Integrationsland Deutschland - Vielfalt leben und gestalten 2 - 2011 - Zeitschrift POLITIK UND ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Zeitschrift für die Praxis der politischen Bildung HEFT 2 – 2011, 2. QUARTAL, 37. JAHRGANG Inhalt »Politik & Unterricht« wird von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB) herausgegeben. Editorial 1 HERAUSGEBER Geleitwort des Ministeriums Lothar Frick, Direktor für Kultus, Jugend und Sport 2 CHEFREDAKTEUR Autoren dieses Heftes 2 Dr. Reinhold Weber reinhold.weber@lpb.bwl.de Unterrichtsvorschläge 3 – 18 REDAKTIONSASSISTENZ Sylvia Rösch, sylvia.roesch@lpb.bwl.de Einleitung 3 Mandy Hahn, Stuttgart/Berlin Baustein A: Integrationsland Deutschland 13 ANSCHRIFT DER REDAKTION Baustein B: Integration in einer Großstadt – Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Telefon: 0711/164099-45; Fax: 0711/164099-77 der »Stuttgarter Weg« 14 REDAKTION Baustein C: Migration und Integration – Judith Ernst-Schmidt, Oberstudienrätin, Themen der Zukunft 17 Werner-Siemens-Schule (Gewerbliche Schule für Elektrotechnik), Stuttgart Literatur- und Medienhinweise 18 Dipl.-Päd. Martin Mai, Wilhelm-Lorenz-Realschule, Ettlingen Texte und Materialien 19 – 54 Dipl.-Päd. Holger Meeh, Akademischer Rat, Pädagogische Hochschule Heidelberg Baustein A: Integrationsland Deutschland 20 Wibke Renner-Kasper, Konrektorin der Grund-, Baustein B: Integration in einer Großstadt – Haupt- und Realschule Illingen Angelika Schober-Penz, Studienrätin, der »Stuttgarter Weg« 34 Erich-Bracher-Schule (Kaufmännische Schule), Baustein C: Migration und Integration – Kornwestheim Themen der Zukunft 46 GESTALTUNG TITEL Bertron.Schwarz.Frey, Gruppe für Gestaltung, Ulm www.bertron-schwarz.de GESTALTUNG INNENTEIL Einleitung: Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun, Medienstudio Christoph Lang, Rottenburg a.N., Baustein A: Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun, www.8421medien.de Dr. Reinhold Weber VERLAG Baustein B: Alice Bischof Neckar-Verlag GmbH, Klosterring 1, Baustein C: Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun 78050 Villingen-Schwenningen Anzeigen: Neckar-Verlag GmbH, Uwe Stockburger Dr. Reinhold Weber Telefon: 07721/8987-71; Fax: -50 anzeigen@neckar-verlag.de Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2 vom 1.5.2005. Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter DRUCK www.politikundunterricht.de/2_11/integrationsland.htm PFITZER GmbH & Co. KG, Benzstraße 39, 71272 Renningen Politik & Unterricht erscheint vierteljährlich. Politik & Unterricht wird auf umweltfreundlichem Papier aus FSC-zertifizierten Frischfasern Preis dieser Nummer: 3,20 EUR und Recyclingfasern gedruckt. FSC (Forest Stewardship Council) ist ein weltweites Label Jahresbezugspreis: 12,80 EUR zur Ausweisung von Produkten, die aus nachhaltiger und verantwortungsvoller Waldbewirt- Unregelmäßige Sonderhefte werden zusätzlich schaftung stammen. mit je 3,20 EUR in Rechnung gestellt. Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion. THEMA IM FOLGEHEFT Titelfoto: picture-alliance/dpa Auflage dieses Heftes: 24.000 Exemplare Redaktionsschluss: 15. Mai 2011 ISSN 0344-3531 60 Jahre Baden-Württemberg
Editorial Statistisch gesehen ist Deutschland schon lange Einwan- Im Vordergrund dieser Ausgabe von Politik & Unterricht derungsland. Offiziell anerkannt wird das jedoch erst seit stehen positive und erfolgreiche Beispiele für Maßnahmen, kurzer Zeit. Die Verantwortlichen in Politik, Verwaltung und mit denen die Integration von Menschen mit Migrations- Wirtschaft haben mittlerweile die Themen Migration und In- hintergrund vorangebracht werden konnte. Vielfalt leben tegration als eine der drängendsten gesellschaftspolitischen und gestalten – der Untertitel der Ausgabe betont diesen Gegenwartsfragen des Landes erkannt. Dabei hat sich das inhaltlichen Schwerpunkt. Politikfeld Integration in den letzten Jahren dynamisch entwickelt. Der Nationale Integrationsplan, die nationalen Integrationsgipfel oder auch die Islamkonferenz stehen bei- spielhaft für diese Entwicklung. In den Kommunen, dort wo Integration ganz pragmatisch und im Alltag gelebt wird, hat man die Bedeutung dieser Frage schon weit früher erkannt. Mit dem vorliegenden Heft wollen wir keine gesellschaft- lichen Debatten über eine vermeintlich gelungene oder misslungene Integration nachzeichnen, sondern den Lehre- rinnen und Lehrern des Landes eine Fülle von Materialien mit weiterführenden Arbeitsaufträgen an die Hand geben, um mit Schülerinnen und Schülern das politische Handlungsfeld Integration erarbeiten zu können. In einem ersten Baustein Lothar Frick Dr. Reinhold Weber werden hierzu Daten, Fakten und Definitionen zum Thema Direktor der LpB Chefredakteur Integration geliefert. Im zweiten Baustein steht Stuttgart als bundesweites Vorbild in Sachen Integration im Mittel- punkt, während der dritte Baustein den Blick in die Zukunft richtet und nach dem Zusammenhang von Migration, Inte- gration und demographischer Entwicklung in Deutschland fragt. Neues Redaktionsmitglied: Martin Mai Mehrere Jahre hatte Martin Mai einen Lehrauftrag an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg im Fach Politikwis- senschaft inne. Dort ging es um die Verknüpfung von Theorie und Praxis sowie um methodische Fragen auf dem Feld der politischen Bildung. Vor dem Schuldienst war er Heimleiter im Alfred-Delp-Haus (Katholisches Wohnheim für Studie- rende in Mannheim) sowie pastoraler Mitarbeiter der Katho- lischen Hochschulgemeinde Mannheim. Für die Landeszentrale für politische Bildung war Martin Mai bereits zwei Mal als Autor für »Politik & Unterricht« sowie Im April 2011 hat die Landeszentrale für politische Bildung als Rezensent für die Zeitschrift »Der Bürger im Staat« Baden-Württemberg Herrn Martin Mai in die Redaktion von tätig. Die Redaktion von P&U freut sich auf die kompetente »Politik & Unterricht« berufen. Der Diplom-Pädagoge Martin Bereicherung ihrer Arbeit und auf die Zusammenarbeit mit Mai, geboren 1971, unterrichtet an der Wilhelm-Lorenz- Herrn Mai. Realschule Ettlingen den Fächerverbund EWG (Erdkunde – Wirtschaftslehre – Gemeinschaftskunde) sowie die Fächer Lothar Frick und Dr. Reinhold Weber Deutsch, Katholische Religionslehre und Geschichte. Dort organisiert er auch das Themenorientierte Projekt BORS (Be- rufsorientierung in der Realschule). Politik & Unterricht • 2-2011 1
Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Die immer wieder geführte Diskussion der Frage, ob wir Wir danken der Landeszentrale für politische Bildung Baden- Einwanderungsland sind oder nicht, ist im Grunde ein Streit Württemberg, dass sie mit der vorliegenden Ausgabe von um des Kaisers Bart. In Deutschland leben rund 15 Millionen Politik & Unterricht das wichtige und zukunftsweisende Menschen mit Migrationshintergrund, davon etwa 6,7 Millio- Thema Integration aufgreift und die Lehrerinnen und Lehrer nen ohne deutschen Pass. Eine gelungene Integration findet des Landes damit unterstützt, aktuellen Unterricht gestalten hierzulande schon seit Jahrzehnten statt, wenngleich si- zu können. cherlich in einigen Bereichen noch Verbesserungen erreicht werden können. Aber im Getöse der immer wiederkehrenden Gernot Tauchmann sogenannten Debatten über Integration oder über den Islam Ministerium für Kultus, Jugend und Sport in Deutschland wird bisweilen vergessen, dass in Deutsch- Baden-Württemberg land seit langer Zeit schon Menschen aus zahlreichen unter- schiedlichen Nationen und aus allen Kulturkreisen der Welt friedlich zusammenleben. Darin steckt ein großes Potenzial unseres Landes, das es weiter zu stärken gilt. In den baden-württembergischen Bildungsstandards ist das Thema Integration beispielsweise im Gymnasium im Rahmen des Fachs Gemeinschaftskunde verankert. Die Schülerinnen und Schüler erwerben unter anderem die Kompetenz, »Mög- lichkeiten und Probleme der Integration in einer pluralis- tischen Migrationsgesellschaft dar[zu]stellen fallbezogen [zu] beurteilen«, oder aber, im vierstündigen Wahlkernfach in der Kursstufe, »Maßnahmen der Integrationspolitik [zu] erläutern und in der Kontroverse über Zielsetzung und Reich- weite von Integrationspolitik Stellung [zu] beziehen«. AUTOREN DIESES HEFTES Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun ist Leiter der Redaktion SWR International und Integrations- beauftragter des Senders. Er ist Honorarpro- fessor am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen und Stell- vertretender Vorsitzender des Rates für Mig- ration, eines bundesweiten Zusammenschlusses von Migrations- und Integrationsexperten. Alice Bischof ist Studienrätin am Königin- Charlotte-Gymnasium in Stuttgart-Möhringen. Sie unterrichtet dort die Fächer Gemeinschafts- kunde, Geschichte und Deutsch. Dr. Reinhold Weber ist Chefredakteur der Zeit- schrift Politik & Unterricht bei der LpB Baden- Württemberg. Er ist Lehrbeauftragter am Semi- nar für Zeitgeschichte der Eberhard Karls Uni- versität Tübingen. 2 Politik & Unterricht • 2-2011
Integrationsland Deutschland Vielfalt leben und gestalten ●●● EINLEITUNG sozialer und politischer Integration. Von einer gleichbe- rechtigten Teilhabe an Bildung, Erziehung oder Ausbildung – das belegen zahlreiche Studien unterschiedlicher Proveni- enz – sind wir aber in Deutschland noch weit entfernt. So Migration und Integration bestimmen seit Jahren die Schlag- schneiden ausländische Schülerinnen und Schüler im Durch- zeilen in Deutschland. Oft werden diese Begriffe aber ver- schnitt immer noch deutlich schlechter ab als deutsche wendet, ohne genau zu sagen, was damit eigentlich gemeint Mädchen und Jungen. Wie aus dem Jahresgutachten 2010 ist. Das Wort Migration kommt aus der lateinischen Sprache. des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integra- »Migratio« heißt übersetzt so viel wie »Wanderung«. Die tion und Migration hervorgeht, erreichen Schüler »deutscher Menschen verlassen dabei ihre Heimat, weil sie dort keine Herkunft« zu 32 Prozent die Hoch- oder Fachhochschulreife, Arbeit finden oder aus anderen Gründen fliehen müssen. bei den ausländischen Schülern sind es nur 12 Prozent. Beim Integration (von lat. integrare = wiederherstellen, Herstel- Hauptschulabschluss ist der Unterschied noch größer: 21 lung eines Ganzen) ist die Zusammenführung des »Verschie- Prozent der deutschen, aber rund 40 Prozent der auslän- denen«, wobei das Verschiedene als solches kenntlich bleibt. dischen Schüler haben einen Hauptschulabschluss. In der politischen Diskussion wird dieser Begriff oftmals als Assimilation verstanden, das heißt, als Aufgabe der ei- Gerade aus der deutschen Aus- und Einwanderungsge- genen kulturellen und sprachlichen Herkunft und im Sinne schichte lässt sich ablesen, dass Integration Zeit braucht einer vollständigen Anpassung an die deutsche Gesellschaft. und nicht erzwungen werden kann. Meist dauert es eine Dabei wird in der Regel nicht festgelegt, an welche Normen Generation und länger, bis sich Migranten angepasst haben. und Werte sich die Einwanderer eigentlich genau anpassen Ihre kulturellen Wurzeln behalten gerade auch die Deutschen sollen und was letztendlich das Vorbild eines angepassten im Ausland lange bei und pflegen ihre Traditionen und Ausländers oder eines »integrierten Deutschen« ist. Feste. So gibt es beispielsweise in den USA eine ausge- prägte deutsche Kultur, etwa mit Oktoberfesten oder der Integration stellt aber einen wechselseitigen Prozess zwi- Steuben-Parade als einem der größten Feste im deutsch- schen Zuwanderern und Einheimischen dar. Dabei sollen amerikanischen Festkalender. die Lebensverhältnisse beider Gruppen angeglichen und Chancengleichheit in wichtigen Bereichen der Gesellschaft Die Lebenslüge vom »Nicht-Einwanderungsland« erreicht werden. Integration spielt sich in verschiedenen Deutschland ist kein Einwanderungsland! Dieser Kernsatz Bereichen ab. Man spricht unter anderem von kultureller, stand bereits in der Verwaltungsvorschrift zum Reichs- und Die deutsche Sprache ist eine zentrale Voraussetzung für Bildungserfolg und soziale Integration in Deutschland. picture-alliance/ZB Politik & Unterricht • 2-2011 3
Einleitung Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913, das noch bis 1990 Migranten in die alte Bundesrepublik. Elf Millionen zogen in uneingeschränkt galt »und die Praxis der Einbürgerungs- diesem Zeitraum wieder weg. So wurde Deutschland in dieser behörden bestimmt hat«, wie Dorothea Koller, die jetzige frühen Phase schon zum Einwanderungsland. Leiterin des Stuttgarter Amts für öffentliche Ordnung und langjährige Chefin einer der größten Ausländerbehörden in Erst die Reform des Ausländergesetzes, die am 1. Januar Deutschland, feststellt. Dieses Motto dominierte auch noch 1991 in Kraft trat, markierte eine gewisse Wende in der die Ausländerpolitik der Bundesrepublik in der Zeit der An- Ausländerpolitik. Zum ersten Mal gab es jetzt einen Rechts- werbung der »Gastarbeiter«, die dringend als Arbeitskräfte anspruch auf Einbürgerung. Bereits in den frühen »Gast- im Nachkriegsdeutschland gesucht wurden. 1955 wurde das arbeiterjahren« bemühten sich Kirchen, Gewerkschaften und erste Anwerbeabkommen mit Italien abgeschlossen. 1960 Wohlfahrtsverbände, die Arbeitsmigranten durch Beratungs- folgten Spanien und Griechenland, 1961 die Türkei, 1964 maßnahmen oder »Eingliederungshilfen« zu unterstützen, Portugal, das damalige Jugoslawien 1968. Bereits 1965 traf eine staatliche Integrationspolitik gab es jedoch bis vor die Bundesregierung entsprechende Vereinbarungen mit kurzem nicht. Die Bundesregierung schuf 1978 das Amt Tunesien und Marokko, was weitgehend unbekannt geblie- eines Ausländerbeauftragten. Von 1979 bis 1980 standen ben ist. Jahrzehntelang ging man in Deutschland davon sogar Integrationskonzepte im Mittelpunkt der Ausländer- aus, dass die ausländischen Arbeitskräfte über kurz oder politik. 1979 legte der erste Ausländerbeauftragte der Bun- lang wieder heimkehren würden. Auch die Arbeitsmigranten desregierung und frühere Ministerpräsident von Nordrhein- selbst lebten mit dieser »Rückkehrillusion«. Westfalen, Heinz Kühn (SPD), ein Memorandum vor. Kühn kritisierte die bisherige Ausländerpolitik, die zu sehr von Deutschland ist keinesfalls blind in einen Einwanderungs- arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten geprägt worden prozess hineingeschlittert, wie oft behauptet wird. Nachdem sei. Er forderte die Anerkennung der »faktischen Einwan- die Archive jetzt für die Forschung geöffnet wurden, zeigt derung«, Integrationsmaßnahmen und beispielsweise ein sich, dass die politisch Verantwortlichen in den Ministerien Kommunalwahlrecht für Ausländer. Kühn wies damals schon sich schon in den 1960er Jahren durchaus bewusst waren, auf den Geburtenrückgang und die Auswirkungen auf den dass Einwanderung stattfindet und damit Integrationsprob- Arbeitsmarkt hin. Es gebe keine »Gastarbeiter« mehr, son- leme verbunden sein werden. Allerdings wurde das Thema dern Einwanderer. 1980 blieb die damalige sozialliberale Integration erst viel zu spät als wichtiges gesamtgesell- Bundesregierung mit ihren ausländerpolitischen Beschlüs- schaftliches Politikfeld erkannt und die Weichen in Richtung sen allerdings weit hinter den Forderungen ihres Auslän- Integration gestellt. derbeauftragten zurück und lehnte seine Vorschläge für ein Ausländerwahlrecht oder für Einbürgerungserleichterungen Die Bundesrepublik nahm lange Zeit mehr Zuwanderer auf als für ausländische Jugendliche ab. die klassischen Einwanderungsländer USA und Kanada zusam- men. Nach offizieller Lesart der Politik blieb Deutschland aber Deutschland wird offiziell zum Einwanderungsland fast ein halbes Jahrhundert lang noch kein Einwanderungs- Zwanzig Jahre gingen ins Land, bis eine Wende in der Migra- land, obwohl Artikel 73 des Grundgesetzes klar von »Einwan- tionspolitik einsetzte. Zunächst einmal sollte sich Grundsätz- derung« als Aufgabe des Bundes spricht. Allein von 1955 liches mit einem klaren Bekenntnis zum Einwanderungsland bis zum Anwerbestopp im Jahre 1973 kamen 14 Millionen ändern. So jedenfalls kündigte es die 1998 neu gewählte Zoi Becker sitzt im Februar 2010 in ihrer Wohnung in Stuttgart vor Familienfotos. Sie kam 1961 als griechische Gastarbeiterin nach Deutschland. Im März 2010 jährte sich das deutsch-griechische Anwerbe- abkommen zum fünfzigsten Mal. picture-alliance/dpa 4 Politik & Unterricht • 2-2011
Einleitung Bundesregierung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen in schaften, Kirchen, Unternehmerverbänden und anderer ge- ihrem Koalitionsvertrag an. Die schließlich verabschiedeten sellschaftlich relevanter Gruppen zusammen. Die politischen erleichterten Einbürgerungsbestimmungen vor allem für Parteien riefen ebenfalls solche Kommissionen ins Leben. Die Ausländerkinder, die am 1. Januar 2000 in Kraft traten, Unabhängige Kommission »Zuwanderung«, auch Süssmuth- stellten nun tatsächlich einen Wendepunkt in der Auslän- Kommission genannt, forderte in ihrem Abschlussbericht derpolitik dar. Zum ersten Mal rückte eine Bundesregierung 2001 ein integrationspolitisches Gesamtkonzept. damit vom Abstammungsprinzip (ius sanguinis = »Recht des Blutes«) ab, wonach die Staatsangehörigkeit von den In den Jahren 2001 bis 2004 entwickelte sich eine kontro- Eltern abgeleitet wird. Kern der Reform war die Einbürgerung verse und bisweilen dramatisch zu nennende Debatte um das durch das Geburtsrecht (ius soli = »Recht des Bodens bzw. Zuwanderungsgesetz. Mit großer Mehrheit verabschiedete Landes«), wonach die Staatsangehörigkeit vom Geburtsort der Bundestag schließlich nach langem Hin und Her am bzw. -land abgeleitet wird. Das Staatsangehörigkeitsrecht 1. Juli 2004 den Zuwanderungskompromiss. Das in der Öf- aus dem Jahr 1913 wurde damit zu Grabe getragen und ein fentlichkeit kurz als Zuwanderungsgesetz bezeichnete Re- historisch bedeutsamer Kurswechsel in der Migrationspoli- formwerk stand von Anfang an unter der Überschrift »Gesetz tik vorgenommen. In der 1999 veröffentlichten Broschüre zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur der Bundesregierung zum neuen Staatsangehörigkeitsrecht Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unions- wurde denn auch zum ersten Mal in der Geschichte der Bun- bürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz)«. Zur Klar- desrepublik regierungsamtlich festgestellt: »Deutschland ist stellung wurde im Vermittlungsverfahren auf Wunsch der schon längst zum Einwanderungsland geworden.« Mit der Unionsparteien im Paragraph 1 (»Zweck des Gesetzes«) die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts entstand jedoch eine Formulierung aufgenommen, dass das Gesetz Zuwanderung Reihe von Problemen. Dazu gehört vor allem das sogenannte »unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrations- Optionsmodell. Demnach müssen sich in Deutschland gebo- fähigkeit« ermöglicht und gestaltet. Die ursprüngliche For- rene Kinder ausländischer Eltern, die die deutsche Staats- derung der Union – »unter Berücksichtigung der nationalen angehörigkeit erhalten haben, mit der Volljährigkeit für die Interessen und der nationalen Identität« – wurde allerdings deutsche oder die ausländische Staatsangehörigkeit ihrer nicht im Gesetz verankert. Ob im Ergebnis der langwierigen Eltern entscheiden. Das betrifft vor allem Jugendliche mit Verhandlungen das von der rot-grünen Regierung und Innen- türkischen Eltern. Junge Menschen aus Spanien, Italien oder minister Schily angekündigte »modernste Zuwanderungs- Portugal dürfen beide Staatsangehörigkeiten behalten, weil recht Europas« steht, ist umstritten. Für viele Beobachter diese Länder in der Europäischen Union sind. war am Ende des Allparteienkompromisses eher der kleinste gemeinsame Nenner geblieben, auch wenn das Gesetz immer Das Zuwanderungsgesetz – Licht und Schatten noch besser bewertet wird als der frühere Zustand. Im Herbst 2000 setzte Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) eine Zuwanderungskommission unter der Leitung der Auf die Forderung der Unionsparteien hin wurde der Para- früheren Bundestagspräsidentin und Bundesfamilienminis- graph 20 (»Zuwanderung im Auswahlverfahren«) mit der terin Rita Süssmuth (CDU) ein. Diese Kommission sollte Möglichkeit der Einwanderung nach einem Punktesystem be- die Situation aufarbeiten und Empfehlungen aussprechen. reits in den Vermittlungsgesprächen gestrichen. Zum ersten Sie setzte sich unter anderem aus Vertretern von Gewerk- Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wäre Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller, Bundesinnenminister Otto Schily und der bayerische Innen- minister Günther Beckstein (v.l.n.r.) beantworten am 12. März 2004 bei ihrer Ankunft zu einer neuen Verhand- lungsrunde der vom Vermittlungs- ausschuss eingesetzten Arbeits- gruppe zur Zuwanderung in Berlin Fragen der Journalisten. Die Unter- händler von Regierung und Opposition versuchten weiter, einen Kompromiss beim Zuwanderungsgesetz zu finden, der schließlich nach langem Hin und Her zustande kam. picture-alliance/dpa Politik & Unterricht • 2-2011 5
Einleitung damit aber Zuwanderung durch ein solches Auswahlverfahren Zum ersten Mal wird durch das Zuwanderungsgesetz ein In- möglich gewesen. Eine genau festgelegte Anzahl von quali- tegrationsanspruch für Neuzuwanderer eingeführt. Wer nicht fizierten Bewerbern hätte unabhängig von einem konkreten an den Integrationskursen teilnimmt, muss mit aufenthalts- Arbeitsplatzangebot – ausgerichtet nach den wirtschaftlichen rechtlichen Sanktionen rechnen. Sogenannte »Bestandsaus- Interessen Deutschlands – ins Land geholt werden können. länder« – solche also, die schon länger in Deutschland Dies wäre eine historische Neuerung in der deutschen Migra- leben – können zu Kursen verpflichtet werden, wenn sie das tionspolitik gewesen, angelehnt an die Erfolge klassischer Arbeitslosengeld II beziehen, besonders integrationsbedürf- Einwanderungsländer wie Kanada, Australien und den USA. tig sind und Plätze zur Verfügung stehen. Bei Verletzung der In der Praxis hätten Bundestag und Bundesrat einem sol- Teilnahmepflicht sollen die Sozialleistungen gekürzt werden. chen Verfahren zustimmen müssen, so dass auf keinen Fall – Die Kosten der Integrationskurse trägt der Bund. wie von den Gegnern der Regelung unterstellt – mit diesem Paragraphen 20 Tür und Tor für eine erhöhte Zuwanderung Nach den Terroranschlägen in Madrid am 11. März 2004 geöffnet worden wäre. Auch eine Null-Zuwanderung wäre aus wurden im Vermittlungsverfahren umfangreiche Vorschläge arbeitsmarktpolitischen Gründen durchaus möglich gewesen. der Unionsparteien zu Sicherheitsaspekten aufgenommen. Zur Verwirklichung der Freizügigkeit in der Europäischen Das Zuwanderungsgesetz enthält eine komplette Novellie- Union schafft das Gesetz die Aufenthaltserlaubnis für Uni- rung des Ausländerrechts, das – so wurde immer wieder kri- onsbürgerinnen und Unionsbürger ab. Künftig besteht nur tisiert – selbst von Juristen nicht mehr zu durchschauen war. noch – wie für Deutsche – eine Meldepflicht bei den Behör- Statt fünf Aufenthaltstiteln gibt es jetzt nur noch zwei: eine den. Bei Familienangehörigen von Spätaussiedlern wurde (befristete) Aufenthaltserlaubnis und eine (unbefristete) der Nachweis über Grundkenntnisse der deutschen Sprache Niederlassungserlaubnis. Ein neues Bundesamt für Migra- als Voraussetzung für die Einbeziehung in den Aufnahme- tion und Flüchtlinge (BAMF) wurde geschaffen, das aus dem bescheid eingeführt, wodurch die Zugangszahlen in diesem bisherigen Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Bereich weiter verringert werden sollten. Flüchtlinge in Nürnberg hervorging. Das Ringen um das Zuwanderungsgesetz ist eines der zahl- Gestrichen wurde allerdings der Paragraph 76 (»Sachverstän- reichen Beispiele für die parteipolitische Politisierung der digenrat für Zuwanderung und Integration«). Dieser vom Ausländerpolitik. Bereits am 22. März 2002 war in der um- Bundesinnenminister eingerichtete Zuwanderungsrat hatte strittenen Bundesratssitzung »eine politische Kampfsitua- sich bereits am 26. Mai 2003 unter dem Vorsitz von Rita tion auf die Spitze getrieben worden«, wie es Bundesprä- Süssmuth konstituiert. Nach dem Gesetzentwurf sollte der sident Johannes Rau (SPD) kritisierte. Im Hinblick auf die Zuwanderungsrat einen den »Wirtschaftsweisen« vergleich- anstehenden Bundestagswahlen ging es in erster Linie um baren Stellenwert bekommen. Sang- und klanglos wurde eine Machtprobe zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder dieses wichtige Gremium allerdings aufgelöst, nachdem (SPD) und seinem Herausforderer und bayerischen Minis- es seinen ersten Bericht veröffentlicht und vorgeschlagen terpräsidenten Edmund Stoiber (CSU), denn schließlich han- hatte, in stark begrenztem Umfang Zuwanderung zuzulassen. delte es sich um ein Kernstück rot-grüner Politik. Dabei Dadurch war der Expertenkreis beim Bundesinnenminister hatten die Parteien mit ihren Konzepten gar nicht so weit offensichtlich in Ungnade gefallen. auseinandergelegen. Der Gesetzentwurf war bereits ein Teilnehmer in einem Integrations- kurs »Deutsch als Fremdsprache« an der Volkshochschule Leipzig, aufgenommen im November 2010. Der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geförderte Kurs gehört zu drei Leistungsstufen mit insgesamt 645 Stunden, die von den ausländischen Teilnehmern inner- halb eines Jahres absolviert werden können. picture-alliance/ZB 6 Politik & Unterricht • 2-2011
Einleitung »rot-grün-schwarzer« Kompromiss. Man hätte sich durch- unserer Zukunft.« Diese Äußerungen wurden damals kaum aus einigen können, wenn man gewollt hätte, aber alle kritisiert. Bundespräsident Christian Wulff (CDU) sprach in Parteien setzten die Zuwanderungspolitik zum Machterwerb seiner Antrittsrede am 2. Juli 2010 von einer »Bunten Re- und Machterhalt ein. publik Deutschland«. Noch als Ministerpräsident von Nie- dersachsen hatte er die erste türkischstämmige Ministerin Schon immer war Ausländerpolitik eine Art von Symbolpo- in Deutschland, Aygül Özkan, als Ministerin für Soziales, litik, bei der einer vermeintlich beunruhigten Wählerschaft Frauen, Familie, Gesundheit und Integration eingesetzt. Als konsequentes Handeln vorgeführt werden sollte; sie war ein Bundespräsident wiederholte er, was Schäuble gesagt hatte, Mittel, um sich politisch zu profilieren. Die Interessen und nämlich, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Doch dieses Bedürfnisse der Minderheiten, der früheren »Gastarbeiter«, Mal löste er damit eine Kontroverse aus. Flüchtlinge, Asylsuchenden oder Spätaussiedler und ihre Integration in die Gesellschaft standen weniger im Mit- Der neue Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) telpunkt als die »politische Ausschlachtung« des Themas. distanzierte sich gleich bei seinem Amtsantritt im März 2011 Ausländerpolitik ist so bisweilen auch ein Beispiel dafür, wie von den Worten des Bundespräsidenten und sagte, die in der in einem Bereich Politik gemacht werden kann, ohne auf die Bundesrepublik lebenden Menschen islamischen Glaubens Betroffenen Rücksicht nehmen zu müssen. Das hat sich in gehörten natürlich zu Deutschland, »dass aber der Islam zu den letzten Jahren geändert, denn inzwischen geht es um Deutschland gehört, ist eine Tatsache, die sich auch aus der mehr als eine Million Deutscher ausländischer Herkunft, die Historie nirgends belegen« ließe. Dies stieß bei den musli- das Wahlrecht haben. Die Parteien haben angefangen, diese mischen Verbänden auf herbe Kritik und überschattete die Wählergruppen zu entdecken. Deutsche Islam Konferenz (DIK), durch die ein fairer Dialog mit den Muslimen ins Leben gerufen werden sollte. Integration im Mittelpunkt In den letzten Jahren hat die Politik Selbstkritik in Sachen Auch wenn vieles im Bereich von Absichtserklärungen blieb Migrationspolitik geübt. Bundespräsident Horst Köhler (CDU) und im Hinblick auf Medienereignisse gesagt wurde, so kritisierte im April 2006, Deutschland habe die Integration bekam Deutschland seit dem Jahr 2000 einen kräftigen »verschlafen«. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte Schub in Richtung Integration. Man kann sogar sagen, dass ein Jahr später: »Wenn wir ehrlich sind, haben wir das Thema in den letzten zehn Jahren mehr integrationspolitische Integration in unserem Land zu lange auf die lange Bank Maßnahmen auf den Weg gebracht wurden als in den vier geschoben.« Die Große Koalition von CDU/CSU und SPD er- Jahrzehnten zuvor. Meilensteine waren das Staatsangehö- klärte 2005 das Thema Integration zu einer Schwerpunktauf- rigkeitsgesetz von 2000, die »Süssmuth-Kommission«, das gabe. Der Posten einer Staatsministerin für Integration und Zuwanderungsgesetz von 2005, der Nationale Integrations- Migration wurde im Kanzleramt geschaffen und mit Maria plan (NIP) sowie die Deutsche Islam Konferenz ab 2006. Böhmer (CDU) besetzt. Die CDU/CSU/SPD-Bundesregierung Außerdem hat die kommunale Integrationspolitik in den steuerte von 2005 bis 2009 eindeutig einen integrations- letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen, auch politischen Kurs. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble wenn Städte wie Stuttgart bereits seit langem eine Vor- (CDU) stellte 2006 fest: »Der Islam ist Teil Deutschlands reiterrolle auf diesem Gebiet übernommen haben. und Teil Europas. Er ist Teil unserer Gegenwart und er ist Teil Gerhard Mester Politik & Unterricht • 2-2011 7
Einleitung »Migrationshintergrund« eingeführt sind in der Migrations- und Integrationspolitik verschiedene Von besonderer Bedeutung war auch, dass seit dem Jahr Ministerien beteiligt, was zu Kompetenzstreitigkeiten führt 2005 im Rahmen des Mikrozensus, der größten amtlichen und für viele Beobachter für eine Bündelung aller Maßnah- Haushaltsbefragung in Deutschland, auch nach dem Migra- men in einem Bundesintegrationsministerium spricht. tionshintergrund gefragt wurde. Die Unterscheidung zwi- schen deutscher und ausländischer Nationalität erwies sich Die Deutsche Islam Konferenz (DIK) verabschiedete aus den immer mehr als unzureichend, weil sich viele Ausländer Arbeitsgruppen bis 2009 verschiedene Zwischenergebnisse. eingebürgert haben. Zu den Personen mit Migrationshinter- Dazu gehören Empfehlungen für die Einführung von isla- grund zählen: mischem Religionsunterricht als ordentlichem Lehrfach, die 1. Alle in Deutschland lebenden Ausländer, das heißt sowohl Annahme von Empfehlungen zu Bau und Betrieb von Mo- die Menschen ohne deutschen Pass, die selbst zugewandert scheen in Deutschland sowie zu islamischen Bestattungen, sind, als auch die in Deutschland geborenen Ausländer. Empfehlungen zur Einrichtung islamisch-theologischer Lehr- 2. Deutsche mit Migrationshintergrund. Diese Gruppe der einrichtungen an deutschen Universitäten sowie Empfeh- Migranten umfasst auch Personen mit deutscher Staatsbür- lungen für eine verantwortungsvolle, vorurteilsfreie und dif- gerschaft, nämlich ferenzierte Berichterstattung über Muslime und den Islam. ◗ Spätaussiedler und Eingebürgerte, ◗ die Kinder von Spätaussiedlern und Eingebürgerten, Der Allparteienkonsens in der Migrationspolitik blieb lange ◗ die Kinder ausländischer Eltern, die bei der Geburt zu- Zeit bestehen. Aus den Wahlkämpfen – vor allem aus dem sätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben Bundestagswahlkampf 2009 – wurde das Thema größtenteils (nach der »ius soli«-Regelung), herausgehalten. In diesem Sinne war die Große Koalition ◗ Kinder mit einseitigem Migrationshintergrund, bei denen ein »Segen« für die Integrationspolitik. Auch die neue Bun- also nur ein Elternteil Migrant ist, desregierung von CDU, CSU und FDP kündigte 2009 in ihrem ◗ sowie eingebürgerte nicht zugewanderte Ausländer. Koalitionsvertrag für die 17. Legislaturperiode bis 2013 eine Bei der Bestimmung des Migrationshintergrunds wird dabei konsequente Fortsetzung der Integrationspolitik an. nur die Zuwanderung ab 1950 berücksichtigt. Alles in allem ist die Integration in Deutschland besser als Nach den Ergebnissen des Mikrozensus lebten in Baden- ihr Ruf. Zahlreiche Untersuchungen belegen dies, wenngleich Württemberg im Jahr 2007 rund 2,7 Millionen Menschen mit diese Tatsache in Politik und Medien oftmals untergeht. Migrationshintergrund. Mehr als ein Viertel der Baden-Würt- So belegt beispielsweise eine Studie der Konrad-Adenauer- temberger gehört somit zu den Migranten. Diese Bevölke- Stiftung vom März 2011, dass Muslime der deutschen Gesell- rungsgruppe besteht aus 1,4 Millionen Personen mit deut- schaftsordnung und den demokratischen Institutionen weit scher Staatsangehörigkeit und etwa 1,3 Millionen Ausländern. überwiegend aufgeschlossen und positiv gegenüberstehen. Mit gut 25 Prozent liegt in Baden-Württemberg der Anteil dieser Personengruppe deutlich über dem Bundesdurchschnitt Die Debatte spitzt sich zu von etwa 19 Prozent. Insgesamt leben in Deutschland 15 Dass das integrationspolitische Fundament in Deutschland Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. aber noch immer brüchig ist, zeigt die »Sarrazin-Debatte«. Mit einer ziemlich einzigartigen Medienkampagne und Vor- Der NIP und die DIK abdrucken im Magazin DER SPIEGEL und in der BILD-Zeitung Die Integrationsgipfel sind seit 2006 im Bundeskanzler- wurde das Buch von Thilo Sarrazin (»Deutschland schafft amt stattfindende Konferenzen, bei denen Vertreter unter sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen«), unterstützt anderem aus Politik, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbän- von der Islamkritikerin Necla Kelek, am 30. August 2010 in den, Sportverbänden und Migrantenverbänden Probleme der Berlin vorgestellt. Der frühere Berliner Finanzsenator, seit Zuwanderung diskutieren und Lösungsvorschläge vorlegen. 2009 Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank und SPD- Daraus wurde der Nationale Integrationsplan (NIP) entwi- Mitglied, bezeichnet die »Gastarbeitereinwanderung« der ckelt, der 2007 auf Bundesebene den Stand der Integration 1960er und 70er Jahre als »gigantischen Irrtum«. Analysen, auf verschiedenen Ebenen beleuchtet und Absichtserklä- ob die ausländischen Arbeitskräfte und deren Familien über- rungen sowie Selbstverpflichtungen formuliert. Er enthält haupt einen Beitrag zum Wohlstand erbracht hätten, gibt es einen Handlungsrahmen, weniger jedoch eine Finanzierung seiner Meinung nach nicht. Dabei zeigen Untersuchungen, und Umsetzung neuer Integrationsmaßnahmen. Nach dem dass beispielsweise allein zwischen 1960 und 1970 rund Nationalen Integrationsplan sollen die Integrationskurse 2,3 Millionen Deutsche vor allem wegen der Ausländerbe- verbessert und eine frühe Sprachförderung auf den Weg schäftigung mit einem »Fahrstuhleffekt« den Aufstieg von gebracht werden. Im Jahr 2008 wurde ein erster Fortschritts- Arbeiter- in Angestelltenpositionen geschafft haben. Nach bericht zum NIP vorgelegt. Auf der Grundlage des NIP wurde Angaben des Bundesarbeitsministeriums aus dem Jahre 1976 ein Aktionsplan erstellt, der auf dem 4. Integrationsgipfel ermöglichten die ausländischen Arbeitnehmer unter Wahrung am 3. November 2010 behandelt wurde. Für den NIP ist die eines starken Wirtschaftswachstums eine deutliche Verringe- Bundesintegrationsbeauftragte Maria Böhmer zuständig. Par- rung der Arbeitszeit der Deutschen. Untersuchungen, Daten allel dazu besteht ein bundesweites Integrationsprogramm und Fakten, die nicht in das Horrorszenario des Buches von des Bundesinnenministeriums mit dem Bundesamt für Mig- Sarrazin passen, werden an dieser und anderen Stellen igno- ration und Flüchtlinge. Wie schon in der Vergangenheit, riert. So braucht man wirtschaftlich gesehen seiner Ansicht 8 Politik & Unterricht • 2-2011
Einleitung nach die muslimische Migration in Europa nicht. Demogra- ein: »Es gibt nämlich keine wissenschaftlich zuverlässige phisch stelle »die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Mi- Methode, Geburtenverhalten und Zuwanderung über mehrere granten eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Jahrzehnte verlässlich vorherzusagen.« (Zitat S. 359/360) Gleichgewicht im alternden Europa dar«, so Sarrazin. Auf der anderen Seite malt er immer wieder ein Schreck- gespenst an die Wand, wonach die Deutschen durch die Weil Migranten mehr Kinder bekommen, sinke in Deutsch- Zuwanderung und das Geburtenverhalten der Türken bald in land die durchschnittliche Intelligenz, behauptet Sarrazin. der Minderheit sein werden. Was wir bräuchten, seien »mehr Kinder von Klugen, bevor es zu spät ist«. Die Deutschen müssten ziemlich rasch und ra- Der Vorsitzende der rechtsextremen NPD, Udo Voigt, sieht dikal ihr Geburtenverhalten ändern, die Unterschicht müsse sich und andere Rechtsextreme durch die Thesen von Thilo weniger Kinder bekommen und die Mittel- und Oberschicht Sarrazin bei künftigen Prozessen wegen Volksverhetzung deutlich mehr als bisher. Akademikerinnen sollten nach An- geschützt. Gegenüber dem ARD-Politikmagazin »Report sicht des früheren Berliner Finanzsenators eine staatliche Mainz« sagte Voigt: »Unsere Aussagen werden damit salon- Prämie von 50.000 Euro für jedes Kind bekommen, das vor fähiger und es ist dann immer schwerer, Volksverhetzungs- Vollendung des 30. Lebensjahrs der Mutter geboren wird. verurteilungen gegen NPD-Funktionäre anzustreben, wenn wir uns zur Ausländerpolitik äußern, wenn sich etablierte Verschiedene Datenchecks widerlegten die Behauptungen, Politiker auch trauen, das zu äußern.« Wellen der Empörung die im Buch von Sarrazin aufgestellt werden. Beispielsweise löste ein Satz des Bundesbankvorstandes in einem Interview schreibt Sarrazin: »Sichtbares Zeichen für die muslimischen mit der Welt am Sonntag (29. August 2010) aus, in dem er Parallelgesellschaften ist das Kopftuch. Seine zunehmende sagte: »Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben Verbreitung zeigt das Wachsen der Parallelgesellschaften bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden.« Die an.« Eine Untersuchung des Bundesamtes für Migration und katholische Kirche kritisierte diese Ansicht scharf. »Solche Flüchtlinge zum Thema »Muslimisches Leben in Deutsch- Formulierungen sind geeignet, latent vorhandenen Rassis- land« stellt dagegen fest, dass in der zweiten Generation mus mit allen darin enthaltenen Vorurteilen zu bedienen«, die Häufigkeit des Kopftuchtragens signifikant abnimmt. sagte der Vorsitzende der Migrationskommission der Deut- Über 40 Prozent aus der zweiten und dritten Generation der schen Bischofskonferenz, Bischof Norbert Trelle. Das Buch türkischen »Gastarbeiter« verlassen die Schule mit besserem sei »ein Schritt vom dumpfen Rassismus zum intellektuellen Bildungsabschluss als die Eltern. Auch die Deutschkennt- Rassismus«, so Kenan Kolat, der Vorsitzende der Türkischen nisse haben sich verbessert. Die soziale Integration – der Gemeinde in Deutschland. Die Deutschtürkin Aylin Selçuk, Kontakt mit Nachbarn und Kollegen – hat zugenommen. Die die Hauptinitiatorin des Vereins »DeuKische Generation«, Höhe der Einwanderung aus der Türkei ist rückläufig, was einer Interessenvertretung türkischstämmiger Jugendlicher von Sarrazin ebenfalls nicht zur Kenntnis genommen wird. in Berlin, verklagte Sarrazin wegen Volksverhetzung. Bereits mit dem Vorabdruck des Buches setzte die Kritik an Die »Sarrazin-Debatte« schadet der Integration den Aussagen Sarrazins ein. Staatsministerin Maria Böhmer In der SPD führte der geplante Parteiausschluss von Sarrazin bezeichnete seine Äußerungen als diffamierend und wis- zu einer Kontroverse. SPD-Chef Sigmar Gabriel legte ihm einen senschaftlich nicht haltbar. In der Tat räumt Sarrazin selbst Parteiaustritt nahe. Der frühere Hamburger Bürgermeister Der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble unterhält sich am 2. Mai 2007 in Berlin vor Beginn der zweiten Islamkonferenz mit dem Vor- sitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Ayyub Köhler. Ziel der Konferenz ist eine verbesserte religions- und gesellschaftspolitische Integration der Muslime in Deutsch- land. picture-alliance/dpa Politik & Unterricht • 2-2011 9
Einleitung Klaus von Dohnanyi sagte jedoch im laufenden Verfahren, er Die »Sarrazin-Debatte« hinterließ bei den »integrierten Mig- wolle Sarrazin vor der Schiedskommission verteidigen. Gabriel ranten« tiefe Spuren. So meldeten sich unter dem Motto »Wir forderte während der Debatte eine härtere Gangart gegen- sind auch noch da – ein Aufstand der Integrierten« Wirt- über Ausländern: »Wer auf Dauer alle Integrationsangebote schaftsvereinigungen mit Migrationshintergrund zu Wort. ablehnt, der kann ebenso wenig in Deutschland bleiben wie In Deutschland gebe es seit dem Herbst 2010 eine neue vom Ausland bezahlte Hassprediger in Moscheen.« Justiz- Zeitrechnung. Es gebe die Zeit vor der »Sarrazin-Debatte« ministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) wider- und eine Zeit nach der »Sarrazin-Debatte«, schrieben Un- sprach solchen Forderungen und wies darauf hin, dass bereits ternehmer wie Vural Öger, ehemaliger SPD-Abgeordneter des nach der derzeitigen Rechtslage die Ausweisung krimineller Europäischen Parlaments, oder Suat Bakir, Geschäftsfüh- Ausländer möglich sei. Der Grünen-Politiker Volker Beck hielt rer der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer. dagegen: »Gabriels Trommeln gegen Migranten ist populis- Mario Susak, Vorstandsvorsitzender der Kroatischen Wirt- tische Stammtischpolitik.« Im Frühjahr 2011 wurde das Par- schaftsvereinigung, und andere Unternehmer sagen: »Die teiausschlussverfahren gegen Sarrazin eingestellt, nachdem Debatte, so wie sie geführt wird, beschädigt und verletzt sich dieser in einer persönlichen Erklärung weiterhin zu den uns. Sie beschädigt auch die Motivation unserer Kinder, Grundsätzen der Sozialdemokratie bekannt hatte. sich in Deutschland zu integrieren. Wir fordern deshalb von der deutschen Politik, dass sie sich endlich zu uns bekennt Das Buch löste eine bisher einmalige Diskussion um die Integ- (...).« rationspolitik in Deutschland aus. »Die Sarrazin-Debatte hat eine desintegrative Eigendynamik an der Grenze zu Hysterie Studien widerlegen Vorurteile, bestätigen aber und Panik entwickelt«, erklärte der Vorsitzende des Sach- Fremdenfeindlichkeit verständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Im Dezember 2010 erschienen verschiedene Untersuchungen Migration (SVR), Klaus J. Bade. Nötig sei »mehr politische im »Integrationsland Deutschland«. Danach bestehen bei den Führung hin zu einer konzeptorientierten Versachlichung Themen Familie und Beruf bei Menschen mit und ohne Mig- der Diskussion« auf der Grundlage einer kritischen Erfolgsbi- rationshintergrund mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes. lanz, wie sie der SVR in seinem Jahresgutachten »Einwande- Das ergab eine Umfrage im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. rungsgesellschaft 2010« vorgelegt habe. Selbst die Grünen Danach ist die Karriereorientierung von Berufstätigen mit übten nun Selbstkritik und räumten Versäumnisse bei der Migrationshintergrund sogar stärker ausgeprägt als bei den bisherigen Integrationspolitik ein. Auch sie hätten Fehler deutschstämmigen Befragten. Vor allem junge Migrantinnen gemacht, so Grünen-Chefin Claudia Roth: »Sicher haben wir und Migranten sind stark leistungs- und erfolgsorientiert. Dinge vielleicht beschönigt oder Konflikte oder Widersprü- Männer mit Migrationshintergrund sind mit 86 Prozent prin- che oder Herausforderungen nicht immer richtig benannt«, zipiell stärker am beruflichen Weiterkommen interessiert als fügte sie hinzu. Der bayerische Ministerpräsident und CSU- Männer ohne ausländische Wurzeln. Frauen mit Migrations- Vorsitzende Horst Seehofer erklärte Multikulti für »tot«, die hintergrund scheinen nach der Untersuchung sogar noch Bundeskanzlerin für »gescheitert«. Auch der Konsens, dass ehrgeiziger zu sein. Auch das Vorurteil vom »Heimchen wir ein Einwanderungsland sind, geriet ins Wanken. Auf die am Herd« widerlegt die Studie. Sieben von zehn Befragten Frage, ob Deutschland Einwanderungsland ist oder nicht, lehnen die Vorstellung einer dauerhaft nichtberufstätigen antwortete Bundeskanzlerin Merkel: »Eigentlich war es das Mutter, die ihre Kinder zu Hause erzieht, ab. Interessanter- nur zwischen den 1950er Jahren und 1973.« weise sind es dabei mehr Menschen mit ausländischen Wur- zeln (74 Prozent) als Menschen ohne Migrationshintergrund Die Bundeskanzlerin, die Staatsministerin für Migration (70 Prozent). Entgegen gängigen Vorurteilen erteilen auch und die CDU/CSU insgesamt sprechen seit etwa 2007 vom Bürger aus muslimisch geprägten Ländern diesem Frauen- »Integrationsland Deutschland«. Darin schlägt sich der und Mutterbild eine deutliche Absage (70 Prozent). Bewusstseinswandel in der Union nieder, die lange Zeit brauchte, um die Realität im »neuen« Einwanderungsland Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsfor- Deutschland zu akzeptieren und sich sozusagen an die Spitze schung (IAB) in Nürnberg räumt ebenfalls mit Klischees auf: der neuen Migrationspolitik zu stellen. Auf der anderen Seite Demnach belasten Zuwanderer nicht den Arbeitsmarkt in wird damit der Begriff »Einwanderungsland« und die damit Deutschland, sondern nützen vor allem den einheimischen zusammenhängende Diskussion vermieden. Beschäftigten. Das IAB rät zu einer gezielten Steuerung der Zuwanderung. Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung: Der Vorstand der Deutschen Bundesbank distanzierte sich Durch die Zuwanderung verlieren allerdings die bereits in von den diskriminierenden Äußerungen seines Mitglieds. Deutschland lebenden Ausländer. Eine wesentliche Ursache Sarrazin selbst wies Vorwürfe zurück, ihm sei es bei seinem dafür sieht das IAB darin, dass Ausländer nur unvollkommen Rückzug nur ums Geld und um seine Pension gegangen. In mit Einheimischen konkurrieren. Gesamtwirtschaftlich be- der 14. Auflage seines Buches im November 2010 änderte er trachtet, profitiere Deutschland aber von der Zuwanderung. einige Passagen. In dem Buch, das bereits seit Wochen auf In der Vergangenheit seien die Löhne der Einheimischen Platz 1 der Bestsellerlisten stand, wurde beispielsweise ein gestiegen und die Arbeitslosigkeit zurückgegangen. Abschnitt zu »genetischen Belastungen« bei Migranten aus dem Nahen Osten komplett gestrichen. Die Kernaussagen Auf eine wachsende Fremdenfeindlichkeit weist eine Studie blieben jedoch bestehen. des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltfor- 10 Politik & Unterricht • 2-2011
Einleitung schung an der Universität Bielefeld hin. In der Langzeitstudie derungsgesellschaft. Nach den Worten des SVR-Vorsitzenden »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland« Klaus J. Bade könnte die »Sarrazin-Debatte« das Image des wird festgestellt, dass Fremdenfeindlichkeit in der Schicht Einwanderungslandes Deutschland im Ausland beschädigt zunimmt, die sich politisch eher moderat einordnen würde. haben. Damit würden potenzielle, qualifizierte Zuwanderer Nach der Studie hat die Islamfeindlichkeit zugenommen. verprellt. Das aber, so Bade, wäre ein »Eigentor«, denn Die Autoren stellen »eine deutliche Vereisung des sozialen Deutschland sei längst ein »Migrationsverlierer« geworden Klimas« fest und sprechen von einer »zunehmend rohen und müsse daraus Konsequenzen ziehen. Bürgerlichkeit«. Eine Erhebung des Meinungsforschungs- instituts TNS Emnid im Auftrag des Exzellenzclusters »Re- Nachdenklich stimmt in diesem Zusammenhang, dass junge ligion und Politik« an der Universität Münster kommt in Menschen mit türkischem Migrationshintergrund vermehrt einem europaweiten Vergleich zu dem Ergebnis, dass die aus Deutschland in die Türkei ziehen. Nach Umfragen er- Deutschen viel intoleranter gegenüber dem Islam und an- wägen bis zu 36 Prozent der Studierenden mit türkischem deren nichtchristlichen Religionen sind als ihre westeuro- Migrationshintergrund, nach dem Examen in die ihnen meist päischen Nachbarn. Die Frage, ob das eigene Land durch fremde Heimat der Eltern abzuwandern. Eine Studie zeigt, fremde Kulturen bedroht sei, bejahten in der Umfrage in dass Hochschulabsolventen mit Migrationshintergrund Westdeutschland 40 Prozent. In Ostdeutschland stimmte die schlechtere Chancen bei Bewerbungen in Deutschland haben Hälfte der Befragten zu. als deutsche Studenten. Die »Sarrazin-Debatte« hat der Integration auf jeden Fall Ein positives Zeichen in Richtung beruflicher Integration geschadet. Das geht aus einer Umfrage des Sachverstän- setzte die Bundesregierung im März 2011 mit dem seit digenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migra- langem angekündigten Gesetzentwurf zur Anerkennung aus- tion (SVR) hervor. Danach blicken Zuwanderer mit weniger ländischer Abschlüsse. Das Gesetz soll im Sommer 2011 in Zuversicht auf das Zusammenleben in Deutschland als noch Kraft treten. In Deutschland leben schätzungsweise eine vor einem Jahr. Bei den Antworten auf die Frage, ob Mehr- halbe Millionen Ausländer, die unter ihrer Qualifikation ar- heits- und Zuwandererbevölkerung »ungestört miteinander« beiten, weil ihre Zeugnisse nicht anerkannt werden. Es ging leben, zeigt sich bei Zuwanderern ein deutlicher Unterschied schon der Witz um: Das Beste, was einem passieren kann, zwischen Herbst 2009 und Jahresende 2010. Dieser Aussage ist, dass man den Herzinfarkt in einem Taxi bekommt, weil stimmten 2009 noch 21,7 Prozent der Zuwanderer »voll und der Taxifahrer meistens Arzt ist. ganz« zu. Zum Jahresende 2010, nach der »Sarrazin-De- batte«, bestätigten diese positive Einstellung nur noch 9,1 Integration – die Zukunftsaufgabe für Deutschland Prozent. Umgekehrt hat sich der Anteil der pessimistischen Deutschland braucht in Zukunft Einwanderer, denn die Be- Einschätzungen unter den Zuwanderern fast verdoppelt. völkerungsentwicklung lässt sich kurz mit den Begriffen 2009 bewerteten nur 3,5 Prozent die Einschätzung eines weniger, älter und bunter umreißen. Sicher ist, dass durch ungestörten Miteinanders mit »gar nicht«. 2010 stieg ihr Zuwanderung die Entwicklung zu einer immer älter wer- Anteil auf sechs Prozent. Nach der Befragung überwiegen denden und zahlenmäßig schrumpfenden Bevölkerung gar aber im Mittelfeld nach wie vor die verhalten positiven, ge- nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Man müsste lasseneren Einstellungen zum Zusammenleben in der Einwan- praktisch nur noch Kinder einwandern lassen, was natürlich Gerhard Mester Politik & Unterricht • 2-2011 11
Einleitung absurd ist. Außerdem verläuft die demographische Entwick- »Die Schülerinnen und Schüler können lung in zahlreichen Auswanderungsländern nicht wesentlich ◗ die Bevölkerungszusammensetzung mithilfe von geeig- anders als in Deutschland. Zuwanderung kann also kein All- neten Indikatoren beschreiben; heilmittel gegen das oft beschworene »Altersheim Deutsch- ◗ Formen, Ursachen und Folgen der Migration erläutern; land« sein. Einwanderung, gezielt ausgesucht, kann diesen ◗ Möglichkeiten und Probleme der Integration in einer plu- Trend jedoch etwas abfedern und sollte in diesem Sinne ei- ralistischen Migrationsgesellschaft darstellen und fallbe- gentlich als Glücksfall begriffen werden. Insbesondere wenn zogen beurteilen; man bedenkt, dass schon bald nicht mehr vier Erwerbstätige ◗ die Grundzüge des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts einen Rentner sozusagen ernähren müssen, sondern nur ein darstellen.« Berufstätiger auf einen Rentner kommt. In der vierstündigen Kursstufe Gemeinschaftskunde werden Integration ist eine »Schicksalsfrage für unser Land«, wie als Kenntnisse und Kompetenzen genannt: es Staatsministerin Maria Böhmer ausdrückt. Deutschland ◗ Beschreibung aktueller Entwicklungen in der Gesell- bleibt auf Zuwanderung angewiesen, wenn es seinen wirt- schaft; schaftlichen Wohlstand halten will. Ein Gutachten der baden- ◗ Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung und Beurteilung württembergischen Landesregierung, das im Juli 2010 vor- deren Implikationen; gestellt wurde, geht davon aus, dass bis 2020 rund 500.000 ◗ Erfassung von Phänomenen der Migration als besondere zusätzliche Arbeitsplätze von Ingenieuren, anderen Hoch- gesellschaftspolitische Aufgabe; schulabsolventen und Facharbeitern besetzt werden müssen ◗ Erläutern von Maßnahmen der Integrationspolitik und und dass dabei Migration eine herausragende Rolle spielt. Stellung beziehen in der Kontroverse über Zielsetzung Die Einwohnerzahl Baden-Württembergs geht bis 2060 um und Reichweite von Integrationspolitik. 1,6 Millionen zurück. Es gibt immer mehr ältere Menschen und Pflegebedürftige, deren Zahl sich bis 2050 von derzeit Für die Bildungsstandards der Realschule (Fächerverbund 2,2 Millionen verdoppeln wird. Schon heute gibt es einen EWG) werden diese Themen im Zusammenhang mit dem stark zu spürenden Mangel an Fachkräften. Eine erleichterte Leben in Ballungsräumen (Transmigration, Push- und Pull- Zuwanderungsregelung und eine zukunftsorientierte Migra- Faktoren), vor allem aber unter dem Titel »Zusammenle- tionspolitik sind dringend notwendig, um dieses Problem zu ben verschiedener Kulturen« genannt (vgl. hierzu Politik & beseitigen. Aus »Eigennutz« brauchen wir also Zuwanderer. Unterricht Heft 3 – 2007: »Unterrichten im Fächerverbund Es geht nicht darum, Migranten »einen Gefallen zu tun«, EWG«). sondern um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Über all diesen vielfältigen Verflechtungen steht allerdings Diskussionen wie zuletzt um die »Sarrazin-Thesen« kommen die zentrale Forderung nach der Aktualität des Unterrichts. und gehen in Wellen, wie das Buch des Chefs der rechtsextre- Die Themen Migration und Integration haben sich zu Dau- men »Republikaner«, Franz Schönhuber, zeigt, in dem er 1989 erbrennern der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten gängige Vorurteile gegenüber den Türken bediente. Oder das entwickelt. Phasenweise dominieren sie die öffentliche poli- sogenannte »Heidelberger Manifest« deutscher Professoren, tische Debatte und damit auch die Medien. Nicht zuletzt sind die 1981 vor der »Unterwanderung des deutschen Volkes sie auch aus dem Lebensalltag der Schülerinnen und Schüler durch Ausländer, gegen die Überfremdung unserer Sprache, nicht wegzudenken, wenn man bedenkt, dass in zahlreichen unserer Kultur und unseres Volkstums« warnten. In Verges- Schulklassen der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Mig- senheit geraten ist die fast schon pogromartige Stimmung rationshintergrund weit über die 50-Prozent-Marke hinaus- mit Brandstiftungen und gewalttätigen Ausschreitungen ge- reicht. genüber Ausländern in Hoyerswerda, Mölln oder in Solingen, mit insgesamt etwa 100 Toten Anfang der 1990er Jahre in Das vorliegende Heft kann die ganze Fülle der genannten Deutschland. Man könnte fast sagen, dass Fremdenfeindlich- integrativen Themen gar nicht abdecken, sondern bietet keit und »Sarrazin-Wellen« zur Normalität in Einwanderungs- einen Ausschnitt mit dem Schwerpunkt auf Integration als gesellschaften zu gehören scheinen. Das heißt aber nicht, Politikfeld. Es gliedert sich in drei Bausteine mit den In- dass wir sie hinnehmen sollten, sondern dass wir sie bekämp- halten Integration – Definition, Zielvorstellungen, Erfolge, fen müssen und sie nicht als Teil der politischen Kultur im Probleme und Diskussionen (Baustein A), mit Stuttgart als Integrationsland Deutschland akzeptieren dürfen. weithin anerkanntem positivem Beispiel einer großstäd- tischen Integrationspolitik (Baustein B) sowie schließlich einem dritten Baustein C, der die Aspekte Demographie Zur Konzeption des Heftes und Fachkräftemangel aufgreift, um einen Ausblick in die Die Themen Migration und Integration sind an zahlreichen Zukunft Deutschlands als Migrations- und Integrationsland Stellen in den Bildungsplänen des Landes Baden-Württem- zu ermöglichen. berg verankert. So heißt es beispielsweise bei den Kompe- tenzen und Inhalten für Gemeinschaftskunde in Klasse 10 der Gymnasien unter der Überschrift »Gesellschaft der Bun- desrepublik Deutschland im Wandel: Einwanderung nach Deutschland«: 12 Politik & Unterricht • 2-2011
Sie können auch lesen