Kann Papst Franziskus die Kirchenkrise wenden?

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Kann Papst Franziskus die Kirchenkrise wenden?
P. Eberhard von Gemmingen SJ

Vortrags-Manuskript, Februar 2015

Es wird viel von „Kirchenkrise“ gesprochen. Daher gebrauche auch ich diesen Begriff. Aber
vielleicht führt er von Anfang an in eine einseitige Denkrichtung und lenkt von tieferen und
dramatischeren Krisen unserer Zeit ab. Sicher ist die Abwendung vom kirchlichen Glauben
auch eine Folge falscher Wahrnehmung der Wirklichkeit durch die Kirchenverantwortlichen.
Vielleicht haben aber die Menschen, die die Sache Jesu ernst nehmen, die Defekte ihrer
Kirche so sehr vor Augen, dass sie grundlegendere Fragestellungen unserer Kultur weniger
sehen. Oder anders: Vielleicht wird mit dem Begriff Kirchenkrise insinuiert, dass im
Wesentlichen nur Rom und der Vatikan daran schuld sind, dass der christliche Glaube hier in
Mitteleuropa offenbar nicht mehr überzeugt und auf dem Rückweg ist. Jedenfalls sind
engagierte Katholiken meist fest davon überzeugt, wenn in Rom wichtige Weichen anders
gestellt würden, wenn Rom menschenfreundlicher und jesuanischer wäre, dann ginge das
meiste in der katholischen Kirche besser. Das wäre sicher so, aber die Krise in Mitteleuropa
ist doch wesentlich tiefer.

Ich erlaube mir hier einen kurzen Vorblick auf das, was ich später ausführen möchte: Haben
wir nicht viel eher eine Glaubenskrise, die die evangelische Kirche ebenso betrifft, obwohl
sie keinen bremsenden Vatikan hat? Also Glaubenskrise im Hintergrund einer Kirchenkrise.
Aber vielleicht ist das auch falsch, denn die Shell-Studie hat vor zwei Jahren ermittelt, dass
die meisten deutschen Jugendlichen an Gott glauben und zu ihm beten. Also doch nur eine
Krise der Kirchen und keine Glaubenskrise?

Und weiter gefragt: Haben wir nicht vielmehr eine Bildungskrise, weil einfach die
allermeisten jüngeren Menschen in Deutschland sehr wenig über Jesus von Nazareth wissen,
über die Bergpredigt, über den Dekalog, über den Glauben an einen Schöpfergott. Umfragen
zeigen, dass ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung kaum weiß, was an Weihnachten,
Ostern, Pfingsten gefeiert wird. Wie kann man an etwas glauben, wenn man gar nicht weiß,
worum es sich handelt. Also haben wir in der Tiefe nicht nur eine Glaubenskrise, sondern
dahinter eine Bildungskrise. Irren wir uns in der Annahme, dass die allermeisten
Jugendlichen aufgrund des Religionsunterrichts Grundlagen des Glaubens kennen? Und
schließlich als letzte Frage nach der Krise: Haben wir in Folge der Glaubens- und
Bildungskrise eine Kulturkrise? Wissen viele gebildete Europäer welches die Quellen der
europäischen Kultur sind, welches die geistigen Quellen unserer Vorstellung von
Menschenrechten und Menschenwürde sind? Wissen wenigstens alle, die Abitur gemacht
haben, dass die europäischen Rechts- und Sozialvorstellungen wesentlich zurückgehen auf
den jüdischen Gedanken der Gottebenbildlichkeit und auf die neutestamentliche Forderung
nach Solidarität? Die meisten Menschen ahnen, dass die Kirche, vor allem die katholische
Kirche, sich gegen Menschenrechte gestemmt hat, dass sie an mittelalterlichen Gedanken
hing. Aber dass unsere europäische Vorstellung vom Menschen dennoch auf das Alte und
das Neue Testament zurückgeht, das wissen vermutlich recht wenige.

Ich fasse die Einleitung zusammen: Wenn wir von Kirchenkrise sprechen, dann werfen wir
uns vielleicht Sand in die Augen, denn es geht auch und tiefer um die Frage nach der Krise
des Glaubens. Und Glaube setzt Information, setzt Bildung voraus. Paulus sagt: „Der Glaube
kommt vom Hören.“ Und wenn Glaube und Bildung schwinden, schwindet vielleicht der
Boden für die Kultur, die Europa einmal an die Spitze gebracht hat.

Dass ich nicht nur aus eigenen Überlegungen zu diesen Fragen komme, sondern auch
andere, zeigt ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 29. Dezember
2014. In ihm wird die Kirche in Deutschland verglichen mit der späten DDR. Die Fassade ist
wunderbar, aber es ist nur eine Kulisse. Die Funktionäre geben es aus Zweckoptimismus
nicht zu. Denn der Kollaps steht vor der Tür. So die FAS. Und zwei Buchtitel sagen auch alles.
Der eine heißt „Wie kurieren wir die Kirche?“ und der andere von Hans Küng: „Ist die Kirche
noch zu retten?“

Was denken Millionen von katholischen und nicht-katholischen Christen? Die moralischen
Vorstellungen in Rom und die Lebenswelten der heutigen Menschen liegen zu weit
auseinander. Die katholische Kirche müsste Frauenordination einführen, den Pflichtzölibat
abschaffen, wiederverheiratete Geschiedene und Homosexuelle nicht von den Sakramenten
ausschließen.

Sie sagen: Daher werden die Kirchen immer leerer, Kinder werden nicht mehr getauft, viele
treten aus der Kirche aus.

Verstärkt wird diese Tendenz durch Skandale wie in Limburg, bei der Vatikanbank. Und dies
alles, obwohl die Kirchensteuereinnahmen wachsen, die Kirchen im Geld schwimmen.

Viele fordern, die Kirche müsse in ihren moralischen Forderungen moderner werden, Frauen
sollten ernster genommen werden, zum Priesteramt zugelassen werden. Die Kirche brauche
auch in der Verkündigung eine modernere Sprache. Unendlich vieles stimme nicht.

Viele meinen auch: Wer Mitglied der katholischen Kirche sei, gebe damit einen Teil seiner
bürgerlichen Freiheit, seine Gewissensfreiheit auf. Religion sei einfach überholt und mache
sogar aggressiv und rückständig.

Und nun gibt es aber einen neuen Papst. Er mache Hoffnung. Kann er sich durchsetzen?
Kann er die Kirchenkrise wenden?
Mit dieser Frage müssen wir uns auseinandersetzen. Auf jeden Fall kann man schon sagen:
Er hat die Atmosphäre sehr positiv verändert, man schaut wieder mit Freude nach Rom.

Ich schließe diese Einleitung mit einem Zitat aus der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“.
Das Zitat legt den Finger vielleicht noch deutlicher auf den eigentlich wunden Punkt: „Der
Glaubensverlust gründet im Gottesverlust. Gott erscheint vielen als das Phantom einer
komischen Oper ‚Kirche‘ und einer tragischen Oper ‚Welt‘…. Der erlernte Gott ist inzwischen
der tote Gott…. Wie in der religiösen Urgeschichte des Homo sapiens bedarf es eines neuen
Offenbarungsurknalls. Damals waren es nachdenkliche weise Einzelne, die weiter dachten
als andere. Voraussetzung war ein Gehirn mit der Fähigkeit über das Naheliegende hinaus
das Komplexe, Abstrakte, Transzendente zu denken. Alles Denken aber beginnt mit
Selberdenken.“ (CiG Aug.14)

Ich möchte in fünf Gedankenkreisen auf die Fragen eingehen.

1.     Was will und was tut Papst Franziskus?

2.     Wie sieht es in Mitteleuropa aus?

3.     Was steht auf dem Spiel?

4.     Wie sieht es in anderen Weltteilen aus?

5.     Was können und müssen wir tun?

1.     Was will und was tut Papst Franziskus?
Ein wichtiger Satz von ihm am Anfang: Wenige Tage vor Weihnachten 2014 sagte er: „Das
gefährlichste Elend ist die Gottesferne.“

Franziskus zeigt zunächst nicht durch Worte, sondern durch Handlungen, was er will. Wir
bestaunen seine Namenswahl, Franziskus. Er hat den Mut aus der Reihe zu tanzen und wagt
einen Namen, über den sich Papst Benedikt wohl gewundert hat. Er tanzt auch aus der Reihe
mit der Wahl seiner Wohnung im Gästehaus Santa Marta. Er tanzt aus der Reihe mit seinem
Auftritt auf der Loggia direkt nach seiner Wahl, mit dem Buona sera, mit der Bitte um den
Segen der Gläubigen für ihn. Auch seine ersten Reisen sind ein Tanz aus der Reihe: Er fährt
auf die Flüchtlingsinsel Lampedusa, nach Albanien, in kurzer Zeit zweimal nach Asien. Und er
ernennt Bischöfe zu Kardinälen, an die vorher im Vatikan niemand gedacht hätte und alte
Kardinalssitze wie Venedig und Turin gehen leer aus. Halten wir fest: Er tanzt aus der Reihe.
Vielleicht ist das auch ein Zeichen dafür, was er will.
Die Folge: Kraft der Medien schafft sein Tun eine neue Atmosphäre. Vor allem in
Mitteleuropa war das kirchliche Klima unter Benedikt kühl.

Aber kurz nach seiner Wahl schrieb ein deutscher Journalist: Machen wir uns nichts vor:
Franziskus ist nicht liberal, er ist radikal.

Wie ist er radikal? Ist er streng? Ist er doch reaktionär, kann es aber bisher gut verbergen.

Meine Persönliche Interpretation bisher lautet: Er setzt nicht an bei modernerer, liberalerer
Theologie und Moral oder der Modernisierung der Kirchenstrukturen. Er meint nicht, dass
solche theologische oder strukturelle Maßnahmen die Menschen zum Glauben führen. Er ist
der Überzeugung: Glauben springt über, wenn der Verkünder richtig lebt. Er ist aber davon
überzeugt: Glaubende und erst recht Verantwortliche der Kirche müssen anders leben. Er
folgt Franz von Assisi. Der sah zu seiner Zeit die Korruption im Klerus und im
verbürgerlichten Christentum. Aber er rief nicht dazu auf, den Vatikan anzuzünden. Er
forderte nicht eine andere Theologie oder die Reform des Vatikans. Die war damals noch
nötiger als heute. Franz von Assisi war ein Aussteiger. Er hat anders gelebt. Er ging nicht in
ein Benediktinerkloster, sondern in Felshöhlen, er wechselte nicht zu den Waldensern und
Albigensern, die theologisch die Kirche von damals ändern wollten. Er versuchte, so zu
leben, wie er es sich von Jesus vorstellte. Franz von Assisi provozierte seine Umwelt. Papst
Franziskus provoziert. Ich denke und vermute: Papst Franziskus will in diesem Punkt dem
heiligen Franz von Assisi folgen: keine theologische und strukturelle Reform, sondern Reform
des Lebens. Leben als wirklicher Jünger Jesu. Was aber heißt das?

Er hat es in seiner Ansprache zu Weihnachten 2014 vor den Kardinälen und Bischöfen im
Vatikan klar gesagt. Er sprach von 15 Krankheiten in der zentralen Kirchenverwaltung.
Wohlgemerkt: Er sprach nicht von Zuständen in der Kirche, aber von „Krankheiten“, die in
allen kirchlichen Gremien allzu leicht vorkämen. Hier sind sie:

1.     Eine Organisation, die sich für fehlerlos hält, ist krank

2.     Arbeitswut, die sich den Anschein gibt, wichtiger zu sein als der liebe Gott

3.     Geistige und geistliche Versteinerung

4.      Ausufernde Planung aus der Einstellung eines Buchhalters

5.      Mangelnde Absprachen, also ein Orchester das Krach macht

6.      Geistlicher Alzheimer, Vergessen der „ersten Liebe“

7.      Rivalität und Ruhmsucht, also Eitelkeit, Ehrgeiz

8.      Schizophrenie: Nicht tun, was man Anderen predigt
9.     Geschwätz: Das Säen von Unkraut unter dem Weizen

10.    Vergötterung der Vorgesetzten, Schmeicheln

11.    Gleichgültigkeit gegen Andere, alles für mich selbst

12.    Das Tragen eines Beerdigungsgesichts

13.    Das Sammeln, um die innere Leere zu füllen

14.    Geschlossene Kreise gegen Gemeinwohl

15.    Suche nach Macht und Profit

Der Papst schließt: Jede dieser Krankheiten kann der Heilige Geist heilen.

Ich meine: Papst Franziskus kann uns daran erinnern, dass wir mit der Spannung Jesu leben
müssen: Den Sünder lieben, die Sünde verabscheuen. Ehebruch verachten, den Ehebrecher
lieben, Ausbeutung verachten, den Ausbeuter lieben. Franziskus erinnert an diese Spannung,
die auf Jesus selbst zurückgeht. Und vielleicht hat das Kirchenleben lange Zeit den Fehler
gemacht, die Sünde zu verurteilen und den Sünder eben nicht zu umarmen. Jesus sagt über
die Sünderin: Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Ich denke: Da
wir alle Sünder sind, müssen wir immer vor Jesus niederfallen und ihn um Vergebung bitten,
dass wir nicht so leben wie er es sich wünschte.

Hier stimme ich Martin Luther zu: Wir sind alle Sünder. Jesus hilft uns, dass wir uns als
Sünder in Jesu Arme werfen. Es gibt keine Gerechtigkeit durch gute Werke. Wer ehrlich mit
sich ist, muss eingestehen, dass in ihm oder ihr dies oder jenes nicht stimmt. So wird die
Sünde zur seligen Schuld. Felix culpa. Die Sünde führt uns, wenn wir sie anerkennen, in Jesu
Arme. Er nimmt uns auf gerade weil wir uns als Sünder bekennen. Wer meint, er sei gerecht,
der irrt. Mit ihm kann Jesus nicht viel anfangen.

Franziskus will uns zu diesem Jesus führen. Er predigt Barmherzigkeit, aber Barmherzigkeit
kann nur empfangen, wer weiß, dass er oder sie Erbarmen braucht. Wer meint, er oder sie
brauche keine Barmherzigkeit, kann kein Erbarmen empfangen.

Und Gott kann nur barmherzig sein gegen den, der selbst barmherzig ist. Wer möchte, dass
seine zweite Ehe ohne Trauschein barmherzig anerkannt wird, muss gegen den Bettler am
Weg und in Afrika und Asien barmherzig sein. Barmherzigkeit kann nur erfahren, wer selbst
barmherzig ist.

Ich denke, Papst Franziskus macht uns wieder klar. Die Kirche darf zwar keines der Gebote
des Alten und neuen Testamentes lockern. Die Gebote des Mose und erst recht die Aufrufe
der Bergpredigt Jesu gelten. Aber kein Kirchenverantwortlicher darf einen Abweichler
verurteilen. Jeder Mensch, auch jeder Christ muss sein eigenes Tun vor Gott verantworten.

Anders gesagt: Christlicher Glaube ist im Kern keine Morallehre, sondern ein Verhältnis der
Liebe zwischen Christus und dem Christen. Die Liebe Christi zu jedem Menschen wird nie
zurückgezogen, trotz aller Sünden. Der Sünder aber ist eingeladen, sich in die Arme Christi zu
werfen. Wir machen vielleicht oft unbewusst den Fehler, das Christentum als Morallehre
misszu verstehen.

Jesus überfordert, aber umarmt den Überforderten, der gesündigt hat. Diese Spannung
müssen wir aushalten. Die Jünger haben Jesus oft nicht verstanden, warum sollten wir
gescheiter sein als die Jünger Jesu. Jesus ist ein Mysterium, ein Ärgernis, eine Provokation.
Wir sind in der Versuchung in zu zähmen, in zu verbürgerlichen, ihn einzufügen in
menschliche Moral.

Unüberhörbar ist auch sein Ruf nach Barmherzigkeit. Aber dazu möchte ich sagen: Sicher
vergisst er auch nicht die sehr provozierenden Sätze Jesu. Sie lauten: „ Ich bin nicht
gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. (Mt. 10,34) „Meint ihr, ich sei
gekommen, Gerechte zu berufen, nein, um Sünder zu berufen, bin ich gekommen.“ (Lk 5,32.)
„Streit wird sein zwischen Vater und Sohn, zwischen Tochter und Mutter, zwischen
Schwiegertochter und Schwiegermutter. – „Wer nicht alles verlässt Vater und Mutter,
Brüder und Schwester, kann nicht mein Jünger sein.“ (Lk 14,26) – „Wer Vater und Mutter
mehr liebt als mich ist meiner nicht wert.“

Und hören wir noch einmal Papst Franziskus: „Das christliche Leben ist ein Kampf, ein
schöner Kampf… Sicher, wir sind alle ein wenig faul im Kampf, nicht wahr, und wir lassen
uns von den Leidenschaften und mancher Versuchung vom Weg abbringen. Denn wir alle
sind Sünder! Aber lasst den Mut nicht sinken.“

Der Papst wagt es, ganz altmodisch zu sprechen: „Das bedeutet: Was von Gott ist, verteidigt
uns, damit wir der Tücke des Teufels widerstehen können. Ist das klar? Klar. Man kann nicht
an ein geistliches Leben, an ein christliches Leben denken, ohne diese Rüstung Gottes zu
tragen, die uns Kraft gibt und uns verteidigt.“

Und der Papst fuhr fort, man sei dazu gekommen, der Teufel sei ein Mythos, eine Figur, eine
Idee, eine Idee des Bösen. Aber er existiert, und wir müssen gegen ihn kämpfen! ….
Trotzdem sind wir nicht richtig überzeugt. Hilfreich wäre es – fuhr der Papst fort -, sich
immer zu fragen: Glaube ich oder glaube ich nicht? „Glaube ich teils ja, teils nein? Bin ich
teils weltlich und teils gläubig?“ Ohne Glauben könne man die Sache Jesu nicht verteidigen,
sagte der Papst.
Ein paar Worte zur Synode über Ehe und Familie: In Mitteleuropa war die Frage des
Kommunionempfangs für geschiedene Wiederverheiratete das entscheidende Thema. Für
andere Kontinente gab es ganz andere Fragen: Wie Vielehe oder Monogamie, Trennung von
Familien, Eheschließungen zwischen Dorfgemeinschaften etc. Ich halte die üblichen
Kategorien „liberal“ und „konservativ“ in der Diskussion über die Kommunion von
geschiedenen Wiederverheirateten für sehr irreführend. Wer sie zur Kommunion zulassen
will, ist nicht liberal, sondern jesuanisch. Voraussetzung ist ja auf jeden Fall, dass damit nicht
das Sakrament der Ehe geleugnet wird und dass die Person, die zur Kommunion gehen
möchte, vor Gott ihre Schuld bekannt hat. Wer sich für völlig unschuldig hält, täuscht sich
vermutlich. Wer seine Schuld eingesteht, kann sich in Jesu Arme werfen und so zur
Kommunion gehen. Das ist nicht liberal, sondern höchst anspruchsvoll.

Die Kirche muss sich nach dem Verhalten Jesu richten. Die eigene Schuld und das Erbarmen
Jesu führen den einzelnen Christen näher zu Jesus hin. Das ist nicht liberal, sondern zutiefst
christlich. Aber vorausgehen muss Selbstprüfung und Selbstanklage und Schuldbekenntnis
soweit das nötig ist. Dazu hilft in der Regel das gründliche Gespräch mit einem Seelsorger.
Aber das ist nur eine Hilfe, keine Notwendigkeit.

Der Mensch, dessen Ehe gelingt, der in der Ehe durchhält, muss seine Treue der Gnade
Gottes zuschreiben, nicht seiner eigenen Tugend. Er muss Gott danken. Wer sich die Treue
selbst anrechnet, mit dem tut Jesus sich schwer.

Ich erinnere hier an ein Interview des verstorbenen Kardinal Martini. Er drückte auf seine
Weise das aus, was mir wichtig scheint: Er sagt:

„Es gibt Heilmittel im Christentum, die ihre Wirkung nie verlieren. Ich empfehle drei starke
Medikamente.

Das erste ist die Umkehr. Die Kirche - angefangen beim Papst und den Bischöfen - muss sich
zu ihren Fehlern bekennen und einen radikalen Weg der Veränderung gehen.

Das zweite ist das Wort Gottes. Das Zweite Vatikanische Konzil gab den Katholiken wieder
die Bibel in die Hand. Aber können sie die Heilige Schrift verstehen? Wie finden Katholiken
einen selbstbewussten Umgang mit dem Wort Gottes? ... Dazu braucht es nur Stille, Hören,
Lernen, Fragen und Warten. Nicht der Klerus und nicht das Kirchenrecht können die
Innerlichkeit des Menschen ersetzen. Alle äußeren Regeln, sind dazu da, um die innere
Stimme des Menschen zu klären und die Geister zu unterscheiden.

Die Sakramente sind ein drittes Heilmittel. Die Sakramente sind keine Instrumente zur
Disziplinierung, sondern eine Hilfe für die Menschen an den Wendepunkten und in den
Schwächen des Lebens. Bringen wir Sakramente zu den Menschen, die neue Kraft brauchen?
Ich denke an die vielen geschiedenen und wiederverheirateten Paare, an die Patchwork-
Familien. Sie brauchen besondere Unterstützung. Die Kirche steht zur Unauflöslichkeit der
Ehe. Es ist eine Gnade, wenn eine Ehe und Familie gelingt. Die Art und Weise, wie wir mit
Patchwork-Familien umgehen, bestimmt die Generation der Kinder. Eine Frau wird von
ihrem Mann verlassen und findet einen neuen Lebenspartner, der sie und die drei Kinder
annimmt. Die zweite Liebe gelingt. Wenn diese Familie diskriminiert wird, wird nicht nur die
Frau, sondern werden auch ihre Kinder zurückgestoßen. Wenn sich die Eltern in der Kirche
ausgeschlossen fühlen oder keine Unterstützung erfahren, verliert die Kirche die nächste
Generation. Die Einladung, zur Kommunion zu gehen und das Brot des Himmels zu
empfangen, richtet sich an die Suchenden und Bedürftigen. Das ist kein Anbiedern, sondern
ein selbstbewusstes Angebot der Kirche im Wissen darum, dass bei Gott nichts unmöglich
ist.

Martini will aber keine angepasste Kirche. In einem früheren Interview hatte er gesagt „Wir
dürfen nicht verharmlosen, wir dürfen uns nicht abhängig machen von Zahlen und Erfolgen“
( Buch S. 125) Die Kirche braucht Reformen. Die Reformkraft muss von Innen kommen… die
Katholische Kirche hat sich im 2. Vatikanum auch von Luthers Reformen inspirieren lassen
und von innen her einen Erneuerungsprozess in Gang gesetzt. Druck, Moral und Pflicht
haben ihre Kräfte ausgespielt, aber das große Angebot ist weiterhin gefragt.“ (Buch 127-129)
Und ein letztes vielleicht provozierendes Wort von Kardinal Martini, das er wohl gemerkt
nicht nur gesagt, sondern auch geschrieben hat: „Der Papst wird wohl immer Rücksicht
nehmen auf die Kirchen des Ostens, auf die Orthodoxen, wenn er mit den evangelischen
Kirche die Frage des Priesteramtes, die Weihe von Frauen, die Annahme der Homosexualität
diskutiert.“ (Buch S. 132)

Gegen Ende dieses Abschnittes möchte ich sagen. Papst Franziskus liegt wohl auf der Linie
von Martini. Wir brauchen ein tieferes Verständnis, nicht Liberalität. Wir brauchen
Ehrlichkeit, die Kirche braucht glaubhafte Zeugen. Nur Zeugen ziehen an, lassen den Glauben
aufspringen. Und die Kirche ist kein Ort, sondern ein Weg. Die Kirche ist auf dem Weg, sie
sucht die je neuen Antworten des heiligen Geistes. Das hat Papst Franziskus vor allem auch
bei der Synode gezeigt.

Drei konkrete Themen: Die Rolle der Frau in der Kirche muss neu gefunden werden. Er hat
schon gesagt, dass Frauen an den Stellen in der Kirche Verantwortung bekommen sollen, wo
wichtige Entscheidungen fallen. Was das konkret bedeutet, weiß ich nicht. Aber ich schließe
nicht aus, dass Franziskus denkt: Kirchengeschichte darf in Zukunft auf Synoden und
Konzilien nicht nur von Männern gemacht werden, wie das bisher der Fall war. Beratung
über den Weg der Kirche hängt ja nicht von der Priesterweihe ab. Die Frauenordination hat
Franziskus freilich schon ausgeschlossen. Und Franziskus empfindet vielleicht auch, dass wir
noch zu sehr klerikal denken: nur wo ein Priester ist, ist Kirche. Das ist falsch. Durch
Jahrhunderte lernten junge Menschen den Glauben nicht durch die Teilnahme an der
Eucharistiefeier, sondern durch Mütter und Väter, durch Großmütter und Großväter.

Die Kirche braucht Dezentralisierung. Es läuft zu viel über vatikanische Schreibtische. Der
Papst erwartet mehr Vorschläge von den Ortskirchen, vielleicht baut er den Vatikan ein
wenig zurück. Und er ernennt Kardinäle aus winzigen Ländern und reduziert europäische
Traditionen.

Und die Kirche muss eine arme Kirche für die Armen sein. Das ist unüberhörbar.

Und ein letzter Punkt zur Frage: was will Franziskus. Er hat einen besonderen Wunsch an
Europa. In Europa ist die Aufklärung voll durchgeführt, vielleicht an ihr Ende gekommen.
Staat und Religionsgemeinschaften sind völlig voneinander unabhängig. Frankreich hat dies
noch radikaler durchgeführt. Es gibt keine Zusammenarbeit von Kirche und Staat. Der Staat
muss laikal sein und bleiben.

Vor dem Europäischen Parlament hat Papst Franziskus gefordert, dass Europa sich zu dem
bekennt, was den Kontinent einmal groß gemacht hat.

Wörtlich sagte er in Straßburg am 25. November 2015: „Ein Europa, das nicht mehr fähig ist,
sich der transzendenten Dimension des Lebens zu öffnen, ist ein Europa, das in Gefahr gerät,
allmählich seine Seele zu verlieren und auch jenen humanistischen Geist, den es doch liebt
und verteidigt. … In diesem Sinne halte ich nicht nur das Erbe, welches das Christentum in
der Vergangenheit der soziokulturellen Gestaltung des Kontinents hinterlassen hat, für
grundlegend, sondern vor allem den Beitrag, den es heute und in der Zukunft zu dessen
Wachstum zu leisten gedenkt. Dieser Beitrag stellt nicht eine Gefahr für die Laizität der
Staaten und für die Unabhängigkeit der Einrichtungen der Union dar, sondern eine
Bereicherung.“

Also: Ein Bekenntnis zu einer transzendenten Autorität, zu Gott, widerspricht nicht der
Laizität des Kontinents. Gott darf und muss nicht verschwiegen werden. Wenn Europa Gott
vergisst, verliert es seine Seele und seinen humanistischen Geist. Das christliche Erbe war für
die Gestaltung der Gesellschaft grundlegend. Und für heute und die Zukunft ist es noch
wichtiger. So Papst Franziskus.

Das ist sein Wunsch für Europa. Die Süddeutsche Zeitung schrieb am Tag nach der Rede auf
der Titelseite: Europa ist krank. Vorher hatte Franziskus gesagt, Europa sei alt geworden,
unfruchtbar, ideenlos, ohne Zukunftsvision. Der Mensch werde zum Wegwerfartikel, zum
Objekt.

Soweit zur Frage: Was tut und was will Franziskus?
Nun zur vielleicht noch wichtigeren Frage:

2.     Wie sieht es in Mitteleuropa aus?
Moderne Menschen in Mitteleuropa haben ein eigenartiges oft gespaltenes Verhältnis zu
Religion allgemein und auch zum Christentum im Besonderen.

Tempel, Riten und Lehren von fremden Religionen werden bewundert. Man erkennt an
ihnen, welche große Rolle religiöser Glaube für Kulturen hat. Besonders bewundert wird der
Buddhismus. Er schaffe Ruhe und Frieden im Einzelnen und in der Gesellschaft. Etwas mehr
Distanz hat man gegen den Hinduismus in Indien. Aber auch er wird mit Achtung
wahrgenommen. Bis vor kurzem wurde die kulturelle Leistung des Islam groß angesehen. Die
Religionen im alten Ägypten, in Mesopotamien, bei den Indios werden bestaunt. Gegen die
Religion der Juden etwas zu sagen, ist verboten.

Gegen das Christentum aber besteht in der öffentlichen Meinung eine gewisse Skepsis,
Zurückhaltung. Die öffentliche Meinung oder wenigstens die veröffentlichte Meinung
insinuiert: Wer Gläubiger in einer der Kirchen ist, gibt ein Stück seiner bürgerlichen Freiheit
auf, muss gehorchen, sich unterwerfen, darf nicht weiterdenken. Religion ist eher von
gestern, wer am Puls der Zeit sein will, kann mit Religion wenig anfangen. Vor allem aber gilt:
Religion muss Privatsache sein, sie darf auf das Gemeinwesen keinen Druck ausüben. Vor
allem muss dies der oberste Repräsentant des Staates, der Bundespräsident respektieren.
Daher kann man verstehen, dass Bundespräsident Gauck in seiner Weihnachtsansprache
2013 von der Geburt des „besonderen Kindes“ sprach. Vermutlich haben ihm – dem
evangelischen Pastor – seine juristischen Ratgeber gesagt: Wenn Sie den Namen Jesu Christi
ausdrücklich nennen, vereinnahmen Sie die Nichtchristen, die Juden, die Muslime, alle
Mitglieder anderer Religionen.

Muss der Bundespräsident Deutschlands den Namen Jesu Christi vermeiden, um die
Religionsfreiheit nicht zu verletzen? Ich meine: Nein.

Ich erlaube mir die These: hier liegt ein großes Missverständnis vor: Religionen sind Quellen
von Kulturen und der gesellschaftlichen Ordnung. Der Glaube an Jesus Christus ist eine
wesentliche Quelle des europäischen Gesellschaftsverständnisses und seiner Kultur. Er darf
zwar niemandem aufgezwungen werden, das widerspräche auch seinem eigenen Wesen und
dem Recht jedes Menschen, selbst zu entscheiden, an was er sein Leben fest machen will.
Aber die veröffentlichte Meinung insinuiert: Religion muss Privatsache sein. Und das ist ein
großes Missverständnis. Wer die Geschichte kennt, weiß, dass Religionen und auch das
Christentum ganz wesentliche Beiträge zum humanen Leben des Menschen geleistet haben.
Religion ist keine Privatsache. Hier kann ich nur noch einmal auf das verweisen, was Papst
Franziskus in Straßburg gesagt hat: Das Christentum stellt nicht eine Gefahr für die Laizität
der Staaten und für die Unabhängigkeit der Einrichtungen der Union dar, sondern eine
Bereicherung. Das zeigen uns die Ideale, die Europa von Anfang an geformt haben, wie der
Friede, die Subsidiarität und die wechselseitige Solidarität – ein Humanismus, in dessen
Zentrum die Achtung der Würde der Person steht.“ Und weiter unten sagt der Papst dann:
„Ein Europa, das sich die eigenen religiösen Wurzeln zu Nutze macht, wird leichter immun
sein gegen die vielen Extremismen, die sich in der heutigen Welt verbreiten – auch aufgrund
des großen ideellen Vakuums, das wir im sogenannten Westen erleben. Es ist gerade die
Gottvergessenheit und nicht seine Verherrlichung, die Gewalt erzeugt.“ Der letzte Satz ist ein
Zitat aus einer Rede von Papst Benedikt vor dem Diplomatischen Korps zwei Monate vor
seinem Rücktritt.

Papst Franziskus bringt es auf den Punkt.

Ich wage die Frage: haben viele Muslime Schwierigkeiten mit einem Europa, in dem Gott
keine Rolle spielt, weil sie gewöhnt sind, dass Gott immer und überall anerkannt wird?

Ich frage: warum sind solche Wahrheiten heute so vergessen? Warum hält man Religion
meist für überholt, altertümlich, warum meint man, Religion und Glaube mache unfrei. Gibt
es verborgene Gruppen, die diesen Irrtum fördern? Die so der Gesellschaft schaden wollen?
Oder ist es vielmehr allgemeine Unbildung, Dummheit, Pragmatismus, Materialismus? Sind
wir krank und merken es nicht, weil wir uns betäuben?

Um Klarheit im Denken zu fördern, muss man auch unterscheiden zwischen dem rechtlichen
Rahmen von Religionen und der kulturellen Situation. Rechtlich dürfen Christen auch in
Europa nicht besser behandelt werden als Anhänger anderer Religionen. Das ist der
Rechtsrahmen. Aber dieser Rahmen darf nicht den Blick darauf verstellen, dass die
Gesellschaftsordnung und die Kultur Europas ohne Jesus Christus nicht zu verstehen sind. Sie
sind grundsätzlich anders als die Gesellschaftsordnungen in China, Indien, in der arabischen
Welt. Aber man kann auch die Höchstleistungen unserer Kultur ohne Christus nicht
verstehen. Ich nenne nur Johann-Sebastian Bach und Beethoven, Michelangelo und Dürer,
Dante und Goethe Sie sind nicht zu verstehen ohne Jesus Christus. Domtürme in
Großstädten und Kirchtürme in Dörfern sprechen eine sichtbare Sprache. Umberto Ecco
meint: Von der Kultur Europas versteht man nur ein Viertel, wenn man das Alte und Neue
Testament nicht kennt und nicht die Geschichte der christlichen Heiligen.

Die Kultur Europas ist ohne Christentum nicht zu verstehen. Aber auch das moderne
Gemeinwesen ist ohne Christentum nicht zu verstehen. Jedes Bundesland und jede
Kommune freut sich über kirchliche Krankenhäuser, Altenpflegeheime, Kindertagesstätten.
Ohne das Engagement von Christen bräche unendlich viel zusammen. Kirchen sind nützlich.
Man kann sie gebrauchen. Auch die einzelnen Christen. Aber wehe, wenn sie Druck ausüben.
Ich denke, hier fehlt vieles an Bildung, an Wissen.

Der US-amerikanische Soziologe Casanova vertritt die These: Europa hat Angst vor Religion.
Im Unterschied zu Asien, Afrika und Amerika haben die Vordenker Europas eher Angst vor
Religion. Vielleicht sitzt ihnen noch die Angst vor Religionskriegen vor 300 Jahren in den
Knochen.

Aber machen wir uns bitte nichts vor: Bis vor 100 Jahren gingen Europäer auch nicht aus der
freien Entscheidung für Jesus Christus sonntags in die Kirche. Damals galt noch, was die
Kirchen verkündeten, ihre Autorität galt. M a n ging in die Kirche, weil alle gingen. Man
empfing die Sakramente, ließ sich taufen und firmen, schloss die Ehe in der Kirche. Das
waren Selbstverständlichkeiten, keine freien Entscheidungen. Bei Katholiken kam dazu: viele
hatten einfach Angst vor der Hölle, vor der Verdammnis.

Seit der Aufklärung ist das alles anders. Jeder einzelne fragt nach der Begründung einer
Vorschrift der Autorität, einer Regel der Kirche, fragt auch nach der Nützlichkeit. Heute sind
in der Wissensgesellschaft mehr oder weniger alle Menschen aufgerufen, nach der Brücke zu
fragen zwischen Glauben und Vernunft. Warum ist dieses oder jenes Gebot, diese oder jene
Vorschrift gut? Wozu dient sie?

Wir sind immer noch bei der Frage: Welche konkrete Situation finden wir in Mitteleuropa
vor?

Wir haben aufgrund der historischen Entwicklung in Deutschland eine starke rechtliche
Zusammenarbeit zwischen Kirchen und dem Staat: Religionsunterricht in den Schulen,
Kirchensteuer, die der Staat für die Kirche einzieht, theologische Lehrstühle an den
Universitäten, teilweise Bezahlung von kirchlichen Amtsträgern, Verträge zwischen dem
Heiligen Stuhl, Bundesländern und der ganzen Bundesrepublik. Die Parteien wollen dies im
Allgemeinen beibehalten, weil sie sonst Stimmen verlören.

Aber wir müssen registrieren: Der schulische Religionsunterricht unter der Verantwortung
der Kirchen bringt den Kindern und Jugendlichen leider sehr wenig. Das religiöse Wissen ist
sehr gering. In England meinten vor wenigen Monaten die meisten der 1000 befragten
Kinder, Jesus sei ein Fußballer von Chelsea. Weihnachten sei der Geburtstag des
Weihnachtsmannes. In Deutschland dürfte es nicht viel anders sein. Wir fordern zu Recht
Religionsunterricht für Muslimkinder. Aber ich vermisse eine eindringliche Diskussion über
die Effizienz des christlichen Religionsunterrichts. Fachleute wissen: Religionslehrer können
nichts, wenn nicht gleichzeitig die Eltern und die Pfarrgemeinde mitarbeiten. Es ist bekannt,
dass die meisten Menschen unter 30 kaum wissen, was an Weihnachten, Ostern und
Pfingsten gefeiert wird. Erst recht ist unbekannt, was der Dekalog, die Bergpredig ist und wer
Jesus von Nazareth war.

Die theologischen Lehrstühle an den Universitäten verlieren immer mehr an Bedeutung.
Verlieren auch die Geisteswissenschaften immer mehr an Bedeutung in den Universitäten?
Werden Universitäten immer mehr zu Ausbildungseinrichtungen und verlieren ihren
Charakter als Bildungseinrichtungen?

Kirchen haben durch verschiedenes Versagen sehr an Vertrauen verloren. Eine sehr große
Rolle spielen die Vorgänge in Limburg und um die Vatikanbank. Aber wegen Limburg sind
mehr evangelische Christen aus ihrer Kirche ausgetreten als katholische. Kirchen haben hohe
Ansprüche, daher werden auch besonders hohe Erwartungen an sie gerichtet. Von den
Kirchen erwarten die meisten Deutschen auch kaum Inspirationen für die Zukunft, gute
Ideen und neue Vorstellungen.

Eine Allensbach-Studie vom Mai 2011 zeigte: Impulse für die Gestaltung der Zukunft, gute
Ideen und Vorstellungen erwarten

53 Prozent der Befragten von Ingenieuren und Technikern.

Es folgen Naturwissenschaftler, Universitäten, junge Leute, Umweltschützer,
Sozialwissenschaftler, Bürgerbewegungen, Unternehmer, Parteien, Politiker, Journalisten,
Gewerkschaften und Schriftsteller.

Nur vier Prozent erwarten von der katholischen Kirche Inspirationen und nur zwei Prozent
von der evangelischen Kirche. Die „Weltoffenheit“ und „Einmischung“ in gesellschaftliche
Debatten nützt der evangelischen Kirche nicht. Sie gilt leider als noch irrelevanter als die
katholische Kirche. Sie schrumpfte seit 1950 von 43 auf 23 Millionen. Wir dürfen uns nicht
darüber freuen. Aber es zeigt, dass die Modernität der evangelischen Kirche keine
wesentlichen Antworten gibt und keinen Zulauf bringt.

3. Welche Theoretischen Probleme stehen dahinter?
Der bekannte Rechtsphilosoph, Staats- und Verwaltungsrechtler und früherer Bundesrichter,
Ernst Wolfgang Böckenförde hat es vor Jahrzehnten klassisch formuliert: „Der freiheitliche,
säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist
das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat
kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von
innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der
Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich
aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren
suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen
Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen
herausgeführt hat.“

Verlieren wir in unseren Tagen die moralische Substanz und die Homogenität der
Gesellschaft? Werden wir rein pragmatisch. Alles was nicht rechtlich verboten ist, ist erlaubt.
Können wir alles tun, wenn es niemand anders schadet?

Ich vermute, dass wir auch hier einem Irrtum unterliegen: Wir sprechen gerne von
Multikulti, der Islam gehöre zu Deutschland, sei Teil des Landes. Es wird aber
unausgesprochen immer vorausgesetzt, dass die meisten Bürger dieses Landes den
christlichen Glauben kennen und nach ihm leben. Das aber ist eine große Täuschung.
Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich zwar noch zu einer der Kirchen
bekennt, aber dass dieses Bekenntnis fast nicht getragen ist von einer Minimalkenntnis
dessen, was ihre Kirche lehrt und glaubt. Die Homogenität der Gesellschaft, die der
freiheitliche Staat voraussetzt, scheint nicht mehr sicher.

Die Homogenität der Gesellschaft war doch wohl einmal gegeben durch das Wissen der
gebildeteren Schichten, dass die Überzeugung von der Menschenwürde und den
Menschenrechten im christlichen Glauben an die Gottebenbildlichkeit des Menschen mit
Gott begründet ist. Die Aufklärung hat dann dazu beigetragen, dass dieses historische
Wissen auch rein mit der Vernunft begründet wurde. Die Überzeugung von der
Menschenwürde und den Menschenrechten wurden teilweise gegen die Kirchen erkämpft.
Die Kirchen haben vieles, was heute selbstverständlich ist, lange Zeit nicht verstanden.
Vielleicht verstehen sie heute vieles noch nicht. Heute sprechen wir von der unantastbaren
Menschenwürde, von den unantastbaren Menschenrechten, von Rechtsgleichheit von Mann
und Frau, Arm und Reich, Gesund und Krank. Und wir sind davon überzeugt, dass
wirtschaftlicher Reichtum auch soziale Verpflichtung bedeutet. Heute wissen Fachleute
auch, dass das Rechts- und Sozialverständnis in Europa wesentlich vom christlichen Glauben
geprägt ist. Europa hat ein anderes Menschenbild als Indien, China, Arabien und andere
Weltgegenden. Unsere Rechts- und Sozialauffassung basieren wesentlich auf AT und NT.
Aber die öffentliche Meinung sagt: Religion ist Privatsache. Frau Merkel sagte einmal: „Wir
haben nicht zu viel Islam, wir haben zu wenig Christentum“. Die Medien befassen sich viel
mit katholischer Kirche, gerade auch mit ihren Defekten, aber kaum mit Grundfragen, dem
Vergessen unserer Grundlagen.

Und nun ein Wort zu den entsetzlichen Terroranschlägen in Paris gegen „Charlie Hebdo“.
Wenige Punkte: Wir müssen die Terroranschläge verurteilen. Auch wenn sie religiös
begründet wären, sind sie nicht zu rechtfertigen. Aber sie waren nicht religiös begründbar.
Unzählige Muslime und ihre Autoritäten haben sich von den Anschlägen distanziert und sie
verurteilt.

Aber die Anschläge und die Reaktion auf den Angriff gegen Pressefreiheit geben mir zu
denken: Müssten wir nicht ebenso sehr wie die Pressefreiheit auch den Respekt und die
Achtung vor der Überzeugung anderer Menschen schützen? Tun wir hier zu wenig oder gar
nichts? Die Franzosen schreiben auf ihre Fahnen „liberté, egalité, fraternité.“ – also Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit. Verlangt nicht die Gleichheit, dass wir der Überzeugung Anderer
mit Hochachtung begegnen, gerade, wenn sie uns fremd ist. Müssten wir vielleicht sogar
Ehrfurcht vor der Überzeugung anderer haben, eben weil wir nicht Herren des Denkens aller
sind, sondern die Verschiedenheit anerkennen. Es ist falsch von „religiösen Gefühlen“ zu
sprechen, es handelt sich um Überzeugungen, Weltanschauungen, für die Menschen Folter
und Tod hinnehmen. Es sind nicht religiöse Gefühle, sondern Überzeugungen, die
ebensolchen Respekt verdienen wie Pressefreiheit.

Es ist auch etwas Anderes, eigene politische Machthaber durch Karikaturen an die Grenzen
ihrer Macht zu erinnern. Das Volk hat die Macht und kann sie Gewählten übertragen. Aber
Angehörige anderer Religionen und Weltanschauungen sind keine Machthaber, Die
Süddeutsche Zeitung hat am 19. Januar 2015 geschrieben: „Respekt vor anderen
Bekenntnissen, Überzeugungen, religiösen Lehren und Lebensweisen kann man nicht mit
Strafparagraphen durchsetzen. Aber dieser Respekt gehört zur Aufklärung und zu einer
aufgeklärten Gesellschaft.“

Widersprechen nicht die Mohammed-Karikaturen der Aufklärung. Haben wir die Mitte
verloren? Verlust der Mitte?

4. Wie sieht es in der Welt und speziell in Europa aus?
In Europa wird von kaum jemandem wahrgenommen, dass das Christentum in Ostasien, vor
allem in der Volksrepublik China einen großen Zulauf hat. Der Berliner „Tagesspiegel“
schrieb am 29. 12. 2013: „Chinas Christen sind ein Phänomen. Ständig werden es mehr.
Jedes Jahr steigt ihre Zahl um mindestens eine Million. Wie viele es heute genau sind, ist
umstritten, Schätzungen reichen von 40 bis 130 Millionen. Die Wahrheit liegt dazwischen.
Doch zweifellos gehören sowohl die protestantische als auch die katholische Kirche in China
zu den am schnellsten wachsenden Religionsgemeinschaften weltweit. Das Engagement der
Gläubigen, ihre Vitalität und spirituelle Hingabe – all das ist einzigartig. Von einem „Boom“
ist die Rede, einem „Fieber“ und „Hype“. - Schätzungen zufolge gehen an einem normalen
Sonntag inzwischen mehr Chinesen in eine Kirche als Europäer. Noch zu Maos Zeiten,
besonders während der Kulturrevolution (1966 bis 1976), wurden alle Religionen als
„Aberglaube“ bekämpft, viele Tempel und Kirchen wurden zerstört oder vom Staat
umfunktioniert. Christen wurden in Arbeitslager gesperrt, kamen in Haft oder starben als
Märtyrer.“

Radio Vatikan und „Die Welt“ meldeten vor einem halben Jahr: In der Volksrepublik China
werden jährlich 10 bis 12 Millionen Bibeln gedruckt. Seit 25 Jahren wurden über 100
Millionen Bibeln gedruckt. 60 Prozent davon bleiben in China, 40 Prozent gehen ins Ausland.
Eine Bibel kostet in China etwa 2 Euro.

Wohl gemerkt: es handelt sich im Wesentlichen nicht um Katholiken, denn sie haben es
wesentlich schwerer, weil Peking die Autorität des Papstes ablehnt.

Ähnliches Christenwachstum in Vietnam. Heute gibt es in Vietnam rund 6 Millionen
Katholiken – bei einer Bevölkerung von rund 90 Millionen. Die meisten Vietnamesen gelten
als Buddhisten, aber man liest auch, dass die meisten Atheisten sind. Und die Katholiken
wurden in Vietnam aufs schwerste verfolgt. Auch hier gilt das alte Wort „Sanguis martyrum –
semen christianorum“. Das Blut der Märtyrer ist der Samen neuer Christen.

Südkorea hatte keine so schlimme Verfolgung und dennoch wächst auch dort das
Christentum, rund 4 der 50 Millionen Südkoreaner sind Katholiken. Es gibt wesentlich mehr
evangelische und anglikanische Christen in verschiedenen Kirchen.

Es gibt also Weltregionen, in denen christlicher Glauben und Wirtschaft in gleicher Weise
wachsen. Wirtschaftswachstum, Reichtum verhindern nicht per se religiösen Glauben, im
Gegenteil. Man muss auch erwähnen, dass etwa in Japan christlicher Glaube kaum wächst,
ähnlich in Indien.

Dass Afrikaner zu christlichen Kirchen übertreten, kann man vielleicht leichter verstehen als
Ost-Asiaten. Die beiden Großreligionen Christentum und Islam sind für die Afrikaner
offenbar überzeugend. Rund 45 Prozent der Menschen südlich der Sahara bezeichnen sich
als Christen, 40 Prozent bezeichnen sich als Muslime. Ihr Zusammenleben geht im
Allgemeinen auch gut. Es gibt kaum Konflikte zwischen religiösen Gruppen. Die Konflikte,
von denen wir hören, haben meist politische oder andere Ursachen. Offenbar überzeugen
die Stammesreligionen nicht mehr so wie früher. Aber vermutlich spielen alte Riten auch bei
Christen und Muslimen in Afrika immer noch eine große Rolle.

Ein Krisenkontinent für die katholische Kirche ist neben Mitteleuropa meiner Ansicht nach
Lateinamerika. Dort wandern viele Katholiken zu den Pfingst-Hauskirchen ab. Sie erhalten
oft Unterstützung aus den USA. Vielleicht kann Papst Franziskus hier etwas ändern.

Nordamerika ist spezifisch anders als Mitteleuropa. Verschiedene Kirchen spielen dort eine
relativ große gesellschaftliche Rolle. Der klassische Nordamerikaner gehört einer Kirche an,
Christentum scheint mir gesellschaftlich in den USA stabil. Freilich nutzt die Politik auch
christlichen Glauben für ihre Zwecke aus.

Wie sieht es in Europa aus?

Ein Papst in Rom hat es auch in Europa mit Menschen verschiedener Denkungsart zu tun.
Nicht alle Europäer denken so wie wir Deutsche denken.

Ich sehe vier Mentalitätsgruppen in Europa. Germanen, Angelsachsen, Romanen und Slaven.
Ihre Mentalitäten sind wohl über Jahrhunderte in gleicher Weise unterschiedlich geblieben.

Zu den „Germanen“ rechne ich Deutsche, Deutschschweizer, Österreicher, Niederländer und
Flamen. Sie suchen Ordnung, Prinzipien, Tiefe, Begründung – teilweise aus Angst vor
Unordnung. Sie ertragen es schlecht, wenn Prinzipien nicht eingehalten werden oder
unbekannt sind. Germanen suchen wohl aus Angst und Unsicherheit Übereinstimmung mit
der Autorität. Sie hassen Unordnung, Unübersichtlichkeit.

Angelsachsen, wozu wohl auch die Skandinavier gehören, leben pragmatisch: Es stört sie
nicht, dass Staats- und Kirchenoberhaupt identisch sind. Sie leben ohne Probleme mit einem
Widerspruch zur Religionsfreiheit.

Slawen brauchen wohl weniger Aufklärung. Liturgie und Theologie der orthodoxen Kirchen
blieben über Jahrhunderte gleich. Das was im Westen in der Reformation und im 2.
Vatikanum stattfand, ist bei ihnen offenbar nicht nötig. Staat und Kirche lehnen sich an
einander an und tragen sich gegenseitig. Vielleicht haben viele Slaven auch eine mystische
Ader.

Romanen haben einen siebten Sinn für Mysteriöses, Hintergründiges. Sie versichern sich
gerne „nach oben“. Vor allem Italiener, Religiöser Glaube spielt bei ihnen eine andere und
wohl auch größere Rolle für die Gesellschaft als bei den Germanen.

Die geistigen Uhren in Europa gehen verschieden: Das 2. Vatikanische Konzil wurde
wesentlich nicht von den klassisch katholischen Ländern geprägt, sondern von den Ländern
der Aufklärung: Frankreich, Deutschland, englischer Sprachraum.

5. Was müsste geschehen?
„Christ in der Gegenwart“ schrieb davon, dass der Mensch zu allen Zeiten anfangen muss,
selbst zu denken. Ich zitiere nochmals „Christ in der Gegenwart: „Wie in der religiösen
Urgeschichte des Homo sapiens bedarf es eines neuen Offenbarungsurknalls. Damals waren
es nachdenkliche weise Einzelne, die weiter dachten als andere. Voraussetzung war ein
Gehirn mit der Fähigkeit über das Naheliegende hinaus das Komplexe, Abstrakte,
Transzendente zu denken. Alles Denken aber beginnt mit Selberdenken.“

Ich vermute, wir sollten uns auf Folgendes einstellen und lade dazu, ein, darüber
nachzudenken:

Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass der christliche Glaube auch in Europa neu auflebt.
Dazu sind einige Voraussetzungen nötig.

Christen müssen ihren Glauben kennen und in einfacher Sprache erklären können. Das
flächendeckende Hineinwachsen in Glauben und Kirche ist aber wohl vorbei. Die wichtigsten
Seelsorger sind Eltern von Kindern und Menschen, die ihren Glauben kennen und leben.
Christlicher Glaube hat eine Chance, wenn das zentral Christliche gelebt und verkündet wird.
Es wird so eine neue Kirche entstehen. Wir müssen nach vorne schauen und dürfen nicht in
die „gute, alte Zeit“ herbeisehnen. Das zeigt auch Papst Franziskus durch sein Reden und
Tun. Dies zunächst meine allgemeine Antwort. Aber es gibt noch Details:

a)      Die Glaubenskrise ist wesentlich auch eine Bildungskrise: Wer nie von Jesus gehört
hat, kann nicht an ihn glauben, sein Leben an ihm festmachen. Der Glaube kommt vom
Hören – sagt Paulus. Vordenker der Kultur Europas und Bildungspolitiker müssten darüber
diskutieren, welche Bedeutung die Kenntnis Jesu Christi für die Kultur Europas hat. Kann
Europa mit sich und seiner Kultur identisch bleiben, wenn Jesus Christus unbekannt ist.

b)     Der Glaube an Jesus Christus, an den Schöpfergott und den Geist Gottes muss teils in
einer anderen Sprache verkündet werden. Viele traditionellen Ausdrucksweisen sind heute
sehr missverständlich, etwa „Gottes Sohn ist Mensch geworden“, „Christus ist in den Himmel
aufgefahren“, „Gott ist dreifaltig“, „In den Himmel kommen“. Der Glaube darf nicht geändert
werden, aber er muss neu ausgedrückt werden.

c)      Die Vorstellung, Staat und Religion müssten völlig getrennt sein, ist ein Irrtum.
Niemand darf zwar zu einer Religion gezwungen sein, aber völlige Privatisierung von Religion
ist nicht hilfreich. Die Idee, der Staat müsse völlig laikal sein, ist falsch. Zeugnis für den
Glauben an Gott führt nicht zu Gewalt, sondern verhindert Gewalt.

d)     Die Ortskirchen müssen selbständiger werden. Rom muss Freiraum lassen, ohne dass
die Gesamtkirche auseinanderbricht. Dezentralisierung muss sein. Die Ortskirchen müssen
den Mut haben, selbst zu entscheiden. Einheit ist gut, Einheitlichkeit ist schlecht.

e)     Wir sollten in Deutschland erkennen, dass die rechtlich garantierte Zusammenarbeit
zwischen Kirche und Staat uns seelsorglich wenig bringt. Garantierter Religionsunterricht,
Theologische Lehrstühle, Kirchensteuer sind nützlich, aber dienen nur sehr begrenzt.
f)     Wir sollten erkennen, dass der kirchlich verantwortete und staatlich organisierte
Religionsunterricht in der Schule sehr wenig bewirkt, wenn nicht Eltern und Pfarrgemeinde
mitarbeiten. Eltern müssen selbst die Einführung ihrer Kinder in den Glauben in die Hand
nehmen.

g)      Wir konzentrieren uns zu sehr auf das Priesteramt. Viele meinen: Nur wo ein Priester
ist, nur wo die Messe gefeiert wird, ist Kirche. Die Kirche muss auch vor Ort bleiben. Auch
wenn die Ortskirche kleiner wird, so darf sie doch nicht zerstört oder wegrationalisiert
werden. Wir hängen zu ausschließlich an der Eucharistiefeier und vernachlässigen andere
Formen der Glaubensweitergabe und -vertiefung

h)     Der Vergleich von Kirche und Dienstleistungsunternehmen ist gefährlich. Kirche muss
zwar dienen. „Eine Kirche, die nicht dient, dient nicht“. Aber die „Sache Jesu“, das Kommen
des Reiches Gottes kann man nicht so organisieren wie ein Dienstleistungsunternehmen
oder eine Firma, die Waren produziert. Glauben des Einzelnen und Kirche müssen wachsen.
Man kann sie nicht „machen“.

i)     Wir könnten erkennen, dass religiöser Glaube nur überzeugt, wenn er profiliert ist, in
gewisser Weise provoziert, sich von den Lebensgewohnheiten des Alltäglichen
unterscheidet. Religiöser Glaube muss ein Stachel im Fleisch sein, sonst ist Glaube langweilig.

j)     Es stehen sich oft nicht „Glaube“ und „Unglaube“ gegenüber, sondern verschiedene
Lebenswelten. Kirchgänger und vor allem jugendliche Nicht-Kirchgänger leben in
verschiedenen Welten. Beide Gruppen suchen auf ihre Weise nach Gott, dem Sinn des
Lebens.

k)   Änderungen von kirchlichen Strukturen spielen keine wesentliche Rolle für die
Weckung von religiösem Glauben.

Kann Papst Franziskus die Kirchenkrise meistern?
Voraussetzung für die Weckung von religiösen Glauben heute ist ganz allgemein das
Überwinden von verbreiteten Missverständnissen:

•      dass Glauben die Freiheit des Menschen begrenzt

•      das Glauben Konflikte und Kriege auslöst,

•      dass Glaube nur Gehorsam fordert.

Glauben selbst aber wird nur geweckt durch überzeugende, glaubende Persönlichkeiten. Es
müssen Persönlichkeiten sein, die das leben, was sie verkünden, die den Mut haben, zu
provozieren, auszusteigen aus dem Üblichen, den Mut haben, selbst zu denken. Solche
Persönlichkeiten haben Geschichte gemacht und wesentlich die Weltgeschichte geprägt.

Die Geschichte Europas wurde neben Königen, Feldherren, Vordenkern und Entdeckern
geprägt durch überzeugte Christen:

•      Benedikt von Nursia, der aus einem dekadenten Rom in die Einsamkeit ging, betete
und Gleichgesinnte um sich sammelte, die dann eine neue Geistes- und Lebenskultur
aufbauten.

•      Franz von Assisi, der einer dekadenten Kirche eine Alternative vorlebte,

•      die heilige Hildegard, die den Frauen Geistes-Stimme und Gewicht gab,

•      Ignatius von Loyola, der lehrte, die Geister zu unterscheiden und der Kirche durch
Bildung zu dienen,

•      Teresa von Avila, die moderne Spiritualität schuf.

In unserer Zeit waren es unter anderem Mutter Teresa und Roger Schütz. Und nun haben wir
einen provozierenden Aussteiger auf dem Petrusstuhl, Franziskus. Auch er wird die Welt
nicht zur Vollendung führen, aber ein Stück weit voranbringen.
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