Meinungsfreiheit - Schweizerische Evangelische Allianz

 
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Meinungsfreiheit - Schweizerische Evangelische Allianz
September 2020 #03

                                            Inspiriert denken – glauben – handeln

ISSN-Nr. 1662-4661 / Schweizerische
Evangelische Allianz SEA                    Meinungsfreiheit
Philosophie                           Recht                       Theater
Mündigkeit wächst an                  Nur Mut zur freien          Der Luxus der
­Widersprüchen                        ­Meinungsäusserung!         Meinungs-«Freiheit»
Meinungsfreiheit - Schweizerische Evangelische Allianz
INHALT

                                                                                                            		 04 Forum/Humor

                                                              Theologie
                                                              «Wer wahrhaftig                               05       Kolumnen
                                                              agieren will, braucht                         		 05 Medizin: Sind Viren nur Schädlinge
                                                              Meinungsfreiheit oder den                    		        oder auch Nützlinge?
                                                              Mut, die Konsequenzen zu                      		       06 Philosophie: Mündig werden und Meinung bilden
                                                              tragen. Propheten haben
                                                                                                            		       07 Politik: Meinungsfreiheit bringt
                                                              diese nicht gescheut,                        		        Verantwortung mit sich
                                                              selbst wenn manchmal der
                                                                                                            		       25 Theater: Der Luxus der Meinungs-«Freiheit»
                                                              Tod die Folge ihrer freien
                                                                                                            		       26 Psychologie: Verändert die Corona-Krise
                                                              Rede war.»
                                                                                                           		        unser Leben nachhaltig?
                                                              Marc Jost
                                                              auf Seite 9                                   		       27 Kirchen Schweiz: Meinungs- und Religionsfreiheit
                                                                                                           		        gibt es nur zusammen

                                                                                                             		      28 Transformation Schweiz: Krisen bringen die ­
Kirche und                                                                                                 		        Wahrheit ans Licht

Staat                                                                                                        		      29 Kurzrezensionen

«Die Staatskirchen fürchten sich                                                                             		 30 Spiritualität: Mein Herz in Gott froh und fest machen
davor, ihre Privilegien zu verlie-                                                                           		      31 Intern
ren. Sie dienen sich deshalb ten-
denziell dem Staat an, richten
sich nach der herrschenden Mei-                                                                              08 Thema: Meinungsfreiheit
nung aus und verbiegen dabei                                                                                 		09 Marc Jost
ihre eigene Theologie. Das macht                                                                                     Ein Freiheitsrecht im Dienst von Wahrheit und
                                                                                                                     ­Gerechtigkeit
sie unglaubwürdig und harmlos.»
                                                                                                             		      11 Susanna Rychiger
Hanspeter Schmutz
auf Seite 16                                                                                               		 Warum ich Gott alles sagen darf

                                                                                                             		      12 Lidia Rieder und Felix Böllmann
                                                                                                           		 Nur Mut zur freien Meinungsäusserung!

                                                         Meinungsfreiheit                                   		       14 Michael Mutzner
                                                                                                           		Meinungsfreiheit: gesetzlich geschützt,
                                                         von Kindern                                       		        aber gesellschaftlich wankend

                                                         «Mir ist es wichtig, dass Kinder                   		       16 Hanspeter Schmutz
                                                         einen Freiraum erleben, in dem                    		Warum sich die Gesellschaft vor Christen (nicht) ­
                                                                                                           		        fürchten sollte
                                                         sie ihren Glauben selber entwi-
                                                         ckeln können. Niemand kann                         		       18 Felix Ruther
                                                                                                           		Wenn Gott tot ist – was ist dann wahr?
                                                         einem anderen Menschen sa-
                                                         gen, wie oder was er zu glauben                    		       21 Markus Baumgartner
                                                                                                           		Auf die persönliche Verbindung kommt es an
                                                         hat. Jeder hat die Aufgabe, sich
                                                         selber zu positionieren.»                          		       22 Interview mit Daniel Ritter
                                                                                                           		        «Unkonventionelle theologische Aussagen
                                                         Daniel Ritter
                                                                                                           		        von Kindern dürfen wahr sein»
                                                         auf Seite 22
                                                                                                            		       23 Letizia Melek
                                                                                                           		Wenn Tabus über die Grenzen hinaus gelten

     Vorschau: 4/20

     Einsamkeit
                                                                                                                     Das Magazin INSIST erscheint 4x jährlich.

     Impressum

     Verlag: Schweizerische Evangelische Allianz SEA, Tel. +41 43 344 72 00, info@each.ch. Co-Redaktionsleitung: Daniela Baumann, Kommunikationsverantwortliche SEA,
     Tel. +41 43 366 60 82, dbaumann@each.ch; Marc Jost, Generalsekretär SEA, Tel. +41 76 206 57 57, mjost@each.ch. Redaktionsschluss: Nr.4/20: 25.09.20. Redaktionskommis-
     sion: Daniela Baumann, Rolf Höneisen, Marc Jost, Ruth Maria Michel, Hanspeter Schmutz, Martina Seger-Bertschi. Layout: mj.design, Matthieu Jordi. Druck/Versand:
     Jordi das Medienhaus, Belp. B  ­ estellungen: Schweizerische Evangelische Allianz SEA, Josefstrasse 32, 8005 Zürich, Tel. +41 43 344 72 00, magazin@insist.ch. Preis: Fr. 50.–
     inkl. Versandkosten für vier Ausgaben (Richtpreis auf Spendenbasis). Inserate: Jordi AG, 3123 Belp, Tel. +41 31 818 01 46, inserate@insist.ch. ­Insertionsschluss: Nr. 4/20:
     09.11.20. Bilder: Seiten 1 und 8 © rob z/AdobeStock; Seite 5 creativeneko/AdobeStock; Seite 6 © VAKSMANV/AdobeStock; Seite 7 © Melinda Nagy/AdobeStock; Seite 11 ©
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     Seite 22 zVg; Seite 23 zVg; Seite 25 © kozlik_mozlik/AdobeStock; Seite 26 © galitskaya/AdobeStock; Seite 27 ©AdobeStock; Seite 28 © Peter Maszlen/AdobeStock;
     Seite 30 © Art Stocker/AdobeStock; Seite 31 © SEA

2 - Magazin INSIST       03 September 2020
Meinungsfreiheit - Schweizerische Evangelische Allianz
EDITORIAL

Ein Virus testet die
Meinungsfreiheit
Kürzlich auf einer Wanderung mit Freunden: In einer angeregten Diskussion über die gegenwärtige
Pandemie und insbesondere das «richtige» Verhalten zwischen übertriebener Vorsicht und Leicht-
sinn droht plötzlich die Stimmung ins Negative zu kippen. Wir einigen uns an diesem Punkt darauf,
unsere divergierenden Meinungen stehenzulassen und uns fröhlich anderen Themen zuzuwenden.

                                        Ich bin mir sicher, viele von Ihnen wüssten ähnliche Erlebnisse
                                        aus den letzten Monaten zu schildern. Die Pandemie hat uns
                                        alle gezwungen, uns auf der Basis zahlreicher Unwägbarkeiten
                                        eine Meinung zu bilden, die wir wohl in einem kleineren oder
                                        vielleicht sogar grösseren Kreis auch kundgetan haben. Dabei
                                        haben wir feststellen müssen, dass unsere eigene Meinung
                                        längst nicht von allen geteilt wird. Dasselbe lässt sich auf der
                                        gesellschaftlichen Ebene beobachten. Im öffentlichen Diskurs
                                        wimmelt es nur so von Einschätzungen, die das ganze Spekt-
                                        rum von Horrorszenario bis Verharmlosung abdecken. Ganz of-
                                        fensichtlich steht es gut um die Meinungsfreiheit in der
                                        Schweiz.

Die Meinungsfreiheit und das Coronavirus – vielleicht haben diese beiden Themen mehr miteinander
zu tun als auf den ersten Blick ersichtlich. Beide spielen auch eine prominente Rolle in dieser Ausgabe:
die Meinungsfreiheit, weil wir sie als Schwerpunktthema gewählt haben; das Coronavirus, weil unsere
Autoren nicht ganz darum herumgekommen sind, über DAS uns alle beschäftigende Thema der letzten
Monate zu schreiben. Eine erfrischend andere Sicht präsentiert dabei Albrecht Seiler, der mit einem fas-
zinierenden Einblick in die Mikrobiologie dem negativen Ruf von Viren entgegenhält.

Einen wichtigen Aspekt der Meinungsfreiheit spricht Felix Ruther in «Wenn Gott tot ist – was ist dann
wahr?» an. An die Stelle von Gott trete in unserer Kultur das Individuum als das Absolute, was die Unter-
scheidung zwischen Sach- und Personentoleranz erschwere. In der Folge leidet die Beziehung wegen
einer Meinungsverschiedenheit. Demgegenüber trennt Gott klar zwischen unseren Sünden und uns als
Menschen. Im Nachhinein sehe ich die eingangs geschilderte Begebenheit als ein Musterbeispiel für
diese Unterscheidung: Als Menschen schätze ich meine Freunde ungemein – ihrer Meinung muss ich
teilweise widersprechen.

Schliesslich ein persönlicher Geheimtipp: Um vor lauter Meinungen den Fokus nicht zu verlieren, emp-
fehle ich die Beiträge von Susanna Rychiger und Ruth Maria Michel. «Vor Gott müssen wir keine Show
abziehen», heisst es etwa in ersterem. Wir können und sollen ganz authentisch sein und ihm alles mit-
teilen, was uns bewegt. Dies setzt eine Vertrautheit mit Gott voraus, die wiederum daraus erwächst, dass
wir «jeden Morgen neu unser Herz in Gott fest machen».

Daniela Baumann
Kommunikationsverantwortliche SEA & Chefredaktorin INSIST

                                                                       03 September 2020   Magazin INSIST - 3
Meinungsfreiheit - Schweizerische Evangelische Allianz
FORUM/HUMOR

                           01
                 r   2019 #
          Februa

                                                                                                 Humor
                                                                                    and eln
                                                                                      Kuriositäten     aus den 70iger-Jahren
                                                                              n – h
                                                                        u b e         (KMe) Stuttgart – In einem Reiseprospekt konnte man
                                                en          – gla
                                           denk
                                                                                                 lesen: «Wir bieten Ihnen Friede und Abgeschiedenheit.
                                  ri e r t
                              i                                                                  Die Wege zu uns hinauf sind nur für Esel passierbar.
              Insp                                                                               Deshalb werden Sie sich bei uns sofort wie zu Hause
                                                                                                 fühlen.»
              Spannende Leservoten für die Zukunft                                               Quelle: Rolf Klein, Vogelfutter für die Braut. Heiteres und Kurioses aus
                                                                                                 der Weltpresse, Freiburg i.Br. 1980, S. 40.

              (DB) Der Vorstand der Schweizerischen Evangelischen Al-
              lianz SEA muss entscheiden, wie es mit dem Magazin IN-                             Dakota – William Hallworth, amerikanischer Senator
              SIST ab 2021 weitergeht, weil er vorerst nur für zwei Pilotjah-                    aus Dakota, liess sich von seiner Frau scheiden.
              re (2019 und 2020) die Herausgabe des Magazins beschlossen                         Sie hatte ihm beim Abtippen seiner Wahlreden
              hatte.                                                                             heimlich Passagen eingefügt, die ihrer politischen
                  Diese Ausgangslage war ein wesentlicher Grund, weshalb                         Ausrichtung entsprachen, aber mit der des Senators
              wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, im Frühsommer gebeten                         nicht übereinstimmten. Hallworth bemerkte die
              hatten, uns Ihre Meinung zum Magazin zu sagen. Die Umfra-                          ‹Panne› erst während des Vortrags und musste seine
              ge ergab ein insgesamt positives Bild. Gemäss den knapp 200                        Ausführungen abbrechen.
              Rückmeldungen werden besonders die Themenrelevanz, die                             Quelle: ebd., S. 78.
              Perspektivenvielfalt, die Tiefgründigkeit, das biblisch-theo-
              logische Fundament und die Verbindung von Glauben und                              Brüssel – Reichhaltige Angelausrüstung spottbillig
              Denken geschätzt. Mehrfach werden mehr gesellschaftlich                            zu verkaufen, da mein Mann doch nie etwas fängt.
              brennende Themen und eine kritischere, herausforderndere                           Telefonische Anfragen erbeten. Sollte sich eine
              Auseinandersetzung damit gewünscht. Interessanterweise                             Männerstimme melden, bitte sofort einhängen.
              stellen die einen hinsichtlich politischer Färbung einen ver-                      Quelle: ebd., S. 108.
              stärkten Einfluss konservativer Sichtweisen fest, während
              andere tendenziell einen «Linksdrall» wahrnehmen.                                  Apeldoorn – Um einen Patienten, der eine Injektion
                  Der Entscheid des Vorstands fiel nach Redaktions-                              hinauszögerte, zu überlisten, führte ein Arzt in der
              schluss dieser Ausgabe, weshalb wir Sie in der nächsten                            holländischen Stadt Apeldoorn den Mann in ein
              Ausgabe ausführlich darüber informieren werden. Für den                            kleines Zimmer, wo er an der Wand einen grossen
              Moment und an dieser Stelle danken wir Ihnen ganz herzlich                         Pfeil bemerkte, der auf ein Schild am Fussboden
              für die Treue und die wertvollen Rückmeldungen. Wir hoffen,                        wies. Neugierig beugte sich der Patient hinunter und
              mit der künftigen Entwicklung auch Ihren Bedürfnissen ge-                          las: «Jetzt sind Sie in der richtigen Stellung für Ihre
              recht werden zu können und Sie weiterhin mit an Bord zu                            Injektion.»
              wissen.                                                                            Quelle: ebd., S. 118.

              stammtisch                                           GLAUBT MIR! WAS DIE
                                                                                                                                                      Simon KrUSI 3/20
                                                                                                                                                             WAS DENN? MAN

                                                                                                     t
                                                                                                    ...

                                                                                                    h
                                             VON WEGEN      MIT IHREM FRAUENSTREIK WIRKLICH                                                                  WIRD WOHL NOCH

                                                                                                  ac
                                           GLEICHER LOHN!             WOLLEN IST ...!                                            PSST!                       SEINE MEINUNG

                                                                                                 M
                                                                                                                                                             SAGEN DÜRFEN!

                                                    nz SEA
                                     e Allia
                              gelisch
                                                                                                n
                                                                                         Kirche
                       e Eva n
                 erisch
          Schweiz                                                                                                 n
-4661 /                                                                                                    t reine
                                          i lo s o phie                                   «Wir sin d nie mi
                                                                                                         rwegs»
                                       Ph                                                  Motiv en unte
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                                                                                                                                                 9 18:3
                                                                                                                                                        8

      cht                               überw
mit Ma
      4 - Magazin INSIST             03 September 2020
Meinungsfreiheit - Schweizerische Evangelische Allianz
MEDIZIN

Sind Viren nur Schädlinge
oder auch Nützlinge?
Virus: Schon das Wort lässt viele schaudern. Viren und Sterberaten werden in
einem Atemzug genannt. AIDS, Grippe und Herpes und aktuell COVID-19 – all
diese Krankheiten werden durch Viren verursacht. Das ist aber nur die eine
Hälfte einer erstaunlichen Geschichte über die Vielfalt der Schöpfung.

Der Begriff «Virus», aus dem Lateini-                 handlung eingesetzt. Heute werden in
schen für zähe Feuchtigkeit, Schleim                  einigen Forschungslaboren Phagen un-
oder Saft, ist beschreibend gewählt                   tersucht. In der Praxis konnte gezeigt
nach Beobachtungen, dass Flüssigkei-                  werden, dass durch Phagen-Einsatz
ten Träger für Infektionen sein können.               zum Beispiel in der Hummerzucht die
Viren, in der Umwelt allgegenwärtig,                  Tiere nicht mehr mit Antibiotika gegen
sind simpel gebaute winzige Partikel                  schädigende Bakterien behandelt wer-
mit einem Programm zur eigenen Ver-                   den müssen. Auch bei multiresistenten
mehrung. Sie verbreiten sich ausser-                  Krankenhauskeimen gibt es begründe-
halb von Zellen, können sich jedoch                   te Hoffnung, mit Phagen Behandlungs-
nur innerhalb einer geeigneten Wirts-                 fortschritte zu erzielen. Als Anti-Bak-
zelle vermehren und sind auf deren                    terien-Viren können sie Regionen im
Stoffwechsel angewiesen. Besonders                    Körper erreichen, an die keine Anti-
an Viren ist, dass sie jeweils ganz spe-              biotika gelangen, oder sie können zu-
zifische Zielzellen befallen. Sobald ein              sammen mit Antibiotika die Heilung
Virus die Wirtszelle infiziert und somit              verbessern. In der ökologischen Land-
gekapert hat, funktioniert es sie zu ei-              wirtschaft werden Granulose-Viren
ner Virusfabrik um, die so lange neue                 eingesetzt, die gegen die Larven und        Haut. Bakterien im Verdauungstrakt
Viren produziert, bis sie platzt und da-              Raupen von Apfelwickler oder Frucht-        haben einen wichtigen Einfluss auf das
bei Tausende Viruspartikel freisetzt.                 schalenwickler wirksam sind und so          Immunsystem. Phagen als Bakterienvi-
Doch können diese kleinen Partikel                    den Einsatz von Insektiziden reduzie-       ren regulieren auch die Darmflora und
mehr, als nur Krankheiten zu verbrei-                 ren.3                                       das Entzündungsgeschehen. Die Ge-
ten, oder sogar nützlich sein?                            Weitet man den Blick auf das ganze      samtzahl der Viren im Körper übertrifft
    Mit sogenannten viralen Vektoren                  Ökosystem, entdeckt man: Viren über-        die der Bakterien geschätzt um das
ist es möglich, Gene in Zellen einzu-                 nehmen unersetzliche regulatorische         Zehnfache und liegt im mehrfachen
schleusen. Solche Genfähren werden                    Aufgaben. Ein Teelöffel voll Meerwas-       Billionenbereich. Nur der allerkleinste
in Forschung, Gentherapie und Impf-                   ser soll bis 100 Millionen Viren enthal-    Teil davon ist krankmachend.
stoffentwicklung verwendet. In der                    ten. Sie kontrollieren regelrecht, was          Zu den vielfältigen Aufgaben von
Medizin gibt es Ansätze, Viren in der                 im Meer lebt und was nicht. Viren spie-     Viren im Körper wissen wir bisher
Therapie bei bestimmten Krebsarten                    len eine wichtige Rolle für die Gleichge-   kaum etwas. Die Rolle dieses soge-
einzusetzen1: den Parvovirus H1 bei                   wichte zwischen den Organismen und          nannten Viroms liegt noch grössten-
Hirntumoren2 oder veränderte Po-                      damit für den Artenreichtum. Nehmen         teils im Dunkeln. Doch unzweifelhaft
ckenviren bei Bauchfellkrebs.                         bestimmte Lebewesen überhand, wird          ist schon jetzt: Viren sind ein unersetz-
                                                      diese dichter gewordene Population für      licher Teil des Lebens und der Gleich-
Viren gegen Bakterien                                 Viren anfälliger und durch diese redu-      gewichte im Ökosystem. Viren, als Teil
Da einige Viren Bakterien befallen,                   ziert. Das begrenzt beispielsweise Al-      der Vielfalt und Komplexität des Le-
kann man damit krankmachende Bak-                     genplagen.                                  bens, vergrössern mein Staunen über
terien ausschalten. Schon im Zwei-                                                                die Schöpfung.
ten Weltkrieg wurden derartige Viren,                 Billionen Viren im Körper
sogenannte Phagen, in der Wundbe-                     Auch im menschlichen Darm haben Vi-
                                                      ren eine wichtige Rolle. Billionen von                  Dr. med. Albrecht Seiler ist Chefarzt der
1
  vgl. zu Viren in der Krebstherapie: https://www.    Bakterien bilden ein Mikrobiom im                       Klinik SGM Langenthal, einer christlichen
aerzteblatt.de/archiv/142667/Onkolytische-Viren-                                                              Fachklinik für Psychiatrie, Psychosomatik
Medikamente-mit-Dominoeffekt (17.7.2020)
                                                      Verdauungstrakt ebenso wie auf der
                                                                                                              und Psychotherapie.
2
  vgl. zum Parvovirus bei Hirntumoren: https://www.
dkfz.de/de/presse/pressemitteilungen/2010/dkfz_       3
                                                       vgl. zum ökologischen Obstbau:
pm_10_21_Viren_gegen_Krebs.php (17.7.2020)            https://orgprints.org/32127/ (17.7.2020)                b info@klinik-sgm.ch

                                                                                                        03 September 2020      Magazin INSIST - 5
Meinungsfreiheit - Schweizerische Evangelische Allianz
PHILOSOPHIE

    Mündig werden und
    Meinung bilden
    Die Ereignisse des Frühsommers 2020 haben die Diskussionen zum Thema Meinungsfreiheit neu entfacht. Anlass waren
    die «Black-Lives-Matter»-Proteste in den USA, die angesichts des Frusts über das Fortdauern rassistischer Strukturen in
    zum Teil gewaltsame Unruhen umschlugen.

                                                            wird die Diskussion dadurch, dass sie                      mus vorbei ist. Zunächst sollte man da-
                                                            die Metaebene einer ohnehin stark                          her zuhören, wenn Betroffene eine Ver-
                                                            emotionalisierten Debatte über Rassis-                     änderung einklagen. Nicht-inklusive
                                                            mus betrifft.                                              Strukturen der Meinungsbildung sind
                                                                Liberale Demokratie geht von der                       Teil des Problems (zum Beispiel die
                                                            Fehlbarkeit des Menschen aus und                           Auswahl von Talk-Show-Gästen). Bin
                                                            sieht Korrektive zur Verbesserung des                      ich als nicht Betroffener vielleicht zu
                                                            Systems vor. Dazu gehört die Mei-                          «betriebsblind» für das Fehlen anderer
                                                            nungsfreiheit. Eingeschränkt werden                        Ansichten? Ist eine möglichst breit auf-
                                                            darf sie nur dort, wo sie zum Schaden                      gestellte Diversität von Perspektiven
                                                            von Einzelnen oder der Allgemeinheit                       nicht hilfreich, um Probleme der Ge-
                                                            missbraucht wird. Verschiedene Demo-                       sellschaft besser anzugehen?
                                                            kratien legen unterschiedliche Mass-
                                                            stäbe an. So stellt in Deutschland die                     2. Meinungsbildung lebt von Vielfalt:
                                                            Leugnung des Holocaust einen strafba-                      Bisweilen scheint es, allein das subjek-
                                                            ren Tatbestand dar.                                        tive «Beleidigtsein» sei heute Massstab,
    Dem Ohnmachtsgefühl auf der Strasse                         In «On Liberty» (1859) plädierten                      ob eine Meinung schädlich ist. Sicher-
    steht die scheinbar wachsende Macht                     John Stuart Mill2 und Harriet Taylor                       lich verschärft dies die anonyme Struk-
    einer politisch korrekten «Cancel Cul-                  Mill unter anderem so für Meinungs-                        tur der sozialen Medien, die weniger
    ture» gegenüber. Bezeichnet wird damit                  freiheit: 1. Um eine Meinung als richtig                   echten Austausch gestattet, Polarisie-
    das mutmassliche «Mundtotmachen»                        oder falsch zu beurteilen, muss sie zu-                    rung jedoch verstärkt. Neue Massstäbe
    missliebiger Stimmen durch soziale                      nächst gehört werden. 2. Allgemein an-                     zu setzen, braucht selbst Meinungsfrei-
    Netzwerke und Einflussnahme auf Ar-                     erkannte Meinungen sind nicht not-                         heit, sollen nicht autoritäre Ideologien
    beitgeber und Institutionen. Fernseh-                   wendig vollständig richtig. Daher                          mit Wahrheitsanspruch triumphieren.
    serien werden abgesetzt, Redakteure                     können andere, teilweise falsche Mei-                      Wer Inklusivität und Diversität fordert,
    müssen ihren Hut nehmen, Konsumar-                      nungen einen Kern an Wahrheit bein-                        benötigt inklusive und diverse Diskus-
    tikel verschwinden aus dem Regal.                       halten, welcher der Wahrheit im Allge-                     sionen.
        Besorgt darüber unterzeichneten                     meinen weiterhilft. 3. Selbst wenn die
    Anfang Juli über 150 namhafte Intellek-                 allgemein anerkannte Meinung voll-                         3. Mündigkeit wächst an Widersprü-
    tuelle wie Margaret Atwood, Noam                        ständig richtig wäre, übernehmen sie                       chen: Die Krise der liberalen Demokra-
    Chomsky, Anne Applebaum und Sal-                        mündige Menschen nur im Herzen,                            tie frisst den Wert der Meinungsfreiheit
    man Rushdie – politisch kaum auf ei-                    wenn sie andere Meinungen zum Ver-                         an. Doch in der Intensität der Debatte
    ner Linie – im amerikanischen Maga-                     gleich haben.                                              liegt auch ein Moment lebendiger Mei-
    zin «Harper's» einen offenen Brief, in                      Versuchen wir, diese drei Punkte                       nungsbildung. So wird transparent, wo
    dem sie davor warnen, die Meinungs-                     auf die aktuelle Debatte zu beziehen:                      der Anspruch einer freiheitlichen Ge-
    freiheit als «Lebenssaft der liberalen                                                                             sellschaft noch Engpässe aufweist und
    Gesellschaft» abzuwürgen.1                              1. Meinung braucht Raum: Der Um-                           dass das Mündigwerden von uns allen
        Umgehend hagelte es Kritik: Es gin-                 stand, dass die Mehrheitsgesellschaft                      ein fortwährender Prozess ist.
    ge nur um den Schutz eigener Privilegi-                 sich vom Rassismus nicht betroffen
    en und das Ausbremsen von Verände-                      fühlt, ist kein Indiz dafür, dass Rassis-
    rung. Daraufhin zogen einige ihre                                                                                              Alexander Arndt hat Geschichte, Literatur-
                                                            2
                                                             Traditionell wird nur John Stuart Mill (1806-
    Unterschrift zurück. Die Reaktion auf                   1873) als Autor von «On Liberty» und als einer der                     und Kulturwissenschaft studiert und
                                                            einflussreichsten Philosophen des Liberalismus                         arbeitet im Büro der EMK Baden. Zudem
    den Text gab diesem recht. Erschwert                    angegeben, dabei hatte J.S. Mill explizit festgehalten,                ist er in der Erwachsenen­bildung sowie
                                                            dass der Text mehr als seine anderen eine                              als Online-Redaktor für das «Jerusalem
                                                            Gemeinschaftsproduktion mit seiner Frau Harriet
    1
     vgl. «A Letter on Justice and Open Debate»,            Taylor Mill (1807-1858), ihrerseits Philosophin und                    Center for Public Affairs» tätig.
    7. Juli 2020, Harper’s Magazine: https://harpers.org/   Frauenrechtlerin, gewesen sei. Im Kontext ein Beispiel
    a-letter-on-justice-and-open-debate/ (17.7.2020)        für den Mangel an Inklusivität in der Geistesgeschichte.               b alex.arndt@gmx.net

6 - Magazin INSIST       03 September 2020
Meinungsfreiheit - Schweizerische Evangelische Allianz
POLITIK

Meinungsfreiheit bringt
Verantwortung mit sich
Eine gute Faktenlage war für mich schon immer eine wichtige Ausgangslage, um mir eine Meinung zu bilden und Ent-
scheidungen zu treffen. Das Abwägen der Pros und Contras gehört zu diesem Prozess. Eine Leitplanke geben mir zudem
der Austausch mit diversen Personen, die persönliche Erfahrung, aber insbesondere auch Werte wie Gerechtigkeit, Nach-
haltigkeit oder Würde. Mit der Meinungsfreiheit ist respektvoll umzugehen.

                                           menhang mit der Erhaltung oder dem         Meinungen zwar vertreten werden,
                                           Schutz des Lebens steht und keine Er-      aber das Gegenüber nicht angehört
                                           satzmethoden für Tierversuche zur          wird.
                                           Verfügung stehen, dann soll aus mei-           Dazu ein aktuelles gesellschaftli-
                                           ner Sicht immer noch eine Güterab-         ches Beispiel, mit dem ich meine
                                           wägung stattfinden müssen. Eine gute       Mühe bekunde und bei dem die Mei-
                                           Faktenlage über den aktuellen Stand        nungsfreiheit für mich klar an ihre
                                           und die schon getätigten Anstrengun-       Grenzen stösst: die Kontroverse um die
                                           gen ist zentral, um zu den richtigen       Dubler-«Schoggiküsse». Ich benutze
                                           Schlussfolgerungen zur Minimierung         bewusst das Wort «Schoggiküsse» und
                                           negativer Auswirkungen und zur Ver-        nicht jenes Wort, um das sich die De-
                                           besserung der Situation zu gelangen        batte dreht. Die Namensdiskussion ist
                                           und gleichzeitig den Schutz des Le-        nicht neu. Einige Hersteller benannten
                                           bens nicht zu gefährden.                   darum vor Jahren das Produkt in
                                                                                      «Schoggiküsse» um. Andere wider-
                                           Eine Frage des Respekts                    setzten sich wie die Firma Dubler. Das
                                           Die Meinungsfreiheit war und ist für       habe ich damals schon als junger
                                           mich immer zentral, trotz der Zugehö-      Mensch nicht begriffen. Diese Firma
                                           rigkeit zu einer Partei oder gewissen      hat nicht willentlich anstössig sein
                                           Verbänden. Dort engagiere ich mich         wollen. Aber die Verantwortlichen hät-
                                           unter anderem, da mir dies einen ge-       ten sich dessen bewusst sein müssen
Meine Arbeit als Politikerin und Na-       wissen Rahmen gibt, mit dem ich mich       und die Augen nicht davor verschlies-
tionalrätin besteht zu einem grossen       mehrheitlich identifizieren kann, wo-      sen dürfen, dass es Menschen gibt, die
Teil aus der Bildung von Meinungen         für ich mich engagieren möchte, wo         mit diesem Namen rassistisch belei-
und dem Treffen von Entscheidungen.        ich mit ähnlich Gesinnten «unterwegs»      digt und erniedrigt werden. Es wäre
Während all meinen Jahren in der Po-       sein kann, die mir das Rückgrat stär-      eine Sache des Respekts gewesen, da-
litik habe ich gelernt, wie ich zu einer   ken. Je höher das politische Mandat        mals den Namen zu ändern – und heu-
Haltung gelange. Ja, Sie haben richtig     ist, das man innehat, desto grösser wird   te bietet sich eine neue Chance.
gelesen: Zu vielen politischen Frage-      aber auch der Druck, sich einer Mei-           Dankbar bin ich, dass die Mei-
stellungen habe ich nicht schon vor-       nung anzuschliessen. Unzählige Mails,      nungsfreiheit in unserer Bundesver-
gängig eine klare Meinung. Gewisse         Briefe, Wünsche nach persönlichen Ge-      fassung (Artikel 16) verankert und ein
Fragestellungen sind vielleicht wie-       sprächen etc. sind Alltag. Mir in mei-     Menschenrecht ist. Doch sie ist, wie
derkehrend, aufgrund meiner Wert-          ner Art der Meinungsbildung weiterhin      ich aufzuzeigen versucht habe, eben
vorstellungen oder Anliegen klar, doch     treu zu bleiben und die Meinungsfrei-      auch mit Pflichten und Verantwortung
gibt es auch da immer wieder Neues zu      heit zu leben, wird herausfordernder,      verbunden. 
klären.                                    aber umso wichtiger.
                                                Auch wenn ich eine Verfechterin
Vorsicht vor Absolutheit                   der Meinungsfreiheit bin, versetzt mich
Dazu ein Beispiel eines Themas, mit        die Ausnützung derselben immer wie-
dem ich mich zurzeit befasse: Grund-       der in Rage. Zum Beispiel, wenn es um                 Lilian Studer ist Nationalrätin der EVP
                                                                                                 des Kantons Aargau und Geschäftsfüh-
sätzlich wäre es mein Anliegen, die        Respektlosigkeit und die Verbreitung                  rerin des Blauen Kreuzes Aargau/Luzern.
Forschung an Tieren zu verbieten. Wer      von Unwahrheiten geht, zudem keine                    Zwischen 2002 und 2019 war sie Gross­
                                                                                                 rätin des Kantons Aargau, zwischen 2005
würde da nicht zustimmen. Doch diese       oder wenig Kenntnis der Sachlage vor-                 und 2009 Präsidentin der Jungen EVP.
Absolutheit kann fahrlässig sein. Denn     handen ist. Wichtig ist für mich auch
                                                                                                 b lilian.studer@parl.ch
wenn Forschung am Tier im Zusam-           das Zuhören. Es macht mir Mühe, wenn

                                                                                           03 September 2020      Magazin INSIST - 7
Meinungsfreiheit - Schweizerische Evangelische Allianz
THEMA

                        Meinungsfreiheit

8 - Magazin INSIST   03 September 2020
Meinungsfreiheit - Schweizerische Evangelische Allianz
THEMA

MEINUNGSFREIHEIT AUS BIBLISCHER SICHT

Ein Freiheitsrecht im Dienst von
Wahrheit und Gerechtigkeit
Das Menschenrecht der Meinungsfreiheit wird zwar nirgends in der Bibel direkt thematisiert, aber es lassen sich ­
viele B
      ­ ezüge finden. Sie zeigen unter anderem, dass dieses Recht schützenswert, für Gott aber nicht bindend ist und
dass es seine Grenzen hat.

«Frei und offen und völlig ungehindert verkündete er ihnen      die grundsätzliche Anerkennung der Freiheit als ein Grund-
allen, wie Gott jetzt seine Herrschaft aufrichtet, und lehrte   recht für alle Angehörigen eines Volkes. Trotzdem wurden in
sie alles über Jesus Christus, den Herrn.»1 Was Lukas in der    Israel – ebenso wie in anderen antiken Hochkulturen – Skla-
Apostelgeschichte über die Art und Weise des Wirkens von        ven gehalten.
Paulus schreibt, ist leider nicht repräsentativ für die Mei-        Wenn Paulus viel später im Galaterbrief schreibt: «Zur
nungsfreiheit zur Zeit der biblischen Autoren. Heute in der     Freiheit hat Christus uns befreit! Bleibt daher standhaft und
Schweiz frage ich mich vor allem, was                                                 lasst euch nicht wieder unter das Joch
ich sagen darf, ohne gesellschaftlich                                                 der Sklaverei zwingen!»2, dann verwen-
stigmatisiert oder juristisch belangt zu
                                           In der Bibel wird immer                    det er zwar das Bild des befreiten Skla-
werden. Ein Mensch damals stellte viel-     wieder kritisch darauf                    ven, wendet es jedoch auf eine innere
mehr die Frage nach dem Besitz: nicht      hingewiesen, wenn die                      Freiheit an und kritisiert nicht generell
primär nach seinem Besitz, sondern da-                                                die Sklaverei. Diese innere Freiheit
nach, wem er selber gehört. Menschen
                                           Meinungsfreiheit nicht                     deutet jedoch bereits auf eine anzustre-
waren oft im Besitz anderer Menschen.           gewährt wird.                         bende Meinungsfreiheit hin. So wird in
Und als Sklaven war so etwas wie Mei-                                                 den biblischen Berichten immer wieder
nungsäusserungsfreiheit gar kein Thema. Gehorsam dem            kritisch darauf hingewiesen, wenn ein König oder Herrscher
Herrn gegenüber lautete die Devise zur Zeit des Alten Tes-      die Meinungsfreiheit nicht gewährt hat – zum Beispiel ge-
taments und auch für viele Menschen zur Zeit der neutesta-      genüber den Propheten, deren Dienst gerade nur auf der Ba-
mentlichen Texte, als Lukas seine Apostelgeschichte und da-     sis der Meinungsfreiheit möglich war. Deshalb waren es
mit den eingangs zitierten Vers verfasste.                      auch die Propheten, die stark unter der eingeschränkten
                                                                Meinungsfreiheit litten.
Prophetie ohne Meinungsfreiheit?
Das Volk Israel hat zwar sehr früh in der Geschichte sei-       Unabhängigkeit von Beeinflussung
ne Befreiung aus Sklaverei und fremder Herrschaft gefei-        Der griechische Staatsmann Perikles bemerkte ca. 500 vor
ert. So wird mit dem Passahfest der Befreiung des Volkes aus    Christus in der ältesten Demokratie in Athen treffend: «Das
der Unterdrückung in Ägypten gedacht und die ungezügelte        Geheimnis der Freiheit ist der Mut.» Dieser Mut zur Freiheit
Machtausübung des Pharaos kritisiert. Darin zeigt sich auch     war denn auch vor über 2000 Jahren viel notwendiger als

1
    Apg 28,31                                                   2
                                                                    Gal 5,1

                                                                                            03 September 2020    Magazin INSIST - 9
Meinungsfreiheit - Schweizerische Evangelische Allianz
THEMA

    in der heutigen, sogenannt freien Welt, wollte man wirklich      wird dies dann und dort tun, wo Wahrheit und Gerechtigkeit
    seine Meinung kundtun. Der Begriff der Freiheit wird noch        mit Füssen getreten werden. Also wenn jemand Gottes Na-
    im Neuen Testament primär dafür verwendet, freie Men-            men missbraucht oder gar Gott selbst abstreitet oder ablehnt.
    schen zu bezeichnen, solche also, die keine Sklaven (mehr)       Im Gegensatz zu bestehenden Blasphemie-Gesetzen ist je-
    sind. Die altgriechische Sprache verwendet drei verschiede-      doch Gott selber der Richter, wenn es um die Durchsetzung
    ne Begriffe für Freiheit: den ersten im Sinn von «sich selbst    der Zehn Gebote geht.
    gehörend», einen zweiten von «unabhängig» (autonom) und              Eine weitere Grenze der «biblischen» Meinungsfreiheit
    schliesslich von «selbstgenügsam» (autark). Der Freiheitsbe-     bildet die Lüge. Die Unwahrheit zu sagen, wird nicht ge-
    griff wird kaum, wenn überhaupt, in Bezug auf Meinungsfrei-      schützt, sondern eben zum Beispiel in den Zehn Geboten als
    heit verwendet. Am ehesten kommt sie im Begriff «Autono-         verwerflich bezeichnet. So schützt das achte Gebot jene, wel-
    mie» zum Ausdruck: Eine freie Meinung ist unabhängig von         che die Meinungsfreiheit für die Wahrheit nützen, indem es
    Beeinflussung und Manipulation.                                  sagt: «Du sollst nichts Unwahres über deinen Mitmenschen
                                                                     sagen.»5 Wer sein Gewissen an die Wahrheit knüpft und ent-
    Vorbilder im Kampf für Wahrheit und                              sprechend nichts sagt, was von irgendwoher manipuliert
    Gerechtigkeit                                                    worden ist, der ist auf Meinungsfreiheit angewiesen. Wer
    Obwohl der Begriff der Meinungsfreiheit selbst nicht vor-        wahrhaftig agieren will, braucht Meinungsfreiheit oder den
    kommt, kann man doch ableiten, dass die biblischen Auto-         Mut, die Konsequenzen zu tragen. Propheten haben von der
    ren die Meinungsfreiheit schützen wollen. Dies kommt in          Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht und die Konsequenzen
    den Berichten über biblische Persönlichkeiten wie Esther,        nicht gescheut, selbst wenn manchmal der Tod die Folge ih-
    Daniel und viele weitere Propheten zum Ausdruck. Auch            rer freien Rede war. Im Neuen Testament ist dieses Schicksal
    wenn die Machthabenden damals eben gerade keine Mei-             zum Beispiel Johannes dem Täufer oder Stephanus, dem ers-
    nungsfreiheit gewährt haben, so halten Königin Esther und        ten Märtyrer, widerfahren.
    die Propheten an der Wahrheit und Gerechtigkeit fest und
    nehmen in Kauf, dass sie für ihre freie Meinung, ihre Kritik,    Im Zweifelsfall für die Meinungsfreiheit
    hart bestraft werden. Die Bibel stellt dieses Verhalten als      Aber wer kann prüfen, ob eine menschliche Rede wahr ist?
    vorbildlich dar und kritisiert die Machthaber, die das Recht     In letzter Konsequenz kann dies nur Gott. Vor Gott gibt es
    beugen und Meinungsfreiheit nicht gewähren. So lesen wir         deshalb keine Freiheit zur Lüge aus biblischer Sicht. Vor
    zum Beispiel in Psalm 40: «Ich verkün-                                              den Menschen wird die Lüge erst sankti-
    dige Gerechtigkeit in der grossen Ge-
                                              Menschenrechte gelten                     oniert, wo sie bewiesen werden kann. Nur
    meinde. Siehe, ich will mir meinen                                                  vor diesem Hintergrund ist das vielzitier-
    Mund nicht stopfen lassen; Herr, das       für Menschen, nicht                      te Wort der Voltaire-Biografin, Evelyn Be-
    weisst du.»3 Eine Fortsetzung findet           aber für Gott.                       atrice Hall, zu verstehen und auch zu un-
    diese Haltung im Neuen Testament,                                                   terstützen: «Ich lehne ab, was Sie sagen,
    etwa wenn Jesus seinen Jüngern voraussagt, dass sie um           aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es sagen
    seinetwillen verfolgt und bestraft werden, oder wenn Pe-         zu dürfen.» Es erfordert Demut von uns Menschen, einzuge-
    trus, Stephanus oder Paulus bestraft werden, wenn sie das        stehen, dass wir nicht in jedem Fall die Wahrheit kennen.
    Evangelium verkündigen, weil dies bestimmten Machtha-            Und so gewähren wir grundsätzlich die Meinungsfreiheit
    bern nicht passt.                                                – auch im Zweifelsfall. Gleichzeitig wäre es wünschens-
                                                                     wert, wenn jeder Mensch seine Freiheit im Sinn von Mar-
    Freiheit mit Grenzen                                             tin Luther nutzen würde: «In Christus sind alle Menschen
    Man könnte allerdings fragen, ob nicht bereits die Zehn Ge-      frei, aber diese Freiheit ist durch die Liebe bzw. die Verant-
    bote die Meinungsfreiheit einschränkten. So steht beispiels-     wortung für den Mitmenschen gebunden.»6 Oder anders
    weise im dritten Gebot in den Mosebüchern: «Du sollst den        ausgedrückt: Jedes Menschenrecht – auch jenes der Mei-
    Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn         nungsfreiheit – ist ebenso eine Menschenpflicht meinem
    der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen      Nächsten gegenüber. Und nur in dieser Verantwortung ge-
    missbraucht.»4 Ist das nicht ein Anti-Blasphemie-Artikel, der    lebt, ist die Meinungsfreiheit letztlich auch im Dienst des
    sozusagen Gotteslästerung unter Strafe stellt und damit die      Gemeinwohls.
    Meinungsfreiheit stark einschränkt?
        Bei dieser Frage sehen wir, wo die Grenzen der Men-
    schenrechte sind. Sie gelten eben für Menschen; nicht aber                          Marc Jost ist Generalsekretär der Schweizerischen
                                                                                        Evangelischen Allianz SEA und Co-Redaktionsleiter des
    für Gott. Auch wenn die Menschenrechte, wie die Meinungs-                           Magazins INSIST.
    freiheit, christlich inspiriert sind und es im Sinn des Schöp-
                                                                                        b mjost@each.ch
    fers ist, sie zu fördern und zu schützen, so kann sich der
    Herrscher des Universums doch darüber hinwegsetzen. Er
    3
        Ps 40,10                                                     5
                                                                         2 Mose 20,16
    4
        2 Mose 20,7                                                  6
                                                                         Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen

10 - Magazin INSIST   03 September 2020
THEMA

AUTHENTIZITÄT VOR GOTT

Warum ich Gott alles sagen darf
Kinder reden mit ihren Eltern im Normalfall ganz unverkrampft und ohne falsche Zurückhaltung. Genauso ist es mit Gott:
Wie er weder Wunderbares noch Schockierendes, weder Glück noch Enttäuschung vor uns zurückhält, so dürfen umge-
kehrt auch wir alles mit ihm teilen, was uns bewegt. Die Grundlage ist seine uneingeschränkte Liebe. Lassen wir zu, dass
sie uns mit ihm verbindet?

Kaum auf der Welt, habe ich meine Eltern angeschrien –          Ruhe im Sturm
und dies wohl im Laufe der ersten Babyjahre noch oft getan.     Gott ist ein Gegenüber, dem wir in allem vertrauen dürfen – ja
Danach lernte ich, Worte zu formulieren. Worte halfen mir,      noch viel mehr vertraut er uns. Ich kann jemandem an mei-
mich zu verständigen und die Welt zu erfragen. Kinder kom-      nem Inneren Anteil geben, wenn ich vertraue. Dies ist sehr
munizieren in den Anfangsjahren ohne falsche Zurückhal-         einfach, solange es mir gut geht. Vertrauen bewährt sich
tung mit den Eltern, denn sie sind vertraut mit ihnen. In ei-   dann, wenn es mal nicht rund läuft. Dies weiss auch Jesus,
nem guten Elternhaus wird sich etwas nie ändern: Kinder         der uns im Matthäus-Evangelium auffordert: «Kommt alle
können immer zu ihren Eltern kommen und sich ihnen mit-         her zu mir, die ihr müde seid und schwere Lasten tragt, ich
teilen. Diese Tatsache ist gegeben, auch wenn sich Kinder       will euch Ruhe schenken.»3 Weder vor Gott, unserem Vater
in zunehmendem Teenager-Alter und im Erwachsenwer-              noch vor Jesus müssen wir eine Show abziehen. Der Vers in
den eher von den Eltern distanzieren, was in gutem Masse ja     Matthäus fordert mich auf, zu ihm zu gehen, mich ihm mit-
auch normal ist.                                                zuteilen, auch wenn ich schwach, müde, fragend, anklagend
                                                                oder bedrückt bin. Dadurch finde ich Ruhe und muss mich
Gott ist authentisch zu uns                                     nicht vor Schelte, Leistungsdruck oder ähnlichem fürchten.
Gott ist unser Schöpfer, er hat uns nach seinem Ebenbild ge-    Jesus will uns ans Herz seines Vaters führen, wo wir Ruhe
schaffen.1 Er ist unser Vater und hat sogar seinen Sohn ge-     finden, auch in Zeiten des Sturms.
schickt, weil er uns ermöglichen wollte, den Weg direkt an
sein Herz wiederzufinden.2 Die Grundlage einer Beziehung        Der entscheidende Unterschied
zu Gott ist die uneingeschränkte Liebe, die Gott für dich und   Wie Babys sind wir am Anfang auf dem Weg mit Gott wohl et-
mich hat. Die können wir nicht wählen, die ist einfach Tatsa-   was unbeholfen. Zunehmend wagen wir es aber, Gott mit Fra-
che. Wenn Eltern ihr Kind anschauen, sehen sie immer das        gen zu löchern, und entwickeln das Interesse, eng mit ihm un-
schönste Kind der Welt vor sich – und genauso ist es auch       terwegs zu sein. Als erwachsene Personen ändert sich unsere
mit Gott, dem Vater.                                            Beziehung zu den Eltern: Normalerweise sind sie nicht mehr
    Diese Liebe und Vertrautheit verbindet Gott mit dir         unsere engsten Vertrauenspersonen. Dennoch sind und blei-
und, wenn du es zulässt, auch dich mit Gott. Gott lädt uns      ben sie uns die Nächsten. Ich weiss, dass ich ihnen alles sagen
in seine Vertrautheit ein und ermutigt uns, alles mit ihm       kann – bedingungslos, denn auch als erwachsene Tochter bin
zu teilen. Gott selbst ist authentisch zu uns – durch sein      ich immer noch ihr Kind. In unserer Beziehung zu Gott gibt es
Wort erfahren wir so vieles von ihm. Er lässt uns an wun-       einen entscheidenden Unterschied: Er will immer unser engs-
derbaren wie auch schockierenden Geschichten teilhaben,         ter Vertrauter sein, bis in alle Ewigkeit. Ob Kleinkind oder er-
erzählt uns von genialen Glücksmomenten wie auch Ent-           wachsene Person, wir dürfen ihm blind vertrauen und immer
täuschungen, die er mit Menschen erlebt hat. Er selbst ist      alles sagen. Schliesslich fordert er uns selber auf: «Werdet wie
es, der sich uns nähert und nichts vor uns zurückhält. Dies     die Kinder»4 – Kinder, die sorglos mit einem kindlichen Ver-
wiederum gibt uns die Legitimität und die Vertrautheit,         trauen sich Gott anvertrauen. 
dass auch wir ihm ohne jegliche Zurückhaltung alles sa-
gen dürfen. Es ehrt ihn, wenn wir ihn an unseren Gedan-
                                                                               Susanna Rychiger ist Leiterin von 24-7CH Prayer, des
ken, unseren Fragen, unseren Enttäuschungen, unserem                           Schweizer Zweigs der internationalen, überkon­fessionellen
                                                                               Gebets-, Missions- und Gerechtigkeits­bewegung 24-7
Erfolg oder Misserfolg teilhaben lassen. Ja, selbst Ankla-
                                                                               Prayer. Zudem ist sie Teil vom Kloster Alte Gärtnerei, einer
gen hindern ihn nicht, uns zu lieben und mit uns den Weg                       neumonastischen 24-7 Gemeinschaft in Steffisburg.
weiterzugehen.
                                                                               b susanna@24-7ch.ch

1
    vgl. 1 Mose 5,1                                             3
                                                                    Mt 11,28
2
    vgl. Joh 3,16                                               4
                                                                    Mt 18,3

                                                                                                 03 September 2020         Magazin INSIST - 11
THEMA

     GRUNDLEGENDE FREIHEITSRECHTE

     Nur Mut zur freien
     Meinungsäusserung!
    Das Recht zur freien Meinungsäusserung sorgt immer wieder für Aufregung. Jedoch kann der Wert der Meinungsfreiheit
    für eine demokratische Gesellschaft nicht überschätzt werden. Das Recht garantiert einen robusten Diskurs. Meinungen
    anderer sind auszuhalten, auch wenn man sie inhaltlich ablehnt.

    Sagen, was man denkt – eine Selbstverständlichkeit? Auch         oder Ideen, unabhängig vom verwendeten Medium. Sie bein-
    wenn die Idee subjektiver Rechte weit zurückreicht und be-       haltet auch das Recht, selbst zu bestimmen, wann, wo und an
    stimmte Gruppen in der Vergangenheit immer wieder ein-           wen eine Meinungskundgabe erfolgt. Die AEMR ist dabei bis
    zelne Rechte für sich sichern konnten: Rechtlich garantier-      heute wegweisend. In Artikel 19 heisst es dort:
    te, allgemeingültige und einklagbare Grundrechte, wie wir
    sie heute kennen, sind eine relativ junge Erscheinung. In ver-   «Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäusserung;
    schiedenen Staaten wurden sie zu unterschiedlichen Zeiten        dieses Recht schliesst die Freiheit ein, Meinungen unge-
    und in unterschiedlichem Umfang in die Verfassungen oder         hindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne
    andere Gesetze aufgenommen. Dabei waren Grundrechte zu-          Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu
    nächst als Abwehrrechte des Einzelnen gegen staatliches          suchen, zu empfangen und zu verbreiten.»
    Handeln konzipiert.
        Nach Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Men-           Ein grundlegendes und weitreichendes Recht
    schenrechte (AEMR) 1948 setzten sich auch auf völkerrechtli-     Grenzen der Meinungsfreiheit legt Artikel 19 AEMR nicht fest.
    cher Ebene Grundrechtsstandards durch und insbesondere           Erst mit Artikel 19 des UN-Zivilpaktes von 1966 wurden be-
    mit dem Europäischen Gerichtshof                                                          stimmte Bedingungen zur Ausübung
    für Menschenrechte (EGMR) steht       Es gibt auch im Westen einen                        der freien Meinungsäusserung gere-
    auch Einzelnen die Möglichkeit        besorgnis­erregenden Trend,                         gelt. Danach ist die Ausübung dieses
    offen, Grundrechte einzuklagen.
    ­                                                                                         Rechts mit «besonderen Pflichten und
    Wie viele andere Länder hat die       Diskurse wegen sogenannter                          einer besonderen Verantwortung ver-
    Schweiz alle wesentlichen völker-     «Hassrede» einzuschränken.                          bunden» und kann gesetzlich vorgese-
    rechtlichen Verträge ratifiziert.                                                         henen Einschränkungen unterworfen
        Heute umfasst die Meinungsfreiheit jede Handlung des         werden. In den Zivilpakt wurde nach heftiger Debatte auch der
    Suchens, Empfangens und Vermittelns von Informationen            umstrittene Artikel 20, Absatz 2 aufgenommen:

12 - Magazin INSIST   03 September 2020
THEMA

«Jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen                           Demokratien einen besorgniserregenden Trend, dass Regie-
Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Ge-                           rungen Diskurse wegen sogenannter «Hassrede» einschrän-
walt aufgestachelt wird, wird durch Gesetz verboten.»                                 ken. Als ein Beispiel kann die jüngste Änderung des Artikels
                                                                                      261bis des Schweizerischen Strafgesetzbuchs gelten (siehe
Eine Sonderberichterstatterin der UNO für Religions- und                              auch Beitrag auf Seite 14 zur Situation in der Schweiz).
Glaubensfreiheit schrieb, dass «Artikel 20 [des UN-Zivilpak-
tes] vor dem Hintergrund der vom Nazi-Regime während des                              Spezielle Freiheiten besonders geschützt
Zweiten Weltkrieges begangenen Gräuel entworfen wurde»                                Die Gewährleistung der Meinungsfreiheit ist auch deshalb
und die Hürde für solche Verbote entsprechend hoch sein                               wichtig, weil sie die Grundlage für die Ausübung vieler ande-
muss.1                                                                                rer Rechte und Freiheiten ist. Es besteht unter anderem ein
    In ähnlicher Weise stellt der «General Comment No. 34»                            enger Zusammenhang zur Versammlungs- und Religions-
des UN-Menschenrechtskomitees klar, dass Beschränkun-                                 freiheit.7 Die Versammlungsfreiheit ist gegenüber der Mei-
gen des Rechts auf Meinungsfreiheit «nicht über das hinaus-                           nungsfreiheit vom EGMR als das speziellere Recht (lex spe-
gehen sollten, was in Paragraph 3 [des Artikels 19] erlaubt                           cialis) angesehen worden, da sie eine besondere Form der
oder unter Artikel 20 gefordert wird».2                                               Meinungsäusserung in der Gemeinschaft schützt.8 Mei-
                                                                                      nungsfreiheit ist auch eine der Bedingungen für die Gewähr-
Meinungen geniessen rechtlichen Schutz                                                leistung von freien Wahlen (Artikel 3 Protokoll Nr. 1 EMRK).
Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention                                      Zusätzlich zur Pflicht, die Meinungsfreiheit nicht unnö-
(EMRK) von 1950 enthält eine der am deutlichsten formulier-                           tig einzuschränken, sollten Staaten daher ihre Ausübung un-
ten Garantien der freien Meinungsäusserung. Auch dieser                               mittelbar fördern. Es ist eine günstige Umgebung für die Teil-
Artikel sieht Einschränkungen vor, die aber laut Rechtspre-                           nahme an Diskursen zu schaffen, damit alle Beteiligten ihre
chung sehr eng zu definieren sind.                                                    Meinungen ohne Angst ausdrücken können. Freilich stellt
   Über die Jahre hat der EGMR klargestellt, dass die Mei-                            dies zugleich auch ein gewisses Risiko dar: Stets besteht die
nungsfreiheit nicht nur auf solche Informationen und Ideen                            Möglichkeit, dass andere Diskursteilnehmer sich durch Mei-
anwendbar ist, die wohlwollend aufgenom-                                                                       nungsäusserungen verletzt oder ge-
men oder als nicht-kränkende oder gleich-
                                                                Die Demokratie braucht                         kränkt fühlen könnten. Ein Richter
gültige Angelegenheit betrachtet würden,                                                                       aus Grossbritannien schrieb: «Rech-
sondern grundsätzlich auch auf solche, die                      Bürger, die ihre Freiheit                      te, die es wert sind, dass man sie hat,
den Staat oder irgendeine Bevölkerungs-                          mutig wahrnehmen.                             sind schwer zu bändigende Angele-
schicht kränken, schockieren oder beunru-                                                                      genheiten.»9
higen. Dies seien die Anforderungen an Pluralismus, Tole-                                 Freiheitliche demokratische Rechtsstaaten gehen dieses
ranz und Aufgeschlossenheit, ohne die es keine                                        Risiko um der Freiheit willen ein. Sie tun dies im Bewusst-
demokratische Gesellschaft gebe.3 Nach ständiger Recht-                               sein dessen, dass sie die Voraussetzungen ihrer Existenz
sprechung des Gerichtshofs sind durch Artikel 10 nicht nur                            nicht selbst garantieren können.10 Die Demokratie braucht
bestimmte Informationen, Ideen und Meinungen geschützt,                               Bürger, die ihre Freiheit mutig und verantwortungsvoll wahr-
sondern zum Beispiel auch politische Protestaufführungen,                             nehmen.
das Tragen bestimmter Symbole auf der Kleidung, die Veröf-
fentlichung von Fotos und Fotomontagen sowie künstleri-
sche Ausdrucksformen wie Gemälde oder Theateraufführun-
gen. Dass eine Äusserung im Einzelfall auch kränkend sein                                              Dr. iur. Lidia Rieder und Dr. iur. Felix Böllmann sind bei ADF
kann, steht dem Schutz nicht per se entgegen.4                                                         International in Wien tätig und setzen sich für Glaubens-
                                                                                                       und Religionsfreiheit, den Schutz des Lebens sowie Ehe
   Laut EGMR kommt der Meinungsfreiheit innerhalb der                                                  und Familie ein. ADF International vertritt weltweit
EMRK eine «besondere Bedeutung» zu.5 Sie stelle «eine der                                              Mandanten vor internationalen Gerichten, begleitet
                                                                                                       Gesetzgebungsverfahren und bietet Fortbildungen für
wesentlichen Grundlagen für eine [demokratische] Gesell-                                               Juristen und Führungskräfte an.
schaft» dar, «eine der Grundvoraussetzungen für deren Fort-
                                                                                                       b fboellmann@adfinternational.org
schritt und für die Selbstverwirklichung jedes Individu-
                                                                                                       b lrieder@adfinternational.org
ums».6 Es gibt jedoch in letzter Zeit auch in westlichen                                               O https://adfinternational.org

1
  Report of the Special Rapporteur on freedom of religion or belief, Asma Jahangir,
and the Special Rapporteur on contemporary forms of racism, racial discrimination,
xenophobia and related intolerance, Doudou Diène, further to Human Rights Council
decision 1/107 on incitement to racial and religious hatred and the promotion of      7
                                                                                        vgl. EGMR, Entsch. vom 16.7.1980, Nr. 8440/78 (Rn. 3), EuGRZ 1981, 216 (217) —
tolerance, A/HRC/2/3, 20.09.2006, § 47                                                Christians against Racism and Fascism/Vereinigtes Königreich
2
  UN General Comment No. 34, 12. September 2011, CCPR/C/GC/34, § 49                   8
                                                                                        vgl. Frenz, Walter: Handbuch Europarecht, Band 4, Europäische Grundrechte. Berlin
3
  vgl. Handyside v. Vereinigtes Königreich, (1976) 1 E.H.R.R. 737 § 49                Heidelberg, 2009, Springer-Verlag, S. 648
4
  vgl. Tatár und Fáber v. Ungarn (Aufhängen schmutziger Wäsche an Brüstungen im       9
                                                                                        Per Lord Justice Laws, Tabernacle v. Secretary of State for Defence [2009] EWCA Civ
Parlament als unter Artikel 10 fallende Ausdrucksform); Mariya Alekhina und andere    23, § 43, zitiert nach: Coleman, Paul: Zensiert. Wie europäische «Hassrede»-Gesetze
v. Russland (musikalische Protestaufführung in einer Kathedrale als künstlerische     die Meinungsfreiheit bedrohen. Deutsche Ausgabe: Basel, 2020, Fontis (siehe auch
und politische Ausdrucksform im Sinne von Artikel 10 EMRK)                            Kurzrezension auf Seite 29)
5
  Ezelin v. Frankreich (1992) 14 E.H.R.R. 362, 51                                     10
                                                                                         vgl. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Berlin, 1976,
6
  Handyside v. Vereinigtes Königreich (1976) 1 E.H.R.R. 737 § 49                      Suhrkamp Verlag, S. 60

                                                                                                                            03 September 2020            Magazin INSIST - 13
THEMA

    SITUATION UND TRENDS IN DER SCHWEIZ

    Gesetzlich geschützt, aber
    gesellschaftlich wankend
    Das UNO-Menschenrechtskomitee stellt der Schweiz in Sachen Meinungsfreiheit ein gutes Zeugnis aus. Doch die
    Ausweitung des Artikels 261bis des Strafgesetzbuches (StGB) auf die sexuelle Orientierung könnte Folgen haben für
    bibelorientierte Christen, weniger in rechtlicher als vielmehr in sozialer Hinsicht.

    Gemäss internationalen Gremien und NGO-Berichten geht         erhalten. Nur drei betrafen die Meinungs- und Redefreiheit.
    es der Meinungsfreiheit in der Schweiz recht gut. «Repor-     Zwei von ihnen kamen aus der Türkei, die sich 2012 und
    ter ohne Grenzen» reiht die Schweiz auf Platz 8 im Weltin-    2017 gegen die Verurteilung des türkischen Aktivisten Pe-
    dex für Pressefreiheit 2020 ein. Als                                                   rinçek durch Schweizer Gerichte
    die Experten des UNO-Menschen-         Die Schweizer Justiz räumte                     aussprach. Dieser hatte in einer in
    rechtskomitees 2017 die Schweiz un-    der Meinungsfreiheit einen                      der Schweiz gehaltenen Rede be-
    tersuchten, fanden sie nichts, wor-                                                    stritten, dass die Massaker an Ar-
    über sie sich gemäss Artikel 19 des
                                              hohen Stellenwert ein,                       meniern durch das Osmanische
    Internationalen Paktes über bürgerli-  manchmal sogar angesichts                       Reich 1915 in Wirklichkeit ein «Völ-
    che und politische Rechte hätten be-
                                              beunruhigender Ideen.                        kermord» waren. Das Gericht fand
    schweren können. Im Gegenteil, sie                                                     die Negierung dieses historischen
    empfahlen, die Schweiz solle gegenüber rassistischen und      Ereignisses verurteilungswürdig.
    fremdenfeindlichen Diskursen, insbesondere Hassreden              In diesem Fall wurde die Schweiz vom Europäischen Ge-
    gegen muslimische, jüdische und Roma-Gemeinschaften,          richtshof für Menschenrechte in einer engen und umstrit-
    nicht allzu tolerant sein. Das Komitee schlug vor, das Man-   tenen Entscheidung getadelt. Er befand, die Meinungsfrei-
    dat der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus zu         heit des türkischen Aktivisten sei verletzt worden; die
    stärken, einer Kommission, die unter anderem den Auftrag      Anzweiflung des Völkermords könne nicht als Anstache-
    hat, den Missbrauch der Meinungsfreiheit einzuschränken.      lung zum Hass gegen Armenier betrachtet werden.

    Seltene Kritik betreffend Meinungsfreiheit                    Grosszügige Handhabung des
    Auch im Rahmen des «Universal Periodic Review» (UPR)          Artikels 261 StGB
    des Menschenrechtsrats wurde in den letzten zwölf Jah-        Dieser Fall ist symptomatisch dafür, dass sich die Debat-
    ren die Meinungsfreiheit in der Schweiz – im Gegensatz zu     te über die Meinungsfreiheit in der Schweiz in den letzten
    anderen Themen wie Migration oder Rassismus – nur am          Jahrzehnten um die Frage des rassistischen oder (Völker-
    Rande erwähnt. Seit 2008 hat die Schweiz gemäss der Da-       mord) leugnenden Diskurses herauskristallisiert hat. Zur
    tenbank der NGO «UPR-Info» insgesamt 491 Empfehlungen         Erinnerung: Angesichts des Wiederauflebens des Neonazis-

14 - Magazin INSIST   03 September 2020
THEMA

mus Ende der 1980er-Jahre – 1989 machten Neonazis den             selben Anforderungen würden ausserdem auch an eine Pre-
Hitlergruss um ein brennendes Kreuz auf der Rütliwiese –          digt mit einem unkommentierten Zitat aus einem gewalttä-
nahm die Schweiz 1994 in einer Volksabstimmung den Ar-            tigen alttestamentlichen Text gestellt.
tikel 261bis StGB gegen Diskriminierung und Anstachelung              Ein Prediger, der die Frage der sexuellen Orientierung
zum Hass an. In 20 Jahren Anwendung hat die Schweizer             aus einer biblischen Perspektive thematisieren möchte, hat
Justiz 336 Verurteilungen ausgesprochen und sich dabei            also durchaus das Recht, eine kritische Meinung über Ho-
für eine relativ gemässigte Anwendung des Gesetzes ent-           mosexualität zu äussern und aus dem Alten Testament zu
schieden. Im Allgemeinen räumte sie der Meinungsfreiheit          zitieren. Dagegen sollte er dies auf eine Weise tun, die un-
einen hohen Stellenwert ein, manchmal sogar angesichts            missverständlich ist und jegliches Verhalten, das zu Hass
beunruhigender Ideen, solange diese keine Anstachelung            oder Gewalt führt, klar ausschliesst.
zu Hass, Gewalt oder Diskriminierung darstellten. In den
Fällen von weniger liberalen Auslegungen, wie im Fall Pe-         Negative Auswirkungen auf sozialer Ebene
rinçek, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrech-         Die Schweiz bietet rechtlich gesehen einen für die freie
te die Schweiz zur Ordnung gerufen.                               Meinungsäusserung generell günstigen Rechtsrahmen. Die
    Die Anwendung dieses Artikels 261bis StGB prägt auch          Hauptherausforderung liegt eher auf der gesellschaftlichen
heute noch das Geschehen in unserem Land. Dies zeigen             Ebene. Denn manchmal kommt es zu gewissen «ausserge-
die laufenden Gerichtsverfahren gegen den Polemiker Dieu-         richtlichen» Verurteilungen von Personen, die gesetzlich
donné wegen Leugnung der Existenz von Gaskammern                  erlaubte Reden halten, die aber von einem Teil der Bevölke-
oder gegen die SVP-Politiker Yvan Perrin und Jean-Luc Ad-         rung als inakzeptabel angesehen werden. Die Diskriminie-
dor wegen Aussagen über Muslime in sozialen Netzwerken.           rung und Sanktionierung können genauso wirksam, wenn
                                                                  nicht sogar noch einschneidender sein als eine gerichtliche
Auswirkungen auf religiöse Zitate                                 Verurteilung. Dazu zwei symptomatische Beispiele:
Es ist davon auszugehen, dass die am 1. Juli in Kraft getrete-        Der Filmemacher Fernand Melgar löste 2018 eine Kont-
ne, um die sexuelle Ausrichtung erweiterte Fassung des Ar-        roverse aus, indem er im Web Fotos von Drogenhändlern vor
tikels 261bis StGB die Rechtslage nicht grundlegend ändern        Schulen veröffentlichte, um die Nachlässigkeit der Gemein-
wird. Sie wird jedoch eine erhöhte Wachsamkeit erfordern,         de Lausanne anzuprangern. Es folgten empörte Reaktionen
auch aufseiten der Christen. Bei-                                                    und ein offener Brief von mehr als 200
spielsweise könnte das Zitieren eines        Die Zukunft der                         Personen aus der Film- und Bildindust-
alttestamentlichen Textes über die                                                   rie. Angesichts des Drucks gab Fernand
Sanktionierung von Homosexualität
                                          Meinungsfreiheit in der                    Melgar einen Lehrauftrag an der Kunst-
die betreffende Person oder Organisa-     Schweiz hängt auch von                     hochschule Genf auf und beendete 2020
tion fortan einer Verurteilung ausset-
                                              uns allen ab.                          seine Karriere als Filmemacher.
zen, wenn sie sich nicht ausdrücklich                                                    Ein weiteres Beispiel: Johannes Lä-
von einer Auslegung distanziert, die Hass, Gewalt oder Diskri-    derach erlebte wegen seiner aktiven Unterstützung einer
minierung hervorrufen könnte. Als Beispiel dient eine evan-       Pro-Life-Organisation und seiner kritischen Haltung gegen-
gelische Gruppe, die unter Kindern und Jugendlichen arbeitet      über der gleichgeschlechtlichen Ehe Vandalismus gegen
und in der Presse kritisiert wurde, weil sie auf ihrer Websei-    seine Läden. Man rief zum Boykott gegen ihn auf und die
te in einem Lexikon unter dem Begriff «Homosexualität» ohne       Fluggesellschaft Swiss beendete ihre Aufträge an den Scho-
weiteren Kommentar Zitate aus dem Alten Testament auf-            koladenhersteller.
führte.                                                               Angesichts dieser sozialen, beruflichen und wirtschaft-
    In dieser Hinsicht ist ein Urteil des Bundesgerichts zu       lichen Sanktionen haben wir den Auftrag, wachsam zu sein.
einem anderen Fall aus dem Jahr 2019 aufschlussreich. Das         Nicht nur, um diese Art von Intoleranz nicht selbst auszu-
Gericht hatte sich mit der Frage befasst, ob ein Prediger reli-   üben, sondern auch, um die Meinungsfreiheit gegenüber ei-
giöse Texte zitieren darf, die zu Gewalt aufrufen. Der Fall be-   nem Andersdenkenden zu verteidigen. In diesem Sinne
traf einen Lehrsatz, der 2016 von einem somalischen Imam          hängt die Zukunft der Meinungsfreiheit in der Schweiz
verlesen wurde und zu Gewalt und Mord an Muslimen auf-            auch von uns allen ab. Es liegt an uns, einen positiven Bei-
rief, die nicht am Gebet in der Moschee teilnahmen. Der           trag zum Klima eines reifen und respektvollen Dialogs zu
Imam legte erfolglos Berufung ein gegen seine 18-monatige         leisten.
Haftstrafe auf Bewährung und seine Ausweisung aus dem
Land. Nach Ansicht des Bundesgerichts war diese Predigt
eine «öffentliche Aufforderung zu Verbrechen oder Gewalt»                      Michael Mutzner ist ständiger Vertreter der Weltweiten
im Sinne des Schweizer Rechts. Das Problem: Der Imam las                       Evangelischen Allianz bei der UNO in Genf, Mediensprecher
                                                                               des Réseau évangélique suisse sowie wissenschaftlicher
dieses Zitat ohne weitere Kommentare, ohne es zu «ent-
                                                                               Mitarbeiter von Christian Public Affairs.
schärfen» und zu erklären, es dürfe nicht wörtlich ausgelegt
werden. Das Gericht fügte weiter hinzu, die moralische Au-                     b mmutzner@worldea.org

torität und Einflussmöglichkeit eines religiösen Lehrers,
der von der Kanzel spricht, hätten ein starkes Gewicht. Die-      Übersetzung aus dem Französischen: Andreas Bolliger

                                                                                                03 September 2020       Magazin INSIST - 15
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