LESEN LERNEN Broschüre zur Ausstellung im Berner Generationenhaus 14. August - September 2019 - PHBern

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Broschüre zur Ausstellung im Berner Generationenhaus
14. August - 20. September 2019
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INHALT
Vorwort								1

Lesen lernen – wie geht das?					                  3
Was braucht es zum Lesenlernen?					               4

Lesen lehren – aber wie?						11
Wie lehrt man lesen?							12

Lesen lernen früher   						15

Lesen lehren heute    						20
        Anton und Zora 							20
        ABC-Lernlandschaft						26
        Leseschlau							32

Lesen lehren morgen   						37
        SPRACHWELT    						37

Lesen fördern – wer hilft?						42
GraphoLearn - Lesen fördern bei Kindern					       43
Verein LundS - Lesen fördern bei Erwachsenen				   45
Lesen fördern durch attraktive Erstlesetexte				   48

Schluss								51
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VORWORT

     Haben Sie schon einmal vor japanischen           Lese- und Schreibkenntnisse nicht herum.
     Schriftzeichen gestanden und versucht, ih-       Im Berufsalltag hat sich das E-Mail zum
     nen wichtige Informationen zu entlocken?         Hauptkommunikationsmittel       gemausert.
     Oder wollten Sie bei einem Finnlandbesuch        Informationen sind nur einen Klick auf Goo-
     die Ihnen eigentlich bekannten, aber doch        gle entfernt. Statt über Radio oder Fernse-
     eher ungewöhnlich zusammengefügten               her informieren uns Push-Nachrichten auf
     Buchstabenfolgen entschlüsseln? Wenn             dem Smartphone in Echtzeit über das aktu-
     Sie weder Japanisch noch Finnisch beherr-        elle Geschehen in der Welt.
     schen, ist der Erfolg in beiden Fällen ver-
     mutlich bescheiden ausgefallen.                  Diese ständige Begegnung mit der ge-
                                                      schriebenen Sprache weckt beim Kind im
     Ähnlich herausfordernd ist das Lesen für         besten Fall die Neugier und Motivation,
     Leseanfänger/innen. Nur: Von ihnen wird          selbst Geschriebenes lesen und verstehen
     erwartet, dass sie motiviert weiterüben. Sie     zu wollen. Dafür muss es bereits über ver-
     müssen die Buchstaben und ihre Lautwer-          schiedene Arten von Sprachwissen verfü-
     te kennenlernen, sie zu längeren Einheiten       gen. Welches Sprachwissen genau, damit
     verbinden und dann die Bedeutung der so          beschäftigt sich die Leseforschung. Sie un-
     erlesenen Wörter verstehen. Und schnell          tersucht die Fragen, wie Lesenlernen funk-
     sind es nicht nur einzelne Wörter, sondern       tioniert und welche Voraussetzungen Men-
     Sätze und schliesslich immer längere und         schen brauchen, um den alphabetischen
     kompliziertere Texte, die gelesen und ver-       Code zu knacken.
     standen werden sollen.
                                                      Ein solches Projekt zur Leseforschung bildet
     Lesen gilt in unserer Gesellschaft als Schlüs-   den Ausgangspunkt der Ausstellung Lesen
     sel für den Schulerfolg und ist zentral für      lernen. Das Forschungsprojekt wird vom
     ein selbstbestimmtes Alltags- und Berufs-        Schweizerischen Nationalfonds gefördert
     leben als Erwachsene. Auch wer am digi-          und an der Pädagogischen Hochschule Bern
     talen Leben teilnehmen will, kommt um            unter dem Titel Der Erwerb von Wortschatz
01
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und Lesen (kurz: EnWoLe) durchgeführt          Lesen lernen – wie geht das?
(https://www.phbern.ch/die-entwick-            Lesen lehren – aber wie?
lung-von-wortschatz-und-lesen-enwole/          Lesen lehren – wer hilft?
projekt.html).
                                               Zur Klärung dieser drei Fragen sollen die
Die Ausstellung Lesen lernen im Berner Ge-     Ausstellung Lesen lernen und die dazuge-
nerationenhaus vom 14.08. bis 20.09.2019       hörigen «Schulstunden», in denen die Besu-
präsentiert verschiedene Ergebnisse dieses     chenden verschiedene Lehrmethoden erle-
Projektes und bringt sie mit den Lehrmit-      ben können, beitragen.
teln in Verbindung, die im Schulzimmer
zum Einsatz kommen. Die Lehrmittel und         Britta Juska-Bacher
ihre unterschiedlichen Zugänge zur Schrift-    Martina Gsteiger
sprache mögen bei Lehrpersonen wie Eltern
und Grosseltern gelegentlich die Frage auf-    Mit Unterstützung von Pascale Schaller
werfen, wie Lesen gestern, heute und mor-      und Beiträgen von Simone Preisler, Laura
gen eigentlich gelehrt wurde und wird. Trotz   Stoller, Sophie Obrist, Nadine Trachsel &
aller Bemühungen im Schulzimmer gelingt        Walter Hartmann, Christine Tresch, Martina
das Lesenlernen nicht immer problemlos.        Röthlisberger und Elisabeth Zellweger
Die Frage, wer Unterstützung anbietet und
wie diese aussieht, beantworten das Pro-
jekt GraphoLearn der Universität Zürich, der
Verein Lesen und Schreiben für Erwachsene
(LundS) sowie das Schweizerische Institut
für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM), die
den Ausstellungsrundgang abschliessen.

                                                                                            02
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Lesen lernen –
     wie geht das?

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WAS BRAUCHT ES
ZUM LESENLERNEN?
Am Schulbeginn kann inzwischen rund ein          zwischen den geschriebenen Buchstaben,
Drittel der Kinder bereits erste Wörter und      den gesprochenen Lauten und der Bedeu-
Sätze lesen. Dennoch ist es auch heute           tung der gelesenen Wörter entdecken. Wer
noch eine der zentralen Aufgaben der Volks-      einem beginnenden Leser zuhört, erkennt
schule, alle Kinder das Lesen zu lehren. Zum     schnell, mit welchen Mühen das Lesen
Lesenkönnen zählen nicht nur das vorerst         verbunden ist. Die Kinder lautieren zuerst
mühsame Entziffern einzelner Buchstaben          sehr langsam. Ein Wort wie T-R-O-M-P-E-T-E
und das Kombinieren dieser Buchstaben zu         zu entschlüsseln, ist mühevoll. Der Erwerb
Wörtern, sondern auch das flüssige Lesen         dieser Grundlagen der Lesetechnik ist fun-
und das Textverstehen. Die Schule vermag         damental für die folgenden Erwerbsstufen:
es nicht, alle Kinder nach der obligatorischen   Erst wenn der Lesende Wortbilder auto-
Schulzeit mit gut ausgebauten Lesekompe-         matisiert, sie also mühelos auf einen Blick
tenzen in das Ausbildungs- und Berufsle-         erkennt statt sie Stück für Stück erlesen zu
ben zu entlassen: Internationale Vergleichs-     müssen, und erst wenn er flüssig liest, hat
studien wie die PISA-Studien zeigen, dass in     sein Gehirn genügend freie Kapazitäten,
der Schweiz 20 Prozent der 15-Jährigen als       um sich auf den Inhalt des Gelesenen zu
leseschwach eingestuft werden. Das heisst        konzentrieren.
konkret, dass die Lesekompetenz dieser Ju-
gendlichen für eine hürdenlose Teilhabe an       Wegen der wichtigen Bedeutung des Le-
der Gesellschaft nicht ausreicht.                sens für die Schullaufbahn und das spätere
                                                 Leben ist diese Kompetenz gut erforscht.
Lesenlernen scheint also herausfordernd zu       Allerdings weiss die Wissenschaft zum Teil
sein. Was braucht es dafür genau? Zu Be-         noch ungenau, wie das Lesen mit anderen
ginn geht es zunächst darum, dass die Kin-       Kompetenzen zusammenhängt, zum Bei-
der den sogenannten alphabetischen Code          spiel mit dem Wortschatz der Kinder. Das
knacken, das heisst den Zusammenhang             Forschungsprojekt Die Entwicklung von
                                                                                                04
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Wortschatz und Lesen. Eine Untersuchung         schreiben zu wollen. Zudem machen sie das
     auf der Unterstufe (EnWoLe, 2017-2021) un-      Kind auf die Bedeutung von Schriftsprache
     tersucht diesen Zusammenhang. Es ist den        und auf die Unterschiede zur gesprochenen
     grundlegenden Lesekompetenzen gewid-            Sprache aufmerksam.
     met, die am Schulanfang erworben werden.
     Die Forschenden untersuchen mit Hilfe von       2. Lesen braucht allgemeine Sprachkompe-
     350 Kindern aus 40 Schulklassen, welche         tenzen

     Faktoren das beginnende Lesen beeinflus-        Das Kind beherrscht mit vier bis fünf Jah-
     sen und wie diese Faktoren zusammen-            ren mündlich die Grundlagen der Mutter-
     hängen. Die Ergebnisse sollen helfen, den       sprache: Es kennt die relevanten Laute und
     Einstieg in das Lesen künftig noch besser zu    kann sie aussprechen, es verfügt über einen
     unterstützen.                                   Wortschatz, mit dem es sich über seinen
                                                     Alltag austauschen kann, und es kann weit-
     Drei zentrale Faktoren beeinflussen das         gehend korrekte Sätze bilden. Diese Fähig-
     frühe Lesen
                                                     keiten in der mündlichen Sprache bilden
     1. Schrifterfahrungen im Vorschulalter ist      den Grundstein für das Erlernen der Schrift.
     wichtig

     Erstklässler beginnen ihre Schullaufbahn        3. Lesespezifische Vorläuferfähigkeiten

     mit grossen individuellen Unterschieden         Neben den mündlichen Kompetenzen bil-
     im Lesen. Gründe dafür liegen in den un-        den verschiedene schriftspezifische Vor-
     terschiedlichen Bedingungen und Ent-            läuferfähigkeiten die Voraussetzung für
     wicklungen in der frühen Kindheit. Einen        das Lesenlernen. Dazu zählen die Kenntnis
     wichtigen Einfluss hat die Begegnung mit        von Buchstaben und die phonologische Be-
     Schrift: Sieht das Kind, wie Geschwister, an-   wusstheit. Die phonologische Bewusstheit
     dere Kinder, Eltern oder andere Erwachsene      beinhaltet, dass Kinder Wörter in einzelne
     lesen? Hat es zuhause Zugang zur Schrift,       Laute zerlegen und diese auch wieder zu-
     gibt es Bücher oder Zeitschriften im Haus-      sammensetzen können. Beim Lesen müs-
     halt oder schreiben die Eltern Einkaufszet-     sen sie die einzelnen Laute und Buchstaben
     tel? Sprechen Eltern und Geschwister über       zu einem Wort verbinden, z.B. R-o-s-e. Dann
     Buchstaben, über das Lesen und über das         erst haben sie Zugriff auf die im Kopf, im so-
     Schreiben? Lesen sie dem Kind vor? All diese    genannten mentalen Lexikon, gespeicherte
     Erfahrungen können Interesse und Moti-          Wortbedeutung.
05   vation der Kinder wecken, selbst lesen und      Basierend auf diesen drei Fähigkeiten, die
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sich die Kinder in der Regel vor der Schule     net. Dann sucht das Kind nach der Wortbe-
oder im 1. Schuljahr aneignen, lernen sie le-   deutung. Dieser zweite Prozess bezeichnen
sen, und zwar in drei Stufen:                   die Wissenschaftler als Dekodieren.
                                                Beim fortgeschrittenen Lesen liest das Kind
Auf der Vorstufe erkennen die Kinder erste      zunehmend längere Einheiten wie Sätze
Symbole und Wortbilder. Erste Wortbilder        und Texte. Dafür braucht es neben der Be-
sind etwa der eigene Name oder Schriftzü-       deutung der Wörter auch grammatisches
ge wie MIGROS. Auf dieser Stufe liest das       Wissen und muss verschiedene Informatio-
Kind also noch keine Buchstaben, es er-         nen miteinander verbinden können.
kennt aber Wörter als Bilder wieder.

Das beginnende Lesen beinhaltet die An-
eignung der Lesetechnik. Diese besteht aus
zwei Teilschritten: Zunächst benennt und
verbindet das Kind einzelne Buchstaben.
Dieser Schritt wird als Rekodieren bezeich-

Die folgende Abbildung zeigt diese drei Stufen auf:

Abb. 1: Entwicklungsstufen des Lesens

                                                                                              06
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Neue Forschungsergebnisse

     Das Forschungsprojekt Die Entwicklung von
     Wortschatz und Lesen (2017-2021) und sein
     Vorgängerprojekt Wortschatz und Wortle-
     sen (2013-2016) haben die Entwicklung des
     Lesens in der Unterstufe ins Auge gefasst
     und gehen von den Einflussfaktoren Schrif-
     terfahrung, allgemeine Sprachkompeten-
     zen und Vorläuferfertigkeiten aus, die in Ab-
     bildung 2 zusammengefasst sind. Wie aber
                                                     Abb. 2: Im Forschungsprojekt EnWoLe und
     misst man diese Faktoren bei den Kindern?
                                                     seinem Vorgängerprojekt untersuchte

                                                     Einflussfaktoren auf das Lesen
     •   Die Schrifterfahrungen wurden unter
         anderem daran gemessen, ob das Kind
                                                     Die Ergebnisse der Untersuchung von 350
         Gross- und Kleinbuchstaben und Satz-
                                                     Erstklässler/innen zeigen, dass den auffäl-
         zeichen wahrnimmt und ihre Bedeu-
                                                     ligsten Einfluss am Anfang des Lesens die
         tung kennt.
                                                     lesespezifischen Vorläuferfähigkeiten ha-
     •   Allgemeine Sprachkompetenzen bein-
                                                     ben. Intuitiv am besten nachvollziehbar ist
         halten unter anderem, wie viele Wör-
                                                     die Bedeutung der Buchstabenkenntnis:
         ter das Kind kennt und wie gut es sie
                                                     wer die Buchstaben nicht kennt, kann nicht
         kennt.
                                                     lesen. Wie in zahlreichen anderen Spra-
     •   Als Vorläuferfähigkeiten untersuchten
                                                     chen zeigt sich auch für das Deutsche, wie
         die Forscherinnen die Buchstaben-
                                                     wichtig für das Lesen die phonologische Be-
         kenntnis der Kinder und die phonologi-
                                                     wusstheit ist, also die Fähigkeit, den Inhalt
         sche Bewusstheit, indem sie testeten,
                                                     der Sprache beiseitelassen und sich ganz
         ob das Kind die ersten beiden Laute
                                                     auf die Form konzentrieren zu können. Ob
         von M-o-n-a-t vertauschen kann. Auch
                                                     also die Kinder den ersten Laut eines Wortes
         die Zugriffsgeschwindigkeit auf Wör-
                                                     weglassen können (Hose > Ose) oder gar die
         ter haben sie untersucht, und zwar an-
                                                     ersten zwei Laute tauschen können (Tafel >
         hand eines Tests, der zeigt, wie schnell
                                                     Atfel) hat am Anfang des Lesens einen gros-
         ein Kind vorgegebene Farben benen-
                                                     sen Einfluss darauf, wie gut die Kinder lesen
         nen kann.
                                                     können. Und diejenigen Kinder schliesslich,
07
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die einen schnellen Zugriff auf die Wortbe-      Ein wichtiges Ergebnis der Studie Wort-
deutung haben, also nach dem Erlesen von         schatz und Wortlesen war es auch, dass das
R – o – s – e diesem Wort schnell eine Bedeu-    Wissen über Schrift, etwa die Unterschei-
tung zuordnen können, haben wiederum ei-         dung zwischen Gross- und Kleinbuchsta-
nen Vorteil beim Lesen.                          ben, einen fast genauso engen Zusammen-
                                                 hang mit dem Lesen hat wie beispielsweise
Das Forschungsprojekt zeigt auch, dass           die phonologische Bewusstheit. Das spricht
Wortschatzkenntnisse      am     Anfang    der   dafür, dass sich Schrifterfahrung günstig
Schulzeit keinen direkten Einfluss auf das       auf das Lesen auswirkt.
Lesen haben. Ob Kinder einen grossen Wort-
schatz haben oder die Wörter sehr gut be-        Im weiteren Verlauf des Projektes Die Ent-
schreiben können sowie Gegensätze (hoch          wicklung von Wortschatz und Lesen, das
– tief) und Oberbegriffe (Früchte zu Apfel,      2021 abgeschlossen sein wird, wird sich
Birne, Aprikose und Zwetschge) benennen          zeigen, ab wann auch ein direkter Einfluss
können, hat keinen direkten Einfluss auf das     von Wortschatz auf das Lesen nachweisbar
Lesen. Interessanterweise zeigen die For-        ist. Da Kinder Wörter mit fortschreitendem
schungsresultate aber einen indirekten Ein-      Alter zu einem immer grösser werdenden
fluss: Ein umfangreicher Wortschatz wirkt        Anteil über das Lesen erwerben, entwickelt
sich positiv auf die phonologische Bewusst-      sich im Laufe der Primarstufe auch die um-
heit aus, die wiederum das Lesen positiv be-     gekehrte Wirkung: das Lesen fördert den
einflusst. Eine Förderung des Wortschatzes       Wortschatz. Das Ziel des aktuellen Projektes
lohnt sich also auch bereits im Hinblick auf     ist es herauszufinden, ab welchem Schul-
das frühe Lesen.                                 jahr oder ab welchem Leseniveau dies der
                                                 Fall ist.

                                                 Um diesem Prozess auf die Spur zu kom-
                                                 men, wird im Projekt auch untersucht, was
                                                 Kinder genau tun, wenn sie beim Lesen
                                                 unbekannten Wörtern begegnen. Wie er-
                                                 schliessen sie deren Bedeutung? Damit die
Abb. 3: Wortschatz fördert am Schulanfang das    Forscherinnen diese Frage klären können,

Lesen indirekt über die phonologische Bewusst-   legen sie 30 Schüler/innen in der dritten

heit                                             Klasse kurze Lesetexte vor, die unbekannte
                                                                                                08
Wörter enthalten. In einem anschliessen-          Weitere Informationen zum Forschungs-
     den Gespräch lassen sie Kinder Wortbe-            projekt:
     deutungen beschreiben und versuchen
     über diese Beschreibungen herauszufin-            https://www.phbern.ch/die-entwick-
     den, welche Hinweise Kinder nutzen, um            lung-von-wortschatz-und-lesen-enwole/
     die Bedeutung dieser unbekannten Wörter           projekt.html
     zu erschliessen: Achten sie auf den Kontext
     im Satz oder im Text? Achten sie bereits auf
     einzelne Wortteile, zum Beispiel auf den
     ersten Wortteil un im Wort unschön und
     erkennen diese als Negation? Oder orientie-
     ren sie sich an lautlichen Ähnlichkeiten. Die-
     se Strategien sind insofern interessant, da
     sie den Schnittpunkt zwischen Wortschatz
     und Lesen darstellen.

     Literatur zu den besprochenen Forschungs-
     projekten

     Juska-Bacher, Britta, Beckert, Christine, Stal-
     der, Ursula & Schneider, Hansjakob (2016):
     Die Bedeutung des Wortschatzes für basale
     Lesekompetenzen. In: Didaktik Deutsch 40.
     S. 20–39.

     Juska-Bacher, Britta, Beckert, Christine, Gy-
     ger, Mathilde, Jakob, Sabrina & Schneider,
     Hansjakob (2015): Leserelevante Kompeten-
     zen an der Schwelle vom Kindergarten zur
     Schule. In: Ingrid Barkow & Rita Franceschi-
     ni (Hrsg.): Frühe Literalität – Zugänge zur
     Schriftlichkeit. Zeitschrift für Literaturwis-
     senschaft und Linguistik. LiLi 178. S. 28–42.

09
Lesen lehren –
     aber wie?

11
WIE LEHRT MAN LESEN?

Auf keiner anderen Schulstufe gibt es eine
vergleichbare Vielfalt methodischer Zugän-
ge wie bei der Vermittlung der Schriftspra-
che am Schulbeginn. Im Forschungsprojekt
Die Entwicklung von Wortschatz und Lesen,
kommen in 40 Klassen neun verschiedene         Abb. 4: Übersicht über zwei Gruppen von

Lehrmittel zum Einsatz. Diese Lehrmittel ar-   Leselehr-Methoden

beiten mit Methoden, die sich stark vonei-
nander unterscheiden und den Kindern auf       Die klassischen Methoden gehen entweder
unterschiedlichen Wegen die Schriftspra-       synthetisch oder analytisch vor: Die synthe-
che vermitteln wollen. Für Lehrpersonen ist    tische Methode geht von einzelnen Buch-
es anspruchsvoll, sich hier zurechtzufinden.   staben beziehungsweise Lauten aus und
Für Eltern und Grosseltern sind die neuen      übt ihr Zusammenziehen, das sogenannte
Methoden oft irritierend. In den Medien        Synthetisieren. Es geht also in erster Linie
schreiben Journalist/innen momentan im-        um die Lesetechnik. Das Verstehen des Sin-
mer wieder über Erstlese-Lehrmethoden          nes des Gelesenen bleibt dabei zunächst
und auch Politiker/innen streiten sich über    zweitrangig.
deren Qualität. Insbesondere die Methode
Lesen durch Schreiben des Baslers Jürgen       Die analytische Methode geht in umge-
Reichen, die in Nidwalden und im Aargau        kehrter Richtung vor, sie setzt beim Sinn des
verboten wird (ab dem 2. Schuljahr; vgl. Po-   Wortes oder des Satzes an und analysiert
diumsdiskussion im Rahmen der Ausstel-         sie in immer kleinere Einheiten. Um die Fra-
lung Lesen lernen am 14.08.19). Politisch      ge, welcher Ansatz geeigneter sei, herrsch-
sind weitere Vorstösse hängig.                 te lange Zeit ein Methodenstreit und neue
                                               Lehrmittel kamen wiederholt parallel in ver-
Prinzipiell gibt es zwei Gruppen von           schiedenen Ausführungen – nach syntheti-
Leselehr-Methoden (Überblick siehe Abb. 4).    scher und analytischer Methode – auf den
                                               Markt. Erst in den 1970er Jahren wurden die
                                                                                               12
beiden Methoden zur analytisch-synthe-           ressen mit der Schriftsprache auseinander-
     tischen zusammengeführt. Man betonte             setzt. Wichtig ist, dass das Kind nicht allein
     nun die Einheit von Sinnentnahme und Le-         gelassen wird, sondern von Seiten der Lehr-
     setechnik: Die Kinder lernten zunächst ein-      person eine entwicklungsangepasste und
     fache Wörter, die sie von Anfang an in Lau-      systematische Förderung erfolgt.
     te respektive Buchstaben analysieren und         Andererseits entwickelte Jürgen Reichen in
     wieder zu neuen Wörtern zusammensetzen           den 1980er Jahren die Methode Lesen durch
     oder synthetisieren sollten. Heute kommen        Schreiben, in der die Kinder mit Hilfe einer
     die klassischen Methoden kaum mehr zum           Anlauttabelle selbstgesteuert schreiben,
     Einsatz.                                         indem sie Sprache lautgetreu verschriften.
     Die Jahrhunderte lang verwendeten soge-          Das regelmässige freie Verschriften von ei-
     nannten Fibeln, mit denen die Kinder am          genen Gedanken, Bildern und mündlichen
     Anfang der Schulzeit bei Null begannen           Inputs soll individuelle Leselernprozesse
     und im gleichen Tempo die Schriftsprache         ermöglichen und die Freude am Lesen stär-
     erwarben, gerieten in die Kritik, weil die un-   ken. Das Lesen selbst ergibt sich über das
     terschiedlichen Entwicklungsstände               Schreiben, eine Lesetechnik wird nicht ex-
     der Kinder nicht berücksichtigt wurden. In       plizit vermittelt.
     den 1980er Jahren erwuchsen aus dieser
     Kritik zwei neue Ansätze: Einerseits über-       Wenn man die aus der Forschung bekann-
     trug Hans Brügelmann den aus den USA             ten wichtigen Einflussfaktoren (siehe Ab-
     stammenden Spracherfahrungsansatz ins            bildung 2) übernimmt, lassen sich die ver-
     Deutsche. Dieser basiert auf der Annahme,        schiedenen Methoden unterschiedlich in
     dass Kinder den Kontakt zur gesprochenen         diesem System verorten. Während die klas-
     und geschriebenen Sprache von sich aus           sische synthetische Methode in erster Linie
     suchen und dass dieser natürliche Entwick-       bei den Vorläuferfähigkeiten ansetzt und
     lungsprozess von aussen nur unterstützt zu       die Lesetechnik übt, geht die analytische
     werden braucht. Kinder lernen Lesen und          Methode von der Bedeutung der einzelnen
     Schreiben – so die Annahme – im Wesent-          Wörter aus. Die analytisch-synthetische
     lichen über eine schriftreiche Umgebung.         Methode aus den 1970er Jahren berücksich-
     Aufgabe der Lehrperson ist es, eine anre-        tigt von Vornherein beide Bereiche. Die aus
     gende Sprachumgebung zur Verfügung zu            den 1980er Jahren stammenden Methoden
     stellen, in der sich das Kind abhängig von       des Spracherfahrungsansatzes und Lesen
     seinem Entwicklungsstand und seinen Inte-        durch Schreiben legen starkes Gewicht auf
13
Schrifterfahrungen, die aber wiederum eng       Literatur zum Lesenlehren
an die Vorläuferfertigkeiten gebunden sind.
                                                Bredel, Ursula, Fuhrhop, Nanna & Noack,
                                                Christina (2017): Wie Kinder lesen und
                                                schreiben   lernen.   Tübingen:     Francke.

                                                Schründer-Lenzen, Agi (2013): Schriftspra-
                                                cherwerb. Wiesbaden: Springer VS.

Abb. 5: Ansatzpunkte der verschiedenen

Leselehr-Methoden

Aus Abbildung 5 wird ersichtlich, dass die
verschiedenen Methoden ihren Ansatz-
punkt an verschiedenen leserelevanten
Punkten wählen, letztendlich werden für
das erfolgreiche Lesen aber in allen Lehrmit-
teln alle diese Punkte vermittelt. Nur eben
in unterschiedlicher Fokussierung. Den Er-
folg der einzelnen Methode bestimmen 1.
ihre Umsetzung im jeweiligen Lehrmittel, 2.
das von der Lehrperson inszenierte Unter-
richtsgeschehen und 3. die individuelle(n)
Bedürfnisse und die Motivation des Kindes.
Den einen für alle Situationen, Kinder und
Lehrpersonen perfekten Weg gibt es nicht.

                                                                                               14
LESEN LERNEN FRÜHER

     Für uns ist es heute selbstverständlich, dass   lein. Im Zentrum stand das Lesenlernen,
     Kinder in die Schule gehen und dort Lese-       Schreiben wurde allenfalls später vermit-
     und Schreibunterricht haben. Die Idee eines     telt.
     Schulunterrichts für jedermann stammt
     aus der Reformationszeit. Vor rund 500 Jah-
     ren begannen sich die Schulen langsam zu
     dauerhaften Einrichtungen für das ganze
     Volk, den sogenannten Volksschulen, zu
     entwickeln. Hinter dieser Idee steckte der
     Wunsch der Reformatoren, dass die Bevöl-
     kerung in der Lage sein sollte, die Bibel und
     damit Gottes Wort selbst zu lesen. Aus die-
     sem Grund setzten es sich die protestanti-
     schen Gebiete zum Ziel, den Kindern grund-      Abb. 6: Auszug aus: Namenbüchlin geschri-
     legende Lesekompetenzen zu vermitteln.          ben für die angenden Schuler und einfalti-
     Die katholischen Kantone zogen bald nach.       gen, darauss man leychtlich mag lernen
                                                     läsen und schreyben. Zürych 1570-80
     Das Namenbüchlein als erstes volkssprach-       [Zentralbibliothek Zürich].
     liches Leselehrmittel

     Religiöse Erziehung und Schriftspracher-
     werb gingen lange Hand in Hand. Die dafür       Das älteste erhaltene Deutschschweizer

     verwendeten Lehrmittel beinhalteten ne-         Namenbüchlein von ca. 1570 stammt aus

     ben religiösen Texten in der Regel die Ein-     Zürich. Auch in diesem 16-seitigen Namen-

     führung der Buchstaben in alphabetischer        buch ist der erste Teil dem Lesenlernen

     Reihenfolge, Silben und einzelne Wörter –       gewidmet (auf der rechten Seite von Abbil-
     darunter häufig Namen. Aus diesem Grund         dung 6 sieht man unter den Wörtern einige

     hiessen die Lehrmittel in der Schweiz bis       Namen wie Adam und Clara), der zweite Teil

     Anfang des 19. Jahrhunderts Namenbüch-          besteht aus dem Unser Vater, den Zehn Ge-
15
boten und weiteren religiösen Texten.             wahrnehmen konnte, wie es im ersten Ber-
                                                  ner Grundschulgesetz von 1835 steht. Die
Lehrpersonen hatten selbst Mühe mit dem           Erstlese-Lehrmittel wurden nun häufig als
Lesen und Schreiben                               Lesebuch bezeichnet und waren deutlich
Gearbeitet wurde synthetisch nach der al-         umfangreicher als die Namenbüchlein. Die

phabetischen Methode, die mit den Buch-           religiösen Texte verschwanden im Geiste

stabennamen arbeitete, also mit A, Be, Ce,        der Aufklärung langsam aus den Lehrbü-

De, …. Ein Wort wie Gans musste über die          chern. An ihrer Stelle lasen die Kinder welt-

Buchstabennamen        zuerst   entschlüsselt     lich moralisierende Texte, die mit Bei-

werden: Ge – A – En – Es. Die Lehrpersonen        spielerzählungen an die Lebenswelt der

hatten zu dieser Zeit zudem teilweise selbst      Kinder anknüpften.

Mühe mit dem Lesen und Schreiben und
keinerlei didaktische Ausbildung. Daher           Vom Buchstaben zum Laut

lernte – verglichen mit den heutigen Erwar-       Seit den 1830er Jahren übernahmen Lehr-
tungen an die Volksschule – nur ein kleiner       mittel eine neue Aufgabe: Sie sollten den
Teil der Kinder tatsächlich lesen. Es ist davon   Kindern nicht mehr nur grundlegende Lese-
auszugehen, dass die Kinder die zu lesen-         kompetenzen vermitteln, sondern auch das
den religiösen Texte eher auswendig aufsa-        verstehende Lesen. Zudem sollten Kinder
gen als lesen konnten.                            nun zusammen mit dem Lesen auch das
                                                  Schreiben lernen.
Vom Namenbuch zum Lesebuch                        Diese Neuerungen veränderten auch das

Die Aufklärung läutete zwischen Ende des          methodische Vorgehen. Die Lehrpersonen

18. und Anfang des 19. Jahrhunderts auch          vermittelten nicht mehr die Buchstabenna-

beim Lesenlernen eine neue Epoche ein. Das        men Be und De, sondern neu die Lautwerte

Wachstum der Wirtschaft erforderte ein            der Buchstaben, also B und D. Mit dieser so-

besser ausgebildetes Volk. Darum wurde            genannten Lautiermethode sollten die Kin-

die Lehrerbildung weiterentwickelt und im         der die Buchstaben früh zu Lautkombinati-

19. Jahrhundert schliesslich die Schulpflicht     onen verbinden (ba, be, bi). Das vereinfachte

eingeführt.                                       den Kindern den schwierigen Übergang von

Ziel der Primarschule war es, die Möglich-        Buchstaben zu Wörtern. Zudem führten die
keiten und Stärken des Kindes zu entwi-           Lehrpersonen die Buchstaben zunehmend

ckeln und zu pflegen, damit es seine Pflich-      nicht mehr in alphabetischer Reihenfolge,

ten „als Mensch, als Christ und als Bürger“       sondern mit steigendem Schwierigkeits-          16
grad ein. Nach den Wörtern folgten Sätze      die Lesebücher daher eine Kombination aus
     und danach Texte, und zwar welche aus der     Sprach- und Sachbuch.
     Lebenswelt der Kinder, die für diese auch     Methodisch gingen die Lehrpersonen nach
     verständlich waren.                           wie vor über das synthetische Verfahren
     Ein frühes Berner Beispiel für ein solches    von den Einzellauten zu den Silben und den
     Lesebuch stammt von Johann Georg Heinz-       Wörtern. Dieses Verfahren bekam erst Ende
     mann aus dem Jahr 1797. Es umfasst immer-     des 19. Jahrhunderts Konkurrenz durch die
     hin 134 Seiten und enthält auch bereits di-   sogenannte Normalwörtermethode, einem
     daktische Kommentare für die Lehrperson:      analytischen Verfahren. Ein Beispiel für die-
                                                   ses analytische Vorgehen der Normalwör-
                                                   termethode ist die Fibel von Hans-Rudolf
                                                   Rüegg, Direktor des Staatlichen Seminars
                                                   Münchenbuchsee, der ein überkantonales
                                                   Erstes Sprachbüchlein für Schweizerische
                                                   Elementarschulen verfasste. Auf der rech-
                                                   ten Seite von Abbildung 8 ist die Einführung
                                                   von Ei und Seil zu sehen.

     Abb. 7: Auszug aus: Johann Georg Heinz-

     mann (1797): Neues ABC und Lesebuch für

     die Schweizerjugend von 5 bis 8 Jahren.
     Bern. [Universitätsbibliothek Basel]

     Der Alltag erhält Einzug in die Lesebücher

     Rund 50 Jahre später, also etwa Mitte des
     19. Jahrhunderts, veränderte sich die Welt
     der Leselehrmittel wiederum beachtlich:
                                                   Abb. 8: Auszug aus: Hans-Rudolf Rüegg
     Religion und Moral verschwanden aus den
                                                   (1881): Fibel. Erstes Sprachbüchlein für
     Lesebüchern. Stattdessen enthielten diese
                                                   schweizerische Elementarschulen [Schwei-
     zunehmend Texte über reale Gegenstände
                                                   zerische Nationalbibliothek]
     aus der direkten Lebenswelt des Kindes.

17   Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts waren
Das «Jahrhundert des Kindes»

Der Anfang des 20. Jahrhunderts war eine in-
tensive Zeit der Reformpädagogik. Man rief
das neue Jahrhundert als «Jahrhundert des
Kindes» aus, in dem die Hinwendung zum
Kind und zu seiner Lebenswelt erstmals das
Ideal der Lehrpersonen und der Schule dar-
stellte. Das Lehrmittel des Berner Pädago-
gen und Lehrmittelautors Otto von Greyerz
                                               Abb. 9: Auszug aus: Otto von Greyerz (1907):
trug den Titel Kinderbuch und verwies in
                                               Kinderbuch. Bern: A. Francke.
mehrfacher Hinsicht auf diese reformpä-
dagogische Strömung: Der Titel rückte das
                                               Die später folgenden Erstlese-Lehrmittel
Kind ins Zentrum, die Illustrationen stamm-
                                               standen noch lange in der Tradition der Re-
ten vom bekannten Berner Künstler Rudolf
                                               formpädagogen. In den lebhaften 1920er
Münger und die Mundart als Alltagsspra-
                                               Jahren erschien etwa die langlebige Berner
che des Kindes nahm eine wichtige Stel-
                                               Fibel O, mir hei ne schöne Ring! (erste Aufla-
lung im Lehrmittel ein. Die geschriebene
                                               ge 1920, letzte Auflage 1954, illustriert von
Sprache fungierte für von Greyerz lediglich
                                               Emil Cardinaux), die eng den Anregungen
als Hilfsmittel, auf das die Lehrpersonen im
                                               von Otto von Greyerz folgt.
ersten Unterricht noch verzichten durften.
Lehrpersonen und Kinder sollten sich am
                                               Methodenstreit und -integration
Anfang vielmehr rein mündlich mit dia-
lektalen und standardsprachlichen Texten       Neben Neuerscheinungen aus verschiede-
beschäftigen. Erst wenn die Kinder mit der     nen Kantonen bemühten sich der Schweize-
Standardsprache vertraut waren, sollten die    rische Lehrerinnenverein und der Schweize-
Lehrpersonen mit dem Lese- und Schreib-        rische Lehrerverein um ein überkantonales
lehrgang beginnen. Sobald die Kinder lesen     Lehrmittel und gaben ab den 1920er Jahren
konnten, durften sie die vorher mündlich       bis in die 1970er Jahre hinein die Schweizer
behandelten Verse, Rätsel und Geschichten      Fibel in mehreren Heften heraus. Diese Fi-
selbst lesen.                                  beln erschienen in unterschiedlichen Aus-
                                               gaben, da im Hinblick auf die Methode noch
                                               keine Einigkeit bestand: Ausgabe A (wie
                                               (wie die spätere Ausgabe C) arbeitete nach       18
der ganzheitlichen analytischen Methode        Literatur zur historischen Entwicklung des
     (vom Wort zum Buchstaben) und Ausgabe          Lesenlehrens in der Schweiz
     B nach der synthetischen Methode (vom
     Buchstaben zum Wort). In den folgenden         Juska-Bacher, Britta (2019): Deutschschwei-
     Jahrzehnten erschienen viele weitere Erst-     zer Fibeln im Spannungsfeld von sprach-
     lese-Lehrmittel, besonders lebhaft in den      licher Regionalität und Internationalität
     Kantonen Aargau, Bern, Thurgau und Zürich.     (1900 bis Gegenwart). Sylvia Schütze & Eva
     Die Frage, ob die Kinder Lesen synthe-         Matthes (Hrsg.): Europa und Bildungsmedi-
     tisch oder analytisch lernen sollten, wurde    en. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
     schliesslich mit einem Sowohl-als-auch
     beantwortet: Das neue analytisch-synthe-       Juska-Bacher, Britta (2018): Bernese Reading
     tische Verfahren verband die Analyse des       Primers from the 17th to the 19th century.
     ganzen Wortes in seine Einzellaute und die     In: Reading Primers International 15. S. 8–22.
     Synthese der Buchstaben zu neuen Wör-          Online zugänglich unter: https://www.phil-
     tern.                                          so.uni-augsburg.de/de/lehrstuehle/paeda-
     In den 1980er Jahren forderten Didaktiker/     gogik/igschub/downloads/RPI_15.pdf
     innen offenere Zugänge, die den Kindern
     einen individuellen Weg in die Schrift er-     Messerli, Alfred (2000): Lesen und Schreiben
     möglichten. Diese Ansätze wie Lesen durch      1700 und 1900. Tübingen: Niemeyer.
     Schreiben von Jürgen Reichen und der
     Spracherfahrungsansatz liegen in ihren
     Grundzügen bis heute verschiedenen Lehr-
     mitteln zugrunde (vgl. Anton & Zora bzw.
     ABC-Lernlandschaft, S. 20 bzw. 26 in diesem
     Heft). Nochmals andere Wege haben das
     Lehrmittel Leseschlau (S. 32) und das gerade
     entstehende Lehrmittel Sprachwelt (S. 37)
     eingeschlagen.

19
ANTON UND ZORA –
EIN LEHRMITTEL IN WEITERENTWICKLUNG DER METHODE
LESEN DURCH SCHREIBEN

Simone Preisler (BA-Studentin PHBern)

Hintergrund

Anton & Zora ist ein Lehrmittel für den
Schriftspracherwerb (1./2. Schuljahr), wel-
ches 2008 erstmals erschienen ist und
durch die Schubi Lernmedien und die Wes-          Abb. 10: Anton und Zora

termann Verlagsgruppe vertrieben wird.
Die verschiedenen Lehrmittelteile wurden          Beim Konzept Lesen durch Schreiben kön-
vom Primarschullehrer Bernd Jockweg als           nen die Kinder über ein offenes Lernkonzept
Hauptautor in Zusammenarbeit mit elf              ihren individuellen Interessen nachgehen
weiteren Lehrpersonen verfasst und von            und in ihrem individuellen Lerntempo zu-
der Grafikerin und Kunsttherapeutin Anne          nächst das Schreiben und über dieses das
Wöstheinrich illustriert.                         Lesen »automatisch» erwerben.
Das Lehrmittel basiert auf dem Konzept            Auch das aktuelle Lehrmittel Anton und
Lesen durch Schreiben des Schweizer Re-           Zora baut auf diesem offenen Lernkonzept
formpädagogen Jürgen Reichen, welches             auf, welches die Kinder in ihren basalen
1981 zum ersten Mal erschien. Ein weiteres        Sprach- und Lesekompetenzen fördert. Es
Lehrmittel, welches auf diesem Konzept ba-        ist durch eine grosse Anzahl an Werkstät-
siert ist Lara und ihre Freunde.                  ten, Lesestoff über die Kleine Sachbiblio-
Die ursprüngliche Version von Lesen durch         thek, Fördermaterialien für das Schreiben
Schreiben (1982) versteht sich als didakti-       etc. sowie das Vorläuferwerk Kasimir und
scher Neuanfang für die Schule und ent-           Flora (für das Vorschulalter) wesentlich er-
stand als Alternative zu dem bis zu diesem        weitert worden.
Zeitpunkt   vorherrschenden        Fibel-Unter-
richt.
                                                                                                 20
Didaktische Grundlagen                         Dem Konzept Lesen durch Schreiben fol-
                                                    gend geht das Lehrmittel Anton und Zora
     Das Lehrmittel Anton und Zora basiert auf
                                                    davon aus, dass es einfacher und sinnvol-
     der Erfahrung, dass Kinder bei Schuleintritt
                                                    ler ist, zuerst das Schreiben und erst dann
     bereits über viele sprachliche Fähigkeiten
                                                    das Lesen zu lernen. Erstens müssen die
     verfügen, welche sie sich – meist selbst
                                                    Kinder weniger kognitive Hürden überwin-
     durch Versuch und Irrtum und ohne didak-
                                                    den: Beim Schreiben benötigen die Kinder
     tische Unterstützung – angeeignet haben.
                                                    nur eine «Übersetzungshilfe» von Lauten
     Die Entwickler des Lehrmittels verstehen
                                                    in Buchstaben, die sie in Form der Buchsta-
     den Unterricht als Massnahme, über wel-
                                                    bentabelle erhalten. Beim Lesen müssen
     che diese Selbstständigkeit weiter geför-
                                                    sie über die Übersetzung der Buchstaben
     dert werden soll und die die Kinder in ihrem
                                                    in Laute hinausgehend die einzelnen Lau-
     Lernprozess nicht einengt.
                                                    te zusammenziehen und diesen (manch-
     Der Fokus auf die Selbstständigkeit der
                                                    mal fremd klingenden) Kombinationen
     Kinder zeigt sich u.a. in der Art und Weise,
                                                    eine Bedeutung zuweisen. Zum Lesen von
     wie die Schreib- und Lesekompetenz erwor-
                                                    Texten müssen die Kinder schliesslich die
     ben werden soll. Zentral für den Erwerb der
                                                    Bedeutung mehrerer Wörter verknüpfen.
     Kompetenzen ist, dass jedes Kind von An-
                                                    Zweitens können Kinder Schriftsprache von
     fang an Erfolge erleben kann.
                                                    Anfang an produktiv gebrauchen und ihre
     Hierbei stehen drei Prinzipien im Vorder-
                                                    eigenen Gedanken verschriften.
     grund:
                                                    Bereits am zweiten Schultag erhalten die
                                                    Kinder das zentrale Element der Konzep-
     •   das Prinzip des individualisierten Ler-
                                                    tion der Lehrmittelreihe, das auf Reichens
         nens: Kinder lernen am besten, wenn
                                                    Methode Lesen durch Schreiben aufbaut,
         ihnen möglichst viel Entfaltungsspiel-
                                                    nämlich die Buchstabentabelle (Abbildung
         raum gegeben wird
                                                    12). Nach einer kurzen Einführung lernen die
     •   das Prinzip des Stärkens der Gemein-
                                                    Kinder selbstständig und ihrem Niveau ent-
         schaft: Kinder lernen am besten von
                                                    sprechend einzelne Wörter, Sätze oder kurze
         und mit anderen Kindern
                                                    Texte lautgetreu zu schreiben. Dies gelingt
     •   das Prinzip des Verbindens von Inhal-
                                                    über den verinnerlichten Klang der Sprache
         ten: das Lernen ist nachhaltiger, wenn
                                                    im Abgleich mit den Bildern der Buchsta-
         in einem Wissensnetz verknüpft wer-
                                                    bentabelle. Als Schreibanlässe dienen zum
         den kann
                                                    einen die Vorlesegeschichten von „Anton
21
und Zora“ mit den jeweiligen Schreibbilder-      genen Lesen. Da die Kinder bei Schuleintritt
büchern als Medium der Dokumentation.            beim Lesen und Schreiben unterschied-
Zum anderen entwickeln die Kinder auch in        lich weit entwickelt sind, stellen ihnen die
der Bearbeitung der Werkstätten sowie im         Lehrpersonen von Beginn an differenziertes
täglichen Unterricht ihre Schreibkompeten-       Lesematerial zur Verfügung (z.B. vier Sach-
zen.                                             bibliotheken, die mit den jeweiligen Werk-
Den Kindern stehen – im Gegensatz zu             stätten verbunden sind).
anderen Lehrmitteln – von Anfang an alle
Buchstaben zur Verfügung. Die lautgetreu-        Strukturierung und Gestaltung

en Buchstaben (in der Buchstabentabelle          Das Lehrmittel Anton und Zora basiert auf
farbig dargestellt) nehmen jedoch eine zen-      dem Konzept Lesen durch Schreiben, geht
trale Rolle ein.                                 jedoch weit darüber hinaus. Es ist in zwei
                                                 miteinander verbundene Pfeiler unterteilt,
                                                 welche kombiniert oder auch separat ver-
                                                 wendet werden können.
                                                 Einen Pfeiler bilden die Geschichten der
                                                 beiden Protagonisten, den anderen Pfeiler
                                                 diverse sachunterrichtliche Werkstätten.
                                                 Zudem sind weitere Materialien (z.B. Sach-
                                                 bibliothek, Graphomotorisches Förderheft)
Abb. 11: Verständnis der Entwicklung von Lese-   vorhanden, welche die Lernenden beim
kompetenz durch das Schreiben (Darstellung S.    Schreib- und Leseerwerb in den ersten bei-
Preisler)                                        den Schuljahren unterstützen.
                                                 Ein Begleitbuch gibt einen Gesamtüberblick
Über die vertiefte Auseinandersetzung mit        über Theorie und Praxis sowie die Geschich-
dem Lautieren und Schreiben lernen die           ten. Jede Werkstatt beinhaltet einen separa-
Kinder, sobald sie einen gewissen Entwick-       ten Lehrerkommentar. Zum Schuljahr 2020
lungsstand erreicht haben, das Lesen auto-       wird Anton und Zora um ein Rechtschreib-
matisch. Die Lehrpersonen fordern es nicht       und Grammatik-Hefteprogramm ergänzt.
ein und verzichten auch auf Übungen zur          Das Lehrmittel ist modular aufgebaut: Es
Lesetechnik. Jedoch animieren sie die Kinder     spielt keine Rolle, welches Buch in der 1. bzw.
durch regelmässiges, ritualisiertes Vorlesen     2. Klasse behandelt wird, da die Aufträge
und das Bereitstellen von Lesestoff zum ei-      meist so formuliert sind, dass sie auf un-        22
terschiedlichen Niveaus bearbeitet werden        Stattdessen setzt das Lehrmittel das sinn-

     können. Die Lehrperson kann ausserdem            entnehmende Lesen ins Zentrum. Wenn die

     frei entscheiden, welche Werkstatt sie the-      Kinder von der Entwicklung her bereit sind,

     matisieren möchte und auch die Kinder ha-        sollen sie das Lesen von kindgerechten Tex-

     ben innerhalb der Werkstätten viele Wahl-        ten mit für sie relevanten Inhalten über eine

     freiheiten. So können die Lehrpersonen ak-       enge Verzahnung mit anderen Lernberei-

     tuelle Themen und Interessen der Kinder          chen als eine Tätigkeit empfinden, die Spass

     berücksichtigen.                                 macht und bereichernd ist.

     Wo setzt das Lehrmittel an?

     Entsprechend der Frage «Was war zuerst da:
     Ei oder Huhn?» stellt sich das Lehrmittel die
     Frage «Was ist zuerst entstanden? Und was
     müssen Kinder zuerst lernen? Das Lesen
     oder das Schreiben?»
     Oben wurde bereits angesprochen, dass die
     Kinder mit dem Lehrmittel Anton und Zora
     zunächst das lautgetreue Schreiben lernen.
                                                      Abb.12: Buchstabentabelle nach Bernd Jockweg
     Hierfür müssen sie vorübergehend die Form
                                                      (Georg Westermann Verlag)
     des Wortes fokussieren. Diese Kompetenz
     wird als phonologische Bewusstheit be-
     zeichnet. Sie zerlegen das Wort in die einzel-   Sprachlernbereiche und übergreifende As-
                                                      pekte
     nen Laute und suchen in der Buchstabenta-
     belle das Bild, das mit diesem Laut beginnt.     Die sechs Sprachlernbereiche des Lehrplans
                                                      21 für das Fach Deutsch (Hören, Lesen, Spre-
     Beim Lesen lassen sich zwei grundlegende         chen, Schreiben, Sprache(n) im Fokus, Litera-
     Techniken unterschieden: das Lesen und das       tur im Fokus) sind im Lehrmittel abgedeckt.
     Vorlesen. Das Lehrmittel legt Wert darauf,       Während sich die einzelnen Lehrmittelteile,
     dass die Kinder nicht zu früh laut vorlesen,     wie z.B. der Schreiblehrgang in der Deutsch-
     da dies auch möglich ist, ohne das Gelesene      schweizer Basisschrift, hauptsächlich auf
     zu verstehen. Das Lesen würde als anstren-       einen spezifischen Sprachlernbereich fo-
     gend und gegebenenfalls sinnlos und somit        kussieren, bieten die Werkstätten jeweils

23   nicht als lustvolle Betätigung empfunden.        eine nahezu vollständige Abdeckung aller
Kompetenzen. Lediglich die Reflexionen
                                               ständigen Arbeiten weiterhin unterstützt.
werden selten explizit durch das Lehrmittel
eingefordert.                                  Individualisierung und Differenzierung
Über das Prinzip des individualisierten Ler-   Jedes Kind erwirbt über das Konzept Lesen
nens sowie des Lernens von- und miteinan-      durch Schreiben zunächst das Schreiben,
der werden personale und soziale Kompe-        dann aber auch das Lesen eigenverantwort-
tenzen gefördert. So liegt ein starker Fokus   lich. Dadurch ermöglicht das Lehrmittel je-
auf der Selbstständigkeit der Kinder, aber     dem Kind, ausgehend von seinem individu-
auch die Kooperationsfähigkeit nimmt eine      ellen Lernstand zu arbeiten.
wichtige Rolle ein.                            Bei den Werkstätten können die Lehrper-
                                               sonen über den Einsatz von Helferkindern
Lernphasen
                                               zum einen das Lernen von und mit anderen
Bereits vor der Schule können die Kinder       Kindern, zum anderen aber auch das indi-
über Vorlesegeschichten von Kasimir und        viduelle Lernen fördern, da die Kinder über
Flora auf die Arbeit mit Anton und Zora vor-   das Erklären auch für sich selbst den Sach-
bereitet werden. Die dazugehörigen Mate-       verhalt nochmals vertieft erarbeiten. Jedes
rialien umfassen Übungen zur Sprachförde-      Kind darf, wenn es möchte, die Verantwor-
rung (auditive und visuelle Wahrnehmung        tung für eine Werkstattaufgabe überneh-
wie auch Graphomotorik), welche ebenfalls      men und dort andere Kinder unterstützen,
als Differenzierung für lernschwächere Kin-    welche Hilfe benötigen.
der in der 1./2. Klasse verwendet werden       Bei den Werkstätten behandeln die Kinder
können.                                        ein gemeinsames Thema. Die verschie-
Anton und Zora wurde ursprünglich für das      denen Schwierigkeitsgrade der Aufgaben
altersdurchmischte Lernen entwickelt, kann     ermöglichen es ihnen, jeweils an Aufga-
aber auch in Jahrgangsklassen eingesetzt       ben zu arbeiten, welche sie herausfordern.
werden. In beiden Fällen steht eine der bei-   Durch die Einteilung in Wahl- und Pflicht-
den Hauptfiguren im Zentrum und beglei-        aufgaben können die Kinder einen Teil der
tet die Klasse über das ganze Schuljahr hin-   Aufgaben nach ihren jeweiligen Interessen
weg. Im zweiten Jahr wird mit der anderen      auswählen.
Hauptfigur gearbeitet.
Fortführend sind für die 3./4. Klasse eben-    Literatur
falls Werkstätten vorhanden. Über ein Me-      Jockweg, Bernd, Wöstheinrich, Anne (2019).
thodenheft werden die Kinder im selbst-        Anton und Zora. Schaffhausen: Wester-         24
mann Schulverlag Schweiz AG. Verwendet:
     Begleitband

     Jockweg, Bernd (o.J). Anton und Zora. Abge-
     rufen von http://www.anton-und-zora.de/
     index.html [01. Juni 2019]

25
ABC-LERNLANDSCHAFT –
EIN LEHRMITTEL NACH DEM SPRACHERFAHRUNGSANSATZ

Laura Stoller (BA-Studentin PHBern)

Hintergrund                                   te lesen und etwas schreiben, andere haben
                                              noch mit ihrem Namen Mühe und bisher
Die ABC-Lernlandschaft für das erste Schul-
                                              kaum Erfahrungen mit Schrift gesammelt.
jahr erschien erstmals 2008 beim Klett
                                              Dieser Heterogenität möchte das Lehrmit-
Verlag (Neuauflage Sommer 2019). Die
                                              tel gerecht werden und jedes Kind dort
Herausgeberin, Erika Brinkmann, hat sich
                                              abholen und fördern, wo es gerade steht.
als ausgebildete Primarschullehrerin und
                                              Die ABC-Lernlandschaft ist kein Lehrgang
langjährige Professorin für die Didaktik
                                              für den Schriftspracherwerb, sondern eine
der deutschen Sprache intensiv mit dem
                                              Sammlung von Material, die es den Kindern
Schriftspracherwerb   auseinandergesetzt.
                                              ermöglicht, selbstständig und in eigenem
Gemeinsam mit dem Erziehungswissen-
                                              Tempo an weiteren Kompetenzen wie der
schaftler Hans Brügelmann machte Erika
                                              gesprochenen Sprache zu arbeiten. Ziel ist
Brinkmann den Spracherfahrungsansatz im
                                              es somit nicht, dass die Kinder wie mit ei-
deutschsprachigen Raum salonfähig. Der
                                              ner Fibel (z.B. O, mir hei ne schöne Ring!) zur
Ansatz entstand aus der Fibelkritik heraus,
                                              gleichen Zeit an den gleichen Aufgaben ar-
die bemängelte, dass die herkömmlichen Fi-
                                              beiten, sondern jedes für sich an seinen/ih-
beln die Kinder unabhängig vom Lernstand
                                              ren jeweiligen Aufgaben. Es geht auch nicht
im selben Tempo an denselben Inhalten
                                              darum, sofort alles zu können, sondern um
arbeiten liessen. Grundlage des Spracher-
                                              das sich schrittweise Annähern an die Kon-
fahrungsansatzes hingegen ist es, dass das
                                              ventionen von Lesen und Schreiben. Somit
Lehrmittel an den individuellen Entwick-
                                              steht hinter diesem Lehrmittel die päda-
lungsstand des Kindes anknüpfen sollte.
                                              gogische Haltung, dass jedes Kind seinen

Didaktische Grundlagen                        Fähigkeiten und Fertigkeiten entsprechend

Wenn Kinder in die Schule kommen, brin-       arbeiten soll.

gen sie in den Bereichen Lesen und Schrei-
ben sehr unterschiedliche Erfahrungen mit.
Einige können schon Wörter oder kurze Tex-
                                                                                                26
Erzählen,              Schreiben                        Recht-                           Lesen                      Handschrift
                                              Sprechen                                              schreiben                                                     entwickeln
                                                 und
                                              Zuhören

          Kompetenzbereiche               Sprechen und Zuhören    Schreiben                     Richtig schreiben              Lesen – mit Texten und Medien     Über Schreibfertigkeiten verfügen
                                          • zu anderen sprechen   • Texte planen                • Wörter üben                  umgehen                           • formklare Buchstaben schreiben
          nach den Standards der          • verstehend zuhören    • Texte schreiben                                            • über Lesefähigkeiten verfügen
                                                                                                • Rechtschreibstrategien und                                     • flüssig schreiben
          Kultusministerkonferenz         • Gespräche führen      • Texte überarbeiten            -regeln verwenden            • über Leseerfahrungen verfügen   • eine gut lesbare Handschrift
                                          • erzählen              • auch: Sprache und Sprach-   • Zeichensetzung beachten      • Texte erschließen                 entwickeln
          zur Arbeit in der Grundschule   • szenisch spielen                                                                   • Texte präsentieren
                                                                    gebrauch untersuchen        • auch: Sprache und Sprach-
                                                                                                  gebrauch untersuchen

     Abb. 13: ABC-Lernlandschaft. © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2019.

     Die ABC-Lernlandschaft basiert auf dem                                                                     Lautvarianten durch ein und denselben
     Spracherfahrungsansatz. Das heisst, es ist                                                                 Buchstaben darstellt (z.B. bei Igel und
     eine Unterrichtskonzeption, welche an die                                                                  Insel wird das I einmal lang und einmal
     oben beschriebenen unterschiedlichen Er-                                                                   kurz ausgesprochen).
     fahrungen der Kinder anknüpft und sich an                                                      2.          Lesen und Schreiben sind für Kinder
     folgenden vier Grundsätzen orientiert:                                                                     mit hohen kognitiven und motori-
                                                                                                                schen Anstrengungen verbunden. Da-
     1.          Schrift ist ein Medium mit eigener Lo-                                                         mit sie motivierter sind, diese Anstren-
                 gik, hat jedoch im Deutschen einen                                                             gungen auf sich zu nehmen, sollten sie
                 engen Bezug zur Lautsprache. Deswe-                                                            die Funktion von Lesen und Schreiben
                 gen knüpft man bei der Förderung des                                                           verstehen. Deswegen ist es wichtig,
                 Lesens und Schreibens zunächst an                                                              dass Lesen und Schreiben in soziale
                 die den Kindern vertraute gesproche-                                                           Handlungen                     eingebunden                           werden,
                 ne Sprache an. Der Zusammenhang                                                                damit jedes Kind eigene bedeutsame
                 zwischen gesprochener und geschrie-                                                            Erfahrungen sammeln kann (z.B. Vorle-
                 bener Sprache und deren jeweiligen                                                             serunden oder eine Bücherecke).
                 Besonderheiten sollten aber immer                                                  3.          Der Schriftspracherwerb ist ein eigen-
                 wieder aufgezeigt werden. Beispiels-                                                           ständiger Prozess, bei welchem im-
                 weise, dass die Schrift verschiedene                                                           mer wieder über Besonderheiten des
27
Schriftsystems nachgedacht wird und           Vier-Säulen-Modell
     diese Schritt für Schritt besser verstan-
                                                   Diese Ideen werden in der ABC-Lernland-
     den werden. Deswegen brauchen die
                                                   schaft im Rahmen des Vier-Säulen-Modells
     Kinder Zeit und Raum für individuelle
                                                   im Unterricht umgesetzt. Es setzt sich aus
     Zugänge und Zwischenformen bis zur
                                                   den vier Schwerpunkten: 1) freies Schreiben,
     Rechtschreibung.
                                                   2) Vorlesen und individuelles Lesen, 3) Um-
4.   Fortschritte in der Entwicklung zur
                                                   gangsweisen mit Schrift sowie 4) der Arbeit
     richtigen Schrift bzw. Rechtschreibung
                                                   am Wortschatz zusammen.
     sind aber nur möglich, wenn die Kinder
     ihre eigenen Produkte immer wieder
                                                   Lesen durch Lesen
     mit denen von schriftgewandten Er-
     wachsenen vergleichen können. Des-            Die ABC-Lernlandschaft geht davon aus,

     wegen sind Erwachsene wichtige Mo-            dass man Lesen nur durch Lesen lernt. Es ist

     delle und sollen auch Rückmeldungen           also wichtig, dass den Kindern von Anfang

     geben. Ebenso wichtig sind das Ver-           an ein vielfältiges Angebot an Bilder- und

     gleichen und der Austausch unter den          Kinderbüchern frei zur Verfügung steht.

     Kindern selbst, da sie unterschiedliche       Diese sollten den unterschiedlichen Fähig-

     Lese- und Schreibaktivitäten anregen          keiten und Interessen der Kinder entgegen-

     und herausfordern können.                     kommen. Auch sollten die Lehrpersonen re-
                                                   gelmässig freie Zeit fürs individuelle Lesen

                                                                                                     28
        Abb. 14: Vier-Säulen-Modell (2019: Darstellung L. Stoller in Anlehnung an Lehrerkommentar)
mit selbstgewählter Lektüre in den Unter-        ben können.
     richt integrieren und so einen selbstver-        Strukturierung und Gestaltung

     ständlichen Umgang mit Büchern fördern.          Kinder   arbeiten     individuell   mit   der
     Dafür eignet sich beispielsweise das zum         ABC-Lernlandschaft. Dazu stehen ihnen
     Lehrmittel    gehörige     Regenbogen-Pro-       verschiedene Hefte und ergänzende, auch
     gramm, eine Sammlung von einfachen               digitale Materialien zur Verfügung. Auf der
     Erstlesebüchern.    Dialogisches    Vorlesen     vorderen Innenseite der Hefte werden die
     anspruchsvoller Kinderliteratur verschafft       jeweils verwendeten Symbole kurz erklärt.
     gemeinsame Leseerlebnisse und fördert            Durch die allgemeine Verwendung von Bil-
     reiche Gesprächs- und Schreibanlässe. Das        dern oder Piktogrammen und Beispielen
     Vorstellen eigener Lektüre in der Klasse mit     sind die jeweiligen Aufgaben selbsterklä-
     anschliessender Bewertung, welche mit            rend, so dass die Kinder selbstständig mit
     der Zeit immer umfassender wird, dient als       den Heften arbeiten können. Sollten die
     Reflexion und weckt das Interesse anderer        Lehrperson und die Kinder etwas gemein-
     Kinder. Lesepässe oder später auch Lese-         sam im Voraus besprechen, wird die Lehr-
     tagebücher können die eigene Entwicklung         person im Kommentarband für Lehrperso-
     für sich selbst, aber auch für andere sicht-     nen darauf hingewiesen. Die meisten Hefte
     bar machen. Die Lehrpersonen können das          enthalten sogenannte „Fuchs-Seiten“. Diese
     Lesen mit digitalen Medien, v.a. audiovisu-      sind wie eine Art Test, welche dokumentie-
     ellen, sinnvoll unterstützen und ergänzen.       ren, ob das Kind über die Zielkompetenzen
     Parallel zu dieser Lesekultur im Klassen-        verfügt. Nach dem Lösen von Fuchsseiten
     zimmer thematisieren die Lehrpersonen            zeigen die Kinder diese der Lehrperson,
     den Aufbau der Schriftsprache sowie die          welche dann entscheidet, ob das Kind im
     Lesestrategien immer wieder im Unterricht        Heft weiterarbeiten kann. Alternativ trifft
     gemeinsam mit den Kindern. An dieser Stel-       die Lehrperson mit dem Kind Vereinbarun-
     le muss jedoch gesagt werden, dass Kinder        gen (z.B. weitere Übungen mit ergänzen-
     das Gelesene erst verstehen, wenn sie Wör-       dem Material), bevor dieses weiterarbeitet.
     ter lautgetreu aufschreiben können, da sie       Als ergänzendes Material empfiehlt die
     erst dann den Zusammenhang von Buch-             ABC-Lernlandschaft:
     stabe und Laut verstanden haben. Deswe-
     gen sollten Kinder mit dem selbstständigen       •   die Regenbogen-Lesekiste, eine Samm-
     Erlesen unbekannter Texte beginnen, wenn             lung von Erstlesebüchern in verschie-
     sie so weit sind – sie also lautgetreu schrei-       denen Schwierigkeitsgraden und zu
29
unterschiedlichen Themen,
•    die Ideenkiste für die Lehrperson, wel-      Es berücksichtigt somit alle Bereiche, wel-
     che Material und Ideen zu unterschied-       che für ein erfolgreiches Lesen- und Schrei-
     lichen Lernfeldern enthält,                  benlernen wichtig sind. Für das Lesen- und
•    die Tiger-Box, welche Übungsmaterial         Schreibenlernen ist es zentral, dass die
     für Kinder anbietet, welche noch nicht       Kinder die einzelnen Laute eines Wortes
     viele Vorerfahrungen sammeln konn-           heraushören können. Deswegen gibt es
     ten, sowie                                   eigens für das Trainieren dieser phonologi-
•    die fünf Buchstabenelemente (Stem-           schen Bewusstheit ein Lauschheft, in dem
     pel), mit welchen die Kinder Buchsta-        die Kinder auf den Klang von Wörtern statt
     ben herstellen können.                       auf ihre Bedeutung fokussieren und Silben
                                                  und Laute heraushören sollen – unterstützt
Die ABC-Lernlandschaft konzentriert sich          von der Lausch-Werkstatt als Software für
auf folgende fünf Kompetenzbereiche:              selbstständiges Arbeiten am Computer.
Sprechen und Zuhören, Schreiben (inkl. der        Beim Schreiben erhalten die Kinder Unter-
phonologischen Bewusstheit zu Beginn mit          stützung durch eine Anlauttabelle für das
dem Lauschheft), Rechtschreiben, Lesen so-        lautgetreue Schreiben und die Buchsta-
wie Handschrift entwickeln. Diese finden          ben-Werkstatt als ergänzendes Computer-
sich in ähnlicher Weise auch im Lehrplan 21       programm. Die ABC-Lernlandschaft (inkl.
wieder.                                           den ergänzenden Materialien und Vorschlä-
                                                  gen für die Lehrpersonen) deckt damit die
                                                  Bereiche des Lehrplans 21 ab. Das Lehrmittel
                                                  fördert nicht nur den Schriftspracherwerb,
                                                  sondern auch beispielsweise das Reflektie-
                                                  ren, das selbstständige Arbeiten und das
                                                  Anwenden von Lernstrategien, welche in
                                                  den überfachlichen Kompetenzen im Lehr-
                                                  plan 21 zu finden sind.

                                                  Lernphasen

                                                  Im ersten Schuljahr wird vor allem die pho-
                                                  nologische Bewusstheit trainiert, also das
Abb. 15: 5 Kompetenzbereiche (2019: Darstellung
                                                  Heraushören und Unterscheiden der ver-         30
L. Stoller in Anlehnung an Lehrerkommentar)
schiedenen Laute in einem Wort. Danach         Klett Verlag, vpm.
     können Kinder mit Hilfe der Anlauttabelle
     lautgetreu schreiben. Erst dann beginnen       Homepage Erika Brinkmann unter: http://
     sie mit dem Lesen: einzelne Wörter, dann       www.erika-brinkmann.de/index.html
     kurze Sätze und schliesslich kurze Texte.      [Stand. 30.05.2019].
     Auch Rechtschreibung wird mithilfe des
     Hefts Rechtschreiben 1/2 von Anfang an
     thematisiert, indem zu Beginn beispiels-
     weise darauf aufmerksam gemacht wird,
     dass Lücken zwischen einzelnen Wörtern
     das Lesen vereinfachen. Die ABC-Lernland-
     schaft besteht aus einem Basisteil für das
     1./2. Schuljahr und einem zweiten Teil für
     die Schuljahre 3 und 4.

     Individualisierung und Differenzierung

     Ausgangspunkt des Lehrmittels ist der indi-
     viduelle Stand des Kindes. Entsprechend ist
     das Lehrmittel so angelegt, dass die Kinder
     selbständig und entsprechend ihrem Kön-
     nen an weiteren Kompetenzen arbeiten
     können. Dafür stehen den Kindern neben
     den genannten Heften weitere Materialien
     zur Vertiefung oder Übung verschiedener
     Kompetenzen zur Verfügung. Da die Kinder
     selbstständig arbeiten können, hat die Lehr-
     person Zeit, einzelne Kinder zu unterstüt-
     zen, wenn diese ihre Hilfe benötigen.

     Literatur

     Brinkmann, Erika, Bode-Kirchhoff, Nina &
     Reiske, Jennifer (2019): ABC-Lernlandschaft.
31   Didaktischer Kommentar 1/2 . Stuttgart:
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