IM SCHATTEN DER SPIELE // - FUSSBALL, VERTREIBUNG UND WIDERSTAND IN BRASILIEN

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IM SCHATTEN DER SPIELE // - FUSSBALL, VERTREIBUNG UND WIDERSTAND IN BRASILIEN
LN-Dossier 9 // September/Oktober 2013

IM SCHATTEN DER SPIELE //
FUSSBALL, VERTREIBUNG UND WIDERSTAND
IN BRASILIEN
Impressum
HERAUSGEBER: LATEINAMERIKA NACHRICHTEN e.V.
Erscheint als Dossier Nr. 9 innerhalb der LN 471/472 (September/Oktober 2013) sowie als separate
Themenbroschüre.
Redaktion: Redaktionskollektiv der Lateinamerika Nachrichten
V.i.S.d.P.: Christian Russau

Gefördert von der Rosa Luxemburg Stiftung

Die Rosa Luxemburg Stiftung führt nicht nur eigene Veranstaltungen in São Paulo und Deutschland durch,
die die sportlichen Großereignisse der WM 2014 und Olympischen Sommerspiele 2016 in Brasilien kritisch
begleiten. Sie unterstützt auch ganz konkret die Arbeit von zum Teil langjährigen ProjektpartnerInnen, die vor
Ort Kampagnen im Rahmen der mega-eventos unterstützen, die von Vertreibung betroffene oder bedrohte
Bevölkerung begleitet und auf die vielseitigen, leider überwiegend negativen Folgen für die Menschen vor
Ort aufmerksam machen. Zu diesen PartnerInnen gehören CAMTRA (Casa da Mulher Trabalhadora) www.
camtra.org.br, NPC (Núcleo Piratininga de Comunicação) www.piratininga.org.br, PACS (Políticas Alter-
nativas para el Cono Sur) www.pacs.org.br und FASE (Federação dos Órgãos para Assistência Social e
Educacional) www.fase.org.br. FASE ist sowohl in Recife als auch in Rio Mitglied der Comitês Populares de
COPA; seit Jahren setzen sie sich für das Recht auf Stadt als verbrieftes Menschenrecht ein und fungieren
dabei als wichtiger Vermittler zwischen Stadtregierung und Zivilgesellschaft.

LATEINAMERIKA NACHRICHTEN

Gneisenaustr. 2a, D – 10961 Berlin
Tel: 030 / 694 61 00, Fax: 030 / 692 65 90
www.lateinamerika-nachrichten.de

redaktion@LN-Berlin.de

Titelfoto: Tânia Rêgo / Agência Brasil / CC BY 3.0 BR
Arbeiter auf dem Dach des Maracanã-Stadions
IM SCHATTEN DER SPIELE
FUSSBALL, VERTREIBUNG UND WIDERSTAND IN BRASILIEN

                                                                                                           Foto: Antonio Cruz / Agência Brasil / CC by 3.0
4    Im Schatten der Spiele // Fußball, Vertreibung     30   Die Stadt als Beute des Kapitals // Interview
     und Widerstand in Brasilien                             mit Professorin Ermínia Maricato über Stadtum-
                                                             strukturierungen im Schatten der Mega-Events
8    Proteste auf Fifa-Niveau // Unbehagen und
                                                             und die neue Generation der Protestierenden
     Empörung treiben in Brasilien die Menschen auf
     die Straße                                         32   „50 Jahre Wachstum in nur 4 Jahren“ //
                                                             Eine Reportage aus Cuiabá – ein Jahr vor dem
11   „Das Recht funktioniert nur für die Reichen“
                                                             Anpfiff
     // Sieben Testimonios über Räumungen und
     Rechtsbrüche, Reiche und Revolte                   35   „Wo sollen wir hin,wenn sie uns hier ver-
                                                             treiben?“ // Sexarbeiter_innen sollen an den
18   „Welle an Zwangsräumungen“ // Interview
                                                             WM-Austragungsorten aus dem öffentlichen
     mit Professor Carlos Vainer über die sportlichen
                                                             Raum verschwinden
     Groß-Events und die Folgen in Rio de Janeiro
                                                        38   Blatter und die Strolche // Brasiliens Fuß-
22   Als der Papst schlief // Tränengas und Taser,
                                                             ballfunktionäre sind tief in Korruptionsaffären
     Pfefferspray und Prügel auf den Demonstratio-
                                                             verstrickt
     nen in Rio de Janeiro
                                                        41   Ein anderer Fußball ist möglich // Vor dreißig
27   Vier Wummen gegen Rio // Brasilien trainiert
                                                             Jahren führte mitten in der brasilianischen Mi-
     für Olympia – mit Drohnen, Luftabwehrpanzern,
                                                             litärdiktur der Fußballklub Corinthians Basisde-
     Kleinkalibern und Wasserwerfern, auch aus
                                                             mokratie ein: die Democracia Corinthiana
     Deutschland und Österreich
IM SCHATTEN DER SPIELE
                                                     FUSSBALL, VERTREIBUNG UND WIDERSTAND IN BRASILIEN
Foto: CatComm / Rio on Watch / CC BY-NC-SA 2.0

                                                 4    LN-Dossier 9
Fußballweltmeiterschaft der Männer 2014 in Bra-       Hinzu kommt, dass nicht wenige der Städte, in
silien! Mehrere hundert Millionen Zuschauer_in-       denen die WM im nächsten Jahr ausgerichtet
nen weltweit werden das Spektakel verfolgen,          werden wird, einen Immobilienboom sonders-
wenn 32 Teams um den Titel spielen. Die Fans          gleichen erleben. Die Grundstückspreise und
werden sich die Spiele in den Stadien oder auf        Mieten in den Ballungszentrem von São Paulo
Fanmeilen, in Bars oder Biergärten, bei Freund_       und Rio de Janeiro explodieren, haben sich von
innen oder daheim auf der Couch anschauen. In         2011 bis 2013 teilweise veranderthalbfacht. Und
Brasilien aber werden nicht alle die Spiele von       auch vor den Morros, den Favelas in der Südzo-
zu Hause aus sehen können, selbst wenn sie            ne von Rio de Janeiro, hat dieser Boom nicht halt
das wollten. Denn im Land der Fußball-WM 2014         gemacht. Infolge der „Befriedung“ dieser Hügel
droht Tausenden Menschen die Zwangsräumung:           durch die Militär- und Polizeieinheiten in den ver-
für die Bauvorhaben, die mit der Weltmeiterschaft     gangenen Jahren sind diese Favelas nun nicht
oder den Olympischen Sommerspielen, die 2016          nur bei wohlhabenden cariocas, sondern auch bei
in Rio de Janeiro stattfinden werden, im Zusam-        Tourist_innen äußerst beliebt. Sie befinden sich
menhang stehen.                                       in perfekter Lage mit Blick auf die Traumstrände
Die lokalen Basiskomitees, die sich in Brasilien      am Zuckerhut. Vor allem in Rio de Janeiro, aber
zur WM gegründet haben und die die sozialen           auch in anderen Städten, ist dieser Prozess der
Folgen der Groß-Events kritisieren, haben er-         Gentrifizierung massiv – und vertreibt viele der
schreckende Zahlen ermittelt. Allein in den zwölf     Anwohner_innen.
Ausrichterstädten der WM (einschliesslich Rio als     In Rio de Janeiro ziehen die Vertriebenen meist
Austragungsort der Olympischen Spiele) wurden         in die West-Zone der Stadt, wo Wohnraum noch
demnach bereits über 250.000 Menschen aus             erschwinglich ist, aber die Fahrtzeit zur Arbeits-
ihren Häusern geräumt oder sind von Räumung           stelle im Zentrum der Stadt auch weit über zwei
bedroht. Stadion- und Straßenbauten, Schnell-         Stunden dauern kann. Diese Prozesse der Ver-
buslinien und Trams, Parkhäuser und Hotels, U-        drängung und Inwertsetzung zeigen sich in allen
Bahnen und Autobahnzubringer – die vorgebrach-        WM-Städten in Brasiliens, wenn auch in einigen,
ten Gründe für Räumung und Vertreibung sind           wie beispielsweise in Cuiabá, deutlich geringer.
vielfältig.                                           Doch nirgends in Brasilien haben sich die Brasi-
Dabei gehen die Behörden nicht zimperlich mit         lianer_innen mit dem Gebaren der Fifa abgefun-
den Bewohner_innen um. Mal werden Bulldozer           den. Den von Funktionär_innen des Weltfußball-
und Abrißbirne ohne Vorankündigung aufgefahren,       verbands angesprochenen „Tritt in den Hintern“,
mal wird den Bewohner_innen ein Räumungsbe-           den Brasilien nach Fifa-Ansicht brauche, um den
scheid mit einer Frist von „null Tagen“ zugestellt,   Zeitplan für die WM-Vorbereitungen einzuhalten,
mal will es kein Amtstäger gewesen sein, der die      hat in Brasilien niemand vergessen. Dass Brasi-
Anweisung zur Räumung gab, mal ist auf dem            lien Milliarden ausgibt für WM-Bauten, die dem
Amt keinerlei Auskunft zu erlangen.                   „Fifa-Standard“ entsprechen müssen, aber das
Die Betroffenen beklagen, dass die Entschädigun-      öffentliche Bildungs-, Gesundheit- und Transport-
gen zu gering seien und dass sie nicht angemes-       wesen im Lande gravierende Defizite aufweist,
sen in Kenntnis gesetzt wurden. Auch die vom          hat die Brasilianer_innen auf die Straßen getrie-
Staat angebotenen Ersatzleistungen würden zu          ben. Entsprechend laut waren im Juni die Pfiffe
spät, gar nicht oder unzureichend angeboten. Er-      beim Eröffnungsspiel des Confederations Cups
satzwohnungen befinden sich oft in katastropha-        gegen den im Stadion anwesenden Fifa-Boss
lem Zustand bei inakzeptabler Lage. So sind sie       Sepp Blatter und Präsidentin Dilma Rousseff. Die
häufig in Neubaugebieten sozialen Wohnungs-            Brasilianer_innen zeigten Blatter und den im Land
baus, ohne Bus- oder Zuganbindung, Schule oder        Regierenden, was ein richtiger Tritt in den Hintern
medizinische Einrichtungen in erreichbarer Nähe.      sein könnte: Sie gingen zu Hunderttausenden
                                                      auf die Straßen, protestierten und trieben den
                                                      WM-Verantwortlichen bei Fifa und Regierung die
   Heimspiel ohne Haus
                                                      Schweißperlen auf die Stirn.
Die Städte machen sich
schick – aber die Einwoh-                             Zu viele der schön projizierten Projekte wie
ner_innen müssen gehen                                „Wunderbarer Hafen“ in Rio, privat geführtes

                                                                                               LN-Dossier 9   5
6   LN-Dossier 9
Maracanã-Stadion, Seilbahnen oder Autobahnzu-
                         bringer kontrastieren die Realität der abwesen-
                         den Abwasserversorgung, der Wartezeiten bei
                         medizinischer Behandlung oder der schulischen
                         Bildungsmisere.
                         Besonders wütend wurde die Bevölkerung, als es
                         um den WM-konformen Umbau der Stadien ging.
                         Denn die Fifa-Regeln untersagen Stehtribünen –
                         Sitzplätze und VIP-Lounges lassen sich eben bes-
                         ser vermarkten. Das Maracanã, neben Wembley
                         und Camp Nou nach Ansicht vieler eine der drei
                         Gralsstätten des Fußballs, sollte mit öffentlichen
                         Mitteln modernisiert – und dann privat verhökert
                         werden.
                         Doch die Proteste des Juni haben Wirkung ge-
                         zeigt. Nicht alles lassen sich die Brasilianer_innen
                         von Fifa und Regierung gefallen: Die Privatisierung
                         des Maracanã soll rückgängig gemacht werden,
                         angrenzende Sportstätten und ein von Indigenen
                         besetztes Gebäude, die Aldeia Maracanã, sollen
                         nun ebenso bleiben wie die comunidade der Vila
                         Autódromo, die seit Jahren für den zu errichten-
                         den Olympia-Park hätte geräumt werden sollen.
                         Selbst bei den Vermarktungs- und Sponsoren-
                         schutzrechten haben die Brasilianer_innen der
                         Fifa gezeigt, was ein Tritt in den Hintern wirklich
                         sein kann: In Bahia ließen die Straßenverkäu-
                         fer_innen der acarajé – kleine, scharf gewürzte,
                         gefüllte und frittierte Bohnenbällchen – nicht lo-
                         cker, als bekannt wurde, dass sie ihre traditionel-
                         len Gerichte in Stadionnähe auf Fifa-Wunsch nicht
                         verkaufen dürften. Die Fifa knickte ein. Und die
                         Taxifahrer_innen Salvadors blockierten beim Con-
                         federations Cup kurzerhand alle Straßen um das
                         Stadion, weil ihnen das versprochene Extra-Ge-
                         schäft komplett durch die Lappen ging, da private
                         Fahrdienste eingesetzt wurden. Nach dem Spiel
                         mussten dann die Nationalspieler_innen zu Fuß
                         zum Hotel gehen.
                         Widerstand lohnt sich also doch. Und nach den
                         Erfahrungen der Massenproteste im Juni dieses
                         Jahres dürfte allen Fifa-Funktionär_innen und Re-
                         gierenden in Brasília klar geworden sein, dass die
                         Brasilianer_innen spätestens mit Anpfiff der Fuß-
Grafik: image-shift.net

                         ballweltmeisterschaft am 12. Juni 2014 wieder in
                         Massen auf den Straßen sein werden – und für
                         ihre Rechte demonstrieren werden. Denn um
                         Rechte geht es in erster Linie – nicht um Tore.
                         Das wissen die Brasilianer_innen ganz genau.

                                  // LN und Rosa-Luxemburg-Stiftung

                                                                   LN-Dossier 9   7
PROTESTE AUF FIFA-NIVEAU
UNBEHAGEN UND EMPÖRUNG TREIBEN IN BRASILIEN DIE MENSCHEN AUF DIE STRASSE

      Als Brasilien 2007 zum Austragungsland der            len des Confederation Cup, dem WM-Probelauf
      Fußball-Weltmeisterschaft gewählt wurde,              in sechs Städten, gab es in der Umgebung der
      war der Jubel in der Bevölkerung groß. Eben-          Stadien große Demonstrationen. Fußballfunktio-
      so zwei Jahre später, als feststand, dass die         när_innen dachten sogar laut darüber nach, die
      Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio de               Veranstaltung abzublasen. Auf den Kundgebun-
      Janeiro stattfinden würden. Heute hat sich             gen und in den Medien machten unzählige, spon-
      die Stimmung gedreht. Es dominiert ein tief-          tan entstandene Parolen und Slogans die Runde:
      sitzendes Unbehagen, ja Empörung über das             „Wenn mein Kind krank ist, bringe ich es in ein
      urbane System und die Polizeigewalt, die              Stadion“, „Ich kann ohne WM auskommen: Ich
      Zwangsumsiedlungen, die Korruption und                will Gesundheit, Arbeit und Bildung“, „Politiker, ihr
      die Ausbeutung des Landes durch die Fifa.             habt jetzt nichts mehr zu lachen“, „Pelé und Ro-
                                                            naldo: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Die
      Millionen Brasilianer_innen sind im Juni auf die      Illusion, die Brasilianer_innen seien ausnahmslos
      Straße gegangen. Während der Fußball-WM               stolz und zufrieden darüber, diese Sportspektakel
      2014 und den Olympischen Sommerspielen 2016           in ihrem Land beherbergen zu dürfen, ist nicht
      ist mit weiteren Protesten zu rechnen. Seit Jah-      mehr aufrechtzuerhalten.
      ren haben Akademiker_innen sowie Mitglieder           Die Mobilisierungen im Juni stellen in vielerlei
      diverser sozialer Bewegungen, Nichtregierungs-        Hinsicht einen Wendepunkt in der brasilianischen
      organisationen und Parteien auf die unvermeidli-      Politik statt. Selbst wenn es nicht leicht fällt, die
      chen Auswirkungen dieser Mega-Events in einer         Ablehnung der Institutionen und der politischen
      zutiefst ungleichen Gesellschaft wie der brasi-       Parteien, die Vielzahl von Forderungen und Agen-
      lianischen hingewiesen, wo zudem immer bru-           den, die vielfältigen Formen direkter Aktion oder
      taler gegen Dissident_innen vorgegangen wird.         anderer Proteste, die in den unterschiedlichsten
      Von Anfang an ging es in dieser Debatte um die        Teilen des Landes zum Ausdruck kamen, unter
      Zwangsumsiedlungen zehntausender, meist ar-           einen Hut zu bringen: Heute gibt es eben keine
      mer Menschen, die der Immobilienspekulation           einzige Organisationsform oder gar eine gemein-
      weichen müssen. Gestritten wurde um massive           same Sache mehr.
      Investitionen in Bereiche, die – wie die WM – ei-     Die Regierenden auf Bundes-, Landes- und kom-
      gentlich keine staatliche Priorität verdienen, wäh-   munaler Ebene beeilten sich, alte Vorschläge aus
      rend die Lage in Sachen Gesundheit und Bildung        den Schubladen zu holen, um „Antworten“ auf
      für das Gros der Brasilianer_innen dramatisch         die Straße – und ihre rapide sinkenden Populari-
      bleibt. Debattiert wurde auch über die Privatisie-    tätswerte – zu geben. In der Tat: Die Proteste sind
      rung öffentlicher Räume, über die Korruption, die     abgeflaut, doch wenig spricht dafür, dass der An-
      Kriminalisierung sozialer Bewegungen oder über        trieb für die Demonstrationen und die Auflehnung
      prekäre Arbeitsverhältnisse auf den WM-Baustel-       völlig abgekühlt ist. Zahlreiche politische Gruppen
      len sowie über Ausnahmegesetze und Militari-          sind während der Prozesse der letzten Monate in
      sierung.                                              ihren Organisations- und Vernetzungsformen vor-
      Dennoch war im Juni die Überraschung bei den          angekommen und haben eine neue Sichtbarkeit
      Regierenden, in den Medien und bei der Fifa           erlangt. Bei der Interaktion dieser neuen, auto-
      groß: Die Kritik kam nun nicht mehr nur aus den       nomen Kollektive haben die sozialen Netzwerke
      sozialen Bewegungen, sondern sie beherrschte          eine zentrale Rolle gespielt – dies ist die wohl
      auf einmal die Straßen und den Alltag fast der        größte Gemeinsamkeit des „brasilianischen Früh-
      gesamten Gesellschaft. Bei nahezu allen Spie-         lings“ mit Massenbewegungen in anderen Teilen

8   LN-Dossier 9
Foto: CatComm / Rio on watch / CC by NC-SA 2.0

                                                   Im Namen des Fußballs Zerstörung der comunidades in Rio de Janeiro und andernorts

                                                 der Welt. Jederzeit kann es zu neuen Explosionen       Weise, die Mega-Events vorzubereiten, haben
                                                 der Unzufriedenheit kommen, und einiges spricht        sich in den zwölf Austragungsorten Aktivist_innen
                                                 dafür, dass das große Stelldichein bei der WM          aus verschiedensten Traditionen sozialer Kämpfe,
                                                 2014 stattfinden könnte. Und dass die meisten           Gruppen und Zusammenhängen in den lokalen
                                                 der traditionellen Bewegungen eher ratlos auf die      Basiskomitees zur WM zusammengeschlossen.
                                                 Proteste reagierten, ist auch durch ihre Nähe zu       Diese Komitees spielen eine wichtige Rolle dabei,
                                                 den linken Regierungsparteien PT (Arbeiterpartei)      über diverse Aktivitäten die Debatte aufrecht zu
                                                 und PCdoB (Kommunistische Partei Brasiliens,           erhalten: Straßenkampagnen, Flugblätter, Bro-
                                                 die das Sportministerium beherrscht) zu erklären       schüren, Webseiten oder Debatten inner- und
                                                 – sind es jedoch gerade diese staatstragenden          außerhalb der Universitäten. Auf landesweiter
                                                 Kräfte, die zusammen mit ihren konservativen           Ebene sind sie durch ein Netzwerk miteinander
                                                 Koalitionspartnern der Fifa in allen zentralen Punk-   verbunden.
                                                 ten nachgegeben haben. Durch das „Allgemeine           Auch wenn auf einem Großteil der Demonstratio-
                                                 WM-Gesetz“ hat der brasilianische Staat in meh-        nen im Juni die sportlichen Großereignisse direkt
                                                 reren Bereichen seine Souveränität zugunsten           oder indirekt thematisiert wurden, gingen die
                                                 der unheiligen Allianz von Fifa und transnationa-      Proteste doch weit über das hinaus, was in den
                                                 len Konzernen aufgegeben.                              Komitees diskutiert wird. Es zeigte sich, dass die
                                                 Von ihrer früheren Aufmüpfigkeit sind diese Partei-     Unzufriedenheit mit den diversen Aspekten die-
                                                 en, ebenso wie die Gewerkschaften, weit entfernt.      ser Mega-Events viel diffuser, aber auch weitrei-
                                                 Der Versuch der klassischen Bewegungen, sich die       chender ist als etwa von den Mainstream-Medien
                                                 Proteste für ihre berechtigten Forderungen nach        oder der institutionellen Politik angenommen.
                                                 Verringerung der Arbeitszeit, gegen weitere Präka-     Die WM wird doppelt so viele Austragungsorte
                                                 risierung oder nach gesicherten Renten nutzbar zu      haben wie der Confederations Cup. Ihre Auswir-
                                                 machen, endete ziemlich pathetisch. Ihren Aufru-       kungen auf die von Zwangsumsiedlung bedrohte
                                                 fen zum „Generalstreik“ am 11. Juli und zu Mas-        Bevölkerung oder auf die Straßen- und andere un-
                                                 senprotesten am 30. August folgten nur wenige.         abhängige Händler_innen, die aufgrund der Aus-
                                                 Nach den ersten Protesten gegen die Art und            nahmegesetze massiv eingeschränkt werden,

                                                                                                                                                LN-Dossier 9   9
nehmen zu. Deshalb dürfte der Begriff „Demons-          das Recht auf Stadt und die Merkantilisierung
      trations Cup“ („Copa das Manifestações“), der           des Alltags diskutiert wird – daher die ungeheure
      bereits in diesem Jahr verwendet wurde, auch            Macht, die das Thema erlangt hat.
      auf 2014 zutreffen. Zudem wird die brutale, ent-        Mit den Mega-Events passiert gerade etwas Ähn-
      fesselte brasilianische Polizei gerade dazu ausge-      liches: Es wird nicht nur direkt gegen sie protes-
      rüstet und abgerichtet, mit Härte zu handeln. Es        tiert, sondern sie werfen auch Schlaglichter auf
      ist also mit massiver Repression zu rechnen, was        eine Gesellschaft, die immer weiter militarisiert
      wiederum zu größerer Empörung führen und die            wird, in der weder die Menschenrechte noch die
      Proteste befeuern dürfte, ähnlich, wie bereits im       Umwelt respektiert werden. In den Worten des
      Juni geschehen. „Das Volk ist aufgewacht“, war          Philosophen Paulo Arantes: „Der Knalleffekt der
      ein vielgehörter Spruch auf den Demonstratio-           Tarifdebatte weist über die wichtige Bewegung
      nen, und dass es gerade jetzt wieder einschläft,        der von den Mega-Events Betroffenen hinaus
      ist kaum zu erwarten.                                   und hat die kollektive Phantasie der unglücklichen
      Die Protestkundgebungen im Juni wurden aber             Massen erreicht, die zum Drehkreuz (in den Bus-
      nicht nur durch den Unmut über die korrupte Fuß-        sen) verurteilt ist.“ Die Menschen wollten einen
      ballmafia ausgelöst, sondern vor allem durch den         „Nahverkehr auf Fifa-Niveau“, so Arantes. Ebenso
      Kampf gegen die Tariferhöhungen im öffentlichen         auch Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten
      Nahverkehr, der in Brasilien von miserabler Qua-        von hoher Qualität.
      lität ist und vorwiegend durch die Interessen der       Doch damit nicht genug: Diese Welle wird auch
      großen Busunternehmen bestimmt wird.                    mit dem Ende der WM noch nicht vorbei sein,
      Seither ist in São Paulo eine große Bestechungs-        denn dann stehen ja die Olympischen Spiele an,
      affäre bekannt geworden: Beim Verkauf von               und São Paulo bewirbt sich auch noch um die Expo
      S- und U-Bahnzügen organisierten die Multis             2020, die drittgrößte Veranstaltung der Welt, die
      Siemens, Alstom, Mitsui und CAF jahrelang Preis-        – sollte es dazu kommen – die öffentliche Hand
      absprachen. Mit Billigung hoher Politiker_innen         weitere Milliarden kosten und die Gentrifizierung
      und Funktionär_innen der von der rechtsliberalen        vorantreiben wird. Die Vertreibungen werden an-
      Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB) an-       halten – und immer mehr Bürgerrechte geopfert
      geführten Landesregierung kassierten die Multis         werden. Aber die sozialen Bewegungen arbeiten
      bis zu 30 Prozent mehr als nötig. Die Aktivist_in-      bereits daran, dass die zukünftigen Proteste wie-
      nen der Bewegung für Freie Fahrt im öffentlichen        der auf Fifa-Niveau stattfinden werden.
      Nahverkehr (MPL) durften sich bestätigt fühlen.
      Ihre Forderung nach dem Nulltarif funktionierte                                    // Júlio Delmanto
      auch als Auslöser dafür, dass jetzt viel breiter über                    Übersetzung: Gerhard Dilger

         Die da drinnen, die da draußen „Weg mit Gouverneur Cabral! Untersuchungskommission zur WM!“
                                                                                                                   Foto: Fernando Frazão / Agência Brasil / CC by 3.0

10   LN-Dossier 9
„DAS RECHT FUNKTIONIERT
NUR FÜR DIE REICHEN“
SIEBEN TESTIMONIOS ÜBER RÄUMUNGEN UND RECHTSBRÜCHE, REICHE UND REVOLTE

                                                                                                      Foto: Renato Cosentino / Justiça Global

      Nach der Räumung In Brasilien sind wegen der Mega-Events über 250.000 Menschen von Räumung bedroht

    Die Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasili-       te Stadtumstrukturierungen in Gang zu setzen
    en und die Olympischen Spiele 2016 in Rio de        – und so massive Gewinne für einige mit Immo-
    Janeiro werfen ihre Schatten voraus.                bilienspekulation und Gentrifizierung zu ermög-
                                                        lichen.
    In ganz Brasilien sind wegen der Baumaßnahmen       So hatte der Bürgermeister von Rio de Janeiro,
    für die Mega-Events über 250.000 Menschen von       Eduardo Paes, bereits Anfang 2012 im einem In-
    Räumungen aus ihren Häusern bedroht. Dies er-       terview mit der BBC frank und frei erklärt, „die
    geben Berechnungen der lokalen Basiskomitees        Olympischen Spiele sind ein phantastischer Vor-
    zu WM und Olympia, die sich in den zwölf WM-        wand, um Rio zu ändern“.
    Städten gegründet haben, um die Auswirkungen        Wir dokumentieren hier sieben Testimonios von
    der Spiele zu monitorieren.                         Betroffenen, die schildern, wie es ihnen erging.
    Und WM und Olympia dienen den Regierenden
    dabei nicht selten als Vorwand, um großangeleg-              // LN und Rosa-Luxemburg-Stiftung

                                                                                               LN-Dossier 9                                     11
„HÖFLICHST – DAS KOMMT
GAR NICHT IN DIE TÜTE!“
OBERDAM, COQUE, RECIFE: ERHIELT IM AUGUST 2013 DIE RÄUMUNGSANKÜNDIGUNG

      40.000 Menschen wohnen im Stadtteil Coque           basierend auf den ermittelten Werten infolge Be-
      in Recife, nahe des Hafens. Die in den Medien       gutachtung desselben. Das Grundstück befindet
      gerne als verrufen dargestellte Gegend ist          sich auf zur Enteignung vorgesehenem Gelände.‘
      wegen der Lage seit Jahren Ziel von Immo-           Mit anderen Worten: nach ich weiß nicht wie vie-
      bilienspekulation. Nun sollen für „Mobilitäts-      len Jahrzehnten fällt ihnen das auf einmal auf!
      projekte“ zur WM dort 58 Familien geräumt           Die wollen uns für dumm und dämlich verkaufen!
      werden, damit der Metro-und Busbahnhof              Mehrere Jahrzehnte. 50 Jahre – und jetzt fiel ih-
      Joana Bezerra erweiterte Zufahrten erhält.          nen das auf? Das kauf‘ ich denen nicht ab! Ich
      Oberdam wohnt seit langem im Coque – und            fühle mich direkt angegriffen. Dies umschreibt es
      nun soll er von dort verschwinden.                  am ehesten. Weil, was sie da vorschlagen, das ist
                                                          nicht richtig. Diese WM da, die kommt nach Bra-
      „Ein Rundschreiben vom Amt: ‚Name der Person.       silien – das ist wie verflucht. Das ist ein Fluch. Ich
      Werter Herr. Höflichst grüßend...‘ Höflichst! Das     bin mehr als empört. Und gleichzeitig könnte ich
      Wort gibt es nicht... Höflichst! – das kommt gar     weinen vor lauter Wut, jeden Tag diese Absurditä-
      nicht in die Tüte! ‚Ich lade Sie ein, auf dem Amt   ten zu sehen.“
      so und so zu erscheinen. Am 12. August 2013                                             // coque vive.
      um 9 Uhr, zwecks Durchführung der Verhandlung             Gekürzte Übersetzung: Felipe Bley Folly
      über das Grundstück zum Terminal Joana Bezerra,                                und Christian Russau

„BEI REGEN BLEIB‘ ICH DRAUSSEN“
JUSSARA BECKER, VILA CRUZEIRO, PORTO ALEGRE: STEHT DEM AUSBAU EINER
ENTLASTUNGSSTRASSE IM WEG

      Die zweispurige Avenida Tronco in Porto             auf‘s Amt gehst, redest du mit fünf Leuten, jeder
      Alegre soll zu einer vierspurigen Entlastungs-      sagt dir was anderes. Das ist so eine Mißachtung
      straße ausgebaut werden. Die Maßnahme ist           von uns, die wir da schon so lange leben! Und
      Teil der Baumaßnahmen für die WM. Wer in            wer sagt mir, wann ich raus muss? Zuerst verlie-
      den Häusern dort wohnt, wird „umgesie-              ren sie das Papier, und dann weiß keiner, in wel-
      delt“. Dies betrifft rund 1.520 Familien. Das       cher Abteilung genau sie gerade sind. Seit vier
      Testimonio erfolgte im Juli 2013.                   Monaten arbeiten sie an einem Entwurf.
                                                          Niemand respektiert uns Bewohner, das ist die
      „Mein Haus steht zwischen zweien, die schon         Wahrheit. Da gibt es Ratten, Abwässer dringen
      weg sind. Und was passiert? Als sie die weg-        in meine Zimmer ein. Ich habe kein Wohnzimmer
      machten, mit ihren Maschinen, da senkte sich        mehr, keine Küche. Mein Haus ist ein Saustall!“
      mein Dach. Heute, bei Regen, da bleib‘ ich lieber                               // coletivo catarse.
      draußen als da drinnen. Seit Monaten warte ich,          Gekürzte Übersetzung: Felipe Bley Folly
      dass mir irgendwer was sagt. Jedesmal, wenn du                                und Christian Russau

12   LN-Dossier 9
EINFACH DAS HAUS ABGERISSEN
FRANCISCA DE PINHO MELO, COMUNIDADE RESTINGA, IM STADTTEIL RECREIO DOS
BANDEIRANTES, RIO DE JANEIRO: MUSSTE EINER BUSSPUR WEICHEN

                  Francisca de Pinho Melo, 46 Jahre, lebte und          tun? Meine Tochter hielt mich zurück. Ich wollte
                  arbeitete in der comunidade Restinga. 2010            ins Haus, die Tür hinter mir abschließen und dort
                  wurden dort 153 Familien geräumt. Ohne                alleine bleiben. Als ich die Verzweiflung meiner
                  vorherige Ankündigung kamen die Bulldozer,            Tochter und meiner Schwester sah, gab ich auf.
                  und Beamte der Stadtbehörde und rissen die            Ich bin dann nur kurz rein, hab‘ ein paar Unter-
                  Häuser und Geschäfte der Familien ein. Die            lagen geholt und wir gingen zum Haus meines
                  Behörde argumentierte, dass dort die Aveni-           Bruders. Ich stand unter Schock. Warum nehmen
                  da das Américas für die Schnellbuslinie BRT           sie den Leuten ihr Haus weg, für das sie so lange
                  Transoeste erweitert werden müsse. Das                sich aufgeopfert hatten? Seit sechs, sieben Jahren
                  Testimonio erfolgte am 17. Dezember 2010.             hatten wir die Schreinerei. Ich, meine Schwester,
                                                                        meine Tochter und noch einige weitere Verwand-
                  „Ich sah, wie die Maschine mein Tor zertrümmer-       te arbeiteten dort. Unser Einkommen war gut, wir
                  te. Ich wollte da reingehen, aber ein junger Mann     kamen über die Runden. Aber nachdem das mit
                  hielt mich zurück. Ich versuchte nochmal, aber er     dem Abriss geschehen war, haben wir drei Mo-
                  ließ mich nicht. Ich wollte da rein, um mich vor      nate gar nichts mehr verdient. Wir wohnten dann
                  die Tür zu stellen und zu sehen, ob ich sie nicht     zur Miete. Das Schwierigste, das sind die Kinder.
                  stoppen könnte. So naiv war ich...                    Es ist schwer, dein Kind zu sehen, wie es dich um
                  Ganz spontan griff ich nach der Vorhängekette, um     etwas bittet. Meine Freunde, Verwandten, Nach-
                  abzuschließen, ich dachte, vielleicht hören sie auf   barn spendeten uns eine Tür, eine Veranda – und
                  und reden mit mir und den anderen Bewohnern.          nun verkaufe ich da was zum Essen, Sandwiches,
                  Vielleicht so den Abriss zu stoppen... von unseren    Erfrischungsgetränke. Ich arbeite jetzt 18 Stunden
                  Häusern, den Geschäften, von all dem. Aber mei-       am Tag. Ich habe alles verloren, mein Haus, meine
                  ne Schwester und meine Tochter schrien, ich solle     Arbeit, die Einkommensquelle meiner Familie.“
                  da weggehen. Und dann kamen sie und fingen an,                                              // A Pública.
                  alles abzureissen. Da wußte ich nicht mehr, was            Gekürzte Übersetzung: Christian Russau

                    Nun verläuft hier eine Busspur Ohne Vorwarnung wurde Franciscas Haus zertrümmert
Foto: A Pública

                                                                                                               LN-Dossier 9   13
„HIER VERTREIBT MICH NIEMAND!“
DONA ALZENIR, COMUNIDADE JOÃO XXIII, FORTALEZA: SOLL DER NEUEN TRAM WEICHEN

      Die alte Bahnlinie Parangaba – Mucuripe               ohne zu wissen, worum es überhaupt geht. Sie
      verbindet den Stadtrand mit dem Hafen von             kamen alle auf einmal, an einem Samstag. Da
      Fortaleza. Seit Jahren verkehrt einmal täg-           brachten sie diese Maschine und fragten nach
      lich ein Güterzug auf der etwa 15 Kilometer           meinen Papieren. Dann notierten sie alles und
      langen Strecke, die dabei 22 comunidades              filmten hier rum.
      durchkreuzt. Eng an den Gleisen wohnen                Ich will hier nicht weg. Mir gefällt es hier. Als ich
      seit Jahrzehnten mehrere tausend Men-                 hier ankam, und es hier nichts gab, schon da ge-
      schen. Nun soll für die WM dort eine neue             fiel mir das. Und jetzt haben wir hier alles.
      Tramlinie gebaut werden (siehe LN 441).               Wer hier zuerst war, das waren wir.“
      Schätzungen zufolge sind bis zu 15.000 Men-
      schen von Räumung bedroht. Doch Wider-                                  // comunidades do trilho.
      stand regt sich. Die Anwohner_innen haben                  Gekürzte Übersetzung: Felipe Bley Folly
      eine Kampagne unter dem Slogan „Von hier                                     und Christian Russau
      gehe ich nicht weg! Hier vertreibt mich nie-
      mand!“ gestartet. Elf Monate vor Beginn der
      Spiele ist der Bau zu einem Drittel fertig. Ei-          Leben an der Schiene Tram in Fortaleza bedroht die
      nige Räumungen fanden bereits statt, doch             angestammten Bewohner_innen
      der Widerstand der Bevölkerung hat Landes-
      und Stadtregierung entzweit, wer für die
      Räumungen zuständig sein muss. Und die
      Bewohner_innen setzen sich noch immer zur
      Wehr. Anfang September hat die Staatsan-
      waltschaft vor Gericht Einspruch gegen die
      Räumungspläne der Regierung erhoben.

      „Ich lebe hier seit Februar 1975. Hier gab es
      nichts. Nur Gestrüpp, Mücken und der vorbeifah-
      rende Zug ab und an. Hier kam nicht mal ein Lei-
      terwagen vorbei, nur herumstreunende Tiere.
      Ich bin seit damals hier und hier gehe ich nicht
      weg. Ich habe das Land gekauft.
      Ich habe das Dokument, das zeigt, wie lang, wie
      breit das Grundstück ist, wer der Nachbar rechts,
      wer der von links ist, wer der da hinten ist. Alles
      auf Papier.
      Wir haben bezahlt und dafür das Dokument er-
      halten. Mit all unserer Schufterei haben wir das
                                                                                                             Foto: Marcão da Costa

      Haus hier gebaut. Da gab es kein Bad, kein gar
      nichts. Und jetzt kommen da diese Firmen her,
      wie so aus dem Nichts. Bringen die Apparate zum
      Filme und Messen mit.
      Sie sagen, das sei Anweisung der Regierung,
      das müssten wir befolgen. Das haben wir auch,

14   LN-Dossier 9
WEG WEGEN FLUGHAFENAUSBAU
GUNTHER OSCAR BANACH UND ROSELI APARECIDA REINALDI, VILA NOVA COSTEIRA, SÃO
JOSÉ DOS PINHAIS, CURITIBA: SIND DER DRITTEN LANDEPISTE DES FLUGHAFENS IM WEG

    Vor mehr als 20 Jahren erhielten Gunther Os-       Roseli: „Ich halte hier in meinen Händen das Do-
    car Banach und Roseli Aparecida Reinaldi von       kument vom damaligen Bürgermeister, das uns
    den örtlichen Behörden das Wohnrecht. Nun          den Grundbesitz hier bestätigt. Er gab uns das,
    sollen die Anwohner_innen dem Bau der drit-        unterzeichnet, 1992. Seither sind wir hier und nun
    ten Landebahn des Flughafens Afonso Pena           mit all diesem Irrsinn der dritten Flugpiste, wis-
    des WM-Austragungsort Curitiba weichen. In         sen wir nicht, wohin, was geschehen wird, ob sie
    dem Haus des Ehepaars wohnen zusammen              uns in Geld auszahlen? Oder einen anderen Ort
    zehn Personen. Sie wissen nicht, wann sie          geben? Woanders was bezahlen, nur damit wir
    geräumt werden und nicht wohin. Das Testi-         dort ein Loch vorfinden, nein, das geht nicht!“
    monio erfolgte im Mai 2013.                        Gunther: „All das hier haben wir gemacht. Sogar
                                                       die Bürgersteigkante. Und den Asphalt selbst.
    Gunther: „Wir erfahren nichts Genaues. Wir wis-    Die Leitungsrohre. Die Behörden haben hier gar
    sen nicht, ob wir umgesiedelt werden, und wenn     nichts gemacht. Wenn sie uns vertreiben, dann
    ja, wohin? Wohin werden sie uns verfrachten? Die   müssen sie uns entschädigen.“
    Flugaufsicht Infraero sagte, da muss eine Straße              // Comitê Popular da Copa Curitiba.
    weg. Aber schaut man sich das genauer an, dann          Gekürzte Übersetzung: Felipe Bley Folly
    muss da ein ganzer Stadtteil weg.“                                            und Christian Russau

„WIR WOLLEN UNSERE WÜRDE“
ANDRÉ, 31 JAHRE, FAVELA DA PAZ, IN DER NÄHE DES WM-STADIONS IM STADTTEIL ITAQUE-
RA, OSTZONE VON SÃO PAULO: SOLL SEIN HAUS VERLASSEN

    André wohnt seit 1996 in der Favela da Paz         Eigentümer, aber die Leute von der Stadt kamen
    im Stadtteil Itaquera. Seit er herzog, lebt er     und sagten, die comunidade müsse sich keine
    mit der Angst, aus seinem Haus geräumt zu          Sorgen machen und dass sie einen Wohnplan für
    werden. Denn für die Stadtverwaltung steht         uns hätten. Das beruhigte die Leute, aber schlä-
    sein Haus in einer Risikozone und zudem auf        ferte sie auch ein. Wir haben uns also erfassen
    öffentlichem Grund. Seit aber die Fußball-         lassen – und hinterher haben wir nie mehr was
    weltmeisterschaft immer näher rückt, nimmt         gehört.
    der Druck auf die Bewohner_innen zu – denn         Aber als klar wurde, die WM kommt nach Bra-
    sie wohnen in direkter Nachbarschaft zum           silien und hierher zu uns, da gerieten wir unter
    neuen WM-Stadion Itaquerão. Das Testimo-           Druck. Dann erfuhren wir ganz zufällig, dass un-
    nio erfolgte im August 2013.                       sere Räumung für den 26. April 2013 angesetzt
                                                       war. Wir haben sofort eine einstweilige Verfügung
    „Seit 1996 wohne ich in der Favela da Paz. Die     eingereicht, und die Staatsanwaltschaft wies
    ersten Familien zogen 1993 dort hin. Gleich da-    auch darauf hin, dass es so nicht ginge, weil es ei-
    nach begannen die ersten Prozesse um Räumung       ne Vereinbarung mit der Wohnungsbehörde gab,
    und Rückgabe des Landes an den ursprünglichen      dass es Räumungen nur geben dürfe, wenn auch

                                                                                                LN-Dossier 9   15
Foto: Marcelo Camargo / Agência Brasil / CC by 3.0

                                                              Gouverneur vor neuem Stadtplan In São Paulo sollen Arme aus der nun schicken Stadiongegend weichen

                                                           Alternativen da wären. Wir haben dann selbst den       Wir haben eine Stadtteilvereinigung der Anwoh-
                                                           Alternativplan für die Favela da Paz erarbeitet.       ner. Die Familien stehen sich nahe, sie fragen ein-
                                                           Das Gelände ist groß und daneben gibt es noch          ander, sie kümmern sich umeinander. Die Infra-
                                                           eins, das ist auch von der Stadt, und wir schlugen     struktur hier ist prekär. Wasser kommt nur nach
                                                           vor, dahin umzuziehen: so wäre das Problem der         Mitternacht. Strom ist auch furchtbar, den gibt es
                                                           Risikozone umgangen worden und das Gelände             nur, weil die Bewohner das selbst installiert ha-
                                                           könnte Anschluss an die Kanalisation, Strom und        ben. Und die da oben? Die lassen sich dauernd
                                                           Verkehrswege erhalten. Der Bürgermeister selbst        neue Ausreden einfallen. Wir bezahlen unsere
                                                           sagt, er wolle der Bevölkerung von Itaquera eine       Rechnungen, das ist nicht das Problem. Aber wir
                                                           nette Erbschaft hinterlassen, aber so geht das         wollen unsere Würde. Wir sagen ganz klar: wir
                                                           nicht, uns einfach von hier zu vertreiben. Für mich    wollen nichts geschenkt, wir sind Arbeiter, wir
                                                           und meine Kinder ist es wichtig, dass unser Haus       wohnen da nicht, nur weil wir das so wollen. Un-
                                                           dort in der Nähe steht, um in Würde zu leben, mit      glücklicherweise bietet die Regierung der Bevöl-
                                                           Lebensqualität, Anschluss an die Kanalisation, an      kerung gar nichts.
                                                           Infrastuktur...                                        Und mit der WM, da wird es brenzliger. Die Stadt
                                                           Bis heute haben noch immer keine Antwort er-           sagte: im Dezember ist der äußerste Termin. Ter-
                                                           halten. Der Presse sagen sie, sie hätten ein Pro-      min für was? Dass sie die Kavallerie rufen? Pfef-
                                                           jekt, aber niemand sagt, wie, was, wo es gerade        ferspray einsetzen? Werden sie alle vertreiben?
                                                           steht. Und dann fängt dieses üble Spiel an, immer      Oder werden sie unser Problem mit einem Woh-
                                                           hängt alles von der anderen Behördenstelle ab,         nungsbauprogramm hier in der Nähe lösen?
                                                           dann vom Bürgermeister, dann von irgendeinem           Ich begreif‘ nicht, wie sie reinen Gewissens das
                                                           Bauvorhaben, von Finanzmitteln... Was sie für uns      mit 300 Familien machen können. Wir alle schla-
                                                           tun, ist einzig, dass sie durch dieses Wirrwarr den    fen nicht mehr richtig, wir können auch nichts
                                                           Räumungsprozess etwas verzögern.                       mehr zur Verbesserung unserer Lebensumstände
                                                           Der Stadteil Itaquera ist sehr beliebt bei Immo-       hier vor Ort machen, weil wer setzt hier schon ir-
                                                           bilienspekulanten, weil sich wegen des Stadions        gendwas instand, wenn es am nächsten Tag hei-
                                                           hier alles verteuert. Vorher lag hier eine Miete bei   ßen kann: ‚Packt eure Sachen auf den Pritschen-
                                                           unter 500 Reais, heute zahlst du im Durchschnitt       wagen und fahrt weiß Gott wohin‘. Ich frage mich,
                                                           850 Reais, und da ist das Hausgeld, die anderen        wird die Militärpolizei heute kommen, um uns zu
                                                           Kosten noch nicht mal mit drin. Und die Stadt bie-     enteignen? Das geht allen hier so.”
                                                           tet Wohnungsgeldhilfe in Höhe von 300 Reais an,                                       // Júlio Delmanto.
                                                           das ist lächerlich.                                         Gekürzte Übersetzung: Christian Russau

                                                     16   LN-Dossier 9
BEINAHE ZUM DRITTEN MAL
IM LEBEN GERÄUMT
DAS HAUS VON ALTAIR ANTUNES GUIMARÃES, COMUNIDADE VILA AUTÓDROMO, STADTTEIL
JACAREPAGUÁ, RIO DE JANEIRO: SOLLTE DEM OLYMPIAPARK IM WEGE STEHEN

    Altair ist 60 Jahre alt und seit 2003 Sprecher       Die Häuser, in denen wir untergebracht wurden,
    von 900 Familien der Vila Autódromo, Rio de          waren so Maisonette-Häuschen. Die waren nicht
    Janeiro. Altair wurde bereits 1965 geräumt.          nur klein, sondern die wollten uns nur das Ske-
    1995 stand dann sein Haus in der Cidade de           lett des Hauses geben. Nur den Boden und die
    Deus einer Schnellstraße im Weg. Und die             Wände. Das Oben sollten wir Bewohner alles
    Vila Autódromo sollte wegen Baumaßnah-               selber machen. Absurd. Damals fing mein Kampf
    men für die Olympischen Spiele 2016 in Rio           an. Mein politisches Bewußtsein. Mit Widerstand
    de Janeiro zwangsumgesiedelt werden. Das             und vielem Disput mit der Präfektur schafften wir
    Testimonio von Altair erfolgte im April 2011.        es, dass die alle anfallenden Kosten übernahmen,
    Nach jahrelangem Kampf erhielt die Vila Au-          so wie es sein sollte.
    tódromo im August 2013 vom Bürgermeister             Dann zog ich weg aus der Cidade de Deus. Ich
    letztlich das Bleiberecht zugestanden. Wi-           fing ein neues Leben an und entschied mich für
    derstand lohnt sich offenbar doch.                   die comunidade Vila Autódromo. Das war vor 16
                                                         Jahren. Ein ruhiger Ort, sehr grün, meine jetzige
    „Ich wuchs auf in der comunidade Ilha dos Caiça-     Frau ist von dort. Der Gouverneur Brizola vergab
    ras, da an der Lagune Rodrigo de Freitas. 1965       1992 das Nutzungsrecht für 40 Jahre. Dann gab
    war die Regierung von Carlos Lacerda. Der Vor-       uns der Gouverneur Marcelo Alencar weitere 99
    wand war, dass wir die Lagune verschmutzten.         Jahre. Aber der jetzige Bürgermeister Eduardo
    Alles Lüge! Heute ist das der schickste Ort von      Paes will die Vila Autódromo räumen. Dauernd
    Rio. Es war Immobilienspekulation. Es war Dikta-     läßt er sich was Neues einfallen. Mal sind wir Ver-
    tur. Eine etwas andere Zeit, wo niemand sich be-     schmutzer, Zerstörer, Unruhestifter, Eindringlinge,
    schwerte, aber so wie ich das sehe, war das gar      mal sollen hier die Unterkünfte der Athleten, mal
    nicht so anders. Weil heute, da hast du mehr Frei-   ein Medienzentrum hinkommen, mal sind wir
    heiten, aber du darfst auch nicht schreien. Wenn     ein Rechenfehler oder wir werden Sicherheits-
    du schreist, bekommst du sofort Pfefferspray ins     zone der Olympischen Spiele – und jetzt gerade
    Gesicht oder Prügel in dem Stil ‚Halt‘s Maul, dass   werden wir wieder zum Naturschutzgebiet, was
    du es kapierst‘.                                     gleichbedeutend ist mit, wir seien Zerstörer. Wir
    Meine Familie wurde in einem Müllwagen ge-           sind umzingelt von Luxus- und Mittelklassehäu-
    räumt. Als wir ausgeladen wurden, waren wir          sern, aber Reiche verschmutzen ja nicht.
    in einem Stadtteil, den niemand kannte und von       Mein Leben ist eine Geschichte von Kampf und
    dem wir noch nie gehört hatten. Ein Ort ohne         Leid, von Streit mit den Regierungen, die dauernd
    Strom, Wasser, Schule, inmitten von Nichts. Da       meinen, dass sie die Armen einfach so nehmen
    gab es nur Gestrüpp, lehmige Erde und Staub.         und von einem Ort zum anderen schmeißen kön-
    Das war der Stadtteil Cidade de Deus. Ich fühlte     nen.
    mich verloren, ohne Freunde, ohne Boden, allei-      Ich glaube nicht an das Recht für die Armen, für
    ne. Ich war ohne Heimat.                             die Schwarzen und die Prostituierten. In diesem
    Was sie mit mir gemacht hatten, das verstand ich     Land hier, da funktioniert das Recht nur für die
    erst 30 Jahre später, als mein Haus der Schnell-     Reichen.“
    straße Linha Amarela, die das Zentrum der Stadt            // Tatiana Lima, desInformémomos.org.
    mit der Westzone Rios verbindet, im Wege stand.           Gekürzte Übersetzung: Christian Russau

                                                                                                 LN-Dossier 9   17
„WELLE AN ZWANGSRÄUMUNGEN“
INTERVIEW MIT PROFESSOR CARLOS VAINER ÜBER DIE SPORTLICHEN GROSSEVENTS UND
DIE FOLGEN IN RIO DE JANEIRO

      Carlos Vainer erläutert die Hintergründe und
      Folgen der Stadtumstrukturierung Rio de Ja-            CARLOS VAINER
      neiros im Zuge der Vorbereitung auf die Fuß-           ist Professor für Urbanistik des Instituts für Stadt-
      ballweltmeisterschaft und die Olympischen              und Regionalplanung Ippur der Bundesuniversität
      Sommerspiele.                                          von Rio de Janeiro und Mitglied des lokalen Ba-
                                                             siskomitees Rio de Janeiro zur Fußballweltmeis-
      Professor Vainer, Sie haben den Begriff der            terschaft und den Olympischen Spielen.
      „Stadt im Ausnahmezustand“. entwickelt. Was
      meinen Sie damit?
      Carlos Vainer: Die Stadt im Ausnahmezustand ist
      eine Tendenz der neoliberalen Stadt. Neoliberales      WM wird dem Bürger ein mythisches Klima der
      Denken basiert auf der Annahme, dass der Markt         erfolgreichen Weltstadt vermittelt. Man geht
      immer die beste Form ist, um gesellschaftliche         davon aus, dass die Bürger so eher bereit sein
      Ressourcen einzusetzen. Dies jedoch ohne jedwe-        werden, den Ausnahmezustand und all dessen
      de Beeinträchtigung durch nicht-marktkonformes         Folgen unter dem Verweis auf die nahenden Spie-
      Handeln, da es sonst zu Marktverzerrungen, Inef-       le zu akzeptieren. Hier findet eine Erpressung
      fizienzen und Ungleichgewichten käme. In diesem         der Bürger statt: Sie nehmen Dinge hin, gegen
      Sinne soll der Staat nur den Rahmen schaffen, um       die sie sich unter normalen Umständen zur Wehr
      das freie Agieren des Marktes nicht zu behindern.      setzen würden. Eine davon untrennbare Kompo-
      Die Stadt wird demnach betrachtet, als sei sie eine    nente ist der Autoritarismus. Dieses Aushandeln
      Firma, die mit anderen Städten in Konkurrenz steht.    von Geschäften ist keine Demokratie. So werden
      Und was kauft man in einem Markt der Städte? Die       die Entscheidungsstrukturen aus den demokrati-
      Lage. Als Stadt konkurriere ich mit anderen Städ-      schen Strukturen – Parlament, politische Parteien
      ten, um meine Standorte an Kapitalisten, Touristen,    – auf die Korridore der Paläste verlegt, wo die pu-
      an Mega-Events zu verkaufen. Um diesen Verkauf         re Macht der Konzerne alles aushandelt.
      zu ermöglichen, muss die Stadt demnach flexibel
      sein – und in diesem Zusammenhang rede ich von         Was hatte das für Auswirkungen im Fall von
      Ausnahmezustand. Anstelle einer Stadt mit Nor-         Rio de Janeiro?
      men und universellen Regeln, die für alle gelten,      Die Olympischen Spiele und die WM machen
      wird sie zu einer Stadt, in der jeder städtebauliche   das unternehmerfreundliche Projekt der Stadt-
      Vorgang oder Eingriff, jedes Firmenprojekt von Fall    umstrukturierung zu einem großen Geschäft und
      zu Fall entschieden wird. Die Ausnahme wird zur        verstärken die diesem Modell innewohnenden
      Regel. Und dieses Regime der Stadt dient der, wie      Gegensätze: Verschärfung der Ungleichheit in der
      ich es nenne, direkten Demokratie des Kapitals.        Stadt, Verschiebung der öffentlichen Macht hin
      Denn wer verhandelt? Konzerne mit städtebauli-         zu einer Vertretung von Unternehmerinteressen,
      chen Projekten verhandeln direkt mit dem Staat.        Verteilung öffentlicher Mittel im Sinne von Unter-
                                                             nehmenslogiken, Ausrichtung der Stadt auf den
      Wie sehen Sie die Rolle der Mega-Events?               Markt, Übertragung der Filetstücke der Stadt an
      Die Großevents verschärfen, beschleunigen und          Konzerne. In Rio wurde die Hafenzone, mit einer
      verstärken die Dimensionen der Stadt im Aus-           Fläche größer als der Stadtteil Copacabana, an
      nahmezustand und die direkte Demokratie des            Investoren abgegeben. Wir reden hier von der
      Kapitals. Durch die Olympischen Spiele und die         absoluten Privatisierung, von der verschärften

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Spaltung des öffentlichen Raumes. Das heißt            des Bundes. Was dahintersteckt ist der Versuch,
dann auch, dass überall dort, wo es für einen Zen-     eine autoritäre Gesetzesgrundlage für vereinfach-
timeter Stadt ein Konzerninteresse gibt, alle Nor-     te Militärinterventionen im Inneren zu schaffen.
men aufgehoben werden, nur damit sich dieses           Auf dieser Grundlage bot der Justizminister den
Interesse durchsetzt. Und all diejenigen, die das      Gouverneuren und Bürgermeistern nach den ers-
Pech haben, diesen Konzerninteressen im Wege           ten Massendemos vom Juni dieses Jahres im
zu stehen, müssen von dort vertrieben, ja, regel-      Fernsehen die Unterstützung des Heeres an.
recht verbannt werden. Und dies erklärt die Welle
an Zwangsräumungen in der Stadt. Niemals in der        Was wären denn weitere Konsequenzen der
Geschichte von Rio de Janeiro seit der Militärdik-     Mega-Events für Rio?
tatur kam es zu so vielen Vertreibungen. Rio be-       Zunächst eine enorme öffentliche Verschuldung
findet sich in einem Prozess der sozio-ethnischen       von Stadt und Land. Die Schulden der Olympi-
Säuberung. Und die geht einher mit Formen der          schen Spiele von 1976 hat Montreal erst 2011
sozialen, polizeilichen und militärischen Kontrolle.   abzahlen können – und Rio ist ein Bundesland,
                                                       in dem 40 Prozent der Munizipien keine Abwas-
Sie sprechen auch von einer massiven Ver-              serversorgung haben. Bereits jetzt rechnet Rio
schärfung der Repression...                            für WM und Olympische Spiele mit Kosten von
Es gibt derzeit ein Gesetzesvorhaben, mit dem          umgerechnet zehn bis zwölf Milliarden Euro. Aber
terroristische Verbrechen bekämpft werden sol-         das wird steigen. Die Panamerikanischen Spie-
len. Brasiliens Gesetzgebung kennt diese juris-        le sollten 400 Millionen Reais kosten, am Ende
tische Figur der Terrorbekämpfung nicht. Das ist       zahlten wir viereinhalb Milliarden, das Zehnfache.
insofern dramatisch, als es eines der Erbstücke        Niemand hat derzeit den genauen Überblick dar-
der WM für uns sein wird. Im Justizministerium         über, was die Spiele kosten werden – und dabei
wurde ein Sondersekretariat zur Sicherheit der         reden wir noch nicht einmal von den gewährten
Mega-Events eingerichtet – aber öffentliche Si-        Steuervergünstigungen für die FIFA beispielswei-
cherheit ist in Brasilien Ländersache, nicht Sache     se, die ja auch Kosten darstellen.

                                                                                                     Grafiken: image-shift.net

                                                                                              LN-Dossier 9                      19
Und jenseits der öffentlichen Finanzen?                 setzt werden, da die arbeitende Bevölkerung ge-
      Die zweite Hinterlassenschaft wird eine gespal-         fährlich und deshalb die soziale, polizeiliche und
      tenere, eine ungleichere Stadt sein. Es wird ein        militärische Kontrolle nötig sei.
      Rio sein, in dem die Nachbarschaft einer Favela zu      Und als drittes Erbstück, so sagen die Politiker,
      einer Mittelklassewohngegend seltener wird. Und         wird es neue Mobilität geben. Aber wohin führen
      wir werden eine fortschreitende Privatisierung des      denn die neuen öffentlichen Verkehrslinien? Hin
      öffentlichen Raumes sehen. Dies geschieht schon         zu den Gebieten, die durch den Immobilienboom
      seit Jahren, beispielsweise wenn die Behörden           erschlossen werden, in Barra da Tijuca oder Re-
      ihre Politik der Null-Toleranz durchsetzen. Diese       creio im Westen der Stadt zum Beispiel. Da wird
      Intoleranz ist aber nicht allgemein, sie richtet sich   das öffentliche Verkehrsnetz hin zu leeren Gebie-
      gegen die fliegenden Straßenhändler, gegen die           ten ausgebaut, während 80 Prozent der Nachfra-
      Straßensambas, gegen diejenigen, die nach dem           ge nach Transport in den Vororten der Baixada Flu-
      Wochenmarkt dort noch beim Biertrinken verwei-          minense und im Großraum Niterói besteht.
      len. Es ist eine Art der Urbanität, die nur kompati-    Die Stadt und die Regierenden brauchen einen
      bel ist mit der Lebensrealität der neureichen Bour-     Vorwand, um all das zu rechtfertigen. Als Vor-
      geoisie. So wird die kulturelle, lebendige Vielheit,    wand geben sie die vermeintlichen Hinterlas-
      das Lebenselixier der pulsierenden Stadt zerstört       senschaften der Events an. Aber: ist Mobilität
      und die öffentlichen Räume werden für Privat-           eine Folge von Groß-Events? Muss die Stadt die
      zwecke enteignet. So wird die Stadt ungleicher, är-     Olympischen Spiele ausrichten, um den öffentli-
      mer, weniger öffentlich und mehr privatisiert. Und      chen Transport zu verbessern? Wir brauchen nicht
      die Stadt wird umgeformt in eine Anhäufung von          die Spiele, um den öffentlichen Transport und die
      Festungen: die Festungen der Reichen, die gated         Abwasserentsorgung zu verbessern!
      communities, die Shopping-Center, die Business-
      Center. Und auf der anderen Seite die Festungen         Und das „Erbe“ beim Fußball selbst?
      der Armen, die urbanen Ghettos, umzingelt von           Schauen Sie sich das Maracanã an. Das wurde
      der Polizei. Das sind Ghettos, die militärisch be-      privatisiert, das Volk von Rio wurde enteignet, um

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dort VIP-Lounges zu installieren. Dort, wo zuvor        gegen das, was da mit dem Fußball gemacht wird.
200.000 Zuschauer und davon 40.000 Stehplätze           Also pfeifen sie die Regierenden aus. Und zeigen,
waren, wo alle Leute zu günstigen Preisen rein-         dass sie nicht gegen WM und die Olympischen
konnten! Das Maracanã war der Ort der einfachen         Spiele sind, sondern gegen die Art und Weise, wie
Leute von Rio de Janeiro. Heute wurde es auf            diese Events gegen sie benutzt werden. Und die-
80.000 Plätze reduziert, von denen sind 40.000          se Lehre ist außergewöhnlich! Diese aber ist für
VIPs. Man darf keine Fahnen mehr mitnehmen,             die Herrschenden schwer zu begreifen: Während
Musik darf man auch nicht mehr spielen. Sie un-         die Politiker den Sport nur als Machtinstrument,
terdrücken die Vielfalt, die Spontaneität, die Le-      als großes Geschäft sehen, ist er für die Leute
bendigkeit und die Kultur. Das ist obendrein auch       was ganz anderes. Eine Leidenschaft.
noch entsetzlich dummes Marketing. Warum zieht
Rio de Janeiro jemanden an, was hat es Besonde-         Sehen Sie denn irgendetwas Positives, das die
res? Wenn unsere Stadien alle so aussehen, wie          Groß-Events bringen?
die in Europa, wenn unsere Städte, unsere Plätze        Die Demonstrationen der Bevölkerung. Denn
so werden wie der Jardin du Luxembourg, warum           die Spiele, die Groß-Events, zusammen mit dem
sollte jemand nach Rio kommen? Der bleibt da!           Stadtprojekt der Regierenden, laufen auf den Ver-
                                                        such hinaus, den öffentlichen Raum und hierbei
Welche Rolle spielen in diesem Zusammen-                zuallererst den Raum der Stadt als polis, im grie-
hang die jüngsten Proteste?                             chischen Wortsinne, zu zerstören. Aber anders
Zum Confederations Cup wollte Brasilien der             als von ihnen erwartet, erleben wir gegenwärtig
Welt das Bild eines glücklichen und friedvollen         genau das Gegenteil: die außergewöhnliche Po-
Landes präsentieren. Deshalb wollten sie jegliche       litisierung der Stadt. Die Stadt selbst ist nun Ge-
Demonstration verhindern. Und wie macht man             genstand des politischen Disputs. Politik und Wirt-
das? Mittels brutaler Repression. Nur geschah           schaft wollten das Politische aus dem öffentlichen
genau das Gegenteil des Erwarteten: Die brutale         Raum der Stadt verdrängen, und nun erhebt sich
Repression traf auf die Vielfältigkeit dynamischer      genau dieses Politische im öffentlichen Raum. Die
Proteste, unterschiedlichster Ausdrucks- und Wi-        Stadt erfindet sich neu als Ort der Politik, verstan-
derstandsformen sozialer Kämpfe. Statt den Fun-         den als öffentliche Sphäre, in der die Bürger in die
ken zu löschen, heizten sie ihn an – und das ganze      Öffentlichkeit treten, politische Projekte diskutie-
Haus brannte lichterloh. Ich pflege zu scherzen,         ren und sich fragen: „Was wollen wir mit unserer
dass selbst der genialste Stratege, der die Re-         Stadt?“ Das ist die Stadt als polis. Die Herrschen-
gierungspläne hätte durchkreuzen wollen, nicht          den aber wollen die Stadt als city. Und sie wollen
auf einen solch schlauen Vorschlag hätte kom-           die polis der city unterordnen. Aber die polis er-
men können, die ersten Demonstrationen gleich           hebt sich und sagt: Nein! Wer hier das Wort führt,
derart brutal niederzuschlagen. Das alles traf auf      das ist das Politische, hier spricht der öffentliche
den Kontext der Mega-Events, begleitet durch            Raum. Die Demonstrationen sind genau das: Die
das gestiegene Gefühl der Bevölkerung, dass ei-         Stadt geht auf die Straße. Während die Logik der
ne Unmenge an öffentlichen Mitteln für unnütze          Stadt im Ausnahmezustand die direkte Demo-
Bauvorhaben ausgegeben wird.                            kratie des Kapitals, den Wettbewerb der Städte
                                                        untereinander und die Privatisierung des urbanen
Was bedeuten die Proteste für die Fußball-              Raums meint, ist die Logik der Demonstrationen
weltmeisterschaft nächstes Jahr?                        die Wiedergewinnung des öffentlichen Raums.
Der Journalist Andrew Jennings fragte mich un-          Während sie die bürgerliche Ordnung einer ihrer
längst, ob die WM in Gefahr sei. Ich sage: Die WM       Lebendigkeit beraubten Urbanität wollen, explo-
wird stattfinden. Aber die brasilianische Bevölke-       diert nun die Lebendigkeit und Vielseitigkeit der
rung erteilt den Regierenden gerade eine ganz           Stadt auf der Straße. Und das ist eine so außer-
außergewöhnliche Lehre, wenn sie sagt: „Ich will        gewöhnliche Erfahrung, dass ich sehr hoffe, dass
die WM, aber ich will nicht, dass die WM gegen          sie weitergehen wird.
mich benutzt wird. Ich mag Fußball und ich will ins                          // Interview: Lucie Matting
Stadion gehen“. Also gehen die Leute ins Stadion                           Übersetzung: Lucie Matting,
– und pfeifen. Sie sind nicht gegen Fußball, sie sind            Felipe Bley Folly und Christian Russau

                                                                                                 LN-Dossier 9   21
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