LEITFADEN FÜR EINE UMFASSENDE STRATEGIE ZUR FÖRDERUNG DER SEXUELLEN GESUNDHEIT AUF KANTONALER EBENE - BERN, 2018

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LEITFADEN FÜR EINE UMFASSENDE
STRATEGIE ZUR FÖRDERUNG DER
  SEXUELLEN GESUNDHEIT AUF
       KANTONALER EBENE

      EINE ZUSAMMENFASSUNG

            BERN, 2018
INHALTSVERZEICHNIS
I. 	EINLEITUNG����������������������������������������������������������������������������������������������������������������3
II. 	INHALT UND ZIELSETZUNG DES LEITFADENS�������������������������4
III.	GRUNDLAGEN: KONZEPTE UND HINTERGRUND��������������5
       A. Sexuelle Rechte����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������5

       B. Sexuelle Gesundheit und öffentliche Gesundheit...................................................................................7

       C. Internationale Verankerung der sexuellen Gesundheit........................................................................8

       D. Sexuelle Gesundheit in der Schweiz..............................................................................................................9

IV. 	QUALITÄTSGRUNDSÄTZE FÜR EINE UMFASSENDE
     STRATEGIE ZUR FÖRDERUNG DER SEXUELLEN
     GESUNDHEIT�����������������������������������������������������������������������������������������������������������13
       A. Rechtebasierter, diskriminierungsfreier Rahmen�����������������������������������������������������������������������������������13

       B. Qualitativ hochstehende Angebote und Leistungen.......................................................................... 14

       C. Vielfältige und allen zugängliche Angebote..............................................................................................14

       D. Integrierter Ansatz.................................................................................................................................................16

       E. Qualifizierte Fachpersonen...............................................................................................................................16

       F. Forschung und Entwicklung................................................................................................................................17

       G. Koordinierte Strategie.........................................................................................................................................17

V. 	ELEMENTE FÜR EINE UMFASSENDE STRATEGIE ZUR
     FÖRDERUNG DER SEXUELLEN GESUNDHEIT IN DER
     SCHWEIZ.....................................................................................................................19
       A. Umfassende Ziele nach Handlungsfeldern����������������������������������������������������������������������������������������������19

       B. Strategische Empfehlungen................................................................................................................................22

VI. PERSPEKTIVEN FÜR KANTONE...............................................................28
VII. IMPRESSUM.................................................................................................................29

2                      Leitfaden für eine umfassende Strategie zur Förderung der sexuellen Gesundheit auf kantonaler Ebene
I. EINLEITUNG

D
        ie Kommission für Prävention und          ser Expertinnen und Experten. Insbesonde-
        Gesundheitsförderung (CPPS) der la-       re Fachleute für sexuelle Gesundheit sowie
        teinischen Konferenz für Gesundheit       Vertreterinnen und Vertreter der Gesund-
und Soziales (CLASS) beauftragte SEXUELLE         heitsförderung aus diversen Westschweizer
GESUNDHEIT Schweiz – die schweizerische           Kantonen wurden einbezogen. Der Leitfaden
Stiftung für sexuelle und reproduktive Ge-        bietet Vorschläge für Massnahmen und Emp-
sundheit und Rechte, Dachorganisation der         fehlungen zur Entwicklung einer Politik zur
Beratungsstellen für sexuelle Gesundheit und      Förderung der sexuellen Gesundheit.
Familienplanung sowie der Fachstellen für Se-
xualaufklärung – mit der Erarbeitung eines        Das erarbeitete Dokument der CLASS mit
Leitfadens. Dieser sollte den lateinischen Kan-   dem Titel «LEITFADEN FÜR EINE UMFAS-
tonen eine Referenz und einen gemeinsamen         SENDE STRATEGIE ZUR FÖRDERUNG
Reflexionsrahmen zur Umsetzung koordi-            DER SEXUELLEN GESUNDHEIT AUF KAN-
nierter kantonaler Pläne oder Programme im        TONALER EBENE» wurde Anfang 2016 pub-
Bereich sexuelle Gesundheit liefern.              liziert. Die vorliegende deutsche Kurzversion
                                                  fasst die wichtigsten Inhalte zusammen. Diese
Der Leitfaden stützt sich auf internationale      wurden ergänzt durch wichtige Diskussions-
und nationale Richtlinien und Vereinbarungen      ergebnisse der Herbsttagung der Vereinigung
sowie auf die neusten Studien im Bereich se-      der Kantonalen Beauftragten für Gesund-
xuelle Gesundheit.                                heitsförderung in der Schweiz (VBGF) vom
                                                  27. Oktober 2016, die den Leitfaden zum
Der Leitfaden wurde in einem partizipativen       Thema machte.
Prozess erarbeitet, unter Beteiligung diver-

Hinweis: Quellen- und Literaturhinweise im
französischen Originaldokument.

3            Leitfaden für eine umfassende Strategie zur Förderung der sexuellen Gesundheit auf kantonaler Ebene
II.	INHALT UND ZIELSETZUNG
     DES LEITFADENS

D
       er Leitfaden soll unterschiedlichen       Der Leitfaden kann unterschiedlich genutzt
       Akteurinnen und Akteuren, Partnerin-      werden: als Orientierungsrahmen zur Ent-
       nen und Partnern im Bereich sexuelle      wicklung einer Politik zur Förderung der
Gesundheit einen Bezugsrahmen mit folgen-        sexuellen Gesundheit, als Instrument zur
den Inhalten bieten:                             Erarbeitung von Aktionsplänen, als Inter-
                                                 ventionsprogramm im Bereich sexuelle Ge-
•    e ine gemeinsame Grundlage zur Refle-      sundheit und als Referenz zur Evaluation
      xion und konzeptuellen Vereinheitlichung   bestehender Leistungen. Daher richtet sich
      der sexuellen Gesundheit – im Hinblick     der Leitfaden an diverse Adressatinnen und
      auf die Entwicklung einer entsprechen-     Adressaten, deren Informationsbedarf unter-
      den kantonalen Politik                     schiedlich ausfallen kann: Leitungspersonen
                                                 in kantonalen Dienststellen für Gesundheit,
•	Benennung der wichtigsten Akteurinnen         Sozialhilfe und Erziehung, Kantonsärztinnen
   und Akteure der sexuellen Gesundheit          und Kantonsärzte, Fachleute für Gesundheits-
                                                 förderung,Verantwortliche der Fachstellen für
•	
  Unterstützung der Koordination zwi-            sexuelle Gesundheit, Fachleute für sexuelle
  schen verschiedenen Akteurinnen und            Gesundheit usw.
  Akteuren aus der Praxis auf der Grundla-
  ge einer gemeinsamen Vision und geteil-
  ter Ziele

•	
  Interventionsmassnahmen und Leistun-
  gen zur Förderung eines umfassenden
  Ansatzes der sexuellen Gesundheit als
  Querschnittsaufgabe

•	Bausteine für Qualitätssicherung und Mo-
   nitoring der Leistungen

Der Leitfaden zeigt Möglichkeiten in fünf        1.	Förderung, Erhaltung und Wiederherstel-
Handlungsfeldern auf, angelehnt an die De-           lung der sexuellen Gesundheit als Teil der
finition der sexuellen Gesundheit, die die           psychischen Gesundheit
Eidgenössische Kommission für sexuelle Ge-
sundheit (EKSG) für die Schweiz erarbeitet       2.	Förderung, Erhaltung und Wiederherstel-
hat. Die Reihenfolge der verschiedenen Be-           lung der reproduktiven Gesundheit
reiche stellt keine Prioritätenliste dar:
                                                    Prävention, Testung und Behandlung von
                                                 3.	
                                                    HIV und anderen sexuell übertragbaren In-
                                                    fektionen sowie von genitalen Infektionen

                                                 4. P
                                                     rävention und Bekämpfung von sexuali-
                                                    sierter Gewalt

                                                    Sexualaufklärung (Bildung zur sexuellen
                                                 5.	
                                                    Gesundheit)

4            Leitfaden für eine umfassende Strategie zur Förderung der sexuellen Gesundheit auf kantonaler Ebene
III.	G RUNDLAGEN: KONZEPTE UND
      HINTERGRUND

Was versteht die WHO unter sexueller Gesundheit?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert sexuel-
le Gesundheit als Zustand physischen, emotionalen, geistigen
und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität. Das
bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, Funktions-
störungen oder Gebrechen. Sexuelle Gesundheit setzt einen
positiven und respektvollen Zugang zu Sexualität und sexuellen
Beziehungen voraus wie auch die Möglichkeit, genussvolle und
risikoarme sexuelle Erfahrungen zu machen, frei von Zwang,
Diskriminierung und Gewalt. Sexuelle Gesundheit lässt sich er-
langen und erhalten, wenn die sexuellen Rechte der Menschen
geachtet, geschützt und garantiert werden.                        1

A.      SEXUELLE RECHTE
Gemäss der Erklärung der sexuellen Rechte         Dies bedingt
der International Planned Parenthood Fe-          •	die Schaffung von Rahmenbedingungen
deration (IPPF) sind sexuelle Rechte Men-            und Massnahmen zur Verhinderung jegli-
schenrechte bezüglich Sexualität. Sie gründen        cher Diskriminierung oder Stigmatisierung
auf dem Recht jedes Menschen auf Freiheit,           aufgrund von Sexualität, sexueller Orien-
auf Gleichheit, auf Privatsphäre, auf persön-        tierung, Geschlecht, Alter, Gesundheitszu-
liche Selbstbestimmung, auf Unversehrtheit           stand oder sozioökonomischer Stellung.
und auf Würde. Die sexuellen Rechte sind
aus den Grundrechten abgeleitet und inso-         •	den Zugang zu benötigten Informationen,
fern universell, unveräusserlich und unteilbar.      Bildungsmassnahmen und Leistungen be-
Daher sollten Staaten die sexuellen Rechte           züglich Sexualität und sexueller Gesund-
der gesamten Bevölkerung achten, schützen            heit für alle Bevölkerungsgruppen und
und sichern. Sie sollten Umfelder schaffen, in       insbesondere für die verletzlichsten Men-
denen die Menschen ihre Fähigkeit, eigenstän-        schen.
dig über ihr Leben zu entscheiden, vollständig
wahrnehmen können und in ihren Entschei-          •	
                                                    die Beteiligung der Menschen an Ent-
dungen respektiert werden.                          scheidungen, die sie im Bereich Sexualität
                                                    und sexuelle Gesundheit betreffen.             1
                                                                                                   Vgl. sexuelle
                                                                                                   Gesundheit – eine
                                                                                                   Definition für die
                                                                                                   Schweiz, Eidgenös-
                                                                                                   sische Kommission
                                                                                                   für sexuelle Ge-
                                                                                                   sundheit (EKSG)

5            Leitfaden für eine umfassende Strategie zur Förderung der sexuellen Gesundheit auf kantonaler Ebene
Die sexuellen Rechte2 sind                           6.	Das Recht auf Gedanken und Meinungs-
    Das Recht auf Gleichstellung, gleichen
1.	                                                    freiheit, das Recht auf freie Meinungsäus-
    Schutz durch das Gesetz und Freiheit von             serung und Versammlungsfreiheit
    allen Formen der Diskriminierung aufgrund
    von Geschlecht, Sexualität oder Gender           7.	Das Recht auf Gesundheit und das Recht,
                                                         am wissenschaftlichen Fortschritt und
2. D
    as Recht auf Partizipation unabhängig               dessen Errungenschaften teilzuhaben
   von Geschlecht, Sexualität oder Gender
                                                     8.	Das Recht auf Bildung und Information
3.	Die Rechte auf Leben, Freiheit, Sicherheit
    der Person und körperliche Unversehrtheit        9.	Das Recht auf freie Entscheidung für oder
                                                         gegen die Ehe und für oder gegen die
4. Das Recht auf Privatsphäre                           Gründung einer Familie sowie das Recht
                                                         zu entscheiden, ob, wie und wann Kinder
5. D
    as Recht auf persönliche Selbstbestim-              geboren werden sollen
   mung und Anerkennung vor dem Gesetz
                                                     10. D
                                                          as Recht auf Rechenschaftspflicht und
                                                         Entschädigung

Sexuelle Rechte basieren auf Grundsätzen,            und Sozialpolitik, damit sexuelle Rechte inner-
die in die staatliche Politik einfliessen sollten,   halb des geltenden ethischen Rahmens geför-
insbesondere in die Gesundheits-, Erziehungs-        dert und umgesetzt werden können.

Es handelt sich um die folgenden sieben Grundsätze:

•	Sexualität ist eine wesentliche Dimension         •	Sexualität und der damit verbundene se-
   jedes Menschen. Daher braucht es ein                 xuelle Genuss sind Kernelemente im Le-
   günstiges Umfeld, damit jede und jeder               ben jedes Menschen, unabhängig von der
   sexuelle Rechte ausüben kann und sich                Entscheidung über Fortpflanzung.
   somit an der gesellschaftlichen Entwick-
   lung auf sozialer, wirtschaftlicher, kulturel-    •	Die Gewährleistung der sexuellen Rech-
   ler und politischer Ebene beteiligen kann.           te für alle Menschen verpflichtet zum
                                                        Schutz der Freiheit und zur Bekämpfung
•	Schutz und garantierte Rechte sind für               aller Formen von Gewalt.
   Menschen unter 18 Jahren und Erwach-
   sene unterschiedlich, dabei muss die Ent-         •	Sexuelle Rechte dürfen nur von solchen
   wicklung der Fähigkeit jedes Kindes be-              gesetzlichen Regelungen eingeschränkt
   rücksichtigt werden, seine Rechte für sich           werden, die darauf abzielen, die Rechte
   selbst wahrzunehmen und Verantwor-                   und Freiheiten aller sowie das Gemein-
   tung zu tragen.                                      wohl in einer demokratischen Gesell-
                                                        schaft anzuerkennen und zu achten.
•	
  Die Verhinderung jeglicher Diskriminie-
  rung ist eine entscheidende Bedingung              •	
                                                       Sämtliche sexuellen Rechte sowie die
  für den Schutz und die Förderung sämt-               Freiheit, diese wahrzunehmen, müssen
  licher Menschenrechte.                               durch die Staaten geachtet, geschützt und
                                                       umgesetzt werden.

                                                                                                       2
                                                                                                       IPPF-Erklärung
                                                                                                       zu den sexuellen
                                                                                                       Rechten, 2008,
                                                                                                       London

6             Leitfaden für eine umfassende Strategie zur Förderung der sexuellen Gesundheit auf kantonaler Ebene
B.	SEXUELLE GESUNDHEIT UND ÖFFENTLICHE
    GESUNDHEIT
Sexuelle Gesundheit tangiert intime Fragen,       usw.) und die durch Präventionsmassnahmen
die aber auch die Gesellschaft als Ganzes und     verbessert werden können. In diesem Sinn
das Zusammenleben betreffen. Die Gesund-          soll sexuelle Gesundheit als staatliche Aufga-
heitsförderung und die öffentliche Gesundheit     be wahrgenommen werden und in die öffent-
sind insofern mitbetroffen, als sexuelle Ge-      liche Gesundheitspolitik einfliessen.
sundheit das Wohlbefinden der Bevölkerung
beeinflusst. Dies gilt etwa im Zusammenhang       Sexualität ist eine grundlegende Dimension
mit Epidemien (HIV, STI, RTI) oder in Situatio-   jedes Menschen über den gesamten Lebens-
nen, die für die körperliche, psychische oder     verlauf3 und betrifft Säuglinge, Kleinkinder,
soziale Gesundheit schädlich sind (ungewoll-      vorpubertäre Kinder, Pubertierende, Adoles-
te Schwangerschaft, Gewalt, Diskriminierung       zente, Erwachsene und ältere Menschen.

  Jugendvereine bzw. Jugendverbände, Ju-
	                                                Institutionen und spezialisierte Heime,
  gendhäuser und Jugendzentren                      geschützte Wohnformen, Alters- und
                                                    Pflegeheime, Institutionen für Menschen
 Sportvereine und andere Vereine                   mit Einschränkungen

 Beratungs- und Teststellen                      	Ausserschulische Tagesstrukturen, Le-
                                                     bens- und Freizeiträume
 O
   pferhilfestellen und weitere Angebote
  im Bereich Sicherheit                             Sexgewerbe-Etablissements sowie wei-
                                                  	
                                                    tere Kontaktstellen und Dienstleistungen
 Schulen und Erziehungsheime                       der Sexarbeit

	Familien und Unterstützungsangebote für          Festanlässe, kulturelle oder öffentliche
                                                  	
   Familien                                         Feiern

 Kinderkrippen                                     Kommerzielle und nicht kommerzielle
                                                  	
                                                    Medien
 Wohnheime für Asylsuchende
                                                   Offener und geschlossener Strafvollzug
 S pitäler, Geburtsabteilungen, gynäkologi-
   sche Abteilungen, niedergelassene Ärztin-        Kommerzielle und nicht kommerzielle
                                                  	
   nen und Ärzte, psychiatrische Einrichtun-        Freizeitangebote und Einrichtungen zur
   gen und Fachstellen für psychologische           Arbeitseingliederung
  Unterstützung
                                                   U
                                                     nterstützungsstrukturen für die peri-
 Apotheken                                         natale Phase und Dienste zur Prävention
                                                    von Kindesmisshandlung
	Dienste im Bereich Medizin, Versorgung,
   Medikamentenverordnung und Gesund-               Präventionsstrukturen (Information und
                                                  	
   heitsvorsorge (Impfungen)                        Sensibilisierung)

                                                   usw.

Die Sexualität von Kindern und Jugendlichen       Gesundheit je nach Altersgruppe spezifische
unterscheidet sich von derjenigen der Er-         Formen an.                                       3
wachsenen. Daher nimmt auch die sexuelle                                                           Vgl. Definition oben

7            Leitfaden für eine umfassende Strategie zur Förderung der sexuellen Gesundheit auf kantonaler Ebene
Interventionskontexte und involvierte Akteurinnen und Akteure im Bereich sexuelle
Gesundheit
Da sexuelle Gesundheit alle Menschen be-         Ebenso zahlreich wie die Kontexte sind die
trifft, sind die möglichen Interventionskontexte Akteurinnen und Akteure im Bereich sexuelle
sehr breit gefächert. Dadurch zeigt sich, dass   Gesundheit. Bedingt durch die historische Ent-
sexuelle Gesundheit ein vielschichtiges Thema    wicklung, stammen die wichtigsten aus dem
ist, das sich nicht auf einen bestimmten Kon-    Arbeitsfeld der reproduktiven Gesundheit4
text reduzieren lässt, sondern als Querschnitts- sowie aus dem Bereich HIV5. Weitere wichti-
aufgabe von einer umfassenden Sicht auf die      ge Akteurinnen und Akteure werden oft nicht
Gesellschaft getragen werden muss. Entspre-      zum Bereich sexuelle Gesundheit gezählt, wie
chend sind verschiedene Lebenskontexte von       beispielsweise jene aus dem Arbeitsfeld der
Bedeutung                                        (sexuellen) Gewalt oder der Migration.

Die Akteurinnen und Akteure lassen sich grob in folgende Kategorien einteilen:

•	staatliche Strukturen oder Verbände, die        •	Partnerstrukturen im Bildungsbereich wie
   traditionell Dienstleistungen in den fünf          Hochschulen für Soziale Arbeit, Pädagogi-
   Handlungsfeldern der sexuellen Gesund-             sche Hochschulen, Universitäten usw.
   heit anbieten
                                                   •	je nach Kontext unterschiedliche Koordi-
•    S tellen mit Multiplikationsfunktion und/       nationspartner, etwa kantonale Departe-
     oder Interventionsplattformen wie etwa           mente oder Dienste, bestimmte Arbeits-
     Elternvereine, Lehrpersonenverbände,             gruppen oder Interventionsprogramme
     Schulen, Berufsschulen oder Berufsbil-
     dungszentren, Dienste für interkulturelles    •	Partner im Bereich Evaluation und Mo-
     Dolmetschen, Fachleute für Gesundheits-          nitoring, namentlich das BAG, Kantons-
     förderung, Strukturen für soziokulturelle        ärztinnen und -ärzte, Forschungsinstitute,
     Animation unter Jugendlichen usw.                Observatorien usw.

•    zuständige kantonale Departemente –          •	Partner in Forschung und Wissenschaft
     im Bereich Gesundheit, Soziales, Bildung         wie etwa statistische Dienste oder wis-
                                                      senschaftliche Beobachtungsstellen sowie      4
                                                                                                    Stellen für Fami-
                                                      Hochschulen und Universitäten                 lienplanung und
                                                                                                    Schwangerschafts-
                                                                                                    beratung, gynäkolo-
                                                                                                    gische Abteilungen
                                                                                                    und Fachärztinnen
                                                                                                    und -ärzte für

C.	INTERNATIONALE VERANKERUNG DER                                                                  Gynäkologie, Bera-
                                                                                                    tungsstellen für die

    SEXUELLEN GESUNDHEIT
                                                                                                    perinatale Phase,
                                                                                                    Geburtsabteilun-
                                                                                                    gen, Organisationen
                                                                                                    zur Stärkung der
Die wichtigsten Bezüge für Akteurinnen und         und in die Agenda 2030 zu nachhaltiger Ent-      sexuellen und
                                                                                                    reproduktiven
Akteure im Bereich sexuelle Gesundheit sind        wicklung integriert. Zudem macht die Strate-     Rechte, Sexual-
heute die Definition der sexuellen Gesund-         gie 2011–2015 der UNAIDS die Förderung           pädagoginnen und
heit der WHO aus dem Jahr 2006 sowie die           der Menschenrechte und der Gleichstellung        -pädagogen usw.

Erklärung der sexuellen Rechte von IPPF.           der Geschlechter zu einer Priorität in der Be-   5
                                                   kämpfung von HIV.                                Aids-Hilfe-Stel-
In den letzten Jahren wurde die sexuelle und re-                                                    len, Zentren für
                                                                                                    HIV-Testung und
produktive Gesundheit mit den entsprechen-         Weiter sind in mehreren Ländern nationale        Behandlung, Orga-
den Rechten vermehrt anerkannt. Das Thema          Programme für sexuelle Gesundheit bereits in     nisationen für die
wurde vor allem bei der Weiterentwicklung          Umsetzung, beispielsweise in Schottland seit     Rechte bestimmter
                                                                                                    Minderheiten oder
und der Konkretisierung verschiedener              2005 und in England seit 2013. Die Schweiz       gegen Diskriminie-
internationaler Abkommen aufgenommen               unterstützt sämtliche Grundsätze und hat an      rung usw.

8             Leitfaden für eine umfassende Strategie zur Förderung der sexuellen Gesundheit auf kantonaler Ebene
deren Entstehung teilweise massgeblich mit-         Unterzeile zu sexueller und reproduktiver Ge-
gearbeitet. Auf internationaler Ebene hat die       sundheit und Rechte. Zudem hat die Schweiz
Schweiz wesentlich dazu beigetragen, dass in        in verschiedenen Bereichen internationale
der Agenda 2030 zu nachhaltiger Entwicklung         Konventionen ratifiziert, die ein Konzept von
das Ziel 3 zu Gesundheit und Wohlergehen            sexueller Gesundheit auf der Grundlage der
sowie auch das Ziel 5 zu Geschlechtergleich-        Menschenrechte stützen.
heit enthalten sind. Diese beinhalten zentrale

D.       SEXUELLE GESUNDHEIT IN DER SCHWEIZ
Die Schweiz besitzt bislang keine nationale Stra-   rates über die Schweizer Gesundheitspolitik,
tegie zur Förderung der sexuellen Gesundheit.       in diesem Bereich noch nicht erfüllt.
Auf gesamtschweizerischer Ebene sind Mass-
nahmen im Bereich sexuelle Gesundheit vor           Die im Rahmen von Gesundheit2020 beschrie-
allem in den folgenden beiden Gesetzen ver-         benen Schwächen betreffen auch den Bereich
ankert: im Epidemiengesetz, das den Rahmen          sexuelle Gesundheit: starke Fragmentierung des
für das Nationale Programm HIV und andere           Gesundheitswesens, mangelnde Transparenz und
sexuell übertragbare Infektionen 2011–2017          dadurch fehlende Steuerung, Fehlanreize, Ineffi-
(NPHS, verlängert bis 2021) vorgibt, sowie im       zienz, uneinheitliche Qualitätssicherung, ungenü-
Bundesgesetz von 1981 über die Schwanger-           gende Investitionen in Prävention, Gesundheits-
schaftsberatungsstellen, für dessen Umsetzung       förderung und Früherkennung. Überlegungen
die Kantone zuständig sind. Diese Situation         zur Weiterentwicklung der sexuellen Gesundheit
führt zu regional sehr unterschiedlichen Situa-     können sich daher unter anderem auf die vier
tionen, sowohl was Angebote als auch was Ver-       gesundheitspolitischen Handlungsfelder stützen,
ankerung und Finanzierung angeht. Die Träger-       die in Gesundheit2020 definiert werden:
schaft dieser Angebote ist zudem oftmals auf
verschiedene Organisationen verteilt, die in un-     Lebensqualität sichern
terschiedlichen kantonalen Departementen an-        	Chancengleichheit und Selbstverantwor-
gesiedelt sind. Dies erschwert eine koordinier-        tung stärken
te Reflexion über Zusammenhänge zwischen             Versorgungsqualität sichern und erhöhen
Strategien und bestehenden Massnahmen.               Transparenz schaffen, besser steuern und
                                                       koordinieren
Bestehende Initiativen zur Stärkung der
sexuellen Gesundheit                                Rechtliche Grundlagen
In der Schweiz tragen verschiedene Mass-            Auf rechtlicher Ebene gelten für Leistungen und
nahmen zur Stärkung der sexuellen Gesund-           Programme im Bereich sexuelle Gesundheit
heit bei, z.B.: das Nationale Programm HIV          unterschiedliche Regelwerke, die von diversen
und andere sexuell übertragbare Infektionen         gesamtschweizerischen Gesetzen abhängen.
2011–2017 (NPHS) mit den entsprechenden             Sexuelle Gesundheit und sexuelle Rechte sind
Anstrengungen des Bundesamtes für Gesund-           derzeit nirgends direkt gesetzlich verankert. Ent-
heit (BAG) und seiner Partnerorganisationen;        sprechende Bestimmungen sind über einzelne
Angebote der Beratungsstellen für sexuelle          Artikel der Bundesverfassung, des Zivilgesetz-
Gesundheit, Familienplanung und Schwanger-          buches und des Strafgesetzbuches verstreut
schaft; Massnahmen zur Prävention und Be-           oder finden sich in nationalen oder kantonalen
handlung von Gebärmutterhalskrebs, Darm-            Ausführungsgesetzen oder Wegleitungen. Dabei
krebs und Brustkrebs; oder auch Angebote            sind bestimmte Bereiche der sexuellen Gesund-
der Sexualaufklärung in Rahmen der Schule.          heit stärker vertreten als andere, insbesondere
Diese Programme, Projekte, Angebote und             reproduktive Gesundheit, häusliche Gewalt so-
Massnahmen sind jedoch nicht in ein um-             wie Verletzungen der körperlichen Unversehrt-
fassendes Konzept zur sexuellen Gesundheit          heit. Dieses rechtliche Instrumentarium ist zwar
eingebettet. Damit sind die Vorgaben von Ge-        zerstückelt und bedarf in einigen Fällen einer
sundheit2020, der Gesamtschau des Bundes-           gründlichen Überarbeitung. Dennoch wird damit

9             Leitfaden für eine umfassende Strategie zur Förderung der sexuellen Gesundheit auf kantonaler Ebene
eine Grenze zwischen öffentlichen und priva-         Eine solche Strategie muss Massnahmen zur
ten Angelegenheiten gezogen. Die Privatsphäre        Information, Sensibilisierung, Bildung, Bera-
wird geschützt, insbesondere gegen Übergrif-         tung, Prävention und Versorgung umfassen.
fe, Beziehungsgewalt und sexuelle Gewalt, mit        Diese sollen durch folgende Instrumente
besonderem Fokus auf verletzliche Personen           gestützt sein: Regelwerke, die die sexuellen
oder Menschen in verletzlichen Situationen.          Rechte achten (Gesetze, Verordnungen, Re-
Auch definiert dieser gesetzliche Rahmen Rechte,     glemente usw.), wirtschaftliche Anreize (z.B.
Pflichten und Verantwortung der einzelnen Men-       Subventionen für Prävention oder Ausbildung
schen und legt Verfahren zur Wiedergutmachung        von Fachleuten), Umverteilungsmassnahmen
fest. Ebenfalls werden Grundlagen geschaffen für     (Steuererträge zur Deckung von umfangrei-
Präventionsarbeit und Förderung der sexuellen        chen Leistungen im Bereich sexuelle Gesund-
Gesundheit und eine Reihe von Leistungen defi-       heit wie KVG-Beiträge zur Finanzierung des
niert, die allen Menschen zustehen müssen.           gesetzlich verankerten Schwangerschaftsab-
                                                     bruchs) sowie Koordinationsmassnahmen.
Die Fragmentierung der rechtlichen Grundlagen
über Gesundheit und sexuelle Rechte schränkt         Eine Strategie zur Förderung der sexuellen
die Übersichtlichkeit und Kohärenz der ver-          Gesundheit muss einen umfassenden Ansatz
schiedenen Massnahmen ein. Trotz der Anzahl          verfolgen und für die verschiedenen Bereiche
Gesetzesartikel, die sexuelle Rechte stützen, ste-   koordinierte und integrierte (oder ganzheit-
hen noch diverse Verbesserungen an, weil man-        liche) Massnahmen entwickeln, um die Kohä-
che geltenden Gesetze die sexuellen Rechte für       renz und Effizienz der Angebote zu stärken.
bestimmte Gruppen einschränken, insbesonde-          Dies betrifft sowohl die präventive wie auch die
re für zugewanderte Bevölkerungsgruppen.             gesundheitliche und die wirtschaftliche Ebene.
                                                     Eine Strategie zur sexuellen Gesundheit soll mit
Bisherige Beiträge und Entwicklungen                 anderen nationalen Aktionsplänen abgestimmt
auf nationaler Ebene                                 sein, die Bereiche wie Gewalt, psychische Ge-
Die Organisationen SEXUELLE GESUNDHEIT               sundheit oder Sucht abdecken. Sie hat zudem
Schweiz und Aids-Hilfe Schweiz sind beide spe-       die spezifischen Bedürfnisse bestimmter Ziel-
zialisiert in Fragen der sexuellen Gesundheit        gruppen zu berücksichtigen – etwa Jugendliche,
und als Partnerorganisationen des BAG an der         zugewanderte Menschen, Menschen mit HIV,
Umsetzung des Nationalen Programms HIV               LGBTI-Menschen, Sexarbeiterinnen und Sex-
und andere STI beteiligt. Beide Organisationen       arbeiter, Menschen in prekären Lebenssituatio-
sind sich einig darüber, dass die Schweiz eine       nen, Menschen mit körperlichen und/oder psy-
nationale Strategie zur Förderung der sexuellen      chischen und/oder kognitiven Einschränkungen
Gesundheit benötigt. Diese Strategie muss sich       sowie Menschen mit chronischen Krankheiten.
auf die Definition der WHO betreffend sexuel-
le Gesundheit und die entsprechenden sexuel-         Eine Strategie zur Förderung der sexuellen
len Rechte stützen. Dies mit dem Ziel, in der        Gesundheit darf sich nicht nur auf Risiken
Schweiz Bedingungen zu schaffen, damit alle          konzentrieren. Sie muss auch Leistungen im
Menschen ihre Sexualität vertrauensvoll und          Hinblick auf übergreifende Ziele in den fünf
risikoarm ausleben können, gemäss ihren freien       prioritären Handlungsfeldern entwickeln, de-
Entscheidungen und im gegenseitigen Respekt.         ren Auflistung hier keine Rangfolge der Priori-
Diese Strategie muss Folgendes ermöglichen:          täten meint. Diese Ziele wurden im Juni 2015
                                                     durch die Eidgenössische Kommission für se-
	Förderung, Erhalt und Wiederherstellung           xuelle Gesundheit (EKSG) verabschiedet, als
   der sexuellen und reproduktiven Ge-               Vorschlag für eine Schweizer Definition der
   sundheit                                          sexuellen Gesundheit.
	Etablierung, Förderung und Verteidigung
   der sexuellen Rechte für alle                     SEXUELLE GESUNDHEIT Schweiz ist an den
 Bereitstellung von effizienten und qualita-       Diskussionen bezüglich sexueller Gesund-
   tiv hochstehenden Leistungen, die für alle        heit auf gesamtschweizerischer Ebene be-
   Menschen und Zielgruppen barrierefrei             teiligt. Diese Organisation plädiert in diesem
   und diskriminierungsfrei zugänglich sind          Rahmen für die Entwicklung und Umsetzung

10            Leitfaden für eine umfassende Strategie zur Förderung der sexuellen Gesundheit auf kantonaler Ebene
von integrierten Programmen für sexuelle            le Luzern Soziale Arbeit werden sowohl CAS-
Gesundheit und vertritt diese Position insbe-       wie auch MAS-Programme in enger Partner-
sondere im Rahmen der parlamentarischen             schaft durchgeführt und ermöglichen ebenfalls
Gruppe KAIRO+ und der Eidgenössischen               das Erwerben des gleichen Fachtitels «Fachper-
Kommission für sexuelle Gesundheit. Als ak-         son für sexuelle Gesundheit in Beratung und
kreditiertes Mitglied von IPPF steht SEXUEL-        Bildung» Dieser Abschluss ist für die Arbeit in
LE GESUNDHEIT Schweiz in Verbindung mit             einer Beratungsstelle für sexuelle Gesundheit
verschiedenen internationalen Organisatio-          und Familienplanung sowie in der Sexualaufklä-
nen und nimmt an entsprechenden Diskus-             rung in der lateinischen Schweiz wie auch in der
sionen und Entwicklungen teil.                      Deutschschweiz fast überall Voraussetzung. Seit
                                                    1998 besteht der faseg, Fachverband sexuelle
Seit fünf Jahren organisiert und führt SEXUEL-      Gesundheit in Beratung und Bildung. Er ist die
LE GESUNDHEIT Schweiz die jährlichen Aus-           Deutschschweizer Vereinigung von Fachper-
tausch- und Vernetzungstreffen der im Bereich       sonen aus den Bereichen Schwangerschafts-
der Interventionsachse 1 (nach NPHS 2011–           beratung, Sexualberatung, Familienplanung und
2017)6 tätigen Akteure durch. Die Treffen ha-       Sexualpädagogik und verfolgt das Ziel, die Bera-
ben einen Weiterbildungs- und Koordinations-        tungs- und Bildungsarbeit in sexueller Gesund-
charakter auf regionaler Ebene. Daran nehmen        heit im Praxisalltag zu fördern und zu stärken.
sowohl Aids-Hilfe-Stellen wie auch Fachstellen
der sexuellen Gesundheit (Schwangerschafts-         Entwicklungen auf kantonaler Ebene
beratung und Familienplanung, Sexualaufklärung      und die Rolle der Kantone
usw.) teil. An diesen regelmässigen Treffen pfle-   In der Schweiz sind hauptsächlich die Kanto-
gen die Beteiligten eine gemeinsame Reflexion       ne für die Gesundheits- und Bildungspolitik
zur einheitlichen Weiterentwicklung der Fragen      zuständig. Daher ist eine gute Koordination
rund um sexuelle Gesundheit in der lateinischen     unter den verschiedenen involvierten Netz-
Schweiz. Jährlich treffen sich beispielsweise die   werken, Organisationen, kantonalen Diensten
Leitungen der Beratungsstellen für sexuelle Ge-     sowie inner- und überkantonalen Strukturen
sundheit und Familienplanung sowie der Dienste      besonders wichtig. Die Rolle der Kantone
für Sexualerziehung in der lateinischen Schweiz.    ist insbesondere in folgenden Bereichen von
Weitere Reflexionsrahmen sind der Beirat zur        Bedeutung: psychische Gesundheit bei vulne-
Entwicklung der CAS/DAS-Programme in se-            rablen Gruppen, Schwangerschaftsberatung,
xueller Gesundheit sowie verschiedene institu-      Prävention im Bereiche HIV und STI, Gewalt-
tionsübergreifende Arbeitsgruppen, die mit ih-      prävention und Opferhilfe, Ausbildung von
rem Fachwissen die Entwicklung professioneller      Lehrpersonen in Sexualpädagogik.
Ressourcen und die Organisation von Weiterbil-
dungsangeboten oder Kolloquien unterstützen.        Seit mehreren Jahrzehnten gibt es in allen
                                                    Sprachregionen der Schweiz ein gut veranker-
Dank diesem Engagement der Fachverbände             tes Netzwerk von institutionellen Akteuren
entstand eine Partnerschaft zwischen SEXU-          und Verbänden im Bereich sexuelle Gesund-
ELLE GESUNDHEIT Schweiz und den West-               heit. Hierbei handelt es sich insbesondere um
schweizer Hochschulen (Universität Lausanne         die Beratungsstellen für sexuelle Gesundheit
UNIL, Universität Genf UNIGE sowie das              und Familienplanung, die auf der Grundlage des
Weiterbildungszentraum «cefoc» an der Gen-          Bundesgesetzes von 1981 über die Schwanger-
fer Hochschule für Soziale Arbeit HETS), was        schaftsberatungsstellen eingerichtet wurden, so-
zu zwei neuen Studiengängen in sexueller Ge-        wie um die Aids-Hilfe-Stellen, die in die nationalen
sundheit führte. Ein CAS-Programm befähigt          Programme zu Aids und anderen STI eingebun-
Fachleute aus dem Gesundheits-, Bildungs- und       den sind. Sowohl in der lateinischen Schweiz wie
Sozialbereich zur Förderung und Prävention in       in der Deutschschweiz entstanden Angebote im
sexueller Gesundheit; und in einem DAS-Pro-         Bereich sexuelle Gesundheit vor allem im Zu-
gramm kann der Titel «Spécialiste en santé se-      sammenhang mit Beratungsstellen für sexuelle
xuelle, éducation-formation-conseil» (Fachper-      Gesundheit und Familienplanung, Schwanger-
                                                                                                           6
son für sexuelle Gesundheit in Beratung und         schaftsberatung, Sexualerziehung, Aids-Hilfe-Stel-     www.sexuelle-ge-
Bildung) erworben werden. Mit der Hochschu-         len und Gesundheitseinrichtungen. Auch gibt            sundheit.ch

11            Leitfaden für eine umfassende Strategie zur Förderung der sexuellen Gesundheit auf kantonaler Ebene
es in allen Regionen Teststellen für HIV und STI,   •   Im Kanton Zürich gibt es im Bereich der
Sexualerziehung in den Schulen sowie Opferhil-           sexuellen Gesundheit sehr unterschied-
festellen für Opfer von Gewalt, teilweise ergänzt        liche Angebote und Anlaufstellen, u.a. die
durch Beratungsstellen für die perinatale Phase.         Schwangerschafts-Beratungszentren, nie-
                                                         derschwellige medizinische Versorgung, die
Im Bereich Prävention und Bekämpfung von                 Fachstelle für Frauenhandel und Migration,
Gewalt gibt es in mehreren Kantonen Koordi-              die Sexualpädagogik, psychologische An-
nations- und Interventionsstellen gegen häusliche        gebote, Sozialberatung, rechtliche Beratung,
Gewalt, mit Fokus auf die Frühprävention von             Selbsthilfegruppen und Interessengemein-
häuslicher Gewalt bei Jugendlichen. Projekte zur         schaften.
Sensibilisierung und Prävention von Gewalt und
Übergriffen bei Jugendlichen entwickeln sich auch   •	
                                                      Im Kanton Tessin haben verschiedene
im Rahmen der kantonalen Gleichstellungsbüros,        Partner (Fachpersonen und kantonale
mit Unterstützung des Eidgenössischen Büro für        Ämter) im Bereich der sexuellen Gesund-
die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG).           heit zu unterschiedlichen Themen Quali-
                                                      tätsstandards entwickelt, um Synergien zu
In der lateinischen Schweiz haben die Akteu-          schaffen und um Ungleichheit und/oder
rinnen und Akteure im Bereich sexuelle Ge-            Doppelspurigkeit zu verhindern. Dafür
sundheit seit vielen Jahren ein interkantonales       wurde die «Commissione consultiva ses-
Kompetenznetzwerk aufgebaut, in Form von              sualità e salute», ein interdisziplinäres be-
freiwilligen Kooperationen zwischen den Fach-         reichsübergreifendes Gremium, gebildet.
verbänden für sexuelle Gesundheit ARTCOSS
und ARTANES, den lateinischen Beratungsstel-        •	
                                                      Im Kanton Aargau ist die Organisation
len für sexuelle Gesundheit und Familienpla-          «sexuelle Gesundheit Aargau – seges» zu-
nung, den Diensten für Sexualerziehung, den           ständig. Sie entstand Anfang 2016 aus der
Aids-Hilfe-Stellen im Rahmen der CoRom so-            Fusion von der Beratungsstelle für Fami-
wie SEXUELLE GESUNDHEIT Schweiz. In der               lienplanung, Schwangerschaft und Sexuali-
Deutschschweiz ist die Entwicklung diesbezüg-         tät mit der Aids-Hilfe Aargau. Seges ist in
lich etwas anders verlaufen. Die Formalisierung       den Bereichen Beratung (Schwangerschaft,
der Netzwerke findet langsam statt.                   Verhütung, HIV, Sexualität allgemein), Früh-
                                                      erkennung (u.a. HIV und Syphilis-Tests,
Mehrere Kantone sind bestrebt, ihrer Tätigkeit im     anonyme Beratungen) sowie Prävention
Bereich sexuelle Gesundheit neu zu organisieren       (Sexualpädagogik für die Zielgruppen Ju-
und entsprechende Strategien zu entwickeln.           gend, Migrant/innen, Menschen mit Behin-
                                                      derung, MSM (Männer, die mit Männern
•	Der Kanton Neuenburg hat sich zum Ziel             Sex haben) zuständig.
   gesetzt, bis 2022 einen kantonalen Plan
   zu erarbeiten und politisch genehmigen           •    as Programm im Kanton Schwyz ist poli-
                                                        D
   zu lassen. Darin sollen eine klare Aufga-            tisch und in der Bevölkerung gut abgestützt.
   benverteilung und gemeinsame Ziele auf               Die klassische Aufgabe einer Aids-Hilfe soll-
   kantonaler Ebene in Bezug auf Schulen,               te in absehbarer Zeit nicht infrage gestellt
   Strukturen und Finanzen festgelegt wer-              werden. MSM wird wohl immer wieder dis-
   den. Es soll eine Verbindung zum kantona-            kutiert werden. Auch die Sexualpädagogik
   len Aktionsprogramm (KAP) psychische                 wird immer wieder Thema zwischen dem
   Gesundheit mit Bezug zu LGBT (Lesbi-                 Amt für Volksschule, dem Amt für Gesund-
   sche, Gays, Bisexuelle und Trans*Men-                heit und «Gesundheit Schwyz», sein.
   schen) erstellt und ein Schwerpunkt bei
   den vulnerablen Gruppen (Sexarbeiter/
   innen, Migrant/innen) gesetzt werden.

12            Leitfaden für eine umfassende Strategie zur Förderung der sexuellen Gesundheit auf kantonaler Ebene
IV.	QUALITÄTSGRUNDSÄTZE FÜR
     EINE UMFASSENDE STRATEGIE
     ZUR FÖRDERUNG DER
     SEXUELLEN GESUNDHEIT

D
       iverse Grundlagendokumente von             währleistet ist. Für die Empfehlungen sind die
       WHO und IPPF formulieren Grund-            folgenden drei Dimensionen entscheidend:
       sätze, auf denen eine Strategie zur        Ein rechtebasierter, diskriminierungsfreier
Förderung der sexuellen Gesundheit aufbau-        Rahmen; qualitativ hochstehende Angebote
en muss, damit die erforderliche Qualität ge-     und Leistungen; eine koordinierte Strategie.

A.	RECHTEBASIERTER, DISKRIMINIERUNGSFREIER
    RAHMEN
Aufgrund ihres kollektiven Auftrages muss         Diskriminierung gelebt werden können. Da-
die öffentliche Gesundheit einerseits in der      mit die Menschen eine gute sexuelle Gesund-
Bevölkerung die Fähigkeiten fördern, die für      heit entwickeln, beibehalten und wenn nötig
einen guten Gesundheitszustand nötig sind,        wiedererlangen können, müssen sie unter
und anderseits dafür sorgen, dass der erfor-      vertrauten und sicheren Bedingungen über
derliche strukturelle Rahmen gegeben ist.         ihr affektives, sexuelles und reproduktives Le-
                                                  ben entscheiden können.
Im Bereich sexuelle Gesundheit braucht es
einen rechtlichen Rahmen, der auf den Men-        In diesem Sinne sind sexuelle Rechte un-
schenrechten basiert und die sexuellen Rechte     abdingbar für die sexuelle Gesundheit. Die
anerkennt und achtet. Sexuelle Rechte leiten      Akteurinnen und Akteure in diesem Feld
sich direkt von den Menschenrechten ab, sind      müssen sich auf einen strukturellen und
unteilbar und bilden mit einer Reihe von Kon-     rechtlichen Rahmen abstützen können, der
ventionen und internationalen Abkommen            die gleichberechtigte Anerkennung und An-
ein Instrumentarium, auf das sich eine Strate-    wendung dieser Rechte für alle Bevölke-
gie zur Förderung der sexuellen Gesundheit        rungsgruppen und gerade für die verletz-
als Referenz berufen muss. Die Grundsätze         lichsten Menschen garantiert. Diese Rechte
der sexuellen Rechte und der Konventionen         sind insbesondere:
und internationalen Abkommen müssen in
die nationale und kantonale Gesetzgebung          	Das Recht auf Selbstbestimmung, Gleich-
einfliessen, damit ein rechtlicher Rahmen ge-        berechtigung und auf Schutz vor Diskri-
schaffen wird, der zentrale Werte stützt: freie      minierung und Stigmatisierung aufgrund
individuelle Entscheidungen, persönliche Si-         von Geschlecht, Gesundheitszustand, Se-
cherheit, körperliche Unversehrtheit, Achtung        xualpraktiken, sexueller Orientierung und
des Privatlebens, Gleichstellung, informierte        geschlechtlicher Identität
Zustimmung, freier Ausdruck der geschlecht-        Das Recht auf körperliche Unversehrt-
lichen Identität und der sexuellen Orientie-         heit und Sicherheit
rung sowie gleicher rechtlicher Schutz.           	Das Recht auf Information, Erziehung und
                                                     Gesundheitsversorgung
Sexualität ist eine naturgegebene und grund-      	Das Recht zu entscheiden, ob, wie, mit
legende Dimension jedes Menschen und muss            wem, wann und wie viele Kinder geboren
als positiven Aspekt des Lebens anerkannt            werden sollen
werden. Sie muss frei von Gewalt, Zwang und

13           Leitfaden für eine umfassende Strategie zur Förderung der sexuellen Gesundheit auf kantonaler Ebene
Für die Bereiche, in denen die Grundrechte       halten werden, muss deren Umsetzung durch
zu Sexualität nicht oder erst teilweise einge-   Advocacy vorangetrieben werden.

B.	QUALITATIV HOCHSTEHENDE ANGEBOTE
    UND LEISTUNGEN
Angebote und Leistungen im Bereich sexuelle      die Weiterentwicklung und die Aufrechterhal-
Gesundheit müssen dauerhaft gewährleistet        tung von Angeboten und Aktionen ermögli-
sein und über eine ausreichende personelle       chen, die den genannten Kriterien und Quali-
und finanzielle Ausstattung verfügen. Die vor-   tätsnormen entsprechen.
handenen Ressourcen müssen die Schaffung,

C.	VIELFÄLTIGE UND ALLEN ZUGÄNGLICHE
    ANGEBOTE
Eine qualitativ hochstehende Strategie im Be-    Selbstbestimmung muss eine solche Strate-
reich sexuelle Gesundheit muss Förderung,        gie differenzierte Leistungen vorsehen. Diese
Erhalt und Wiederherstellung der sexuellen       müssen unterschiedlichen Bevölkerungsgrup-
Gesundheit der Bevölkerung ermöglichen,          pen in geeigneter Weise zugänglich gemacht
indem die Selbststimmung der Menschen in         werden, insbesondere verletzlichen Men-
Fragen der Sexualität und der sexuellen Ge-      schen und Menschen mit besonderen Bedürf-
sundheit unterstützt wird. Zur Stärkung der      nissen.

Information
Information bezeichnet in diesem Zusam-          aufgezeigt werden, dass sexuelle Gesund-
menhang alles, was mit Kommunikation rund        heit ein Querschnittsthema ist, das alle Men-
um Sexualität und sexuelle Gesundheit zu tun     schen lebenslang begleitet. Die verfügbaren
hat. Informationen müssen eine positive Sicht-   Ressourcen im Bereich sexuelle Gesundheit
weise der Sexualität vermitteln und dürfen       müssen der Öffentlichkeit bekannt gemacht
nicht nur Risiken thematisieren. Auch muss       werden.

Bildung
Formelle wie informelle Bildung ist ein Pro-     reotype Vorstellungen, Stigmatisierungen und
zess zur Erleichterung des Lernens, um den       Diskriminierung aufgrund von Geschlecht,
Lernenden rationelle und informierte Ent-        geschlechtlicher Identität, sexueller Orien-
scheidungen zu ermöglichen. Der Zusam-           tierung, Gesundheitszustand, Alter, Sexual-
menhang zwischen dem Bildungsniveau und          praktiken oder sozioökonomischer Stellung
den Auswirkungen auf die Gesundheit ist er-      eingedämmt werden. Gleichzeitig müssen die
wiesen und gilt ebenfalls für den Bereich der    Selbstbestimmung und soziale Verantwortung
sexuellen Gesundheit. Um informierte und         der Menschen im Rahmen dieser Bildungs-
verantwortungsvolle Entscheidungen bezüg-        anstrengungen weiterentwickelt und gestärkt
lich sexueller Gesundheit treffen zu können,     werden.
müssen die Menschen über ausreichende
Kenntnisse und psychosoziale Fähigkeiten         Für Kinder und Jugendliche muss Bildung
verfügen. Hierfür braucht die Bevölkerung in     bezüglich Gesundheit und sexueller Rechte
allen Lebensphasen eine gute Bildung bezüg-      in der obligatorischen Schule gewährleistet
lich Gesundheit und sexueller Rechte. Diese      sein. Dies in Form von Sexualaufklärung, die
Bildung muss die Sexualität in positiver Weise   ergänzend zur Erziehung durch die Eltern
und ganzheitlich angehen. Dabei müssen ste-      und idealerweise von Fachpersonen in Zu-

14           Leitfaden für eine umfassende Strategie zur Förderung der sexuellen Gesundheit auf kantonaler Ebene
sammenarbeit mit der Schule erfolgt. Die         in der Zeit der nachobligatorischen Bildung
Sexualaufklärung bildet den Grundstock, auf      oder in der Lehre, die vermehrt Informatio-
dem später spezifische Präventionsangebote       nen und Ressourcen brauchen, wenn sie ein
aufbauen können (zu ungewollter Schwan-          aktives Sexualleben beginnen. Entsprechende
gerschaft, Gewalt, HIV, sexuell übertragbaren    Angebote können in folgender Form stattfin-
Infektionen (STI), Infektionen der Fortpflan-    den:
zungsorgane (RTI), Homophobie, Transpho-
bie, Diskriminierung usw.). Solche Aktionen       S pezifische Interventionen in Institutio-
stärken das Wissen und die Fähigkeiten, die in      nen der nachobligatorischen Bildung
erlebten Situationen oder bei Risikoverhalten     Individuelle Beratungen und/oder Arbeit
unmittelbar wichtig sind.                           in Gruppen im Rahmen von Beratungs-
                                                    stellen für sexuelle Gesundheit und Fami-
Angebote zur Bildung bezüglich sexueller            lienplanung
Gesundheit sollten auch für Erwachsene ver-      	Informationen im Kontext der Erwachse-
fügbar sein, vor allem für junge Erwachsene         nenbildung

Psychosoziale Beratung
Diese Form ist in Beratungsstellen für sexuel-   keiten (Empowerment). Dadurch entsteht ein
le Gesundheit die Regel. Dabei geht es um        Vertrauensverhältnis bei gleichzeitiger Wah-
einen Problemlösungsprozess zur Verände-         rung der Neutralität, sodass jede Person in
rung von Vorstellungen und Verhaltensweisen      ihrem Entscheidungsprozess über sensible
und zur Stärkung der Fähigkeit, informierte      Fragen begleitet werden kann: Umgang mit
und eigenständige Entscheidungen zu treffen.     Fruchtbarkeit, Kinderwunsch, medizinisch un-
Es wird mit motivierender Gesprächsführung       terstützte Fortpflanzung, Pränataldiagnostik,
und personenzentriert gearbeitet.                ambivalente Gefühle betreffend eine Schwan-
                                                 gerschaft, Testung von HIV, anderen sexuell
Wichtig in diesen Zusammenhang sind aktives      übertragbaren Infektionen (STI) sowie Infek-
Zuhören, Empathie, eine nicht verurteilende      tionen der Fortpflanzungsorgane (RTI), Part-
Haltung, Vertraulichkeit sowie die Stärkung      nerinformation, sexuelle Orientierung, ge-
der Person in ihrem Wissen und ihren Fähig-      schlechtliche Identität oder Sexualpraktiken.

Spezifische Prävention
Für verschiedene Gruppen und Kontexte            gewanderte Menschen aus Ländern mit ho-
braucht es spezifische Präventionsaktionen,      her HIV-Prävalenz usw.). Testprogramme für
um entsprechenden Problemlagen gerecht zu        HIV, andere STI und RTI sowie Programme
werden. Zu den Präventionsthemen gehören         zur Prävention von sexuellen Störungen und
HIV, andere STI und RTI, ungewollte Schwan-      Unfruchtbarkeit sind integrierender Bestand-
gerschaft, sexuelle Gewalt bei verletzlichen     teil der Präventionsmassnahmen.
oder besonders exponierten Bevölkerungs-
gruppen oder aber in besonderen Settings         Solche besonderen Programme sollten in
(Männer, die Sexualkontakte mit Männern          erster Linie die Beteiligung der Zielgruppen
haben, inhaftierte Personen, Sexgewerbe, zu-     anvisieren.

Versorgung, Behandlung und Pflege
Im Bereich sexuelle Gesundheit müssen Ver-       übertragbare Infektionen (STI) sowie Infektio-
sorgung, Behandlung und Pflege allen Men-        nen der Fortpflanzungsorgane (RTI), sexuelle
schen gleichermassen zugänglich sein und die     Gewalt und psychische Gesundheit.
gängigen Qualitätskriterien einhalten. Pflege-
leistungen im Bereich sexuelle Gesundheit
betreffen vor allem folgende Themen: repro-
duktive Gesundheit, HIV und andere sexuell

15           Leitfaden für eine umfassende Strategie zur Förderung der sexuellen Gesundheit auf kantonaler Ebene
D.      INTEGRIERTER ANSATZ
Zahlreiche Studien zeigten in den letzten Jah-     Aus sozioökonomischer Sicht ermöglicht ein
ren, wie wichtig die Synergie zwischen Pro-        integrierter Ansatz eine höhere Wirksamkeit
grammen zu reproduktiver Gesundheit und            und Effizienz der bestehenden Programme
zu HIV-Prävention ist. Prävention und Behand-      durch bessere Nutzung der personellen und
lung von sexuell übertragbaren Infektionen         finanziellen Ressourcen sowie eine Verminde-
(STI) einschliesslich HIV wie auch von Infek-      rung der Konkurrenz.
tionen der Fortpflanzungsorgane (RTI) sollten
gemäss den Empfehlungen dieser Studien in          Eine integrierte Vorgehensweise trägt zudem
die Angebote zu sexueller und reproduktiver        zur gegenseitigen Stärkung und Ergänzung
Gesundheit eingebunden werden.                     der rechtlichen und politischen Rahmenbe-
                                                   dingungen bei.
Die Entwicklung koordinierter Strategien ist in    Indem die Fragmentierung der Angebote
mehrfacher Hinsicht von Vorteil, sowohl auf der    vermieden wird, liefert der integrierte An-
Ebene der öffentlichen Gesundheit als auch auf     satz auch einen Beitrag zur Eindämmung der
sozioökonomischer und individueller Ebene.         Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund
                                                   von HIV oder der sexuellen Orientierung. Er
Ein integrierter Ansatz bringt Verbesserungen      fördert das Verständnis und den Schutz der
beim Zugang zu Angeboten im Bereich sexuelle       Rechte beispielsweise dadurch, dass Men-
und reproduktive Gesundheit sowie HIV (glei-       schen ihre Geschichte nicht immer wieder
ches Eintrittstor für alle Angelegenheiten) und    erzählen müssen.
steigert die Versorgungsqualität (umfassende
Sichtweise). Ein solcher Ansatz stärkt auch die    Bei den Bestrebungen zur Entwicklung inte-
Abdeckung von unterversorgten oder verletz-        grierter Angebote im Bereich sexuelle Ge-
lichen Bevölkerungsgruppen sowie von Men-          sundheit muss auch die Frage der sexuellen
schen, die mit HIV leben. Auch die Botschaft des   Gewalt und der psychischen Gesundheit be-
doppelten Schutzes gegen HIV und ungewollte        züglich Sexualität mitgedacht werden.
Schwangerschaft wird dadurch gestärkt.

E.      QUALIFIZIERTE FACHPERSONEN
Fachleute für sexuelle Gesundheit
Die Ausbildung der Fachleute für Erziehung,        Intervision und Supervision zugreifen kön-
Beratung, Prävention und Versorgung in se-         nen, damit Fachkenntnisse aktuell bleiben und
xueller Gesundheit ist entscheidend für die        eigene Vorstellungen und Vorgehensweisen
Qualität der Leistungen. Die Ansätze der           einer kontinuierlichen Reflexion unterzogen
Arbeit im Bereich sexuelle Gesundheit sind         werden können.
anspruchsvoll. Sie müssen angemessen auf die
stetig schnellere gesellschaftliche Entwicklung    Fachleute mit Multiplikator_innen-Funk-
reagieren und der Ausdifferenzierung der           tion aus verwandten Bereichen
Probleme gerecht werden, unter Berücksich-         Etliche Fachleute ohne Spezialisierung in se-
tigung der sensiblen Thematik.                     xueller Gesundheit können in die Lage kom-
                                                   men, eine wichtige Vermittlungsfunktion für
Fachleute für sexuelle Gesundheit brauchen         Fragen zur sexuellen Gesundheit zu spielen.
solide Kenntnisse und vielfältige Kompeten-        Es sind dies zum Beispiel Fachleute im Ge-
zen aus Feldern wie Medizin, Biologie, Ethik,      sundheitswesen (Hausärztinnen und Hausärz-
Recht, Psychologie, Pädagogik, Soziologie,         te, Apothekerinnen und Apotheker, Hebam-
Gesundheitsförderung und Prävention. Um            men, Pflegefachleute, Sexualtherapeutinnen
die Anliegen der Menschen bestmöglich auf-         und Sexualtherapeuten, Angestellte der
nehmen zu können, müssen Fachleute auf             schulärztlichen Dienste, Fachleute für Ge-
substanzielle Grund- und Weiterbildungen,          sundheitsförderung oder Prävention usw.), im

16           Leitfaden für eine umfassende Strategie zur Förderung der sexuellen Gesundheit auf kantonaler Ebene
Sozialbereich (Sozialpädagoginnen und Sozial-      sensibilisiert werden. Auch ihre Rolle bei der
pädagogen, Sozialarbeiterinnen und Sozialar-       Erkennung von Risikosituation, etwa bezüglich
beiter, Fachleute in soziokultureller Animation,   Gewalt oder Krisen, muss thematisiert wer-
Peers, Gassenarbeiterinnen und Gassenarbei-        den. Sie sollten klare Informationen über ver-
ter, Fachleute für Frühkindliche Bildung usw.)     fügbare Ressourcen erhalten, um ihre Klientel
oder im Bildungswesen (Lehrpersonen, Me-           bei Bedarf an die richtigen Stellen verweisen
diatorinnen und Mediatoren usw.).                  zu können.

Alle diese Personen müssen in der Grundaus-        Es müssen daher Weiterbildungsangebote ge-
bildung betreffend ihre Rolle als Multiplikato-    schaffen werden, die an die jeweilige Praxis
rinnen und Multiplikatoren für Botschaften         dieser Fachleute anknüpfen.
der Gesundheitsförderung und Prävention

F.      FORSCHUNG UND ENTWICKLUNG
Die Forschung bezüglich sexueller Gesund-          und miteinander kombiniert werden. Solche
heit muss gestärkt werden, um epidemiolo-          Daten über die verschiedenen Handlungsfel-
gische Fragen zu klären, aber auch um die se-      der der sexuellen Gesundheit und über se-
xuellen Verhaltensweisen der Bevölkerung zu        xuelle Verhaltensweisen der Bevölkerung sind
eruieren. Die verfügbaren Datensätze betref-       nötig für ein besseres Verständnis der Risiko-
fen in der Regel die reproduktive Gesundheit       und Schutzfaktoren sowie der Bedürfnisse
und HIV. Sie sind jedoch oft lückenhaft und        der Bevölkerung.
werden wenig genutzt. Es müssen weitere
Daten zu sexueller Gewalt, psychischer Ge-         Ebenso nötig ist ein System, dass Monitoring
sundheit bezüglich Sexualität, Korrelationen       und Evaluation der bestehende Dispositive
zwischen Sexualität und Sucht usw. erhoben         und Programme ermöglicht.

G.      KOORDINIERTE STRATEGIE
Fragen der sexuellen Gesundheit betreffen          Die Zusammenarbeit zwischen den Berei-
verschiedenste Bereiche, die oft getrennt be-      chen HIV und reproduktive Gesundheit ist
handelt wurden, je nach Bedarf und Aktualität      mittlerweile auf gutem Wege. Noch ausste-
der aufkommenden Themen. Die wichtigsten,          hend ist eine solche Reflexion für den Bereich
klar umrissenen Bereiche sind die reproduk-        der sexuellen Gewalt, der oft der Sozialpolitik
tive Gesundheit und die perinatale Phase,          zugerechnet wird, sowie für das Feld der psy-
HIV und andere STI sowie RTI, Gewalt und           chischen Gesundheit.
psychische Gesundheit. Bislang wurde die se-
xuelle Gesundheit in der Politik der Behörden      Viele Studien belegen, wie wichtig die Schaf-
kaum als eine Einheit gesehen. Vielmehr wur-       fung und Stärkung von Synergien unter ver-
den für alle Teilbereiche spezifische Angebo-      schiedenen Programmen ist. Dies aus Grün-
te, Leistungen und Finanzierungen aufgebaut.       den der öffentlichen Gesundheit, aber auch
Dadurch, dass STI neu in die HIV-Prävention        der Effizienz, um allfällige Lücken erkennen
einfliessen, entstand jedoch eine umfassende       und schliessen zu können. Es braucht drin-
Sicht, die den Blick freimacht auf die Frag-       gend ein System zur Koordination unter den
mentierung und die Vielzahl der involvierten       verschiedenen Akteurinnen und Akteuren,
Partnerorganisationen sowie Akteurinnen            und auch eine Stärkung der dienststellen-
und Akteure im psychosozialen und medizi-          übergreifenden, institutionsübergreifenden
nischen Bereich. Die Bedeutung der Zusam-          und interregionalen Zusammenarbeit.
menarbeit und Annäherung der verschiede-
nen Netzwerke wurde erkannt.                       Die Akteurinnen und Akteure, die eine sol-
                                                   che Zusammenarbeit tragen könnten, müssen

17           Leitfaden für eine umfassende Strategie zur Förderung der sexuellen Gesundheit auf kantonaler Ebene
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