Medienwelten 2020 Wie elektronische und Printmedien in zehn Jahren funktionieren - Printarchiv der absatzwirtschaft

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Medienwelten 2020 Wie elektronische und Printmedien in zehn Jahren funktionieren - Printarchiv der absatzwirtschaft
Medienwelten 2020

                    Medienwelten 2020
            Wie elektronische und Printmedien
               in zehn Jahren funktionieren
                            Sven Gábor Jánszky

„Stellen Sie sich vor, Sie würden morgen aufwachen und jeder Gegenstand hätte
eine eigene IP-Adresse: Ihr Badspiegel, ihre Kaffeetasse, Ihr Küchentisch, Ihre
Handtasche, … Was würden Ihre Kunden von Ihnen verlangen, was würde die
Konkurrenz tun und wie würden Sie regieren?“ Auf diese Situation steuern wir
schon seit Jahren hin: Wenn Chiphersteller davon sprechen, jeden Chip mit einer
Antenne auszustatten, wenn Computer kleiner und in Alltagsgegenstände einge-
baut werden, dann wird jeder Gegenstand zum Internetempfänger.

Schritt für Schritt wird in den kommenden Jahren die Internetlogik alle Orte und
Geräte des Alltagslebens erobern. Und diese werden damit intelligent: Bildana-
lyse, Bilderkennung und beobachtende Interfaces sorgen dafür, dass Alltagsge-
genstände das Verhalten ihrer Benutzer beobachten, diese Realwelt-Daten mit
virtuellen Daten kombinieren und über 3D-Displays in allen Varianten jeweils
situationsgerechte Informationen in unseren Alltag einspielen.

2020 wird das Internet schon seit vielen Jahren den Computer verlassen haben.
Jeder Gegenstand verfügt über eine eigene IP-Adresse. Dann ist er nicht nur an-
steuerbar, sondern kann gleichzeitig mit anderen Gegenständen Informationen aus-
tauschen. Wir werden uns daran gewöhnen, dass technische Geräte sich zuerst
miteinander unterhalten und ein auf die jeweilige Situation und die Bedürfnisse
des Menschen abgestimmtes Angebot machen. Dies ist die Quintessenz, wenn
wir Trendforscher über das „Internet der Dinge“, „Hyperlokalität“, das „Überall-
Internet“ oder das „Evernet“ sprechen. Auf diese Weise werden, überall wo es
sinnvoll ist, Geräte miteinander kommunizieren.

Treibende Kraft auf dem Weg dahin ist das Smartphone: das erste Gerät, das
die Menschen bei Tag und Nacht bei sich haben und auf dessen internetbasierte

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FOCUS-Jahrbuch 2011

Dienste sie in jeder Situation zugreifen können. Damit wird das Smartphone zur
intelligenten Fernbedienung anderer Geräte und zum intelligenten Zwischen-
stück zwischen zwei anderen Geräten. Man könnte auch sagen, das Smartphone
schafft eine virtuelle Erweiterung der bisher bekannten, realen Welt.

Damit wird das Handy zum Vorboten einer technologischen Entwicklung, die
unser Verhältnis zueinander und zu den Objekten der Welt tiefgreifend verändern
wird. Wie die Internetwelt wird auch die physische Welt anklickbar. Auf diese
Weise wird das Internet zu einer immer präsenten, zusätzlichen Dimension der
Welt. 2020 wird das Internet die heutige Aufmerksamkeit verloren haben, weil es
immer und überall da ist.

Intelligente Assistenten 2020

Doch was bedeutet es für unsere Lebenswelten, wenn künftig jeder Gegenstand
eine IP-Adresse hat und einzeln ansteuerbar ist? Jede Cola-Dose, jeder Wohn-
zimmerfernseher, jeder Badspiegel, jeder ICE-Sitz, jedes Autoradio, jede Schul-
bank und bei Bedarf auch jedes T-Shirt. Jegliche bisherigen strategischen Eng-
pässe in der Informationsverbreitung verschwinden. Alle bisherigen Medienan-
bieter, seien es Verlagshäuser, Radiosender oder Fernsehsender, verlieren ihre Ex-
klusivität.

Elektronische Medien verlieren ihren über viele Jahre tradierten strategischen Vor-
teil von Lizenzen für bestimmte begrenzte Frequenzbereiche und Programm-
bouquets. Gedruckte Medien verlieren die Exklusivität der über Jahrzehnte ge-
pflegten Hoheit über kostenintensive Druckereibetriebe und Distributionsnetze.
Denn wenn Informationen per Internet ausgeliefert werden, sind die bisherigen
Beschränkungen bei der Übertragung aufgehoben.

Dies sorgt dafür, dass die Anzahl der Medienanbieter wächst. Plötzlich empfängt
unser Fernseher nicht mehr einige wenige, sondern alle Fernsehsender aus aller
Welt gleichrangig in gleicher Qualität. Zusätzlich wird auch jeder, der ein You-
Tube-Video anbietet, zum Fernsehsender; denn jedes noch so amateurhafte Video
ist gleichrangig mit professionellen Sendungen auf demselben Fernsehgerät zu
empfangen.

Es kommt noch schlimmer: Nicht nur jeder in dieser Sekunde gesendete Film,
sondern jeder zu jeder beliebigen Zeit im Internet abgelegte Film kann empfangen

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Medienwelten 2020

werden. Das gilt für Texte und Musik gleichermaßen. Dadurch explodiert förm-
lich die Anzahl der für den einzelnen Nutzer in einer beliebigen Sekunde verfüg-
baren Medieninhalte. Was ist die Folge? Ein unüberschaubares Chaos von Aber-
millionen angebotener Informationen, das durch den normalen Menschen nicht
zu übersehen und zu verwalten ist.

„Multioptionale Orientierungslosigkeit“

Wir steuern unausweichlich in einen Zustand, in dem jeder Mensch an jedem
Ort und zu jedem Zeitpunkt mit einer Überfülle von Informationen konfrontiert
ist, die die menschliche Verarbeitungskapazität bei weitem überschreitet. Eine
„Anarchie der Programme“ nennt Thilo Kleine, ehemals Chef der Bavaria,
diesen Zustand. Die „multioptionale Orientierungslosigkeit“ prognostiziert der
Trendforscher der Volkswagen AG, Wolfgang Müller-Pietralla. Doch was folgt
daraus?

Bereits Niklas Luhmann wusste, dass Komplexität vor allem durch Vertrauen re-
duziert wird. Dieses Informationschaos wird uns Menschen zu einem Wertewan-
del führen, einem Redesign von Schutz und Geborgenheit und der fortwährenden
Suche nach verlässlichen Maßstäben, Werten und Navigation. Der wichtigste Wert
für Lebenswelten des Jahres 2020 werden das Vertrauen sowie Ratschläge sein,
denen wir vertrauen können.

Es zeichnen sich zwei Wege ab, auf denen wir in den kommenden Jahren mit der
plötzlich steigenden Komplexität umgehen werden: ein kurzfristiger Weg und ein
langfristiger. Kurzfristig steigt die Bedeutung der großen Medienmarken; denn
sie, so haben wir es in der Vergangenheit gelernt, sind unsere Filtersysteme. Die
Menschen werden kurzfristig dort Zuflucht vor dem Chaos suchen, wo sie aus
der Erfahrung wissen, dass sie auf ein gutes Angebot vertrauen können.

Doch mittel- und langfristig werden wir feststellen, dass uns neue technologi-
sche Filtersysteme ein deutlich besseres Angebot machen als die gelernten Mar-
ken. Im Klartext: Auf unserer TV-Fernbedienung wird uns die Assistententaste ein
deutlich besseres Programm anbieten als ARD, RTL und wie sie alle heißen.

Dafür sorgt eine intelligente Software. Sie beobachtet unser Nutzungsverhalten
in einer Weiterentwicklung der heutigen Behavioral-Targeting-Technologien, das
heißt: Aus jeder unserer Entscheidungen lernt die Software und kennt nach einer

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gewissen Zeit unsere Bedürfnisse und Wünsche besser als jeder Programmdi-
rektor. Wir werden lernen, diesem intelligenten Assistenten zu vertrauen, so wie
wir uns selbst vertrauen.

Die neue Logik der Data-Economy

Die ersten Vorläufer dieser Assistenten des Jahres 2020 sehen wir heute bereits
als iPhone-Apps. Deren Logik der Verbindung von realer Welt und virtuellen
Daten zeigt schon heute, wie unsere künftige Data-Economy aussehen wird.
Wir Konsumenten werden in zehn Jahren Unternehmen dafür bezahlen, unsere
Alltagshandlungen zu beobachten, die Daten auszuwerten und uns wieder zur
Verfügung zu stellen.

Damit entstehen hilfreiche Services zur Steuerung des Alltags, zum Beispiel die
Steuerung des eigenen Stromverbrauchs, aber auch Services zum Identitätsma-
nagement wie etwa die Darstellung der eigenen Lebensweise gegenüber der
Community. Denn die künftige Data-Economy holt die reale Welt ins Virtuelle
und sorgt dafür, dass virtuelle Services intelligent in die reale Welt eingespielt
werden können, durch Brillen, Kontaktlinsen, Fensterscheiben und 3D-Displays
auf allen Monitoren.

Nun wären das alles nur technologische Spielereien, wenn sie für die Menschen
nicht beherrschbar würden. Denn seien wir ehrlich: Zunächst steigt mit all
diesen Visionen von der vernetzten Welt die Komplexität für die Menschen ins
Unbeherrschbare. Wir haben zu jeder Zeit und an jedem Ort Zugriff auf alle
denkbaren Informationen und Angebote. Wer könnte und wollte damit umgehen?
Niemand.

Symmetrie und Asymmetrie der Informationen

Aus diesem Grund sehnen wir uns nach Filtern. Dies ist nichts Ungewöhnliches;
denn Filtersysteme kennen wir in unserem Leben bereits. Auch heute verlassen
wir uns auf Informationsfilter: Lehrer, Redaktionen, Makler, Trainer, Einkäufer,
Reiseführer, Marken und Berater. Deren Geschäfte basieren auf der asymme-
trischen Verteilung von Informationen, das heißt, sie haben Informationen zeiti-
ger oder in besserer Qualität.

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Medienwelten 2020

Künftig werden die Aufgabe des Informationsfilterns mehr und mehr Aggrega-
toren und intelligente Softwarefilter übernehmen, die uns die Informationen –
anders als herkömmliche Filter – nach unseren individuellen Vorlieben und situ-
ativen Bedürfnissen vorsortieren. Das Amazon-Empfehlungssystem, das Online-
marketing nach Google-Prinzip und die Barcode-Scanner des iPhones sind die
Vorläufer dieser intelligenten, individuellen Filtersysteme.

Dann werden wir eine mehr und mehr symmetrische Informationsverteilung er-
leben, die jedermann in die Lage versetzt, zu jeder Zeit auf alle beliebigen In-
formationen zuzugreifen können. Jeder Amateursportler trainiert dann mit Profi-
methoden, jeder Kunde hat das Wissen des Fachberaters und jeder Fernsehzu-
schauer bekommt sein individuelles Programm.

Aus Kundensicht ist dies eine großartige Welt. Denn wir werden uns mehr und
mehr daran gewöhnen, dass wir die Filterintelligenz in unserer Hosentasche
tragen. Besonders aktive Kunden werden diesen Gewinn an Selbstbestimmung
als persönliche Freiheit feiern. Weniger aktive Kunden werden sich freuen, dass
sie nichts tun müssen und trotzdem individuell für sie passende Angebote be-
kommen. Denn das ist der wirkliche Charme der Kundenwelten 2020: Aktive
Menschen können all diese Dinge schon heute. Doch 2020 dürfen wir Couch-
Potatoes bleiben und bekommen trotzdem individuelle Angebote.

Fernsehen 2020

In einigen neu sanierten Wohnungen des Jahres 2020 werden wir erstmals fest-
stellen, dass der Fernseher fehlt. Es ist jener Zeitpunkt, an dem die ersten Wohnun-
gen mit einer neuartigen Lichttapete ausgestattet werden. Was vor zehn Jahren
schon im Labor möglich war, ist nun serienreif. Textilien werden elektronisch
angesteuert und zum Leuchten gebracht.

Nun wird durch Tapeten das Licht im Raum gesteuert. Lampen werden abge-
schafft. TV-Geräte auch. Die Screentapeten hören nicht mehr auf Fernbedie-
nungen, sondern sind mittels Gestensteuerung zu bedienen. Auch heutige Ex-
perimente mit Gedankensteuerungen von Geräten werden jetzt serienreif. Zap-
ping wird dann einfacher: Wir denken nur daran, dass wir umschalten wollen …
die Tapete tut es.

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Zugleich ist das Fernsehen zum Community-Ereignis geworden. Wir werden
Sendungen gemeinsam mit Freunden sehen, die gar nicht im Raum sind. Denn
wir werden unsere Mitzuschauer in der rechten oberen Ecke des Bildschirms
sehen, gemeinsam die Sendung anschauen und parallel via Fernsehen mit den
Freunden darüber plaudern können.

Wie heute bereits das Internet die Telefonie integriert hat, werden auch Fern-
sehen und Telefonie zusammenwachsen. Mehr noch: In der rechten unteren Ecke
sehen sich die gemeinsam fernsehenden Zuschauer parallel auch noch gemeinsam
gute Webseiten an. Und quasi über das Fernsehbild darüber gelegt gibt es
Zusatzdienste: Wetten, Werbung, Shoppingangebote. Dieses Ineinandermischen
von mehreren Diensten auf einem Bildschirm können wir selbst steuern – Fern-
sehsender und Wettanbieter müssen nichts miteinander zu tun haben. Es entsteht
ein neuer Markt für Geschäftsmodelle, die das aktuelle Fernsehbild als Grund-
lage nutzen.

Die schwindende Macht der Marken

Doch neben den Gewinnern gibt es auch Verlierer. Denn was geschieht mit den
Medienunternehmen, wenn es jene vorgefertigten 24-Stunden-Programmsche-
mata, nach denen sich heutige Fernsehsender definieren, nicht mehr gibt, weil
die Assistenten unser Fernsehprogramm individuell zusammenstellen? Welche
Aufgabe haben etwa die Fernsehsender und ihre Redaktionen in der Folge?

Jeder bestehende Sender definiert seine Marke bisher über einen von ihm zu-
sammengestellten Programmablauf. Was sind ARD oder RTL noch, wenn es in
der Medienwirklichkeit der Zuschauer diesen linearen Programmablauf nicht
mehr gibt, da ihr Programm viel besser durch elektronische Assistenten zusam-
mengestellt wird? Sie reduzieren sich auf Hersteller von Sendungsschnippseln
innerhalb meines eigenen Programms. Vermutlich wissen wir künftig nicht mal
mehr, dass jene Sendung, die wir gerade schauen, von RTL kommt.

Die Finanzierung wird derzeit vor allem über Werbeblöcke betrieben. Aber können
Sie sich vorstellen, ihrer Suchmaschine zu sagen, dass sie Ihnen doch alle 30
Minuten einen Werbeblock einprogrammieren soll? Die Unternehmensstruktur
der Fernsehsender ist aktuell komplett auf die bisherigen Programmschemata
ausgerichtet, es gibt Redaktionen die dafür zuständig sind, jeweils bestimmte
„Programmkästchen“ zu füllen.

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Medienwelten 2020

Doch was geschieht, wenn es kein Programmsschema und keine Programmkäst-
chen mehr gibt? Welche Aufgabe haben Fernsehsender und ihre Redaktionen
dann? Und nicht zuletzt das Marketing: Statt für ein Gesamtprogramm muss nun
für jede einzelne Sendung Marketing gemacht werden? Wie geht das? Und vor
allem: Wenn ein elektronischer Assistent die individuellen Programmvorschläge
zusammenstellt, wie macht man Marketing gegenüber einer Software?

Es gibt bislang keine abschließenden Antworten auf diese Fragen. Um zu verste-
hen, welches strukturelle Umwälzungspotenzial in dieser Entwicklung liegt,
müssen wir einen Blick auf die zentrale Größe unseres Wirtschaftssystems wer-
fen: die Masse.

Seit Henry Ford werden alle unsere bekannten Geschäftsmodelle auf Masse
ausgerichtet. Es wird eine Masse von Produkten produziert. Es wird eine Masse
von Menschen an einem Ort versammelt, an dem sie ein überschaubares Angebot
von Produkten findet, sei es vor dem Joghurtregal oder vor dem Fernseher.

Die strategische Kontrolle über herkömmliche Geschäftsmodelle basiert in der
Massenwirtschaft auf der Macht über Distributions- und Vertriebswege. Un-
ternehmen geben Millionen aus, um ihre Produkt an den Ort zu bringen, an dem
sich die Masse der Kunden versammelt und eine künstlich vorgefilterte Ange-
botsauswahl vorfindet.

Die Massenmedien nehmen dabei eine sehr wesentliche Funktion ein. Sie waren
es bisher, die eine Masse von Menschen versammeln konnten und der Werbewirt-
schaft diese Kundenmasse verkauft haben. So war sie, die gute alte Massen-
wirtschaft.

Doch mehr und mehr vernichtet die Individualisierung des Medienkonsums durch
intelligente Assistenten in den kommenden zehn Jahren das zentrale Element
der Massenwirtschaft: die Masse. In den Supermärkten gibt es keine „lenkbare“
Masse an Käufern mehr, wenn deren Einkaufszettel durch elektronische Assis-
tenten zusammengestellt werden. In den Medien gibt keine „lenkbare“ Masse an
Zuschauern für Werbebotschaften mehr, wenn Fernsehprogramme und Zeitun-
gen individuell zusammengestellt werden. Damit entfällt das Rückgrat der heu-
tigen Medienunternehmen.

2020 wird von Fernsehen keine Rede mehr sein. Neben der realen Welt hat sich
das Internet an den meisten Stellen zu einer 3D-Welt entwickelt, die aussieht wie

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eine Symbiose aus Second Life und dem 2D-Internet. Unsere Helfer in der virtu-
ellen Welt sind elektronische Fernsehavatare, die künstliche Intelligenz besitzen.

Gleichzeitig treten bisherige Medienmarken in den Hintergrund. Es gibt keinen
Sinn mehr für ARD, ZDF, RTL oder SAT.1. Denn das beste Programm stellt
mein Avatar zusammen. Er sucht bei der Masse der Anbieter von Filmen und
Nachrichten, Musik und Games, Live-Sport und Soaps in der virtuellen Welt
mein Programm zusammen. Der Begriff Fernsehen wird kaum noch benutzt.

Für Fernsehsender gibt es aus heutiger Sicht zwei mögliche Antworten: Entweder
sie werden zu Aggregatorenmarken, deren Bestimmung es ist, jeweils das beste
Programm für jeden Zuschauer individuell zusammenzustellen. Dann werden sie
zu Softwareanbietern, die das heutige Markenvertrauen der Zuschauer nutzen,
um ihnen den individuellen intelligenten Fernsehassistenten zu verkaufen.
Vermutlich werden einige Sender diesen Weg gehen und sich dabei mit Hard-
und Softwareherstellern verbünden. Oder die Sender entscheiden sich für eine
Zukunft als Produzentenmarke. Dann definieren sie sich als Hersteller einzelner
Sendungen, die durch intelligente Fernsehassistenten gefunden und einprogram-
miert werden können. In diesem Fall werden die Sender in Konkurrenz zu heuti-
gen Film- und Fernsehproduzenten treten und deren Geschäftsmodelle adap-
tieren.

Radio 2020

Auch dem anderen großen Funkmedium, dem Radio, stehen dramatische Um-
brüche bevor. Das Radio unserer Tage ist ein Morgenmedium, die Prime Time
liegt zwischen sechs und neun Uhr. Jetzt hören die meisten Hörer zu, jetzt wird
die meiste und teuerste Werbung gesendet, jetzt gibt es Morningshows, die von
den prominentesten Moderatoren bestritten werden. Wie wird also das Radio der
Zukunft aussehen? Es steht im Keller und verstaubt.

Denn das Radio wird als eines der ersten Medien seine bisherige Machtbasis
verlieren. Diese Machtbasis besteht in UKW-Frequenzen, über die die bisherigen
Sender senden und die die herkömmlichen Radiogeräte empfangen. Doch die
bisherigen UKW-Frequenzen sind in Ihrer Anzahl begrenzt. Entsprechend gibt
es üblicherweise umfangreiche Lizenzvergabeverfahren, die durch staatliche
Regulierungsbehörden durchgeführt werden. Wenn ein Sender eine Lizenz für
eine UKW-Frequenz erhalten hat, hat er derzeit damit zumeist auch die Lizenz

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Medienwelten 2020

zum Gelddrucken. Schließlich begrenzen die UKW-Frequenzen den Markt, und
neue Sender haben keine Chance, empfangen zu werden. Entsprechend teilen
sich die etablierten Radiosender den Werbekuchen und die Gewinne.

Doch nicht mehr lange. Neben der Fotografie ist das Musikgeschäft am schnellst-
en und tiefstgreifenden von der Digitalisierung unserer Umwelt betroffen. Die
Diskussionen um die Umsatzeinbrüche der CD-Industrie, Raubkopien und On-
line-Musiktauschplattformen begleiten uns seit vielen Jahren. Mit einiger Verzö-
gerung bekommt auch das Radio diese Entwicklung zu spüren.

Bei jungen Hörerschichten haben Radiosender zuerst ihre Akzeptanz an MP3-
Player verloren. Kurz darauf wurden Internetradios populär. Ihr Vorteil: Sie
sind hochpersonalisierbar und können individuelle Musikgeschmäcke abbilden.
Anders gesagt: Sie bringen ein individuell auf Hörerinteressen abgestimmtes
Musikprogramm. Allerdings können diese bislang fast ausschließlich am Com-
puter gehört werden. Doch mit dem Internet verlassen 2020 auch die Internet-
radios den Computer. Sie sitzen künftig in Handys, Couchtischen, Kühlschrän-
ken und Badspiegeln.

Aus diesem Grund muss das Radio 2020 seine USP (Unique Selling Proposition)
und seine „Verfolger“ im Auge haben. Die Radiobranche muss sich bewusst wer-
den, dass ihre USP angegriffen wird. Das Radio hat für den Durchschnittshörer
drei Hauptkompetenzen: die Musikkompetenz, die Verkehrsfunkkompetenz und
die Tagesbegleitkompetenz.

Die Hauptgründe für Menschen, sich für einen Lieblingsradiosender zu ent-
scheiden, sind die Musikfarbe, die dem persönlichen Geschmack entspricht, der
Stau- und Blitzermelderservice für das Hören im Auto und die Charaktere und
der Humor der Lieblingsmoderatoren, von denen sich die Hörer durch den Tag
begleiten lassen.

2020 wird allerdings jede dieser Hauptkompetenzen angegriffen. Die Konkur-
renten in Sachen Musikkompetenz sind Systeme wie last.fm, die dem Hörer seine
Lieblingsmusik individuell zusammenstellen. Diese individuelle Programm-
qualität für den einzelnen Menschen kann die Massenauswahl eines Programm-
direktors oder Musikchefs niemals erreichen.

Die Konkurrenten in Sachen Verkehrskompetenz sind Navigationssysteme. 2020
werden Autos und Handys untereinander automatisch kommunizieren und damit

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in Schwarmintelligenz Staus vorhersagen. In einigen Pilotprojekten werden be-
reits heute Informationen über das Bewegungstempo und die Anzahl von Fahr-
zeugen auf bestimmten Strecken von Auto zu Auto weitergegeben. Andere Pilot-
projekte von Systemen wie TomTom erkennen anhand der Bewegungsmuster von
Handys, wo ein Stau ist, und bringen diese Informationen in Echtzeit in die Au-
tos, auf die Handys und in die Badspiegel. Die Konkurrenten in Sachen Ta-
gesbegleitung sind einerseits Fernsehmoderatoren, andererseits aber auch SMS-
basierte Communitysysteme wie Twitter oder Friendfeed. In diesem Kompe-
tenzfeld ist das Radio derzeit noch weitgehend unangetastet – aber die Zeit wird
kommen, da diese textbasierten Anwendungen sprechen werden, ein Gesicht
bekommen, Emotionen visualisieren und damit zur Konkurrenz werden.

Es wird nicht bis 2020 dauern, dass die Menschen zunehmend über WLAN-
Radios und internetfähige Geräte Radio hören. Spätestens dann müssen die Ra-
diosender bereit sein, ihre drei Hauptkompetenzen in meine neue Medienwelt
nach Internetlogik zu übertragen: Sie müssen ihre Musikkompetenz wahren,
indem sie individualisierte Musikstreams selbst unter eigener Marke anbieten. Sie
müssen die Verkehrsservicehoheit wahren, indem sie sich aktiv in die Entwick-
lung der intelligenten Verkehrsassistentensysteme einklinken. Außerdem müssen
sie Lösungen dafür finden, wie in individualisierten Streams die emotionale Kraft
der Stimmen und Charaktere ihrer Moderatoren genutzt werden kann.

Größte Chance: Tagesbegleitung

In dieser Tagesbegleitung liegt die größte Zukunftschance für heutige Radio-
sender. Denn noch ist der Markt der Tagesbegleiter beschränkt. Es gibt aktuell
nur zwei Tagesbegleiter, die heute von den Menschen tatsächlich akzeptiert sind:
das Handy und das Radio.

In Zukunft wird das zum Smartphone mutierte Handy die technische Plattform
für intelligente Assistenten sein, die uns als individuelle Serviceassistenten
durch den Tag begleiten. Die heutigen Targeting-Technologien von Behavioral-
Targeting über Geo-Targeting bis hin zu Twinsumer-Targeting geben dem elek-
tronischen Assistenten seine Intelligenz.

Doch zum wirklichen Tagesbegleiter fehlt diesen Systemen die Emotion. An
dieser Stelle liegt die Chance des Radios: Mit seinen Lieblingsmoderatoren

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Medienwelten 2020

und Sympathieträgern hat das Radio die besten Startbedingungen dafür, den
intelligenten, elektronischen Assistenten die Emotion zu geben.

Die Prognose heißt deshalb: Was für die Musikindustrie die Klingeltöne waren,
sind auf lange Sicht für die Radiosender die Stimmen der Kultmoderatoren. Sie
werden künftig entweder original oder künstlich moduliert den individualisier-
ten Musikstreams zugespielt, sie werden als Stimme und als Avatarfigur für die
emotionale Verkörperung der elektronischen Assistenten auf Smartphones sorgen.
Programmdirektoren der Radiosender wären heute schon gut beraten, sich die
Stimmencharakteristika und Avatarverwertungsrechte ihrer Starmoderatoren ex-
klusiv zu sichern.

Zeitung 2020

Analog den Funkmedien stehen auch die Printmedien vor größten Herausforde-
rungen. Um die Zukunft der Tageszeitungen und ihrer Verlage ist eine höchst
interessante öffentliche Diskussion entstanden. Endlich, sollte man sagen; denn
dass Verlage in ihrer heutigen Struktur nicht überleben werden, ist spätestens seit
der Krise der Musikindustrie klar geworden. Doch offenbar musste man erst vor
dem Abgrund stehen, um ihn zu sehen.

Somit sind die 2008 und 2009 auf den Markt gekommenen E-Books der Anlass
für die Branche, ihre Krise an die Wand zu malen. Natürlich stimmen all diese
Schwarzmalereien. Die Zeitung des Jahres 2020 wird auf einem elektronischen
Papier gelesen. Dies ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein ausziehbares Journal,
in dem der Text die Spalten hoch läuft, in dem Fotos sich bewegen und sprechen
und in dem die Texte per Mobilfunk permanent neu zusammengestellt werden.
E-Ink, E-Reader und Augmented Print werden zu Schlagworten.

Es gibt eine gewisse Chance, dass solche Zeitungen 2020 eine neue Rolle im
Medienmix einnehmen und dass junge Leute wieder beginnen, Zeitungen zu le-
sen, wenn diese den Lebenswelten der Digital Natives entsprechen. Diese Men-
schen werden wohl die ersten sein, die es komisch finden, Unmengen von Wäldern
abzuholzen, nur damit man eine Zeitung lesen kann. Sie werden all jene eines
Besseren belehren, die mit Verweis auf Haptik und Wohlgefühl die Endlichkeit
des Papiers bestreiten.

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Leider ist die aktuelle, brancheninterne Diskussion noch weit von diesem Punkt
entfernt. Den Stand der Diskussion fasst treffend Umair Haque, Direktor des
„Havas Media Lab“ zusammen, wenn er prognostiziert, dass Zeitungen künftig
Wissen anstelle von News und mehr Meinung und Erlebnis anstelle von sachli-
chen Berichten bringen.

„Commentage“ nennt er die Mischform aus Reportage und Kommentaren, die
dadurch entstehe, dass der Leser die Faktennews sowieso bereits über Newsfeeds
und die Softnews über Twitter & Co erfahren hat. Was eine Zeitung in dieser
Situation leisten kann ist, dem endlosen Strom der News eine Bedeutung zu ge-
ben, ihn einzuordnen, so Haque. Damit gibt er den vielen Branchenexperten
Recht, die die Zukunft der Zeitungen in einer Art Kontextmedium sehen.

Dies ist richtig, wenn auch nur die halbe Wahrheit. Vollständiger wird das Bild,
wenn man beachtet, dass die Internet- und Handylogik den bisherigen Zei-
tungskonsum aus Lesersicht in zwei verschiedene Modi aufgeteilt hat: Der eine
Modus ist der Newsmodus, in dem wir kurze Newshäppchen aufschnappen. Sie
werden automatisch in unser Leben per Badspiegel, per Handy oder Computer
eingespielt und durch uns parallel oder zwischen zwei Tätigkeiten konsumiert.
Eine ausschließliche Fokussierung auf das Kontextmedium lässt alle denkbaren
Geschäftsmodelle des Newsmodus links liegen.

Daneben gibt es aber auch den Lesemodus, in dem wir uns bewusst Zeit neh-
men, um uns ausführlicher mit einem uns interessierenden Thema zu beschäfti-
gen. Dazu setzen wir uns hin und nehmen auch künftig in Ruhe die Zeitung zur
Hand, egal ob sie noch aus Papier besteht oder eine Weiterentwicklung heutiger
E-Paper ist. In diesem Modus benutzen wir künftige Zeitungen tatsächlich als
Kontextmedium.

Doch wir sollten es uns nicht zu einfach machen. Wer heute Kontextmedium
sagt, der setzt immer noch voraus, dass die Zeitung als ein von einer Redaktion
zusammengestelltes Textangebot existiert, das dem Leser durch seine redaktio-
nelle Kompetenz der Themenzusammenstellung die Welt erklärt. Um ehrlich zu
sein: Die Wahrscheinlichkeit dafür ist sehr gering. Denn dieser Zukunftsblick der
Branchenauguren bezieht leider nur den heutigen Stand der Technologie ein, die
E-Books und E-Reader der ersten Generation, die nur jene Inhalte anzeigen, die
eine Redaktion bewusst an sie schickt.

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Medienwelten 2020

Damit degradieren wir die E-Reader der Zukunft zu einer Art wiederverwert-
barem Papier. Entsprechend sind diese Zukunftsmodelle in ihrem Kern Gegen-
wartsmodelle, die nur deshalb noch nicht zur Realität geworden sind, weil die
Verlage und Redaktionen gerade ihre Zukunft verschlafen. Wir vergessen dabei,
die wichtigste Funktion des E-Papers der Zukunft: seine Intelligenz.

Schauen wir ins Jahr 2020: Wenn Sie den Gedanken des intelligenten Assistenten
mitgehen, dann werden unser Fernseher, unser Handy, unser E-Reader, unser
Badspiegel, unsere Sonnenbrille immer und zu jeder Zeit jeden Text, jedes
Foto, jeden Audio- und Video-Schnipsel finden und in unseren individuellen
Medienstream einprogrammieren. Plötzlich ist jeder, der einen Text ins Internet
stellt, eine Zeitungsredaktion. Jede der unzähligen Messages in Blogs ist eine
direkte Konkurrenz für Zeitungsredaktionen ebenso wie die Kollegen von Radio,
Fernsehen und Onlineredaktionen, deren Texte natürlich auch vom intelligenten
Assistenten gefunden werden.

Was heißt das für die Markenidentität der Zeitungen und Verlage?

So schwer es uns auch fällt: Entgegen der verbreiteten Branchenvision müssen
wir uns mit dem Gedanken anfreunden, dass 2020 – und vermutlich schon viel
früher – keine von einer Redaktion vorgefertigte und über Nacht gedruckte
Zeitung mehr verkauft wird. Zeitungen werden in Zukunft individuell für jeden
Leser zusammengestellt. Danach werden sie entweder auf elektronischen Dis-
plays angezeigt und konkurrieren hier mit Fernsehsendern aller Art. Oder sie wer-
den an Printautomaten in Echtzeit ausgedruckt und dem Leser in die Hand
gedrückt.

Manche Zeitungen werden auch noch über Nacht gedruckt und in den Briefkas-
ten geliefert. Doch auch diese sind individualisiert. Auch wenn sich die aktuelle
Debatte vor allem darum dreht, wie das Gerät aussehen wird, auf dem wir lesen,
darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass der viel tiefergreifende Wandel von
der Individualisierung des Angebots ausgeht.

Denn es wäre naiv anzunehmen, dass bei einer individuellen Zusammenstellung
per intelligentem Assistenten nur die Artikel einer einzigen Redaktion ein-
programmiert werden. Im Gegenteil! Jeder per Internet auffindbare Text zum
Thema kommt in unsere individuelle Zeitung hinein, egal aus wessen Feder er
stammt. Natürlich wird nach Relevanz, Aktualität, Vertrauen zum Autor, nach

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Recommendation- und Twinsumersystemen gewichtet – eben genau so, wie der
intelligente Assistent arbeitet.

Wie sieht dann unsere individuelle Zeitung der Zukunft aus? Sie ist ein Sammel-
surium aus verschiedensten Quellen. Doch was bedeutet das für Medienmarken,
die sich heute noch über genau diese Blattstruktur identifizieren?

Sie sind nicht mehr sichtbar. Gleich, ob Ihre Marke „Bild“, „Süddeutsche“ oder
„Kurier“ heißt, sie alle drohen, unsichtbar zu werden. Oder um es noch klarer
zu sagen: Unsere Kinder werden eine großartige Reportage von den ersten
Olympischen Spielen in Afrika 2020 lesen. Doch sie werden nicht wissen, dass
diese Reportage aus der Redaktion des FOCUS kommt. Es wird sie auch nicht
interessieren; denn es ist jene Reportage, die der intelligente Assistent ausge-
sucht hat, also wird sie schon die Beste sein – nur dies zählt.

Welche Chance hat eine Redaktion, auf diese Entwicklung zu reagieren, deren
heutige Identität es ist, eine Gesamtzeitung zu machen? Dafür gibt es zwei gang-
bare Wege. Sie sind sehr ähnlich den beiden Alternativen, die bereits für Fern-
sehsender beschrieben wurden:

     Der erste Weg führt diese Redaktion konsequent in die Rolle eines Produzen-
     ten. Mit dem Selbstverständnis, herausragende journalistische Produkte zu
     produzieren, wird sie ihre Texte, Bilder, Interviews und Filme als Einzelstücke
     produzieren und anbieten. Diese werden durch intelligente Assistenten und
     durch spezialisierte Content-Vermarkter gefunden. Sie betreiben intensives
     Marketing für die Einzeltexte und sorgen dafür, dass diese Texte von den End-
     kunden und deren intelligenten Assistenten entsprechend eingebunden und
     konsumiert werden.
     Allerdings konkurrieren in diesem Modell die Verlagshäuser direkt mit allen
     anderen professionellen Herstellern von Texten, Fotos und Videos – also TV,
     Radio und Onlineredaktionen – sowie allen Amateurtextern. Es gibt keinen
     strategischen Vorteil mehr durch Ressourcenmacht wie Nachrichtenagenturen,
     Druckereien und Zustellernetzwerke. Bezahlt wird in diesem Szenario pro
     Einblendung oder pro Ausdruck durch Lizenzgebühren im Mikrobereich. Diese
     werden zwischen den Automatenbetreibern auf der einen Seite und jedem
     einzelnen Artikel auf der anderen Seite aufgeteilt. Dieses Abrechnungsmodell
     entspricht der bereits heute existierenden Internetlogik der Werbemodelle, etwa
     bei Google.

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Medienwelten 2020

   Der zweite Weg, den Verlagshäuser und Redaktionen gehen können, basiert
   auf ihrem Selbstverständnis als Medienmarken. Wenn sie diesen Weg gehen,
   dann setzen sie auf das Vertrauen der Kunden in ihre Kompetenz zur Themen-
   auswahl, nach dem Motto: Unsere Leser wollen, dass nur wir ihr Themenfilter
   sind.
   Wenn allerdings 2020 die Zusammenstellung des Medieninhalts über intel-
   ligente, elektronische Assistenten erfolgt, dann werden diese Redaktionen
   ihren Lesern konsequenterweise eben einen solchen intelligenten Assistenten
   anbieten müssen: Etwa den „Spiegel“-Guide, den wir auf dem Handy haben,
   oder den „Kurier“-Reader als E-Book. In diesem Fall würden die Verlagshäuser
   zu Software- und Hardwarevertreibern. Dies liegt heutigen Verlagen mögli-
   cherweise auf den ersten Blick fern. Aber stellen Sie sich vor, welche Möglich-
   keiten entstehen, wenn Regionalzeitungen mit – noch – starker Leserbindung
   ihren Stammlesern im Weihnachtsgeschäft 2015 den eigenen E-Reader verkau-
   fen können.

Vielleicht erscheinen Ihnen diese Szenarien noch als weit entfernte Zukunftsmu-
sik. Dann fühlen Sie sich bitte ab sofort wachgerüttelt; denn die erste, auf diese
Weise individuell zusammengestellte – und nach dem Lizenzmodell vergütete –
Zeitung gibt es bereits. Unter dem Namen „niiu“ druckt das Berliner Start-up-Un-
ternehmen InterTI bereits jede Nacht tausende individuelle Zeitungen und liefert
sie morgens in die Briefkästen der Abonnenten.

Was müssen wir daraus lernen? Vor allem, dass Verlagshäuser eine große Kon-
kurrenz erwartet, wenn sie den zweiten Weg gehen wollen. Einerseits von Start-
up-Unternehmen aus der IT- und Software-Branche, andererseits von den großen
E-Book-Anbietern – derzeit Amazon, Apple, Google, Barnes & Noble und Sony,
weitere werden demnächst hinzukommen – und drittens von all jenen Unterneh-
men, die ebenfalls mit eigenen intelligenten Assistenten auf die Handys ihrer
Kunden wollen. Denn was glauben Sie, wie viele intelligente Assistenten ein
Mensch benutzen wird? Meine Prognose: drei bis fünf.

Noch eine weitere Konkurrenz droht den Verlagshäusern von einer Seite, auf der
sie bisher Kooperation gewohnt waren. Denn auch die großen Druckhäuser müs-
sen auf die Digitalisierung der Zeitungen reagieren. Sie werden 2020 die Lektion
der Nachbarbranchen gelernt und verstanden haben, dass Digitalisierung bedeu-
tet, das Geschäft direkt mit dem Endkunden zu machen. Machen wir uns also
keine Illusionen. Wenn IT-Firmen mit ihren intelligenten Assistenten die individu-
elle Zeitung zusammenstellen, im Digitaldruck drucken und über Nacht auslief-

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FOCUS-Jahrbuch 2011

ern, sind Verlagshäuser aus der Wertschöpfungskette verschwunden. Es sei denn,
sie sind mit Lizenzerlösen an den verwendeten Texten beteiligt.

Wenn Leser ihre Handys mit intelligentem Assistenten an Druckautomaten halten
und die individuelle Zeitung in Echtzeit herauskommt, dann sind Verlagshäuser
ebenso aus der Wertschöpfungskette verschwunden. Es sei denn, der intelligente
Assistent kommt von ihnen. Wenn Leser ihre individuelle Zeitung des Jahres
2020 über einen E-Reader lesen, in dem ein intelligenter Assistent agiert, dann
sind Verlagshäuser ebenso aus der Wertschöpfungskette verschwunden. Es sei
denn, sie haben den E-Reader gebranded und verkauft.

Zeitungen bekommen hybride Finanzierungsmodelle

Letztendlich geht es auch bei der individuellen Zeitung des Jahres 2020 ums
Geld. Oder besser um die Frage: Welcher Leser wird seinen intelligenten Assis-
tenten anweisen, auf jeder zweiten Seite eine Werbeanzeige einzuprogrammieren?
Keiner.

Die heutige Anzeigenlogik ist 2020 schon lange passé. Stattdessen zieht mit der
Internetlogik eine große Chance in die Zeitungswelt ein. Wenn Redaktionen Zu-
griff auf unsere intelligenten Assistenten bekommen, dann wissen sie viel genauer
als bisher, welche Themen uns interessieren. Sie können unsere Bedürfnisse so-
gar sekundengenau verfolgen und die passende Werbung situativ in Echtzeit ein-
spielen.

Wir werden uns daran gewöhnen, dass diese – heute bereits im Internet verbrei-
tete – Werbelogik in den Zeitungsmarkt Einzug hält. Entsprechend werden 2020
auch hier die Anzeigen nach Klickraten und sogar nach generierten Umsätzen
abgerechnet.

Doch nicht nur Werbung wird zum Finanzierungsinstrument der Zeitung des
Jahres 2020. In der gleichen Internetlogik entstehen hybride Geschäftsmodelle.
Wenn die Zeitung 2020 per E-Reader gelesen wird, dann ist sie zugleich eine
Vertriebsplattform. Einzelne Artikel und Fotos werden mit Links hinterlegt, die
direkt in eigene und fremde Shops führen. Hier finden Produktverkäufe und
Zusatzgeschäfte – vor allem Spiele und Wetten – statt. Der „Long Tail“ zieht in
die Zeitung ein.

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Medienwelten 2020

Für die Werbekunden ist dies 2020 aber nur das Pflichtprogramm. Die Kür ist das
intelligente Touchpointmanagement. Medienhäuser, die dafür eine Lösung anbie-
ten, werden die Geschäftsmodelle des Jahres 2020 bestimmen.

Buch 2020

Lassen Sie uns noch auf das älteste der gedruckten Medien schauen: Das Buch.
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Dinge, an die wir uns gewöhnt haben und die
halbwegs gut funktionieren, möchten wir gerne erhalten. Das ist ganz natürlich.
Deshalb würden wir, falls wir uns heute auf einen beliebigen Marktplatz dieses
Landes stellen würden und beliebige Passanten danach fragen, ob die glauben, dass
das auf Papier gedruckte Buch irgendwann ausstirbt, ziemlich viele ungläubige
Blicke ernten.

Wenn wir diese Umfrage unter großen und kleine Buchhändlern, Autoren und
Feuilletonisten wiederholen würden, wäre die Entrüstung noch größer. Sie würde
gespickt mit bedeutungsschwangeren Sätzen nach der Art: „Papier ist der ewige
Speicher des Wissens“, es gebe eine „Gutenberg-Galaxis“ oder Schreckensszena-
rien, was geschähe, wenn der „Buchhandel unter Illiteraten“ gerate.

Dieses Ignorieren des Abgrunds, bevor er direkt sichtbar ist, ist nicht neu. Im
Gegenteil. Es ist aus vielen Beispielen in anderen Branchen bekannt. Deshalb ist
es nur in den seltensten Fällen ratsam, die Vertreter oder gar Funktionäre einer
Branche nach den Zukunftsmodellen zu fragen. Bewahren lautet hier die Devise.

Doch die Zukunft kommt von anderer Seite. Wenn es um die Zukunft des Buchs
geht, müssen wir uns den Szenarien und künftigen Geschäftsmodellen anderer
Branchen zuwenden. Es ist keine Überraschung, wenn auch eine fragwürdige Tak-
tik der Verlage, dass die seit Jahren voranschreitende Entwicklung elektronischer
Bücher durch Computerkonzerne wie Apple, Onlinehändler wie Amazon, Such-
maschinenbetreiber wie Google und Elektronikkonzerne wie Sony getrieben wird.

Diese Unternehmen werden sich in den kommenden Jahren ein großes Stück
vom bisherigen Geschäft der gedruckten Geschichten sichern. Es ist kein Zufall,
dass hier genau jene Unternehmen aktiv sind, die wissen, dass der Markt für
digitale Bezahlinhalte im Internet ein Spiel mit mehreren Komponenten ist, die,
untereinander klug kombiniert, ein äußerst profitables Geschäft ergeben.

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FOCUS-Jahrbuch 2011

Die Mär, dass im Internet kein Geld zu verdienen ist, ist eine Schutzbehauptung
der Bequemen. Wenn sich Apple, Google & Co. nach Musik, Fotos, Filmen und
News nun auch noch die Deutungshoheit über das Milliardengeschäft mit ge-
schriebenen Storys sichern könnten – das wäre der Coup des Jahrhunderts. Viele
Buchverlage beobachten nahezu erstarrt – wie das sprichwörtliche Kaninchen
vor der Schlange –, wie die „Ära Gutenberg“ zu Grabe getragen wird.

Doch anstatt selbst die Nach-Gutenberg-Modelle zu entwickeln und selbst ihre
Bücher in digitale Produkte zu transferieren, beschwören sie immer neue Gründe
dafür, weshalb Buchdruck und Papier nie verschwinden werden. Die haben sogar
recht. So wie es heute noch Schallplattenliebhaber gibt, wird es auch 2020 noch
Buchliebhaber geben. Weitere 30 Jahre später wird sich deren Anzahl allerdings
der Zahl heutiger Schellackliebhaber annähern.

Exakt den gleichen Hergang sahen wir vor wenigen Jahren in der Musikindus-
trie und kurz davor in der Fotoindustrie. Die Strategie der Etablierten ist in
jedem Fall gleich: Ignorieren des Wandels der Lebenswelten der Kunden und
Beschwören der Unersetzbarkeit des bisherigen Trägermediums bis zum finalen
Zusammenbruch des Geschäftsmodells und dem anschließenden Ruf nach dem
Staat und gesetzlichen Verboten der neuen digitalen Lebenswelten ihrer Kunden.

Strategieempfehlungen für Verlage

Wer die Zukunftsszenarien für Radiomarken, Zeitungsmarken und Fernsehmar-
ken nach der Logik intelligenter Assistenten konsequent zu Ende denkt, der ge-
langt zu radikalen Änderungen der Verhältnisse in der Buchbranche: Das Buch
wird an allen Orten gegen elektronische Geräte und darauf angebotene Enter-
tainmentprodukte konkurrieren müssen. Diese Geräte werden früher oder später
auch die Funktion des gedruckten Buchs als Textträger und -speicher ablösen.

2020 werden wir uns bereits an ein illustres Nebeneinander verschiedenster E-
Books und verschiedenster Story-Vermarktungs-Plattformen gewöhnt haben. Das
Buch wird seine Identität geändert haben. Es ist nach wie vor die spannende
Textgeschichte oder die kluge Textanalyse. Diese Texte sind jedoch mit Direkt-
links zu Hintergrundinformationen, Filmen, Fotos und sogar mit Kommentar-
funktionen und Communitysystemen versehen.

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Medienwelten 2020

Es stimmt, dass dieser Zeitpunkt noch einige Jahre entfernt liegt. Denn solange
der Mensch als Gewohnheitstier das Lesen in der Schule auf bedrucktem Papier
lernt, wird er sein Leben lang ein romantisches Gefühl für das Rascheln der
Buchseiten empfinden. Doch was macht die Buchbranche, wenn Apple sein
iPhone in der nächsten Version mit großem Display herausbringt, stylisch gestal-
tet, in Buchform zum Aufklappen, mit Romanen und täglichen Fortsetzungssto-
rys zum permanenten flexiblen Download? Was unternimmt die Branche, wenn
in wenigen Jahren allen Schülern der ersten Klasse automatisch ein kostenloses
E-Book zur Verfügung gestellt wird, sei es vom Schulamt oder von Google?

Ist das Produkt der Buchbranche das Buch?

2020 wird dieses Szenario so oder so ähnlich bereits vor einigen Jahren passiert
sein. Dann werden sich die Verlage fragen müssen, ob ihr Produkt tatsächlich
das gedruckte Buch ist. Daran zweifle ich; denn sie brauchen das Buch nicht. Na-
türlich ist die strategische Kontrolle über ein Trägermedium von entscheidender
Bedeutung für die Geschäftsmodelle der Contentindustrie, doch diese Frage geht
mehr an Druckereien. Was Verlage gut können, ist, Autoren dazu zu bringen,
eine packende Story oder einen klugen Sachtext zu schreiben. Verlage haben den
Kontakt zum Autor sowie das Wissen, wie man aus einer „spinnerten“ Autoren-
idee einen Bestsellertext macht. Verlage sind Wissens- und Geschichtenvermark-
ter und keine Drucker. Dies ist ihre Kernkompetenz.

Verlage, die verstehen und akzeptieren, dass die langfristige Zukunft der Buch-
branche außerhalb des gedruckten Buchs liegt, werden viele Geschäftsmodelle der
Zukunft finden. Zum einen sind das jene 360°-Geschäftsmodelle, zu denen die
Musikindustrie übergegangen ist. Dies hieße für Verlage, einen Autor komplett
unter Vertrag zu nehmen und auszuwerten, in allen Formen und Mediengattun-
gen bis hin zu Filmen und Computerspielen. Zum anderen stellen elektronische
Assistenten ihren Nutzern das Medienprogramm aus allen im Internet verfügba-
ren Angeboten zusammen.

Mit Marketingfachwissen können sich kleine Anbieter ebenso gut platzieren wie
große. Der stationäre Buchhandel verliert an Bedeutung, Empfehlungs- und Twin-
sumersysteme bringen das Angebot zum Leser. Aber nicht nur zum Leser; denn
jeder Verlag kann zum Fernsehsender werden. Und schließlich werden hybride
Modelle zu den Finanzierungsmodellen der Zukunft. Nach internetbasiertem

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FOCUS-Jahrbuch 2011

Fernsehen und elektronischen Zeitungen werden auch elektronische Bücher zur
Plattform für Werbeinhalte und Produktvertrieb.

Doch damit nicht genug. Stellen Sie sich vor: Das bislang einsame Lesen wird
zum Community-Ereignis mit Business Cases. Mit der Internetlogik ändert sich
die Lesesituation. Wenn Sie auf einem Gerät mit Internetverbindung lesen,
dann ist es kein Aufwand, alle Menschen zu verbinden, die zur gleichen Zeit am
gleichen Buch lesen. Es entsteht eine Community, in der jeder Leser mit jedem
kommunizieren kann, der in dieser Sekunde den gleichen Text liest. Diese Com-
munitys sind nicht zufällig zusammengewürfelt, sondern erleben situativ eine
große Übereinstimmung in Interessen und Stimmungen. Das ist spannend für die
Werbewirtschaft und sorgt für neue Community-Geschäftsmodelle.

                      Sven Gábor Jánszky, Jahrgang 1973, ist Leiter des 2b AHEAD
                      ThinkTank in Leipzig. Er wuchs in Budapest und Karl-Marx-
                      Stadt auf und studierte Journalistik und Politikwissenschaft
                      an der Universität Leipzig, arbeitete einige Jahre bei verschiede-
                      nen Radiosendern und ist seit 2003 Geschäftsführer der Mit-
      teldeutschen Kommunikations- und Kongressverwaltungsgesellschaft (MDKK).
      Er war von 1999 bis 2002 Gesamtablaufkoordinator des Medientreffpunkts
      Mitteldeutschland und gründete 2001 in Leipzig die Medien-Politik-Beratung
      „Jánszky – Exzellente Kommunikation“.

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