arbeitens. Von zentraler Bedeutung ist        2. Gleichberechtigung von Individuen und Zusammenarbeit
      hierbei, wie Menschen mittelbar oder unmittelbar mit          erhalten Vorrang vor Verhandlungen.
      anderen Menschen zusammenarbeiten.“                        3. Flexibilität gegenüber sich ändernden Umständen steht
                                                                    über der Einhaltung eines Plans.
Arbeitsorganisationskonzepte geben somit vor, wie Unter-
nehmen Arbeitsprozesse zukunftsfähig organisieren sollen.        Das agile Manifest bildet den Startpunkt einer Reihe von
In den genannten Konzepten gibt es jeweils grundlegende          Weiterentwicklungen des Konzepts, z. B. konkretere Hand-
Prämissen, die in initialen Publikationen festgehalten wur-      lungsrahmen oder Methoden wie Scrum und Kanban (Hofert,
den, wie zum Beispiel dem agilen Manifest (https://agilema-      2018).
nifesto.org) oder den Vorgaben für die Holokratie (Robert-
son, 2015b). Die Konzepte sind daher in dem Sinne normativ,      Die Kernidee agilen Arbeitens ist es, in interdisziplinären
als dass sie konkrete Vorgaben dafür machen, wie die Kon-        Teams selbstorganisiert zusammenzuarbeiten und so das
zepte in der Praxis angewandt werden sollen. Beratende, die      verteilte Wissen der Teammitglieder besser zu nutzen. Dies
in Unternehmen tätig sind, können das betriebliche Gesche-       soll eine schnellere Reaktion auf Umweltveränderungen und
hen vor Ort besser bewerten und adäquate Ansätze für die         Entscheidungen ermöglichen und so den Kundennutzen stär-
Präventionsarbeit und die BGF identifizieren, wenn sie die       ken (Brückner & Ameln, 2016). Die Agilität soll über unter-
gängigen Konzepte für die neuen Arbeitsorganisationen ken-       schiedliche Dimensionen erreicht werden. Besonders betont
nen. Nachfolgend werden daher die agile Organisation, die        wird, dass agiles Arbeiten ein bestimmtes Mindset voraus-
verwandten Konzepte der Soziokratie und Holokratie sowie         setzt, also eine bestimmte Haltung der Beschäftigten (Hofert
die evolutionäre Organisation vorgestellt.                       & Thonet, 2019). Mindset lässt sich als Denk- und Hand-
                                                                 lungslogik beschreiben, als eine Einstellung des Denkens, die
2.2.1 Agile Organisation                                         nicht vom Handeln getrennt werden kann. Sowohl Menschen
                                                                 als auch Organisationen haben ein Mindset, wobei Individuen
Elemente des agilen Arbeitens werden in zahlreichen Organi-      im Arbeitsumfeld häufig das organisationale Mindset über-
sationen genutzt, und es ist das derzeit vermutlich einfluss-    nehmen (Hofert & Thonet, 2019). Daher wird über die gesamte

                                                                                                                 iga.Report 44 | 11
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation

Organisation hinweg eine bestimmte Kultur gefordert, die                 Ein zentraler Aspekt agiler Organisationen ist es, die Be-
das organisationale Mindset widerspiegelt. Neben dem                     schäftigten auch teamübergreifend stärker zu vernetzten.
Mindset und der Kultur zeichnet sich agiles Arbeiten durch               John Stepper (2020) entwickelt hierfür die Methode des
konkrete Vorgehensweisen (Frameworks) und Werkzeuge                      Working Out Loud (WOL). Das „laute Arbeiten“ hilft dabei,
aus (beispielsweise Stand-up-Meetings, Kanban-Board). Eine               Arbeitsbeziehungen aufzubauen und zu vertiefen und so in-
beispielhafte Definition von Agilität verdeutlicht dies:                 dividuelle und gemeinsame Ziele leichter zu erreichen. Dies
                                                                         geschieht mithilfe von Geschichten, Praktiken und Übungen,
     „Agilität ist eine Haltung, eine Unternehmenskultur mit             die in sogenannten WOL-Zirkeln angewandt werden. Dazu
     gelebten Werten. Es gibt klare Vorgehensweisen und                  treffen sich die Beschäftigten 12 Wochen lang (persönlich
     Werkzeuge, die die Selbstorganisation von Einzelper-                oder digital) in Kleingruppen und bearbeiten ihre jeweiligen
     sonen, Teams und Organisationen unterstützen. Ziele                 Ziele gemeinsam.
     der agilen Zusammenarbeit […] sind: die Kundenzufrie-
     denheit [...], bessere Produkte in kürzerer Zeit […], die           Agile Arbeitsmethoden sind in der Praxis weit verbreitet und
     Mitarbeiterzufriedenheit [...] und eine hohe Attraktivität          werden für einzelne Projekte oder im ganzen Unternehmen
     des Unternehmens für junge Mitarbeiter“                             angewandt. Ein bekanntes Beispiel ist eine Online-Bank, die
                                  (Summerer & Maisberger, 2018, S. 8).   seit einiger Zeit auf agile Strukturen umstellt (ING, 2020). Die
                                                                         Bank reagiert damit auf veränderte Anforderungen von Kund-
Als bekanntestes Framework agilen Arbeitens gilt der Pro-                schaft und Umwelt. Die Umsetzung von agilen Arbeitsmetho-
duktentwicklungsprozess Scrum, der mit fest vorgegebenen                 den orientiert sich am internen Leitfaden „One Agile Way of
Rollen und Regeln versucht, eine agile Arbeitsweise zu er-               Working“, der auf den Prinzipien „Eigenverantwortlichkeit der
möglichen (Brückner & Ameln, 2016). Die Mitglieder eines                 Mitarbeiter“, „Einbeziehung der Kunden“ und „Einheitliches
multidisziplinären Teams nehmen eine von drei festen Rollen              Organisationsdesign und einheitliche Arbeitsweisen“ basiert.
ein, die jeweils einen bestimmten Zweck erfüllen. Der Prod-
uct Owner ist für die Beschaffenheit und die Güte des Pro-               Agiles Arbeiten kann sich positiv auf die Zufriedenheit und
dukts zuständig, während das Entwicklungsteam das Pro-                   Produktivität auswirken, Innovationen fördern und den Nut-
dukt eigenständig und selbstorganisiert anfertigt (Brückner              zen der Kundschaft steigern. Agile Arbeitsmethoden bergen
& Ameln, 2016). Zudem existiert die Rolle des Scrum Mas-                 jedoch auch Risiken. So können leistungsschwächere Be-
ters, der die Einhaltung der Scrum-Regeln beaufsichtigt und              schäftigte durch die neuen Arbeitsweisen überlastet werden.
eventuelle Hindernisse für das Team beseitigt (Hofert, 2018).            Zudem wird durch die hohe Transparenz erkennbar, wer wie
Durch eine iterative Vorgehensweise und die inkrementelle                viel in welcher Zeit erreicht. Dies kann Beschäftige psychisch
Auslieferung von Produkten besteht die Möglichkeit, Anpas-               belasten (Hofert, 2018). Trotz dieser Risikofaktoren sind agile
sungen und Veränderungen schneller vorzunehmen (Brück-                   Arbeitsmethoden in der Praxis bereits weit verbreitet (siehe
ner & Ameln, 2016). Neben dem Scrum ist unter anderem die                auch Tabelle 2).
Methode des Design Thinking verbreitet, die zur Entfaltung
von Kreativität in komplexen Sachverhalten dienen soll. Die-             2.2.2 Soziokratie und Holokratie
se ebenfalls iterative Vorgehensweise basiert auf der Arbeit in
multidisziplinären Teams, in multifunktionalen Räumen und                Ein zentrales Merkmal von Arbeit 4.0 ist die Mitbestimmung
mit variierenden Perspektiven und Aufgaben (Brückner &                   und Selbststeuerung der Beschäftigten. Die Organisationsform
Ameln, 2016). Des Weiteren hat die Visualisierungsmethode                der Soziokratie zielt darauf, Beschäftigte möglichst weitrei-
Kanban (japanisch für „Karte“ oder „visuelles Zeichnen“) zu-             chend in unternehmensbezogene Entscheidungen einzubezie-
nehmend an Popularität gewonnen. Die Methode stammt ur-                  hen. Sie geht ursprünglich auf den französischen Philosophen
sprünglich aus der Produktion und ist Teil der sogenannten               August Compte zurück und wurde erstmals 1970 von Gerard
Lean Production, die den Ressourcenverbrauch in der Produk-              Endenburg, einem niederländischen Ingenieur, in dessen Un-
tion minimieren soll (Hofert, 2018). Heute wird die Methode              ternehmen praktisch umgesetzt (Strauch & Reijmer, 2018). Die
auch in der Wissensarbeit genutzt, um Abläufe in die drei ein-           Organisationsform der Soziokratie erlaubt es den Beschäftig-
fachen Schritte zu unterteilen: zu erledigen, in Arbeit und erle-        ten, sich weitgehend selbst zu führen und zu organisieren und
digt. Kanban fördert so die Transparenz von Arbeitsprozessen             kann durch den Grundgedanken der Gleichheit aller Beteilig-
und ermöglicht es Zuständigkeiten schnell zu überblicken.                ten charakterisiert werden. Dies drückt sich auch in der Etymo-

12 | iga.Report 44
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation

Tabelle 2: Die wichtigsten Begriffe für Agiles Arbeiten

 Begriff                 Erklärung

 Agilität                Unternehmen mit spezifischem agilen Mindset (Unternehmenskultur), klaren Vorgehensweisen und
                         Werkzeugen zur Selbstorganisation von Einzelpersonen, Teams und Organisationen.
                         Ziele: Kundenzufriedenheit steigern, bessere Produkte in kürzerer Zeit liefern, Beschäftigtenzufrieden-
                         heit erhöhen, Attraktivität als Unternehmen steigern

 Scrum                   Produktentwicklungsprozess mit fest vorgegebenen Rollen und Regeln; Teammitglieder nehmen eine
                         von drei Rollen ein:
                         – Product Owner: zuständig für Beschaffenheit und die Güte des Produkts
                         – Entwicklungsteam: fertigt das Produkt eigenständig und selbstorganisiert an
                         – Scrum Master: beaufsichtigt Einhaltung der Scrum Regeln und beseitigt Hindernisse
                           Iterative Vorgehensweise und inkrementelle Auslieferung von Produkten ermöglichen schnelle
                         Anpassungen und Veränderungen

 Design Thinking         Kreativitätsmethode für komplexe Sachverhalte; Arbeit in multidisziplinären Teams, in multifunktio-
                         nalen Räumen und mit variierenden Perspektiven und Aufgaben

 Kanban                  Visualisierungsmethode für Arbeitsprozesse; Einteilung von Arbeitsaufgaben in die drei Kategorien zu
                         erledigen, in Arbeit, und erledigt Transparenz von Arbeitsprozessen, Überblick über Zuständigkeiten

 Working Out Loud        Vernetzungsmethode, um relevante Arbeitsbeziehungen aufzubauen, Ziele leichter zu erreichen und
                         selbstorganisierter zu arbeiten.

                                          +                                           =

Abbildung 1: Kreisstruktur Soziokratie (Eigene Darstellung, in Anlehnung an Rüther, 2017)

logie des Begriffs Soziokratie aus: Er setzt sich aus dem Latei-      sogenannten Konsent-Prinzip getroffen (Strauch & Reijmer,
nischen socius = der Gefährte, und dem Griechischen kratein =         2018). Der Konsent unterscheidet sich von Konsens dadurch,
Macht zusammen und bedeutet zusammengesetzt die Macht                 dass nicht jede beteiligte Person einen Vorschlag befürwor-
der Gruppe (Schallhart, 2017).                                        ten muss, sondern lediglich keinen schwerwiegenden Ein-
                                                                      wand dagegen haben darf (Schallhart, 2017; Rüther, 2017).
Entscheidungen werden in soziokratischen Modellen auf Ba-             Das Resultat muss also keine Übereinstimmung sein, son-
sis von Gleichgewicht, Feedback und Transparenz nach dem              dern es geht vielmehr darum, die Gegenargumente und Be-

                                                                                                                      iga.Report 44 | 13
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation

dürfnisse aller zu berücksichtigen. Trotz der Mitbestimmung     sich auch der Vorreiterbetrieb von Gerard Endenburg mittler-
der Beschäftigten bleiben in soziokratischen Organisationen     weile wieder von dem Modell entfernt (Rüther, 2017).
hierarchische Linienstrukturen erhalten. Diese werden je-
doch durch Kreise ergänzt, die ebenfalls hierarchisch ange-     Soziokratie gilt als Grundlage für ein neueres und radikaleres
ordnet sind (siehe Abbildung 1).                                Konzept der Unternehmensorganisation: die Holokratie. Im
                                                                Gegensatz zu anderen Managementsystemen, die ihren zent-
Die Kreise entscheiden innerhalb ihrer Grenzen autonom und      ralen Fokus auf die Führungskräfte legen, steht die Holokratie
verfolgen dabei gemeinsame Ziele. Alle Beteiligten im Kreis     für eine radikale Neuerfindung der Unternehmensstruktur.
agieren auf Augenhöhe und tragen gleichberechtigt zur Lö-
sungsfindung bei. Die Kreise sind durch eine doppelte Kopp-     Das Organisationskonzept der Holokratie geht auf den ame-
lung an den nächsthöheren Kreis gebunden. Jeder Kreis ver-      rikanischen Unternehmer Brian Robertson zurück, der ge-
fügt über eine leitende und eine delegierende Person, die       meinsam mit zwei Kollegen die Marke Holacracy gründete
jeweils im Entscheidungsprozess des nächsthöheren Kreises       und patentieren ließ. Angelehnt an Elemente der Soziokratie
eingebunden ist und dort die Interessen des eigenen Kreises     (zum Beispiel Kreisstruktur mit doppelter Kopplung) entwi-
vertritt. Eine im Voraus gemeinsam entwickelte Vision kann      ckelten sie eine Verfassung, die die Grundlagen der Holokra-
dabei helfen, die individuelle Motivation für Gemeinschafts-    tie beschreibt. Brian Robertson vergleicht die Holokratie be-
interessen zu stärken (Geschwill & Nieswandt, 2020).            ziehungsweise die Verfassung mit einem Betriebssystem
                                                                oder mit Spielregeln, die als Grundlage (bestehend aus Re-
Laut den Vertretern und Vertreterinnen des Konzepts, ist es     geln, Strukturen und Prozessen) für ein System dienen und
unabhängig von der Größe, Branche und Ausrichtung des           als Ganzes übernommen werden müssen (Rüther, 2017).
Unternehmens möglich, das Konzept zu implementieren. Er-
folgreiche soziokratische Führungsstrukturen setzen, genau      Der holokratische Ansatz stützt sich auf drei organisatorische
wie agile Organisationen, ein neues Mindset und einen Men-      Reformen (Bodie, 2018):
talitäts- und Kulturwechsel voraus (Lobodda & Schlachte,        1. Eine komplexe interne Governance-Struktur, welche
2018). Führungskräfte müssen bereit sein, Macht abzugeben,         Macht auf nicht-hierarchische Gruppen verteilt;
und Mitarbeitende müssen die neue Verantwortung anneh-          2. Prozesse zur Aufbringung und Lösung von Problemen
men. Neben dem Ursprungsbetrieb von Gerard Endenburg               innerhalb der Governance-Struktur;
führten weltweit zahlreiche Organisationen das soziokratische   3. und eine Fokussierung auf den organisationalen Zweck.
Modell ein. Dazu zählen beispielsweise eine innovative Soft-
ware-Beratung (Oestereich, 2015), eine niederländische Dach-    Die Organisationsstruktur der Holokratie besteht aus einer
organisation für Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen      Holarchie von selbstorganisierenden Teams, den sogenann-
sowie eine niederländische regionale Pflegeorganisation         ten Kreisen (siehe Abbildung 2). Die Holarchie der Kreise ent-
(Rüther, 2017). Obwohl verschiedene Soziokratiezentren be-      steht prozessual und entwickelt sich über die Zeit hinweg.
stehen (https://soziokratiezentrum.org/), über die das Orga-    Das Ziel ist es, auf diese Weise eine natürliche Hierarchie zu
nisationsmodell der Soziokratie durch Beratung und Ausbil-      kreieren, die ihren Fokus auf die Arbeit und nicht auf Einzel-
dung verbreitet wird, ist es schwer einzuschätzen, wie viele    personen richtet (van de Kamp, 2014). Jeder Kreis verfolgt
Organisationen das Modell implementiert haben.                  ein Ziel und besitzt einen eigenen Anwendungsbereich sowie
                                                                die Befugnis, eigene Rollen und Verantwortlichkeiten zu defi-
Einerseits kann der Grundgedanke von Gleichberechtigung         nieren. Wie in der Soziokratie, sind auch die Kreise der Holo-
und Mitbestimmung positiv bewertet werden, da die Konzepte      kratie über eine Doppelverbindung miteinander verknüpft.
mehr Flexibilität und Autonomie der Mitarbeitenden zulassen     Zu den Kernpraktiken der Holokratie gehören regelmäßige
(Lübbers & Johannsen, 2018). Auf der anderen Seite ist ein      Kreisbesprechungen zur Strukturierung und Erledigung der
grundlegendes Umdenken von Führungskräften und Mitarbei-        Arbeit. Zusätzlich zu den Kernpraktiken beinhaltet die Holo-
tenden oft schwierig und kann viel Zeit in Anspruch nehmen      kratie Zusatzpraktiken oder Module, die viele spezifische Un-
(Geramanis & Hutmacher, 2018). In der Praxis zeigt sich, dass   ternehmensprozesse abdecken (zum Beispiel Einstellungen,
nur wenige Betriebe das Organisationssystem der Soziokratie     Budgetierungen, Projektmanagement) und je nach Bedarf
über einen längeren Zeitraum hinweg aktiv umsetzen. So hat      angewandt werden können (Robertson, 2007).

14 | iga.Report 44
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation

Praxisbeispiel 1: Endenburg Elektrotechnik (www.endenburg.nl)

                 – Gerard Endenburg entwickelt und implemetiert als Erster die Soziokratie in seinem Unternehmen.
                 – Er stellt die vier Grundprinzipien der Soziokratie auf: 1. Das Konsent-Prinzip; 2. Kreisstruktur
             r
     0e            der Organisation; 3. Doppelte Verknüpfung der Kreise; und 4. Besetzung von Funktionen und
  197              Aufgaben im Konsent.

                 – Endenburg gründet das Soziokratische Zentrum der Niederlande, um den soziokratischen Ansatz
        8          auch anderen Unternehmen näher zu bringen.
  1   97

             r   – Im Sinne einer vollständigen Soziokratie wird die Eigentümerschaft von Endenburg Elektrotechnik
        e
    980            auf eine Stiftung übertragen.
  1

         7  er   – Endenburg zieht sich aus dem Unternehmen zurück.
  1   99

                 – Neuer Geschäftsführer Job Knoester übernimmt die Leitung.
     09
  20

                 – Im Laufe der Jahre hat Knoester mit Zustimmung des Top-Kreises einige Veränderungen durchgesetzt,
        is         die die Soziokratie teilweise einschränken. So gibt es bspw. keine doppelten Verknüpfungen mehr
    09b            zwischen den Kreisen und der Geschäftsführer kann ohne Zustimmung des Konsent Beschäftigte
  20 ute           einstellen oder entlassen, was eigentlich Aufgabe der jeweiligen Kreise ist. Dies macht deutlich, wie
    he             viel Einfluss die Geschäftsführung auf die Umsetzung neuer Organisationskonzepte hat.

                                                                                                             (Rüther, 2017)

                                                                                                               iga.Report 44 | 15
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation

                                                                   sert. Es ist hilfreich, Entscheidungen schnell und schrittweise
                                                                   unter Einbezug möglichst vieler und ggf. im Prozess neu auf-
                n
             ne                                                    tretender Informationen zu treffen, sodass der gewählte Weg
          rso                                     e
       Pe                                      eis
                                             Kr                    kontinuierlich angepasst werden kann. Im Falle von Unklar-
                                                                   heiten bezüglich der zu treffenden Entscheidung sollen indi-
                                                                   viduelle Maßnahmen nach eigenem Ermessen ergriffen und
                                                         llen      die daraus folgenden Auswirkungen akzeptiert werden, um
                                                      Ro
                                                                   anschließend aus der Erfahrung zu lernen (Robertson, 2007).

                                                                   Neben den positiven Aspekten wird das Konzept der Holo-
                                                                   kratie auch kritisiert:
                                                                   – Ähnlich wie bei der Soziokratie und der agilen Organisa-
                                                                      tion erfordert auch das holokratische Konzept ein
                                                                      Umdenken von Führungskräften und Mitarbeitenden,
                                                                      was zu Ablehnung oder Überforderung bei den Beteilig-
                                                                      ten führen kann (Rüther, 2017).
Abbildung 2: Kreisstruktur Holokratie (Eigene Darstellung, in      – Aufgrund der strengen Regelungen und starren Abläufe
Anlehnung an Rüther, 2017)                                            des holokratischen Modells besteht die Gefahr einer
                                                                      Überregulation, wobei gleichzeitig soziale Komponenten
Einer der grundlegendsten Unterschiede zwischen einer tra-            in den Hintergrund treten. Csar (2017) merkt dazu an,
ditionellen Organisation und der Holokratie ist, dass Einzel-         dass teilweise eine Verschleierung in Hinblick auf
personen keine Berufsbezeichnungen mehr tragen. Das be-               hierarchische Strukturen innerhalb von Gruppen stattfin-
deutet, dass auch keine Managementtitel mehr existieren, da           det. So liegt der Fokus nicht auf Einzelpersonen und
Berufsbezeichnungen oft statusbezogen sind und lediglich              deren Persönlichkeiten oder Teams, sondern lediglich auf
einen vagen Zusammenhang mit der eigentlich erbrachten                den Rollen und Zwecken, die diese Personen für die
Arbeit des oder der Einzelnen besitzen. Die Holokratie defi-          Organisation erfüllen. Es gibt in holokratischen Systemen
niert Rollen mit einem klaren Zweck und nur dann, wenn sie            demnach keinen Platz mehr für informellen Austausch,
zum organisatorischen Zweck und zum Ziel des Kreises bei-             der nicht in direktem Arbeits- oder Rollenbezug steht.
tragen. Die Rollen entstehen also durch die zu erledigende            Problematisch hieran ist, dass sich solch informelle
Arbeit. Durch die Zuweisung von Befugnissen und Verant-               Beziehungspflege auch auf formale Tätigkeiten in der
wortlichkeiten wird die Entscheidungsfindung auf das ge-              jeweiligen Rolle auswirkt beziehungsweise auswirken
samte Unternehmen verteilt (van de Kamp, 2014).                       kann (Goyk & Grote, 2018). Arbeitsplatzbezogene soziale
                                                                      Beziehungen beeinflussen das Leistungsvermögen, die
Im Jahr 2015 existierten weltweit ca. 300 Unternehmen, die            Arbeitszufriedenheit und somit auch die Gesundheit der
das Konzept der Holokratie längerfristig anwendeten (Robert-          Beschäftigten (Drössler et al., 2016).
son, 2015a). Zudem experimentieren zahlreiche Unternehmen          – Zudem finden sich in den holokratischen Regeln keine
mit holokratischen Methoden (siehe z. B. Andrey & Jung, 2016;         oder nur schwer in der Realität anwendbare Hinweise
Universität St. Gallen, 2017) und es gibt einige lizensierte Be-      zum Umgang mit Streitigkeiten oder unkooperativen
ratungsunternehmen zur Holokratie. Als wohl bekanntestes              Beschäftigten (Csar, 2017). Dies ist darauf zurückzufüh-
und erfolgreichstes Beispiel für die Implementierung von Holo-        ren, dass in den strengen Sitzungsregeln und im Organi-
kratie innerhalb eines Unternehmens dient die Tochtergesell-          sationsmodell der Holokratie Emotionalität nicht
schaft eines amerikanischen Online-Versandhändlers (Kumar             zugelassen oder thematisiert wird (Rüther, 2017).
& Mukherjee, 2018). Diese Firma wird in vielen Publikationen,
Fallstudien und Vorträgen aufgegriffen.                            Tatsächlich gibt es Unternehmen, die bei der Einführung ho-
                                                                   lokratischer Konzepte und den damit einhergehenden, tief-
Holokratie steigert die organisatorische Agilität (die hier        greifenden Machtveränderungen scheiterten (zum Beispiel
auch als sprachlicher Bezugspunkt dient), indem es die Me-         eine digitale Plattform im Bereich Insurance Technology)
thoden zur Kontrolle organisatorischer Aktivitäten verbes-         (Rüther, 2017).

16 | iga.Report 44
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation

    Praxisbeispiel 2: Online-Versandhändler für Schuhe und Kleidung (www.zappos.com)

      Seit Januar 2014 ist das Unternehmen offiziell               Seither erfolgreiches Beispiel für eine
      holokratisch organisiert (Zappos Insights, 2020).            holokratische Organisation
      Die Beschäftigten arbeiten in selbtsorganisierten
      Kreisen zusammen und nehmen dabei verschie-
      dene Rollen ein (Zappos Insights, 2020).

      Die Einführung der           Ca. 18 % der Be-                Kumar und Mukherjee           Auch das Unternehmen
      Holokratie erfolgte          schäftigten verließen           (2018) nennen die             selbst betont die
      radikal, wobei die           daraufhin das Unter-            Anpassung der Unter-          Wichtigkeit der
      Beschäftigten sich           nehmen (Kumar &                 nehemskultur als              Unternehmenswerte
      entscheiden konnten,         Mukherjee, 2018). Auf           zentralen Erfolgsfaktor       und -kultur: „We all
      ob sie weiterhin in der      diese Weise konnte              für die Einführung            know that our culture
      neuen Organisation           sichergestellt werden,          neuer Organisations-          and our core values
      arbeiten wollen oder         dass die verbliebenen           konzepte wie das der          are THE secret sauce
      nicht (Kumar &               sich mit den neuen              Holokratie.                   behind not only our
      Mukherjee, 2018).            Unternehmenswerten                                            success, but our love
                                   und der Unterneh-                                             for this company and
                                   menskultur identifi-                                          for being a part of it.“
                                   zieren.                                                       (Zappos Insights, 2020)

2.2.3 Evolutionäre Organisation                               herausfiltern, was innovative und erfolgreiche Unternehmen
                                                              gemeinsam haben und was die dann später „evolutionär“ ge-
Ausgehend von einem tiefgreifenden Wandel der Arbeitswelt     nannten Organisationen von den Klassischen unterscheidet.
diskutiert Frederic Laloux in seinem Buch „Reinventing Or-    Laloux stellte dabei fest, dass die Organisation der Zukunft
ganizations“ (2015) die Frage, wie Organisationen im 21. Jahr-nicht darauf basiert, alte Modelle zu adaptieren. Vielmehr
                                                              findet ein radikaler Paradigmenwechsel statt, in dem es kei-
hundert gestaltet werden können. Dabei stellt er die klassischen
Organisationsformen, die primär auf Hierarchie ausgelegt sind,nen Platz für starre Hierarchien gibt.
infrage und arbeitet zentrale Merkmale zukunftsfähiger, evoluti-
onärer Organisationen aus.                                       Im Rahmen seiner Untersuchung identifizierte Laloux drei
                                                                 wesentliche Charakteristiken evolutionärer Organisationen.
Laloux zufolge haben die heute vorherrschenden Strukturen In seinem Modell unterscheidet er zwischen verschiedenen
ihre Grenzen erreicht, weshalb eine neue produktive und er- Entwicklungsstufen von Organisationen, die sich danach be-
füllende Organisationsform, die sogenannte evolutionäre messen lassen, in welchem Maße sich die drei folgenden
Organisation benötigt wird. Das Ziel besteht darin, Organisa- Prinzipien einer evolutionären Organisation in den Unter-
tionen zu schaffen, die frei von Burnout, Stress, Konkurrenz nehmen widerspiegeln:
und Bürokratie sind.                                             – Selbstorganisation: Die Selbstorganisation zeichnet sich
                                                                   dadurch aus, dass externe Führung durch Selbstführung
Grundlage für Laloux’ Konzept sind zwölf ausgewählte Unter-        und Eigenverantwortung ersetzt wird. Evolutionäre
nehmen unterschiedlicher Branchen und Größen, die er durch         Organisationen funktionieren vollständig ohne Hierarchi-
seine Tätigkeit als Berater kennengelernt und anschließend         en und ohne das lähmende Konsensprinzip in der
näher analysiert hat. Anhand dieser Praxisbeispiele konnte er      Entscheidungsfindung. Für Laloux ist die konsultative

                                                                                                                iga.Report 44 | 17
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation

  Einzelentscheidung das Kernelement der Selbstorganisa-        Obwohl beide Unternehmen erfolgreich sind, kritisiert Rüther
  tion. Entscheidungen werden demnach dezentral an den          (2017), dass Frederic Laloux sich zu sehr auf die positiven
  betroffenen Stellen getroffen und nicht an der Spitze der     Aspekte der in die Analyse einbezogenen Organisationen fo-
  Hierarchie. Demzufolge kann jede Person Entscheidungen        kussiert. Negative Aspekte, Schwierigkeiten bei der Umset-
  für ihren Aufgabenbereich treffen, sobald sie sich im         zung oder Elemente aus traditionellen Organisationsmodellen
  Vorfeld den Ratschlag aller Beteiligten eingeholt hat.        werden nicht diskutiert. Die Grundgedanken von Selbstorgani-
  Diese Art des Entscheidungsprozesses fördert den              sation, Mitbestimmung und Ganzheitlichkeit können sich posi-
  Informationsaustausch und die Transparenz innerhalb der       tiv auf die Produktivität, die Zufriedenheit und die Gesundheit
  Organisation.                                                 der Beschäftigten auswirken (Geramanis & Hutmacher, 2018;
– Ganzheitlichkeit: Ganzheitlichkeit meint, dass die            Laloux, 2015; Lübbers & Johannsen, 2018). Dennoch muss,
  Beschäftigten mit all ihren Eigenschaften, Emotionen          genau wie bei den anderen neuen Organisationsmodellen,
  und Zweifeln partizipieren können. Die eigene Persön-         auch bei der evolutionären Organisation angemerkt werden,
  lichkeit soll eingebracht werden, da der oder die Beschäf-    dass das erforderliche radikale Umdenken von Führungskräf-
  tigte als ganzheitlicher Mensch und nicht nur als             ten und Mitarbeitenden nur sehr schwer zu erreichen ist.
  Produktionsfaktor betrachtet wird. Evolutionäre Organi-       Auch können Mitarbeitende von der neuen Selbstorganisati-
  sationen fördern die Authentizität der Beschäftigten, die     on und Eigenverantwortung überfordert sein (Geramanis &
  in klassischen Organisationen häufig „Masken tragen“          Hutmacher, 2018; Lübbers & Johannsen, 2018). Auch in den
  und einen Teil ihres Selbst verdrängen. Außerdem werden       von Laloux untersuchten Organisationen treten Schwierig-
  Konkurrenzdenken und Selbstdarstellung unbedeutend,           keiten in der Praxis auf. Diese werden allerdings aufgrund
  da kollektive Intelligenz und rechtzeitiges Feedback          des Erkenntnisinteresses nicht weiter diskutiert (Rüther,
  Konflikte lösen und verhindern.                               2017). In Bezug auf das Organisationsmodell äußert Rüther
– Evolutionärer Zweck: Heutige Organisationen wirtschaf-        (2017) außerdem den Kritikpunkt, dass die Kernideen – Selb-
  ten häufig mit dem Ziel der Gewinnmaximierung und             storganisation, Ganzheitlichkeit und der evolutionäre Sinn –
  dem Erlangen von Wettbewerbsvorteilen. Laloux plädiert        zunächst sehr abstrakt beschrieben werden und nicht über-
  dafür, dass jede Organisation eine bestimmte Daseinsbe-       schneidungsfrei sind. Die folgende Tabelle beschreibt praxisnah
  rechtigung und somit einen Auftrag für die Welt haben         Herausforderungen bei der Etablierung und gibt Hinweise zur
  sollte und dass der Sinn in evolutionären Organisationen      Umsetzung der Selbstorganisation in Teams.
  nicht mehr nur an der Gewinnmaximierung ausgerichtet
  werden sollte.

Diese drei Prinzipien umzusetzen bedeutet, die bisherigen
Vorstellungen über die Funktion einer Organisation zu hin-
terfragen und sich gegenüber neuen Denkweisen zu öffnen.

In seinem Buch beschreibt Frederic Laloux (2015) mehrere
Unternehmen, die bereits Grundideen von evolutionären Or-
ganisationen umsetzten. Dazu zählen beispielsweise ein nie-
derländischer Pflegedienst oder eine französische Gießerei
(Laloux, 2015). Der Pflegedienst zeichnet sich vor allem
durch kleine, selbstorganisierte Teams aus, die ohne Füh-
rungskräfte arbeiten und lediglich durch eine kleine Zentrale
unterstützt werden. Die Beschäftigten kümmern sich weitge-
hend autonom um die ihnen zugewiesenen Pflegebedürfti-
gen, wodurch der Ansatz der Ganzheitlichkeit verfolgt wird.
Auch in der französischen Gießerei gibt es keinen Vorstand,
sondern die wenigen Besprechungen finden jeweils in oder
zwischen den Teams statt. Die Unternehmenskultur ist ver-
trauensvoll und lehnt strikte Kontrollen oder Hierarchien ab.

18 | iga.Report 44
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