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der Einzelteile
Die Entwicklung des Bildhauerviertels

                                        Blaue Reihe
                                        Beiträge zur
                                        Stadtentwicklung

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AUSGEWÄHLTE
                                                             AKTEURE

                                  Christina Weiß                      Kerstin Gall                        Tobias Habermann
                             Initiatorin des Projekts und        Sachbearbeiterin im Amt              Ehemaliger Quartiersmanager im
                            Mitbegründerin des Lindenauer        für Stadterneuerung und               Leipziger Westen (2003–2010)
                                    Stadtteilvereins             Wohnungsbauförderung                              16–19
                                         9–12                             14–15

                                      Roland Beer                    Sven Riemer                             Fritjof Mothes
                               Stadtumbaumanager und           Ehemaliges Vorstandsmitglied              Gründer des Planungsbüros
                                 Fotograf der Baulager         Nachbarschaftsgärten e. V. und             StadtLabor und damaliger
                                        20–22               Projektkoordinator BuchKindergarten          Moderator der Workshops
                                                                          23–25                                    28–31

                            Birgit Schulze Wehninck                Sebastian Stiess                         Birgit Seeberger
                                    Vorstand des             Freischaffender Architekt, wagte             Sachbearbeiterin im Amt
                                Buchkinder Leipzig e. V.    die Aneignung eines hochverschul-             für Stadterneuerung und
                                        32–33                       deten Grundstücks                     Wohnungsbauförderung
                                                                          34–35                                    36–37

                                 Anna Schimkat                       Stefan Geiss                             Karla Müller
                              Künstlerin und damalige           Abteilungsleiter im Amt für                 Vorstandsmitglied
                                Koordinatorin für die             Stadterneuerung und                    Nachbarschaftsgärten e. V.
                           Ausgestaltung der Josephstraße        Wohnungsbauförderung                              44–47
                                        38–39                            42–43

                                                             Rainer Müller (S. 10), Michael Quadflieg (S. 11), Helmut Renelt, Claudia
                                                             Dahnke, Sonja Golinski, Norbert Raschke, Solomon Oriedo, Michael und
                                                              Barbara Drinhausen (S. 13), Dr. Katja Cremer (S. 15), Dorothea Frank,
                                 Karsten Gerkens             Boris Siradovic (S. 18), Rainer Bodey (S. 21), Wilfried Grünert, Inka Perl
                                 Amtsleiter Amt für          (S. 25), Dr. Frank Dietze (S. 29), Erika und Horst Vetter (S. 37), Thomas
                                Stadterneuerung und                   Wiebach (S. 43), Attila Szatmari, Olav Petersen (S. 45),
                               Wohnungsbauförderung                             Frank Lehmann, Jörg Prosch (S. 49)
                                        48–49

                                                                                                                                          3
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                                                                                             r St
                                                                                                 raß
                                                                                                     e

                                                               zukünftiger Standort
                                                               des BuchKindergartens
                                  ße
                           owstra
                      Schad

                                                                                                         Sieme
                                              raße

                                                                                                              ringst
                                     li   ngst
                               Schil

                                                                                                                     raße
                                                                  zukünftige
                                                        Nachbarschaftsgärten
                              Hähn

                                                                    Jose
                               elstr

                                                                     phst
                                    aße

                                                                        raße
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       seb
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                                                                 raße
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Leipzig ist vor    Denn durch die Zwischennutzungen sind          diese Idee für Freiräume und Hauserhalt
                               der Jahrtausend-   Prozesse ausgelöst worden, die sich zum        gemeinsam an einem privaten Küchen-
                               wende jahrelang    Teil entscheidend auf die Entwicklung          tisch aus der Taufe gehoben. So können
                              geschrumpft, das    von Quartieren ausgewirkt haben. Die           Ideen und gemeinsames Engagement
                            »Kleid« der Flächen   Nachbarschaftsgärten in der Lindenauer         konkret Einfluss auf die Entwicklung und
                         und Gebäude wurde zu     Josephstraße, im Westen der Stadt Leip-        Gestaltung im Stadtteil nehmen und die
     groß für die in der Stadt wohnenden Men-     zig, sind dafür ein herausragendes Beispiel.   Identifizierung der Bürgerinnen und Bürger
     schen. Insbesondere in den Quartieren der    Und auch wenn sich die Rahmenbedingun-         mit ihrem Quartier, mit ihrer Stadt stärken.
     Gründerzeitbebauung blieben viele ehe-       gen für Stadtentwicklung in den letzten
     mals bebaute Grundstücke als Brachen         Jahren an einem entscheidenden Punkt ge-       Als eine wachsende Stadt stehen wir
     liegen oder neue entstanden in dieser Zeit   ändert haben, glaube ich, dass viele Erfah-    vor großen Herausforderungen, die nur
     in Folge der notwendigen Abrisse ruinöser    rungen aus der Zusammenarbeit uns auch         gemeinsam und mit enormer Kraftan-
     Gebäude. Durch die Zwischennutzung von       bei der Bewältigung zukünftiger Aufgaben       strengung in Sachen Kommunikation und
     Brachflächen für Gemeinschaftsgärten,        helfen können.                                 Abstimmung gelingen können. Das hier
     Begegnungsräume oder öffentlich zugäng-                                                     dokumentierte Beispiel zeigt, wie sehr bei
     lichen und gestalteten Grünanlagen wur-      Die vorliegende Darstellung arbeitet für       der Bewältigung solcher Aufgaben eine
     den sie ein für Leipzig wichtiger Baustein   uns alle noch einmal die Rolle des bürger-     Kooperation zwischen Bürgerschaft, Zivil-
     zur Verbesserung der Lebensqualität in       schaftlichen Engagements als Motor für         gesellschaft, Verwaltung und Politik helfen
     den benachteiligten Stadtteilen und ein      die Stadtteilentwicklung heraus. Der im-       kann. Es soll Mut machen, sich auch wei-
     Signal, dass Stadtentwicklung ein ge-        mer wieder neue Antrieb und der damit          terhin auf solche – sicher nicht immer rei-
     meinsamer Prozess von Bürgerinnen und        verbundene unerschütterliche Mut, sich         bungslose – Zusammenarbeit einzulassen.
     Bürgern, Eigentümern, Verwaltung, Politik    mit anderen zusammen zu tun und einen
     und Investoren ist. Der Grundgedanke für     Konsens zu finden – diese Haltung wird uns     Dazu kommt, dass sowohl die Verwaltung
     die Nutzung der Brachflächen war und ist,    nach meiner Überzeugung auch zukünftig         als auch die lokalen Akteure heute noch
     eine Fläche mit Zustimmung der Eigentü-      bei der Gestaltung und beim Zusammenle-        zahlreiche Anfragen erhalten. Deutsche,
     merin oder des Eigentümers für eine zeit-    ben in unserer Stadt begleiten.                europäische und sogar Städte aus Über-
     weise öffentliche Nutzung zu öffnen, ohne                                                   see fragen nach dem Leipziger Beispiel als
     dass dabei die rechtlich mögliche Nutzung    Die Entwicklung rund um die Nachbar-           Lehrstück für eigene Entwicklungen. Für
     formal verändert wird. Die meisten der       schaftsgärten, den BuchKindergarten            sie soll diese Dokumentation die hier ge-
     zwischengenutzten Flächen waren und          und das Bildhauerviertel haben aus un-         machten Erfahrungen ebenfalls zugänglich
     sind weiterhin Bauland.                      terschiedlichen Beweggründen sehr ver-         machen.
                                                  schiedene Menschen zu einem Thema
     Seit Jahren wächst die Stadt wieder, erst    zusammengeführt. Unabhängig davon, ob          In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine
     vorsichtig, in den letzten fünf Jahren nun   es Einzelnen darum ging das persönliche        angenehme, aber auch inspirierende Lek-
     sehr schnell. Die vor allem für die Wohn-    Lebensumfeld aktiv mitzugestalten, Ge-         türe.
     raumversorgung wichtigen Reserven            bäude zu erhalten oder insgesamt städte-
     im Bestand werden zunehmend aufge-           bauliche Missstände zu beseitigen: Die
     braucht, der Wohnungsneubau wird viele       gemeinsame Suche nach Wegen und
     der noch zahlreich vorhandenen Baulücken     Lösungen war das Entscheidende. Exem-
     und Brachen beanspruchen. Zwischen-          plarisch kann hierfür die Gründung des
     nutzungsverträge werden daher unter          Haushalten e. V. aus den vielen Entwick-       Dorothee Dubrau
     diesen Bedingungen nicht mehr verlängert     lungsschritten rund um die Josephstraße        Bürgermeisterin für Stadtentwicklung
     oder neu abgeschlossen. Wir müssen uns       herausgegriffen werden: Eine städtische        und Bau
     nun mit der Frage auseinandersetzen, wie     Sachbearbeiterin, eine Beauftragte der
     viele und welche der vorhandenen Frei-       Stadtverwaltung zur Umsetzung eines
     räume dauerhaft gesichert werden sollten     städtebaulichen Förderprogramms und
     und wie dies gelingen kann.                  ein ehrenamtliches Vereinsmitglied haben

                                                                                                                                           5
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         s war Angela Merkel, die 1994 die     lichen Raums durch einen möglichen Ein-      eine grundlegende Veränderung eingelei-
         Weichen für die Entwicklung des       sturz eines Gebäudes, griff das Bauord-      tet. Der Lindenauer Stadtteilverein e. V.
         Leipziger Westens stellte, indem      nungsamt durch Abrisse und Räumung           hatte zuvor schon die Roßmarktstraße 30
         sie als damalige Umweltministe-       ein, wodurch zahlreiche Brachen entstan-     in ehrenamtlicher Tätigkeit, unterstützt
rin die finanzielle Förderung der Sanie-       den. Dominiert wird dieses Gebiet von        von der Stadtverwaltung, zu einer auch
rung des Karl-Heine-Kanals und den Bau         zwei großen Straßen. Von der Lützner Stra-   für die Öffentlichkeit zugänglichen Flä-
des anliegenden Radwegs genehmigte.            ße, einer großen Ausfallstraße in Richtung   che ausgestaltet. Den Akteuren auf der
Anschließend dauerte es allerdings noch        Westen, und von der Karl-Heine-Straße,       Suche nach Freiraum und einer Möglich-
mehr als ein gutes Jahrzehnt, bis die ein-     ein mittlerweile lebendiger, breiter Bou-    keit sich auszuprobieren, schlug Frank
same Depression überwunden werden              levard, der von Platanen und Linden ge-      Lehmann, damaliger Geschäftsführer der
sollte. Der Leipziger Westen selbst ist        säumt wird. Die Karl-Heine-Straße und        Pro Leipzig e. G., das Gebiet zwischen der
durchsetzt von ehemaligen Industriean-         die nahgelegene Zschochersche Straße         Joseph- und der Siemeringstraße vor, aus
lagen und vorwiegend schlichter Grün-          profitierten von einer Wirtschaftsförde-     dem später die heutigen Nachbarschafts-
derzeitbebauung. Hier wohnten größten-         rung und die Stadtverwaltung investierte     gärten entstehen sollten. In den Jahren
teils wirtschaftlich und sozial schwächer      in den Ausbau des Henriettenparks und        von 2004 bis 2008 waren sie ein großer
gestellte Menschen. Mit der Wende ging         in Wegeverbindungen durch das Viertel,       Erwachsenenspielplatz, auf dem Dinge
die Industrie, die großen Werkhallen blie-     den grünen Gleisen. Doch auf das Gebiet      ausprobiert werden konnten. Vor allem
ben. Die ursprünglich 64.000 Einwohner         zwischen Karl-Heine-Straße und Lützner       wurde es zu einem großen Freiraum, den
Lindenaus reduzierten sich auf 25.000,         Straße hatten all diese Maßnahmen kaum       jeder mitgestalten konnte. Bald wirkte
die dadurch leerstehenden Gebäude ver-         Auswirkungen. Erst als 2003 Anwohner         dieser Gestaltungsdrang weit über die
fielen und die Kriminalität im Viertel stieg   vor Ort in Aktion traten und das Gebiet      Brachflächen hinaus, hinein in den unbe-
an. Bestand eine Gefährdung des öffent-        als Gestaltungsfläche entdeckten, wurde      lebten Stadtraum.

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Das Bildhauerviertel im Jahr 2003
                                                                                                                  Unsanierte Gebäude

                                                                                                                  Brachflächen

                                                                                                                  Nachbarschaftsgärten
    Vereinssitz seit 2007
    Haushalten e.V
                                                                                                                                         2004
                                                                                                    2006                                 Erstes
                                                                                                    Notsicherung Lützner Straße 23       Wächterhaus

                                                           Seit 2012
                            Seit 2010                      Gedenkort
            Die ganze Bäckerei
                                                       Seit 2013                     Bis 2008
                                                       BuchKindergarten              Baracke

                                                                       Die »Villa«

                                               Seit 2013
                            Verkehrsberuhigter Bereich

                                                                                                Seit 2004
                                                                                                Nachbarschaftsgärten

                                                                              2011
                                                                              Erster Neubau
                                                                                                              Flurstück 116

                                                                                                  Seit 2004
                                                                                                  RAD-Haus

                                                                                          2006–2014
                                                                                          Strohballenhaus

                                                                                                   Bis 2010
                                                                                                   4.8 Mio. Euro Grundschulden

    N

W       O
            Stadt Leipzig
        8 Gemarkung Lindenau
    S
Mehr als die Summe der Einzelteile - Wunderwesten
»Es herrschte eine unglaubliche
                              Aufbruchsstimmung.«
          Gemeinsam mit anderen Akteuren gründete Christina Weiß 2001 den Lindenauer Stadtteilverein, der 2003
        auch ein familienfreundliches Projekt in der Roßmarktstraße etablierte. Anschließend arbeitete der Verein aktiv
          daran, das damals trostlose Viertel um die Josephstraße neu zu beleben. Nachdem sie den Prozess über die
         Jahre hinweg aktiv begleitete, zog sie sich 2008 mit der Ausgründung des Nachbarschaftsgärten e. V. aus der
          ersten Reihe zurück und widmet sich seitdem anderen Projekten, unter anderem der Stadtentwicklung in der
                                                      Georg-Schwarz-Straße.

Wann ging das mit der Josephstraße los?         als brach und einige Häuser waren ein-        Arbeit mit anderen haben. Was wir hier
Kurz nachdem wir 2003 in die Roßmarkt-          sturzgefährdet. Dort ging man nachts nicht    tun, ist mehr als die Summe der Einzeltei-
straße gezogen waren, standen jede Woche        hin. Es gab Drogendealer, die sich gegen-     le – so hatte Stefan Geiss   S. 42 das mal
Leute bei uns im Garten und wollten einzie-     seitig die Buden angezündet haben. Dort,      formuliert. Die Stadtverwaltung ist nicht in
hen, weil sie es so schön fanden. Uns wurde     wo jetzt der BuchKindergarten steht, la-      der Lage, mit Wirtschaft und Privateigen-
schnell klar, dass sie nicht die Wohnungen      gen wochenlang ausgeweidete Hammel in         tümern so zu kommunizieren, wie wir das
meinten, sondern den großen Garten. Frank       den Hinterhöfen. Eine ausgebrannte Pony-      können. Die Verwaltung kann Mahnungen
Lehmann   S. 47, der damalige Geschäfts-       kutsche stand lange mitten auf der Straße.    schicken, aber das hilft nicht immer. Wir
führer unserer Genossenschaft, hatte dann       Das kann man sich heute gar nicht mehr        haben gemeinsam einen größeren Hand-
die Idee, dass man doch die Freiflächen in      vorstellen.                                   lungsspielraum und können dann auch an
der Josephstraße nutzen und im Umfeld           Den Startschuss hat dann Frank Lehmann        Eigentümer herantreten, die ihre Post nicht
immobilienwirtschaftlich tätig werden           gegeben? Um das Projekt in der Joseph-        lesen oder im Ausland leben. Man braucht
könnte. Damals ging es im Stadtumbau ja         straße zu verorten, ja. Wir hatten damals     dafür Durchhaltevermögen und in Bezug
nur um Abriss. Alles war negativ, es gab        in der Roßmarktstraße schon einen Work-       auf die Stadtverwaltung auch ein formales
überhaupt keine positiven Beispiele für         shop mit den benachbarten Eigentümern         Konstrukt. Solange ich die Idee zur Freiflä-
Nutzungen und weitergehende Konzepte.           und Anwohnern organisiert, um zu sehen,       chennutzung in der Roßmarkstraße als pri-
Es gab zwar Gestattungsvereinbarungen,          was jeder vorhat. So hatten wir eine Kom-     vate Person vorgetragen habe, gab es keine
bei denen der Eigentümer Abrisskosten und       munikationsstruktur zwischen Anwohnern,       Reaktion. Sobald ich die gleiche Idee als fa-
Befreiung von der Grundsteuer erhielt und       Eigentümern und auch mit den Zuständigen      milienfreundliches Projekt des Lindenauer
die Flächen sich als temporäre Grünflächen      in der Stadtverwaltung. Richtig los ging es   Stadtteilvereins vorgetragen habe, ging es
im Stadtteil positiv auf die Entwicklung aus-   in der Josephstraße dann nach einem Jahr      plötzlich.
wirken sollten. Aber ohne private Partner,      Vorbereitungszeit mit den Baulagern 2004.     Anhand des Verkehrszeichens 325, das um-
die das auch füllen konnten, vermüllten die     Was halten Sie für unabdingbar, um solch      gangssprachlich eine Spielstraße definiert,
Flächen eben wieder. In der Roßmarkstraße       einen Prozess anzuschieben? Was müs-          lässt sich das gut erläutern. Wir lokalen
war das plötzlich anders: Da kümmerte sich      sen die Engagierten dafür mitbringen?         Akteure sagten in den Workshops immer
jemand. Auch die Josephstraße lag mehr          Sie sollten neugierig sein und Spaß an der    Spielstraße dazu, weil das unsere konkrete

                                                                                                                                         9
Mehr als die Summe der Einzelteile - Wunderwesten
Vorstellung war. Der Verwaltung hingegen        dann der Moment gekommen, an dem ich
                                                  war die Verwendung der offiziellen Be-          nach anderen Ausschau halte, die das bes-
                                                  zeichnung wichtig. Es war ein gegenseiti-       ser können als ich.
                                                  ger Lernprozess. Die Verwaltung sah, dass       Was haben Sie sich für das Bildhauervier-
                                                  wir sie nicht ärgern wollten, wenn wir die      tel gewünscht? Es ging für mich immer um
                                                  umgangssprachliche Bezeichnung nannten          Personen und deren Freiräume, nie nur um
                                                  und wir lernten, dass die verschiedenen         Gebäude. Wenn wir uns mit Räumen be-
                                                  Ämter über diese Bezeichnung miteinander        schäftigten, dann immer nur, um den Men-
                                                  kommunizieren.                                  schen die Möglichkeit zu geben, ihr Umfeld
                                                  Es fällt immer der Begriff Akteur, wenn         darin selbst mitzugestalten.
                                                  man über die Entwicklung des Bildhau-           Waren die beteiligten Personen dann auch
                                                  erviertels spricht. Bezeichnen Sie sich         die größten Hindernisse? Eigentlich gab
Rainer Müller und Wilfried Grünert beim           selbst so? Die Bezeichnung selbst ist mir       es keine Hindernisse, es gab ja auch kein
Mauern des Abwasserschachts 2004.                 egal, wichtig ist das Selbstverständnis da-     vorgegebenes Ziel. Höchstens zu Beginn,
                                                  hinter. Wenn damit ehrenamtlich agieren-        als wir noch nicht so recht wussten, wie
                                                  de Menschen gemeint sind, die sich ihr          wir mit der Stadtverwaltung umgehen soll-
                                                  Wohnumfeld gestal-
                    »Warum wir als                ten möchten, dann
                       Stadtteilverein sowas      bin ich Akteurin. Ich       »Es ging für mich immer um Personen
                         immer wieder ma-
                         chen? Wir wollten
                                                  halte den Ansatz für        und deren Freiräume, nie nur um
                                                  falsch, einen Beauf-
                         den Verfall stop-
                                                  tragten in ein Gebiet
                                                                              Gebäude.«
                        pen – dafür buddel
                      ich dann auch schon         zu setzen, der dieses
                  mal am Wochenende eine          dann entwickeln soll. Ich engagiere mich in     ten. Da war beispielsweise die Einzahlung
Abwasserleitung neu. Später habe ich dann         meiner Freizeit, weil mir meine Umgebung        einer privaten Spende in die Stadtkasse
auch Stadtteilführungen zu den Entwicklun-
                                                  am Herzen liegt. Ich möchte das nicht pro-      für die fehlenden städtischen Eigenmittel.
gen angeboten, um den Kreislauf zu zeigen
in dieser gut 150 Jahre alten Josephstraße.       fessionell im Leipziger Osten machen. Das       Damit konnten dann Fördermittel abgeru-
Vom bäuerlichen Landtagsabgeordneten              Engagement muss von den Menschen vor            fen werden, die sonst verfallen wären. Das
Dr. Hermann Gottlob Joseph über dörfliche         Ort selbst kommen. Zum Selbstverständ-          war neu, das hatte man vorher so noch
Bebauung, Industrialisierung, über lange          nis gehört bei mir und meinen Mitstreitern      nicht ausprobiert. Am Ende sind es Eigen-
Phasen des Verfalls bis hin zu blühenden          übrigens auch Wir sind die Stadt. Und in der    mittelersatz-Bäume geworden, die wir auf
Landschaften – anfangs Brachen, dann wie-
                                                  Stadtverwaltung arbeiten 5.000 kompe-           dem Grundstück der Nachbarschaftsgärten
der Gärten. Das Interesse an der Entwick-
lung war und ist riesig. Mich selbst fasziniert   tente Angestellte, die wissen, wie es geht.     damit gepflanzt haben. Das war eine ganz
immer, wie Menschen aus unterschiedlicher         Wir müssen nur zusammen wollen.                 wichtige Erkenntnis. Und das war letztend-
Motivation doch an einem Strang ziehen            Können Sie ihre Rolle in diesem Prozess         lich nur möglich, weil uns eine motivierte,
können, wenn man sie zusammen bringt              in wenigen Worten beschreiben? Wenn             aber eben für das Gebiet gar nicht zustän-
wie hier in der Josephstraße: Die einen nut-
                                                  ich mir jetzt etwas anheften soll, könnte       dige Sachbearbeiterin   S. 14 zu einem Kas-
zen den temporären Freiraum, setzen eine
Idee um, andere wollen eine Not beheben           ich sagen, dass es das alles hier ohne mich     senzeichen für die Einzahlung verholfen
und bauen einen Kindergarten, ein eigenes         nicht gegeben hätte. Das ist für mich so aber   hatte. Umwege erhöhen die Ortskenntnis!
Haus. Die einen suchen einen privaten Rück-       nicht wichtig. Ich kann mich auch immer         Welche anderen Meilensteine gab es? Ein-
zugsort, andere kümmern sich und setzen           leichten Herzens von den unterschiedlichen      treffen der ersten Zwischennutzungsver-
städtebauliche Fördergelder im öffentlichen       Projekten trennen. Tobias Habermann   S. 16    träge, Baulager, Eigenmittelersatz-Bäume.
Raum ein. Durch die zeitweise Nutzung von
                                                  konnte damals lange nicht glauben, dass ich     Ein Meilenstein war auch der Tisch, den
Freiflächen wollten wir Entwicklungen im
ganzen Viertel anstoßen.                          HausHalten e. V. und Nachbarschaftsgärten       Jörg Prosch   S. 47 damals gebaut hat: einen
Alles zusammen ergibt das bunte Bild, das         e. V. so einfach ausgründen und abgeben         Meter breit und vier Meter lang und das
wir jetzt hier haben.«                            wollte. Für mich war es eine tolle Zeit, es hat zentrale Element, an dem sich alle zusam-
Rainer Müller, Vereinsvorstand                    viel Spaß gemacht; aber andere können das       menfinden und gemeinsam reden und es-
Lindenauer Stadtteilverein e. V.                  auch und ich habe dann Platz für Neues.         sen konnten. Und dann kam die erste Fami-
                                                  Wie erkennen Sie den Moment, an dem die         lie 2005, die in die Josephstraße gezogen
                                                  Sache läuft und Sie nicht mehr gebraucht        ist. Und natürlich das Strohballenhaus als
                                                  werden? Für die Georg-Schwarz-Straße            Experimentalbau auf einer Gestattungsver-
                                                  hatte ich das schon 2012 für mich festge-       einbarungsfläche. Von der Aktion Mensch
                                                  stellt – wir waren da als Verein ja seit 2007   hatten wir 2006 3.500 Euro erhalten, mit
                                                  aktiv. Es gab seit 2011 das Magistralenma-      denen wir das Baumaterial für einen Aus-
                                                  nagement, und es war klar, dass es von nun      stattungsgegenstand kaufen konnten. Das
                                                  an ein Selbstläufer sein wird. Für mich ist     andere war die innerstädtische Mast-

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Ein großer Tisch ist ein wesentliches Element für ehrenamtliche Projekte, alle können sich hier zum gemeinsamen Austausch und Essen zusammenfinden.

schweinehaltung. Schon in der Roßmarkt-                was dem Ganzen zum Durchbruch verhalf.
straße wollten wir Schweine halten – das               Wie haben Sie es geschafft, dass die Pres-                 »Seit ich 20 Jahre
Veterinäramt fand, dass das in der Stadt               se jeden Tag kam? Es herrschte eine un-                    alt war, habe ich
nicht sein soll. Die zwei Kontrolldamen für            glaubliche Aufbruchsstimmung damals in                     immer von einer
                                                                                                                  Hinterhofwerk-
die Josephstraße fanden dann aber unsere               den Baulagern. Junge Leute aus aller Welt,
                                                                                                                  statt geträumt, zur
Minischweine sooo toll und rieten zu ei-               gutes Wetter, leckeres Essen – das war an-                 Selbstverwirklichung.
ner Stallhaltung mit gelegentlichem Auslauf.           steckend. Wir haben täglich veröffentlicht,                Mit der Josephstraße 27
Ein wichtiger Meilenstein war auch, für                was wir benötigten: Gummistiefel, Garten-                  will ich das für mich oder jemand anderen,
das gesamte Projekt Wasser und Strom                   geräte oder Geschirr, aber auch Menschen,                  mir Ähnlichem, ermöglichen. Zusätzlich soll
                                                                                                                  sie ein unkommerzieller Treffpunkt sein. Da
zu haben. Das war nur möglich durch die                die Abendessen kochen oder sich um die
                                                                                                                  die Gefahr bestand, dass das Grundstück
urban ii-Förderung und weil zufällig 2004              Wäsche der Gäste kümmern. Wir haben                        irgendwann einmal verkauft wird und damit
eine Baufirma eine Gasleitung in der Jo-               schließlich so viel Unterstützung erfahren,                die Nachbarschaftsgärten ihre Infrastruktur,
sephstraße verlegt und dafür einen Bagger              dass wir die Menschen sogar darum bitten                   sprich Strom, Wasser, Toilette, Küche und
hatte.                                                 mussten, uns nichts mehr über den Zaun zu                  die Werkstätten, verlieren würden, fragte
Wie begann das erste Baulager? Wir sind                werfen, weil wir sonst das Tor nicht mehr                  Christina Weiß mich, ob ich nicht Interesse
                                                                                                                  hätte. Da der Kaufpreis nicht hoch war,
2003 an den Internationalen Bauorden                   aufbekommen hätten.
                                                                                                                  hatte ich keine Bedenken, in eine Baulücke
herangetreten. Der arbeitet mit Freiwilli-             Welche Unterstützung haben Sie in den                      zu investieren. Baulücke deshalb, weil dieses
gen aus der ganzen Welt, die ehrenamtlich              ersten Jahren von der Stadtverwaltung                      Grundstück weiterhin nie als ausschließlich
Bauleistungen für gemeinnützige Zwecke                 erhalten? Das waren die ersten vier Jahre                  privat genutzter Raum, sondern immer auch
erbringen. Die Nachbarschaftsgärten er-                meist andere als die zuständigen Sachbe-                   der Öffentlichkeit zugänglich sein und somit
                                                                                                                  auch an den Anfang der Belebung der
streckten sich ja über eine riesige Fläche,            arbeiterinnen, eher Quartiersmanagement,
                                                                                                                  Josephstraße erinnern soll. Nach aufwän-
die voll war mit Bauschutt und Müll, und               Vicky Günsel in einem Jahr für Leipzig, der                digen Recherchen zu den verbliebenen elf
die erst einmal beräumt werden musste. Es              Villa e. V., Selbstnutzer. Es gab am Anfang                Erben wurde der Kaufvertrag am 19. Juli
gab keinen Mutterboden so wie heute. Zu                ja zunächst die Idee mit dem Portfolioma-                  2010 unterzeichnet.«
Ostern 2004 fand das erste Baulager statt,             nagement, in das das Amt für Stadterneu-                    Michael Quadflieg,
über das die Leipziger Volkszeitung täglich            erung und Wohnungsbauförderung (asw)                        Eigentümer Josephstraße 27
berichtete. Jeder kannte auf einmal die Jo-            dann aber doch 2003 nicht eingestiegen
sephstraße. Auch über das zweite Baulager              ist. Die Baulager aber waren nur möglich,
im Sommer wurde ausführlich berichtet,                 weil wir durch Förderung aus dem Pro-

                                                                                                                                                             11
Standort zu verstetigen. Das wurde dann
                                                                                                          ab 2011 nicht alles weitergeführt. Das ist so
                                                                                                          auch okay; man muss sich aber eben auch
                                                                                                          der Konsequenzen bewusst sein. Letztlich
                                                                                                          entscheidet ausschließlich derjenige, dem
                                                                                                          die Fläche gehört, was damit gemacht wird.
                                                                                                          War es ein Zufall, dass die große Fläche
                                                                                                          der Nachbarschaftsgärten nur einem
                                                                                                          einzigen Eigentümer gehörte? Der große
                                                                                                          Innenteil war früher einmal ein Gärtnerei-
                                                                                                          gelände, das zu DDR-Zeiten fast komplett
                                                                                                          betoniert und später von einer Schweizer
                                                                                                          Immobilien AG zusammengekauft wurde.
                                                                                                          Das Gelände umfasste fünf Einzelgrund-
                                                                                                          stücke, die wir – mit vier weiteren Nachbar-
                                                                                                          grundstücken – 2008 in einem Vertrag dem
                                                                                                          Nachbarschaftsgärten e. V. übergeben ha-
                                                                                                          ben. Für alle anderen Grundstücke hat der
                                                                                                          ausgegründete Verein eigene Verträge ab-
                                                                                                          geschlossen. Von den Schweizern war aber
Blick auf den zur Josephstraße liegenden Eingangsbereich der späteren Nachbarschaftsgärten im Jahr 2004   kein Ansprechpartner wirklich greifbar. Erst
mit den brachliegenden Gebäuden für Holzwerkstatt und RAD-Haus.                                           mit dem Verkauf 2015 gab es jemanden.
                                                                                                          Deshalb ist der Lindenauer Stadtteilverein
                                                                                                          dann auch zum Jahresende 2015 aus dem
gramm urban ii finanziell die Möglichkeit             labor hat die Workshops seitdem mode-               letzten Vertrag ausgestiegen. Die Nachbar-
dazu erhielten und Norbert Raschke   S. 13           riert. Diese dauern etwa vier Stunden und           schaftsgärten hatten so die Möglichkeit,
als zuständiger Koordinator das zwar zu-              werden meist über ein halbes Jahr hinweg            das innenliegende Flurstück 116 zunächst
nächst etwas skeptisch betrachtete, aber              detailliert von uns Ehrenamtlichen vorbe-           selbst zu pachten und dann vielleicht zu
eben auch neugierig genug war und grund-              reitet. Jeder Teilnehmer soll die gleichen          erwerben. Der neue Eigentümer baut jetzt
sätzlich wohlwollend. Nach dem ersten                 Ausgangsinformationen haben. Anfangs                in Blockrandschließung auf der Siemering-
Baulager hat Karsten Gerkens   S. 48 dann            hatte uns die Stadtverwaltung sogar noch            straße fünfgeschossig und wird in die Flä-
mehrfach auf meinen Anrufbeantwor-                    mehr oder weniger verboten, bestimmte In-           che dahinter einen Solitärbau setzen. Das
ter gesprochen und wollte sich doch über              formationen, wie zum Beispiel Bebauungs-            ist sein gutes Recht. Super nett ist, dass er
Brachflächenmanagement unterhalten.                   pläne, herumzuschicken. Das ist heute kein          die innenliegende Fläche zuerst den Nach-
Daraus ist dann leider nicht viel geworden.           Thema mehr, und Teil eines Lernprozesses,           barschaftsgärten angeboten hat.
Unsere konkreten Vor-Ort-Erfahrungen                  von dem die Sachbearbeiter auch anderswo            Wer ist Ihrer Meinung nach die Zielgruppe
wurden nicht weiter genutzt, sondern in               profitieren können.                                 für diese Dokumentation? Wichtig ist uns,
Form einer stadtweiten Datenbank digitali-            2001 war Fritjof Mothes schon Moderator             eine Übertragbarkeit der Prozesse ablesbar
siert. Das passte einfach nicht zur Materie.          in einem Workshop für den Lindenauer                zu machen. Das Thema Zwischennutzung
Erst als 2007 Birgit Seeberger   S. 36 und           Markt. Wie haben Sie ihn damals erlebt? Er          ist für Leipzig so nicht mehr relevant. Für
Stefan Geiss   S. 42 zuständig wurden, fing          hat das fachliche Wissen und ein unglaubli-         andere Städte wird es jetzt erst interes-
die Zusammenarbeit mit den asw richtig                ches Gespür dafür, was möglich ist. Es war          sant. Leer stehende Häuser in Deutschland
an. Unsere Forderung war schnell klar: ein            immer das Ziel, einen Konsens zu erreichen,         findet man nicht mehr nur im Osten, son-
sichtbares Zeichen im öffentlichen Raum               hinter dem später alle stehen können.               dern auch zum Beispiel im Ruhrgebiet oder
als Bekenntnis von Verwaltung und Politik             Hätte man die gesamten Flächen der                  im ländlichen Raum. Leipzig erhält immer
zum Standort. Die Idee war dann später der            Nachbarschaftsgärten Ihrer Meinung                  mehr Anfragen zur schrumpfenden Stadt,
Bau einer Spielstraße. Die Finanzierung war           nach erhalten können? Die Frage hat sich            zu Zwischennutzung und Leerstand. Des-
zwischendurch gefährdet, aber Birgit See-             meines Erachtens so nicht gestellt. Was ja          halb ist diese Broschüre für Stadtverwal-
berger hat einfach nicht locker gelassen.             in jedem Fall weiter existieren wird, sind die      tung und Vereine auch eine Arbeitserleich-
Die Idee zu den Planungs- und Verkehrs-               Fläche der Stadt und das RAD-Haus: Wir              terung. Und es ist eine Wertschätzung für
workshops kam vom Lindenauer Stadt-                   haben 2008 jemanden gebeten, das Ge-                die vielen Menschen, die die Entwicklung
teilverein. Gab es für Sie Beispiele, die             bäude mit den Versorgungsanschlüssen zu             des Bildhauerviertels so maßgeblich mitbe-
Sie heranziehen konnten? Die Idee zu den              kaufen. Jemanden, bei dem wir sicher sind,          stimmt haben.
Workshops kam 2001 von Stephan Besier,                dass es dann dem Stadtteil erhalten bleibt.
                                                                                                          Das vollständige Interview finden Sie unter:
er ist Stadt- und Verkehrsplaner. Fritjof             Wir hatten auch mit den Workshops Ver-
                                                                                                           weiss.wunderwesten.de
Mothes   S. 28 vom Planungslabor Stadt-              schiedenes auf den Weg gebracht, um den

12
»Als ich kam, war                                »Ja, was war das                                  »Josephstraße? Das
                       schon ein Anfang ge-                             hier damals? Das                                  war ein Zeitfenster
                         macht, und jeder hat                            Förderprogramm                                    mit dem Charakter
                         so seine Ordnung.                               urban ii war 2004                                 des Unfertigen; ein
                        Ich habe dann meine                              noch im Aufbau, der                               Freiraum, in dem
                      in der Werkstatt                                 Lindenauer Stadtteil-                             fast alles möglich
                   umgesetzt. Wir haben                             verein kam als Nachbar in                         war, und wo eigene Ideen
einiges an Spenden eingenommen und dafür         unser urban-Zentrum und hatte eine Idee          verwirklicht werden konnten. Wir sind
neues Werkzeug gekauft. Der ganz große           mitgebracht: Brachflächenzwischennutzung         als erste Gärtner auch als Mieter an die
Coup war, als wir über einen Zeitungsbei-        war für uns als Stadtverwaltung damals           Nachbarschaftsgärten gezogen – einfach
trag zu Materialspenden aufgerufen hatten.       eine recht gewagte Idee. Und wir sollten         weil wir hier ohne viel Geld, aber mit viel
Über 200 Räder haben wir damals aus              dann auch noch ein internationales Baulager      persönlichem Einsatz einen Wohn- und
Leipzig und Umland eingesammelt – eine           fördern! Das war für uns einfach ganz neu.       Lebensraum für uns und die Kinder schaffen
Riesenaktion. Die meisten wurden aufge-          Und sehr ungewöhnlich, dass da ein Verein        konnten, mit den Nachbarschaftsgärten
bessert, andere waren Ersatzteilspender.         dafür gerade steht und die Verantwortung         als grünem Wohnzimmer. Tür auf und
Manche haben sich hier im Projekt ihr zwei-      für solche Rechtsgeschäfte mit den Grund-        raus. Später haben wir genau so auch ein
tes Wohnzimmer eingerichtet. Das habe ich        stückseigentümern übernimmt. Kombiniert          eigentlich abrissreifes Haus mit diversen
zwar nicht, aber wohlgefühlt habe ich mich       mit der Herrichtung von Flächen, baulichen       verfallenen Nebengebäuden erworben und
hier schon, sonst wäre ich ja nicht so lang      Maßnahmen, Sachkosten und Investitionen          2010 bezogen. Mit persönlichem Einsatz
geblieben. Es war einfach angenehm, mal          war das Vorhaben dann aber förderfähig.          und Muskelhypothek haben wir uns hier
mit Gleichgesinnten für andere Menschen          Die Umsetzung hat 2004 dann eine enorme          unseren Lebensraum selbst gestaltet. Das
da zu sein. Bei mir gab‘s auch täglich Kaffee    Aufmerksamkeit bei der lokalen Bevölkerung       war im Nachhinein betrachtet manchmal
und ein Stückchen Kuchen, das untermauert        und auch weit darüber hinaus gefunden:           wirklich sehr, sehr hart. Wir haben die
einfach die Zugehörigkeit. Man unterhält         Wir als Stadtverwaltung, die Fördermittel-       Nachbarn vorher bei den städtebaulichen
sich dann auch über mehr als nur die Män-        geber bis hin zur EU-Ebene – alle waren sehr     Workshops kennengelernt oder eben in den
gel am Rad.«                                     interessiert und haben mit viel Wohlwollen       Gärten – das war eigentlich wie eine Familie.
                                                 diese Erfolgsstory vor Ort bestaunt. Erinne-     Auch mit den Mitarbeitern der Stadtver-
Helmut Renelt, Leiter der Fahrradselbst-
                                                 rungen, die ich persönlich damit verbinde,       waltung haben wir dort sehr gut zusammen
hilfewerkstatt 2006–2009
                                                 sind der langjährige Bestand und die Vielfalt    gearbeitet, das ist bestimmt auch nicht
                                                 der Zwischennutzung: Fahrradselbsthilfe-         überall so. Unterstützt hat uns außerdem
                                                 werkstatt, Holzbau, Garten, Projektzone.         das asw beim Abriss, weil wir ja im Sanie-
                      »Ich bin damals durch      Entscheidend ist einfach, wie gut das alles      rungsgebiet liegen. Vom damals mühevoll
                         meine Diplomarbeit      genutzt und angenommen wurde ... letzt-          aufgestellten B-Plan sind heute nicht mehr
                         über temporäre          endlich die Keimzelle für alle Entwicklungen     alle Ideen nachvollziehbar. Die Straße zum
                         Nutzungen nach          rund um die Josephstraße.«                       Beispiel hat sich trotz des schönen Umbaus
                         Lindenau gekommen.                                                       zu einer Raserpiste entwickelt. Und als
                       Ich wollte untersuchen,   Norbert Raschke,
                                                                                                  zum x-ten Mal die Laterne umgefahren
                    ob und wie es möglich        Amt für Stadterneuerung und Wohnungs-
                                                                                                  war, wurde sie einfach entfernt. Also unter
ist, die damals vielen Brachen in der Stadt      bauförderung, 2001–2008 Projektkoordina-
                                                                                                  Verkehrsberuhigung hatten wir uns etwas
ins Bewusstsein der Anwohner zu holen            tor Förderprogramm urban ii
                                                                                                  anderes vorgestellt. Und dennoch – wir
und einer temporären Nutzung durch sie                                                            hätten es immer wieder gemacht. Nur
zuzuführen. Ganz praktisch habe ich bei der                                                       hätten wir heute wahrscheinlich nicht mehr
Anlage der ersten Gärten geholfen. Das war                              »It was my first
                                                                          project of this kind.   den jugendlichen Übermut, den wir beim
besonders spannend, da ganz verschiedene                                                          Bau wirklich immer wieder gebraucht haben.
Leute unterschiedlichen Alters und mit ganz                                Working with
                                                                           people of different    Und noch was. Micha ist gelernter Maurer.
verschiedenen Hintergründen zusammen-                                                             Und konnte sich beim Bau des Strohballen-
kamen.«                                                                    backgrounds – stu-
                                                                         dents, working class,    hauses ab 2006 absolut nicht vorstellen,
Claudia Dahnke,                                                       professionals, unem-        wozu man mit diesem ›Dreck‹ (Lehm) baut.
Landschaftsarchitektin aus Hamburg               ployed. I never experienced such a public        Heute haben wir Lehmputz an den Wänden,
                                                 engagement before. The feeling of coming         weil das Raumklima so schön ist.«
                                                 together without any obligation, but with a      Michael und Barbara Drinhausen,
                                                 lot of fun was so amazing. To give the chan-     erste Gartennutzer, die 2004 auch in
                      »Das waren andere          ce and to show how to use it to everybody.       die Josephstraße zogen
                        Zeiten! Wir hatten       The building of the strawbale house was so
                         das Gefühl von ›alles   interesting for me, too. In towns everybody
                         ist möglich‹. Rück-     is handicapped. But in Josephstraße life
                        blickend komme ich       took another direction apart from watching
                       mir auch instrumenta-     TV and beeing squeezed in small areas of
                   lisiert vor. Die Entwick-     private appartments. Especially for young
lung des Viertels und auch des gesamten          people life is boring in town: We do not
Leipziger Westens finde ich zum Teil sehr        need houses in every place – we need space
erschreckend.«                                   for children. These empty places are more
Sonja Golinski, erste Gärtnerin                  important than houses. Otherwise people
                                                 will get more and more lost.«
                                                 Solomon Oriedo, Anleiter Lehmbau

                                                                                                                                                  13
»Plötzlich war da eine kreative Szene,
                 die lauter verrückte Sachen machte.«
           Kerstin Gall arbeitet seit 1990 im Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung (asw). Damals
           war sie ursprünglich für das Gebiet Grünau zuständig, hatte aber immer ein offenes Ohr für Fragen oder
               Anliegen zu dem Entwicklungsprozess in der Josephstraße. Die ersten Minischweinchen in den
                                        Nachbarschaftsgärten stammten von ihrem Hof.

Wie ist das Konzept der Zwischennut-          schennutzungszeitraum. Abriss- und Ge-         Wann wurden Sie mit der Entwicklung
zung entstanden? Wir haben als Amt die        staltungsmaßnahmen auf den herzuricht-         der Josephstraße betraut? Ich war für die
Zwischennutzung zum ersten Mal 1996           enden Flächen wurden durch Fördermitteln       Josephstraße eigentlich gar nicht zustän-
auf mehreren Grundstücken entlang der         unterstützt, wenn die Flächen öffentlich       dig. Aber ich kannte Christina Weiß aus
Prager Straße und im Blockinnenbereich        genutzt wurden. Aus der Zwischennutzung        dem Projekt Roßmarktstraße und habe ihr
getestet. Wir haben Nutzen und Lasten für     von Flächen haben wir 2004 die Zwischen-       einfach zugehört und Tipps gegeben, wenn
Eigentümer und Nutzer in Form einer Ge-       nutzung von Gebäuden entwickelt. Weil wir      sie Fragen hatte. Sie hatte die Eigentümer
stattungsvereinbarung gerecht aufgeteilt.     der Meinung waren, was bei Flächen funk-       ausfindig gemacht und mit deren Einver-
Damals gab es in Leipzig viele leerstehen-    tioniert, kann auch mit Gebäuden klappen.      ständnis gemeinsam mit Akteuren aus dem
de Wohnungen und wenig wohnungsnahe           Als Astrid Heck, Koordinatorin für urban ii    Gebiet begonnen, die Flächen zu bespielen.
Grün- und Freiflächen. Wir wollten die        Stadtraum und Verkehr, und ich gemein-         Zu Beginn war ich eher skeptisch, habe aber
Gründerzeitquartiere wettbewerbsfähig         sam mit Christina Weiß   S. 9 frühstückten,   gelernt, dass man manchmal Mut und Ver-
und attraktiv machen. Wir haben damals        ergab sich folgendes Szenario: Uns war         trauen haben muss, andere Wege zu gehen.
damit gerechnet, dass es Jahrzehnte dau-      klar, wir brauchten jemand, der sich um die    Dieser Stadtteil tickte ein wenig anders als
ern würde, bis alle vorhandenen Woh-          leerstehenden, unsanierten und verwahrlo-      die anderen Stadtteile, in denen ich bisher
nungen bewohnt wären. Die Gestattungs-        sten Gebäude in Lindenau kümmert, deren        tätig war. Damals gab es den Begriff der
vereinbarung diente als Mittel zum Zweck,     Eigentümer nicht in Leipzig ansässig waren.    Kreativwirtschaft noch nicht.
Flächen als Bauland zu erhalten und diese     Christina Weiß definierte den Begriff als      Was genau meinen Sie damit? Plötzlich
als Grünflächen oder Spielplätze zu nutzen.   Wächter. Aus dieser Idee heraus entstanden     war da eine kreative Szene, die lauter ver-
Die Schaffung von Grünen Trittsteinen war     die Hauswächter und der Begriff Haushalten.    rückte Sachen machte – nur weil man denen
eine Perspektive für ungenutzte Grund-        Die Idee kam von Astrid Heck, da diese das     den Raum dafür gegeben hat. Vom papua-
stücke. Die Lasten, die der Eigentümer zu     Freiflächenprojekt Stadthalten rund um den     nischen Erdlochessen bis hin zur Schwei-
tragen hatte, war die Gewährleistung der      Lindenauer Markt begleitet hatte. Im Herbst    nehaltung. Da hatten sich Menschen ver-
Verkehrssicherungspflicht und die Pfle-       2004 wurde der HausHalten e. V. gegrün-        sammelt, die engagiert waren und keine
ge und Unterhaltung der hergerichteten        det – einfach auch um die vielen Leuten und    Dollarzeichen in den Augen hatten. Sie
Flächen. Im Gegenzug kam es von Seiten        deren Engagement zu nutzen, die sich da im     haben sich um alles selbst gekümmert und
der Stadt Leipzig zur Befreiung von der       Laufe des Sommers rund um die Baulager         eine große Öffentlichkeit erreicht. Das hat
Grundsteuer über den geregelten Zwi-          zusammen gefunden hatten.                      mir Vertrauen gegeben, dieses Vorhaben zu

14
»Die schönste Zeit
                                                                                                                 hatte ich hier mit
                                                                                                                 meinen Kindern – die
                                                                                                                 Freifläche, verträumt
                                                                                                                 und ein bisschen
                                                                                                                 wild, unbeschwert zu
                                                                                                                 genießen, im Garten zu
                                                                                                                 arbeiten, an der frischen Luft zu sein und
                                                                                                                 dass man hier abseits der Hundeplätze auch
                                                                                                                 seine Kinder frei spielen lassen konnte. Und
                                                                                                                 worauf ich auch stolz war, dass wir mitten
                                                                                                                 in der Stadt ein paar Minischweine hatten,
                                                                                                                 die hier grunzten und für ländliche Idylle
                                                                                                                 sorgten. Wir haben das öfter diskutiert, im
                                                                                                                 Vorstand und im Verein, wie man so einen
                                                                                                                 Lebensraum erhalten kann. Vielleicht hat
                                                                                                                 ja alles auch einfach so seine Zeit. Schön
                                                                                                                 wäre es trotzdem, wenn ein Teil der Gärten
                                                                                                                 erhalten bleiben könnte, um diese doch sehr
                                                                                                                 eng bebauten Häuserzeilen in Lindenau
                                                                                                                 aufzulockern.«
                                                                                                                  Dr. Katja Cremer,
                                                                                                                  ehemalige Vorsitzende
                                                                                                                  Nachbarschaftsgärten e. V.

Pflanztauschaktion (links oben). Papauanisches Erdlochessen (rechts oben). Pflanzung von Eigenmittelersatz-
bäumen (links unten). Fütterung der Minischweinchen (rechts unten).

unterstützen. Durch kleine öffentlichkeits-            lang nur Kosten mit ihren Grundstücken, die            Sehen Sie die Zwischennutzung heute kri-
wirksame Beiträge konnte man große Auf-                immer mehr verwahrlosten. Dadurch konn-                tisch? Die Menschen, die Leipzig lebendig
merksamkeit auf die Grundstücksflächen in              ten wir ganz anders verhandeln, als wir ihre           und bunt gemacht haben, geraten zuneh-
der Josephstraße lenken.                               Zustimmung für die Nutzung der Flächen                 mend unter Druck, weil sie sich die Miete
Ein Meilenstein war die Pflanzung der                  brauchten. Wir hatten die Nutzer. Durch                nicht mehr leisten können oder Zwischen-
Eigenmittelersatzbäume. Was ist die                    diese verrückten Kampagnen haben die Ei-               nutzungen beendet werden. Das war von
Geschichte dahinter? Es ist verwaltungs-               gentümer sicherlich kein Minus gemacht,                vornherein klar, wenn die Stadt nicht ge-
organisatorisch nicht einfach, eine in die             denn die Nutzer haben eine Adresse für die             wachsen wäre, hätten wir die Nutzer nicht
Stadtkasse eingezahlte Spende an einem                 Grundstücke gebildet und ein Image herge-              verloren. Ich bin froh, dass die Stadt wächst.
gewünschten Ort zum Einsatz kommen zu                  stellt. Da perspektivisch wieder Wohnraum              Ich kann aber die Menschen verstehen, weil
lassen. Es gab eine Arbeitsgruppe, in der je-          fehlt, sind das lukrative Flächen.                     es weh tut, gewohnte Dinge nicht mehr tun
der von uns einen kleinen Betrag spendete              Von dieser Entwicklung scheinen vor allem              zu können. Das ist auch kein städtisches
und dadurch 150 Euro zusammenkamen.                    die Eigentümer zu proftieren und weniger               Problem. Das Eigentumsrecht ist eine ge-
Der Verein war lange einem Kassenzeichen               die Nutzer, welche die Flächen populär ge-             sellschaftsrechtliche Tatsache, die im Bür-
zur Einzahlung hinterhergelaufen. Das habe             macht haben. Ja, aber es war immer klar,               gerlichen Gesetzbuch verankert ist.
ich dann einfach mal besorgt. Gemeinsam                dass diese Flächen bebaut werden dürfen.
haben wir gezeigt, dass es einen Weg gibt              Wären die Flächen der Nachbarschafts-
und wie genau es geht.                                 gärten nicht gut für sozialen Wohnungs-
Haben Sie viele Fördermittel in die Joseph-            bau geeignet gewesen? Es sind private
straße gesteckt? Ich persönlich habe offizi-           Flächen. Die Stadtverwaltung erwirbt kei-
ell nur bei den Eigenmittelersatzbäumen                ne Flächen von privaten Eigentümern zum
mitgewirkt, da die Gebietsverantwortliche              sozialen Wohnungsbau. Der Eigentümer
im Urlaub war. In diesem speziellen Fall war           kann hier selbst entscheiden.
gar nicht viel Geld erforderlich. Um Christi-          Auf welchen Flächen baut die Stadtver-
na Weiß hatten sich Menschen versammelt,               waltung? Die Stadtverwaltung selbst be-
die auch einmal ohne Geld etwas gemacht                treibt keinen sozialen Wohnungsbau. Sie
haben. Ihnen fehlten nur die Flächen. Die Ei-          stellt höchstens die Grundstücke zur Ver-
gentümer auf der anderen Seite hatten bis-             fügung.

                                                                                                                                                           15
»Die Josephstraße war die perfekte Kulisse für
        einen Film über den zweiten Weltkrieg.«
      Direkt im Anschluss an sein Studium der Politikwissenschaft begann Tobias Habermann mit seiner Arbeit im
        Quartiersmanagement des Stadtteils Lindenau. Im Rahmen verschiedener Förderprojekte begleitete und
         unterstützte er in der Folge die ersten Projekte der Stadtteilentwicklung rund um die Josephstraße, wie
                                             beispielsweise die Baulager 2004.

16
Impressionen der beiden Baulager 2004, die auf den Flächen der späteren Nachbarschaftsgärten stattfanden.

Wie sind Sie zu dem Projekt gestoßen?            lung. Insgesamt standen 20 Millionen Euro              in der Stadt zu generieren. Die Experten
Im April 2003 begann ich meine Arbeit            für die Entwicklung des Leipziger Wes-                 haben damals schon von Reurbanisierung
im Quartiersmanagement Leipziger Wes-            tens zur Verfügung. Beginnend in Klein-                gesprochen. Die Menschen ziehen auf die
ten und im Herbst fragte mich Christina          zschocher, bis nach Leutzsch. Wir konnten              Grüne Wiese, weil sie ein Haus mit Garten
Weiß   S. 9, ob ich sie bei der Blockentwick-   nicht frei darüber verfügen. Das Budget                wollen. Wozu soll man noch auf das Land
lung Josephstraße unterstützen könne.            war aufgeteilt in die drei Themenbereiche              ziehen, wenn man den Garten auch hier
Ist das Quartiersmanagement vergleich-           Wirtschaftsförderung, städtebauliche Ent-              in der Stadt haben kann. Ausgangspunkt
bar mit dem Stadtteilladen heute? Im             wicklung und soziale Entwicklung. Damit                für diese Idee war das Wohnprojekt in der
Prinzip schon. Es gab schon 2002 ein Quar-       sind ein Teil des Henriettenparks gebaut               Roßmarktstraße 30.
tiersmanagement in Kleinzschocher, mit           und mehrere Brachflächen umgewandelt                   Wie würden Sie Ihre Rolle in diesem Pro-
Peggy Diebler als Quartiersmanagerin. Auf        worden. Das Quartiersmanagement wurde                  zess beschreiben? Sie haben mit ehren-
Drängen der lokalen Akteure in Lindenau,         auch von diesen Mittel finanziert.                     amtlich agierenden Bürgern gearbeitet,
Plagwitz und Leutzsch wurde das Quar-            Wie wirkte die Josephstraße auf Sie, als               zu einer Zeit, zu der das asw ausgestiegen
tiersmanagement auf das gesamte Förder-          Christina Weiß Sie um Unterstützung                    ist. Waren Sie ein Vermittler? Ich hatte
gebiet urban ii Leipziger Westen erweitert.      bat? Die Josephstraße befand sich in ei-               eine Moderationsfunktion und war eine
Zunächst wollten die Programmverant-             nem extrem schlechten baulichen und                    Schnittstelle zwischen den Bürgern und
wortlichen sehen, welche Schwerpunkte            auch sozialen Zustand. Es war die perfek-              der Stadtverwaltung. Als Beauftragter der
man setzen konnte. Einer davon war die           te Kulisse für einen Film über den zweiten             Kommune war ich nicht angestellt bei der
Entwicklung des Lindenauer Markts.               Weltkrieg. Auch das Amt für Stadterneu-                Stadt. Es war unsere Aufgabe, die Initiati-
Ist urban ii ein in sich abgeschlossenes         erung und Wohnungsbauförderung (asw)                   ven der Menschen vor Ort möglichst be-
Projekt gewesen? Über welche Summe               wusste nicht, was es mit dem Bereich ma-               gleitend zu unterstützen. Das Ziel war die
konnte das Quartiersmanagement verfü-            chen sollte. Die Intention von Frau Weiß               Entwicklung des Blocks. Der Fokus der loka-
gen? urban ii war ein Förderprogramm des         war, die Freiflächen als Potentialfläche zu            len Akteure richtete sich aber auf die Fläche
europäischen Fonds für regionale Entwick-        nutzen, um eine neue Form des Wohnens                  der Nachbarschaftsgärten.

                                                                                                                                                         17
Auch auf das Thema Brachflächen an sich.
                                                                                                       Bis zu diesem Zeitpunkt riss man üblicher-
                                                                                                       weise Gebäude ab und installierte eine
                                                                                                       Grünfläche auf der freigewordenen Fläche.
                                                                                                       Da ging es nie um Nutzung.
                                                                                                       In diesem Baulager ist eine extreme Ei-
                                                                                                       gendynamik entstanden, die zu vielen
                                                                                                       Sachspenden und persönlichen Kontakten
                                                                                                       führten. Und dann war auch die Stadtver-
                                                                                                       waltung mit dabei. Erst wurde man etwas
                                                                                                       belächelt, aber als die Entwicklung sichtbar
                                                                                                       wurde, ist auch das asw auf den Zug mit
                                                                                                       aufgesprungen. Diese Eigendynamik im
                                                                                                       Jahr 2004 war dann auch die Initialzün-
                                                                                                       dung für das Konzept der Wächterhäuser,
                                                                                                       das eine Zwischennutzung von Gebäuden
                                                                                                       vorsieht.
                                                                                                       Sehen Sie die Zwischennutzung aus heu-
Gruppenbild des Internationalen Bauordens 2004 anlässlich des Baulagers in den Nachbarschaftsgärten.   tiger Sicht kritisch? Nein. Ich sehe Zwi-
                                                                                                       schennutzung nicht kritisch. Man muss
                                                                                                       dem Begriff folgen und muss sagen, was
                     »Wir sind seit 1904 in           Was heißt Blockentwicklung für Sie? Der          war und was wird. Die ursprüngliche Idee
                       der dritten Generati-          Ursprungsgedanke für den Block Joseph-           der Blockentwicklung konnte nur funktio-
                        on mit dem Ladenge-           straße war, das große Grün und die vielen        nieren, weil sich Christina Weiß an einer
                        schäft vor Ort gewe-
                                                      vielen leerstehenden Häuser des Blocks zu        Sache festbiss und diese mit einer Ausdauer
                        sen – 111 Jahre. Nach
                      der Wende ist ja erst           nutzen, die es damals noch gab. Das gingen       verfolgte, wo jeder andere bereits aufge-
                    mal alles weggekommen.            wir konkret an und versuchten, die Eigentü-      geben hätte. Ohne ihr Engagement wäre
Betriebe, alle weg – wir waren ja fast die            mer zu ermitteln und herauszufinden, was         das Viertel noch immer in einem erbärmli-
einzigen hier. Nicht mit großen Meilenstei-           sie mit ihren Gebäuden und Grundstücken          chen Zustand. Es gab Grundstücke in dem
nen, aber langsam und immer mehr hat sich
                                                      vorhatten.                                       Block, bei denen man in den 1990ern eine
dann was getan. Das hätten wir so nicht
gedacht, dass mal wieder was kommt. Oder              War es neu für Sie, mit so vielen Ehren-         Sanierung begann, sie dann aber sich selbst
wenn, dann 30, 40 Jahre später. Da freut              amtlichen zu arbeiten und eine große             überließ, nachdem die Fördermittel abge-
man sich dann einfach.«                               Aktionsfläche zu haben? Im Bereich Kon-          griffen waren. Christina Weiß hat an ein
Dorothea Frank, Firma Eisen-Gross,                    fliktmanagement war ich während meines           herrenloses Haus, auf dem 4,8 Millionen
vor Ort seit vier Generationen. Übergab               Studiums schon auf Vereinsbasis tätig und        Euro Grundschulden lasteten, so lange ein
2016 das Familienunternehmen an eine                  konnte da Erfahrung sammeln. Man hat             Schild gehängt, bis schließlich Sebastian
Initiative aus dem Stadtteil.                         ein Ziel und überlegt gemeinsam, wie man         Stiess   S. 34  die Aneignung und die damit
                                                      pragmatisch vorgehen kann.                       verbundene jahrelange Diskussion mit den
                                                      Was war Ihr Wunsch für das Viertel? Ins-         Gläubigern wagte. Das sind Prozesse, die
                      »Ich laufe die Straße           gesamt eine städtebauliche Entwicklung           nur über Hartnäckigkeit, dranbleiben, nach-
                         entlang und sehe             – im Bereich der Gebäude, der Grün- und          telefonieren und immer wieder reingehen
                          ganz viele Risse.           Straßenflächen und auch im sozialen Be-          funktioniert haben. Die Sachbearbeiter der
                          Frisch verputzt und
                                                      reich. Die konkrete erste Herausforderung        Stadtverwaltung hätten hier vorher aufge-
                          schon Risse. Aber
                        alles hat sich hier           war die Ermittlung der Eigentümer. Wir           geben. Diese Grundbuchlöschung war eine
                      insgesamt beruhigt, es          wollten Aufmerksamkeit auf die Flächen           der phänomenalsten Leistungen. Überzeu-
                 ist weniger gefährlich, nette        lenken und Menschen dazu bringen, den            gen Sie mal eine Bank, Geld abzuschreiben.
Leute. Und ich mag auch die neue Architek-            Freiraum für sich zu nutzen. Das war ein         Hinzu kommt, dass Immobilienfonds unter
tur – insbesondere das Backsteingebäude
                                                      erster Schritt, um mediale Aufmerksamkeit        bestimmten Umständen mehr an einem
und den Kubus. Einige mögen es nicht, aber
ich finde es erfrischend. Alles ist gepflegt.«        zu erreichen. Christina Weiß hat dann Kon-       leerstehenden Objekt durch Abschrei-
                                                      takt mit dem Internationalen Bauorden auf-       bungen verdienen, als wenn sie es unter
Boris Siradovic, Nachbar
                                                      genommen und erreicht, dass die Leipziger        Wert vermieten. Aufgrund der steuerlichen
                                                      Volkszeitung die Baulager zu Ostern und im       Vorteile fahren die Eigentümer damit we-
                                                      Sommer medial begleitete.                        sentlich besser, als wenn sie das Gebäude
                                                      Das war sehr wichtig? Das war ein ganz           vermieten. So funktionieren manchmal Pro-
                                                      wichtiger Punkt, weil so eine Menge Auf-         zesse. Vor Ort flucht man, weil man nicht
                                                      merksamkeit auf das Thema gelenkt wurde.         versteht, was dort passiert. Es grenzt an ein

18
Wunder, dass eine Bank, für die nur Zahlen       massiver Gewinn, da ihre Immobilien ins
zählen, eine Grundschuld auf Null gesetzt        Gespräch gekommen sind und so lange ge-
hat.                                             halten wurden, bis sie wieder wirtschaftlich
Sind Sie mit der Gesamtentwicklung zu-           vermietet werden konnten. Für die Zwi-
frieden? Mich hat gewundert, dass es so          schennutzer lässt sich schwer ein Fazit zie-
lange gedauert hat. Nach dem zweiten Bau-        hen. Sie haben zwar teilweise viel Kraft und
lager 2004 war so viel Eigendynamik in dem       Zeit in die Immobilien gesteckt – konnten
Projekt, dass es einfach weitergehen muss-       dafür für einen bestimmten Zeitraum ihren
te. Bereits 2003 gab es die ersten Ideen, die    Traum ausleben, den sie sonst nie hätten
am Küchentisch von Christina Weiß disku-         realisieren können. Hinzu kommt, dass bei
tiert wurden. Diesbezüglich hat es schon         den Nutzern solcher Projekte auch immer
lange gedauert, bis jetzt der letzte Straßen-    eine Generationsentwicklung stattfindet.
abschnitt der Josephstraße saniert wurde.        Bei vielen Menschen wachsen die Wohnun-
Sie waren bis 2006 beteiligt? Wir haben          gen und Ansprüche mit dem Gehalt: Men-
den Prozess weiterhin moderierend beglei-        schen werden sesshaft, die früher durch die     Kompletter Körpereinsatz machte die Gärten zur
tet, hatten eine tragende Rolle aber nur bis     Straßen gezogen sind. Die haben jetzt ein       grünen Oase.

zum zweiten Baulager. Dann gab es so viele       vernünftiges Gehalt und gründen Familien.
andere Akteure, sodass das Quartiersma-          Man kann ja als Nutzer auch zurückschau-       es Menschen im asw und bei urban ii, die
nagement nicht mehr so wichtig war.              en und sagen, ich hatte eine super Zeit und    mutige Entscheidungen getroffen haben
Wie haben Sie die Eigentümer recher-             es hat mir Spaß gemacht. Aber natürlich ist    und Fördergelder zur Verfügung stellten.
chiert? Da die Eigentümer nicht vor Ort          man traurig, weil man viel Herzblut hinein-    Man muss auch positiv die Eigentümer er-
waren, versuchten wir diese über das Lie-        gesteckt hat.                                  wähnen, die konstruktiv und kreativ mitge-
genschaftsamt ausfindig zu machen. Am            Was sagen Sie zu dem Verkauf der Flä-          macht haben.
Anfang war das sehr, sehr schwierig.             chen? Dass die Gärten zum Teil bebaut          Wie ist Ihre Prognose für die Zukunft? Der
Würden Sie sagen, dass die Entwicklung           werden würden, war von Beginn an klar.         Bereich rings um den Plagwitzer Bahnhof
in der Josephstraße außergewöhnlich ist?         Die kreisfreien Städte in Sachsen haben        hat großes Potenzial. In zehn bis fünfzehn
Wie kam es zu dieser Entwicklung? Das            eine Staubsaugerfunktion für junge gut         Jahren sehe ich hier Einfamilienhäuser, Rei-
hat viel mit Menschen zu tun. Eine ähnli-        ausgebildete Menschen, die hier den            henhäuser oder – wenn der Bedarf weiter
che Entwicklung wäre sicherlich auch an          bisherigen Freiraum auch für sich nut-         wächst – dann doch Mehrfamilienhäuser.
anderen Orten rein menschlich möglich            zen möchten. Das ist ein globaler Effekt.      Es gibt diesen Traum vom eigenen Heim in
gewesen, aber nicht von der Situation her.       Schauen Sie sich die Megastädte in Asi-        der Stadt. Optimal gelegen. Bei dieser Auf-
Wenn Sie mit Zwischennutzung in Stuttgart        en oder Lateinamerika an. Da zieht es die      wertung der Viertel bleibt aber immer noch
ankommen, werden Sie ausgelacht. Das             Menschen massenweise vom Land in die           die Frage, was sozial passiert. Wir können
ist dort kein Thema und wird in der Region       Städte. Das ist ein Trend, der überall zu be-  nicht als Erfolg des Projekts vermerken,
auf absehbare Zeit nie ein Thema sein. Der                                                                                 dass wir den Sozial-
Leerstand hier in Leipzig war der Kern für al-   »Es gab einen ungeheuren Willen von                                       schwachen geholfen
les. Man hatte einfach unendlich viel Spiel-                                                                               haben. Das ist ein
                                                 einzelnen Akteuren, etwas in die Wege
raum dadurch. Hinzu kommt eine relativ                                                                                     Kritikpunkt. Vor der
große kreative Szene, die solchen Spielraum      zu leiten. «                                                              jetzigen Verdrängung
sucht. Das waren aber die ursprünglichen                                                                                   der Gartennutzer gab
Rahmenbedingungen, die eine Entwicklung          obachten ist. Und damit einher verringert      es schon einmal einen Verdrängungspro-
in Leipzig stattfinden ließen. Zwischen-         sich in all diesen Städten die Anzahl der      zess. Einige der Häuser in der Josephstra-
nutzung ist ein gutes Mittel, um Häuser zu       Frei- und Grünflächen.                         ße waren komplett ans Sozialamt vermie-
halten, die Substanz zu erhalten. Langfristig    Was hat Sie während der Aktion beson-          tet. Die Menschen die darin wohnten, sind
wird sich ein Haus nicht auf Dauer als Zwi-      ders beeindruckt? Es gab einen ungeheu-        einfach nur weggeschoben worden, wohin
schennutzung halten können. Es sei denn,         ren Willen von einzelnen Akteuren, etwas       auch immer. Wie viel Kraft hat die soge-
die Nutzer investieren auch wieder Geld.         in die Wege leiten zu wollen. Diese lang-      nannte wirtschaftliche Mittelschicht? Wie
Zum Beispiel in eine neue Heizung. Aber ist      fristige Perspektive von Christina Weiß und    viel Ausdehnung braucht sie, um weiter zu
das dann noch Zwischennutzung? Das ist           vielleicht auch die Naivität von einigen Leu-  wachsen? Die Frage ist wohin? Wo ist dann
die Frage. Wo hört Zwischennutzung auf,          ten, die sich auf die Zwischennutzung ein-     die Grenze?
wo beginnt ein Ausbau in Form eines Selbst-      gelassen haben. Hätten sie damals nur in
                                                                                                Das vollständige Interview finden Sie unter:
nutzerhauses?                                    die Zukunft und an das Ende der Zwischen-
                                                                                                 habermann.wunderwesten.de
War die Zwischennutzung als Instrument           nutzung gedacht, dann hätten sie vielleicht
sehr gewinnbringend für die Eigentümer,          nicht so viel investiert. Einige hatten diesen
während die Nutzer selbst kaum pro-              ungeheuren Willen und die Visionskraft für
fitierten? Für die Eigentümer war es ein         die Entwicklung dieses Blocks. Auch gab

                                                                                                                                                  19
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