Mindestlohn und beitragspfichtige Arbeitsentgelte1

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Mindestlohn                                                                                                 507

Mindestlohn und beitragspfichtige Arbeitsentgelte1
PD Dr. Ralf Himmelreicher, Berlin

 Vergleichsweise unerforscht sind die Effekte des Mindestlohnes auf die beitragspfich-
 tigen Arbeitsentgelte in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV). Beitragspfichtige
 Arbeitsentgelte bei der GRV stehen in einem lediglich indirekten Zusammenhang mit
 möglichen Mindestlohneffekten, weil Mindestlöhne in Deutschland als Bruttostundenlöh-
 ne defniert sind, während für die Höhe der Anwartschaften der Arbeitnehmerinnen und
 Arbeitnehmer das beitragspfichtige monatliche Arbeitsentgelt und nicht der Stundenlohn
 entscheidend ist. Beide Zielgrößen stehen aber über die bezahlte monatliche Arbeitszeit
 in einem engen Zusammenhang. Ziel dieses Beitrags ist es, die Entwicklung der Stunden-
 und Monatslöhne im Zeitverlauf darzustellen und mögliche Mindestlohneffekte herauszu-
 arbeiten. Hierzu werden zwei Erhebungen – die Verdienststrukturerhebungen (VSE) des
 Statistischen Bundesamtes und das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) des DIW Berlin
 der Jahre 2014 und 2018 – genutzt. Im Ergebnis zeigt sich, dass seit der Einführung des
 Mindestlohnes im Jahr 2015 vor allem zuvor sehr niedrige Stundenlöhne stark gestiegen
 sind. Im Hinblick auf die Monatslöhne bremst die Geringfügigkeitsgrenze (450 Euro) oft-
 mals die Monatslohnentwicklung über reduzierte Arbeitszeiten. In der Gleitzone sind seit
 der Einführung des Mindestlohnes gestiegene Monatslöhne und damit höhere beitrags-
 pfichtige Arbeitsentgelte zu verzeichnen.

1. Einleitung                                      werbsbedingungen und die Beschäftigung
                                                   in Bezug auf bestimmte Branchen und Re-
Die Mindestlohnkommission ist mit je drei          gionen sowie die Produktivität zur Verfü-
Vertretern2 der Arbeitnehmer- und Arbeit-          gung zu stellen (§ 9 Abs. 4 MiLoG).“
geberseite sozialpartnerschaftlich unter Lei-
tung eines Vorsitzenden besetzt. Ihr gehören    (Mindestlohnkommission 2020a: 19). Zum
zudem zwei beratende, nicht stimmberech-        1. Januar 2015 wurde in Deutschland ein
tigte wissenschaftliche Mitglieder an.          gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von
                                                8,50 Euro brutto pro Zeitstunde eingeführt.
  „Die Kommission hat nach § 9 Abs. 2           Seit den Hartz-Reformen bis zu den Re-
  MiLoG im Rahmen einer Gesamtabwägung          aktionen der Bundesregierung auf die CO-
  zu prüfen, welche Höhe des Mindestlohns       VID-19-Pandemie galt diese Regulierung
  geeignet ist, um zu einem angemessenen        als d a s arbeitsmarktpolitische Großexperi-
  Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und       ment in Deutschland (Arni et al. 2014). Nach
  Arbeitnehmer beizutragen, faire und funk-     seiner Einführung wurde der Mindestlohn
  tionierende Wettbewerbsbedingungen zu         zwei Jahre später zum 1. Januar 2017 auf
  ermöglichen sowie Beschäftigung nicht         8,84 Euro erhöht. 2019 betrug der Mindest-
  zu gefährden. Sie orientiert sich bei der
  Festsetzung des Mindestlohns nachlau-         1 Der Artikel gibt ausschließlich die Meinung des Autors und nicht
                                                  die der Mindestlohnkommission wider. Er basiert auf einem
  fend an der Tarifentwicklung. Gemeinsam         für die Jahrestagung 2020 des Forschungsdatenzentrums
  mit ihrem Beschluss hat die Mindestlohn-        der Deutschen Rentenversicherung vorgesehenen Vortrag,
                                                  die wegen der COVID-19-Pandemie leider abgesagt werden
  kommission der Bundesregierung einen            musste.
  Bericht über die Auswirkungen des Min-        2 Anmerkung der Redaktion: Aus Gründen der besseren Lesbar-
                                                  keit wird in diesem Artikel nur die männliche Form verwendet.
  destlohns auf den Schutz der Arbeitneh-         Gemeint ist stets sowohl die weibliche als auch die männliche
  merinnen und Arbeitnehmer, die Wettbe-          Form.
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lohn 9,19 Euro, und im Jahr 2020 liegt er        lohnes zeigen vergleichsweise geringe Effek-
bei 9,35 Euro. Nicht zuletzt wegen der CO-       te, weil reduzierte Arbeitszeiten zusammen
VID-19-Pandemie wurden die weiteren An-          mit Einkommensgrenzen, etwa bei 450 Euro
passungen des Mindestlohnes von der Min-         im Rahmen geringfügiger Beschäftigung,
destlohnkommission am 30. Juni 2020 in vier      sowie hohe Transferentzugsraten die Wir-
Halbjahresschritte aufgeteilt: 9,50 Euro am      kung steigender Stundenlöhne dämpfen
1. Januar 2021, 9,60 Euro am 1. Juli 2021,       (Bruckmeier und Bruttel 2020). Das Beispiel
9,82 Euro am 1. Juli 2022 und 10,45 Euro ab      weist auf Wechselwirkungen zwischen Löh-
dem zweiten Halbjahr 2022 (Mindestlohn-          nen und den sozialen Sicherungssystemen
kommission 2020b).                               hin. Vergleichsweise unerforscht sind die
Der Mindestlohn gilt für fast alle Arbeitneh-    Effekte des Mindestlohnes auf die beitrags-
mer3 und hat folgende Ziele:                     pfichtigen Arbeitsentgelte in der gesetzli-
                                                 chen Rentenversicherung (GRV).5 Beitrags-
  „Ein allgemeiner, gesetzlicher Mindestlohn     pfichtige Arbeitsentgelte bei der GRV stehen
  schützt Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-       in einem lediglich indirekten Zusammenhang
  mer in Deutschland vor unangemessen            mit möglichen Mindestlohneffekten, weil
  niedrigen Löhnen. Damit leistet der ge-        Mindestlöhne in Deutschland als Bruttostun-
  setzliche Mindestlohn zugleich einen Bei-      denlöhne6 defniert wurden, während Bei-
  trag für einen fairen und funktionierenden     tragsbemessungsgrundlage für die Pficht-
  Wettbewerb. Gleichzeitig sorgt er für mehr     beiträge das Bruttomonatsentgelt ist. Das
  Stabilität in den sozialen Sicherungssyste-    bedeutet, entscheidend für die Höhe der An-
  men.“                                          wartschaften der Arbeitnehmer ist zunächst
                                                 das beitragspfichtige monatliche Arbeits-
(BMAS 2020: 2). Der Mindestlohn soll Dum-        entgelt und nicht der Stundenlohn. Beide
pinglöhne vermeiden, die Tarifbindung stär-      Zielgrößen stehen über die bezahlte monat-
ken und somit die weitere Verbreitung von        liche Arbeitszeit in einem Zusammenhang.
Niedriglöhnen in Deutschland aufhalten (Ka-      Ziel dieses Beitrags ist es, die Entwicklung
lina und Weinkopf 2020). Im Europäischen         dieser beiden Zielgrößen im Zeitverlauf dar-
Vergleich ist der Anteil der Beschäftigten mit   zustellen und mögliche Mindestlohneffekte
Löhnen unterhalb der Niedriglohnschwelle4        herauszuarbeiten. Hierzu werden im folgen-
in Deutschland mit 22,5 Prozent besonders        den Abschnitt zugrunde liegende Methoden
hoch, während entsprechende Anteile in
skandinavischen Ländern oder der Schweiz
                                                 3 Ausnahmen sind nach § 22 MiLoG: Jugendliche unter 18 Jah-
zum Teil deutlich unter 10 Prozent liegen (Eu-     ren ohne abgeschlossene Berufsausbildung; Auszubildende in
rofound 2017, 2020; Eurostat 2016). Niedrig-       betrieblicher Ausbildung; Praktikanten, soweit es sich um ein
                                                   Pfichtpraktikum im Rahmen von Schule, Ausbildung oder Stu-
löhne kommen in Deutschland besonders              dium oder um ein freiwilliges Praktikum mit einer Dauer von bis
häufg bei geringfügig Beschäftigten vor            zu drei Monaten handelt, das vor oder während einer Berufs-
                                                   oder Hochschulausbildung stattfndet; Langzeitarbeitslose in
(Dütsch und Himmelreicher 2020), insbe-            den ersten sechs Monaten nach Aufnahme einer Beschäftigung
sondere in Kombination mit Sozialtransfers,        sowie ehrenamtlich Tätige (Mindestlohnkommission 2020a).
                                                 4 Als Niedriglohnschwelle wird gemäß der Defnition internationa-
wie etwa dem Arbeitslosengeld II für „Auf-         ler Organisationen (ILO, OECD) ein Bruttostundenlohn bezeich-
stocker“ (Bruckmeier und Becker 2018).             net, der genau zwei Drittel des mittleren Bruttostundenlohnes
                                                   (Medianlohn) beträgt (Dütsch und Himmelreicher 2020: 163).
Die Einführung des Mindestlohnes war mit           Auf Datenbasis der VSE 2014/18 lag für mindestlohnberech-
der Hoffnung verbunden, über eine Erhö-            tigte Arbeitnehmer die Niedriglohnschwelle im Jahr 2014 bei
                                                   9,80 Euro, im Jahr 2018 bei 10,87 Euro.
hung des Arbeitsentgelts die Anzahl der          5 Zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohnes auf die
„Aufstocker“ sowie die Zahlungsansprüche           Rentenentwicklung, insbesondere auf die Finanzentwicklung,
                                                   siehe Ehrentraut et al. (2019).
solcher Bedarfsgemeinschaften zu redu-           6 Mindestlöhne defniert auf stündlicher Basis gibt es zudem
zieren (Himmelreicher 2017). Erste Unter-          in Frankreich, Irland und im Vereinigten Königreich; auf Malta
                                                   existieren auch wöchentliche Mindestlöhne, und das Gros der
suchungen zur Entwicklung der Anzahl der           EU-Länder hat Mindestlöhne auf monatlicher Basis defniert
“Aufstocker“ nach Einführung des Mindest-          (Eurofound 2020).
Mindestlohn                                                                                               509

und Daten vorgestellt. Die Vergleiche von        Die hier analysierte Untersuchungspopula-
Bruttostundenlöhnen und beitragspfichtigen       tion fokussiert auf die Arbeitnehmer, für die
Arbeitsentgelten basieren auf zwei Erhebun-      der gesetzliche Mindestlohn gilt: Erwerbs-
gen, den Verdienststrukturerhebungen (VSE)       personen im Alter ab 18 Jahre, ohne Aus-
des Statistischen Bundesamtes und dem            zubildende, Praktikanten und ehrenamtlich
Sozio-oekonomischen Panel (SOEP). Dabei          Tätige (siehe Fußnote 3).
zeigen sich aufschlussreiche Befunde, die        In Bezug auf die Forschungsmethode han-
eine evidenzbasierte Grundlage für weitere       delt es sich hier um einen Querschnittsver-
sozialpolitische Reformmaßnahmen im Be-          gleich des Jahres 2014, ein Jahr vor der Ein-
reich von niedrigen Löhnen und einer aus-        führung des gesetzlichen Mindestlohnes,
kömmlichen und stabilen Altersvorsorge im        mit dem Jahr 2018, als der Mindestlohn eine
Rahmen der GRV darstellen können.                Höhe von 8,84 Euro hatte. Diese beiden Er-
                                                 hebungsjahre wurden gewählt, weil die VSE
                                                 in beiden Jahren mit verpfichtender Teilnah-
2. Daten und Methoden                            me der Betriebe erhoben wurde. Bei der in
                                                 den Jahren 2015, 2016, 2017 und 2019 er-
Die im Beitrag dargestellten Befunde basie-      hobenen Verdiensterhebung (VE) war einer-
ren – wie bereits erwähnt – auf zwei verschie-   seits die Teilnahme freiwillig und andererseits
denen Datenquellen: der VSE und dem SOEP         die Stichprobe sehr viel kleiner. Dies könn-
für die Jahre 2014 und 2018.7                    te einerseits Verzerrungen zur Folge haben,
Das SOEP ist eine umfangreiche, seit dem         weil nicht davon ausgegangen werden kann,
Jahr 1984 jährlich durchgeführte Erhe-           dass Betriebe, in denen Mindestlöhne nicht
bung bei etwa 16 000 Haushalten mit rund         gezahlt werden, freiwillig an der Erhebung
28 000 Personen, darunter rund 13 000 Ar-        teilnehmen. Andererseits sind regionale Dif-
beitnehmer, mit detaillierter Erfassung von      ferenzierungen auf der Basis der VE nicht
Angaben zur berufichen Haupttätigkeit, in-       möglich.
klusive Arbeitszeiten und Verdiensten. Es
stellt eine der am meisten genutzten Daten-
quellen der empirischen Sozialforschung in       3. Entwicklung der Stundenlöhne und
Deutschland dar (Goebel et al. 2019; Wagner         der beitragspfichtigen monatlichen
et al. 2008).                                       Arbeitsentgelte
Bei der VSE handelt es sich um eine amtliche
Erhebung in Betrieben, für die eine gesetzli-    Ziel des gesetzlichen Mindestlohnes in
che Auskunftspficht besteht (Günther 2013;       Deutschland ist die Anhebung der Brut-
Statistisches Bundesamt 2013). Die Angaben       tostundenlöhne im unteren Bereich der
beziehen sich vor allem auf Beschäftigungs-      Einkommensverteilung möglichst auf be-
verhältnisse in den befragten Betrieben (Lin-    ziehungsweise gegebenenfalls über die
ked-Employer-Employee-Daten), wobei es           Höhe des gesetzlichen Mindestlohnes. In
sich sowohl um Haupt- als auch um Neben-         Abbildung 1 wird zunächst die Entwicklung
tätigkeiten handeln kann. Die Informationen      der nominalen Bruttostundenlöhne bis zu
stammen überwiegend aus den Lohnbuch-            einer Höhe von 20 Euro pro Stunde auf Basis
haltungen und können vor allem im Hinblick       von VSE und SOEP gezeigt.8 Der Anteil der
auf die gezahlten monatlichen Entgelte als       Beschäftigten mit niedrigen Löhnen hat sich
sehr valide eingeschätzt werden. Bei der Er-
hebung von Arbeitszeiten bestehen größere
                                                 7 Für einen Vergleich der beiden Datenquellen in Bezug auf
Unsicherheiten, weil diese zum Beispiel im         die Berechnung von Bruttostundenlöhnen siehe Dütsch et al.
Fall unbezahlter Überstunden oftmals nicht         (2019).
                                                 8 2018 wurden in der VSE in etwa 70 Prozent der Beschäfti-
entgeltrelevant sind und deshalb in der VSE        gungsverhältnisse 20 Euro und weniger pro Stunde verdient; im
nicht erfasst werden.                              SOEP lag der entsprechende Anteil bei rund 62 Prozent.
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Abbildung 1:           Die Entwicklung der nominalen Bruttostundenlöhne 2014 und 2018

Anmerkung: Bruttostundenlöhne im SOEP sind auf Basis der vertraglichen Arbeitszeit berechnet. Die Angaben basieren auf Lohnintervallen
in Ein-Euro-Schritten. Der Wert von 8,50 Euro und 8,84 Euro liegt im Intervall von 8,00 Euro bis 8,99 Euro (grau hervorgehoben). Unter-
suchungspopulation sind Arbeitnehmer ab 18 Jahre, ohne Auszubildende, Praktikanten sowie ehrenamtlich Tätige.

Quelle: Verdienststrukturerhebung (VSE) 2014, 2018; Sozio-oekonomisches Panel (SOEP), v35; eigene Berechnungen.
Mindestlohn                                                                               511

als ein Effekt des Mindestlohnes stark ver-       dass gerade gering Qualifzierte von Status-
ringert. Sowohl im SOEP als auch in der VSE       ängsten und latenter Sorge um ihre Arbeits-
ist eine deutliche Rechtsverschiebung der         plätze berichten (Herok et al. 2019).
Einkommensverteilung im unteren Bereich           Eine weitere Möglichkeit der Analyse von
festzustellen, allerdings in der VSE deutlicher   Einkommensverteilungen im Zeitvergleich
als im SOEP. Das bedeutet, Löhne unterhalb        ist die Berechnung von Wachstumsraten
des Mindestlohnes, in der Literatur als Non-      in bestimmten Segmenten der Verteilung.
Compliance-Wages bezeichnet, kommen im            Die Vergleiche beziehen sich dabei nachfol-
SOEP häufger vor als in der VSE. Aus der          gend wieder auf die Jahre 2014 und 2018.
Perspektive von Arbeitnehmern liegen die im       In einem ersten Schritt werden die Brutto-
SOEP erhobenen vereinbarten Arbeitszeiten         stunden- und die Bruttomonatslohnent-
regelmäßig über den bezahlten Arbeitszei-         wicklung auf Datenbasis der VSE anhand
ten, die aus der betrieblichen Lohnbuch-          von Dezilen analysiert. Hierbei werden die
haltung stammen (VSE). Dies könnte darauf         jeweiligen Einkommen ihrer Höhe nach ge-
zurückzuführen sein, dass in gängigen Soft-       ordnet und in zehn gleich große Gruppen
warepaketen zur Lohnbuchhaltung Mindest-          eingeteilt. Zwischen den zehn Gruppen be-
lohnplausibilitätschecks durchgeführt wer-        fnden sich neun Grenzen, die Dezile 1 bis
den, wodurch Löhne und Arbeitszeiten in           9. Aus Abbildung 2 geht hervor, dass die
der Lohnbuchhaltung in ein regelkonformes         Bruttostundenlöhne in allen Dezilen ge-
Verhältnis gebracht werden. Im Vereinigten        stiegen sind, wobei das durchschnittliche
Königreich ist dieses Phänomen bekannt            Wachstum der Bruttostundenlöhne (linear
und wird als Calculated Compliance (Ritchie       Ø) bei 11,4 Prozent liegt. Überdurchschnitt-
et al. 2018) bezeichnet. Ein zunehmender          liche Wachstumsraten mit über 11,4 Pro-
Anstieg niedrig entlohnter Arbeitnehmer, wie      zent sind in den untersten drei Dezilen zu
er vor 2015 zu beobachten war, ist seit der       verzeichnen. Vor allem im ersten Dezil sind
Einführung des Mindestlohnes nicht mehr           die Bruttostundenlöhne zwischen 2014 und
festzustellen (Fedorets 2020). Jenseits vom       2018 um über 1,30 Euro angestiegen, was
12 Euro Stundenlohn sind keine besonde-           einer Erhöhung um mehr als 16 Prozent ent-
ren Veränderungen zu beobachten, was da-          spricht. Diese Erhöhung kann auf die Ein-
rauf hinweist, dass mindestlohnbedingten          führung und Erhöhung des Mindestlohnes
Verschiebungen der Einkommensverteilung           zurückgeführt werden. Während vor Einfüh-
nach oben, etwa um das innerbetriebliche          rung des Mindestlohnes teilweise sinkende
Lohngefüge aufrechtzuerhalten (Ripple-Ef-         oder stagnierende Löhne im unteren Ein-
fekte), insgesamt keine größere Bedeutung         kommensbereich festgestellt wurden (Ca-
zukommt. Eine Stauchung der Löhne um              liendo et al. 2018), ist diese Entwicklung
und am Mindestlohn führte, darauf verwei-         durch die Einführung und Anpassung des
sen qualitative Studien, oftmals zu Unzu-         Mindestlohnes aufgehalten worden. Zwar
friedenheit bei den Beschäftigten, weil sich      gibt es nach wie vor niedrige Löhne, und
Qualifkationen und langjährige Berufserfah-       nicht immer wird der gesetzliche Mindest-
rung nicht oder kaum mehr in der Entlohnung       lohn tatsächlich gezahlt, etwa wegen unbe-
widerspiegeln (von der Heiden und Himmel-         zahlter Mehrarbeit oder einer überzogenen
reicher 2018). Eine Stauchung der Löhne           Anrechnung von Kost und Logis, jedoch
am Mindestlohn deutet auf Kompressions-           werden solche Umgehungen auf Daten-
effekte hin: Damit wird der Mindestlohn zur       basis der VSE, die überwiegend aus der
Going Rate, also zu einer üblichen und weit       Lohn- und Gehaltsbuchhaltung der Betrie-
verbreiteten Lohnhöhe für bestimmte Tätig-        be stammen, im Zeitverlauf weniger (siehe
keiten, oftmals unabhängig von der Dauer          Abbildungen 6 und 7). Die Betriebe zahlten
der Betriebszugehörigkeit oder spezifschen        im Jahr 2018 nur noch selten Löhne unter-
Qualifkationen. Insofern wird verständlich,       halb des Mindestlohnes (etwa 2 Prozent,
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Abbildung 2:          Wachstumsraten in Prozent und Dezile der nominalen Bruttostundenlöhne
                      in Euro, 2014 und 2018 (VSE)

Anmerkungen: Untersuchungspopulation sind Arbeitnehmer ab 18 Jahre, ohne Auszubildende, Praktikanten sowie ehrenamtlich Tätige.

Quelle: Verdienststrukturerhebung (VSE) 2014, 2018; eigene Berechnungen.

rund 500 000 Jobs auf Basis der VSE 2018),                          einer Überschreitung dieser Einkommens-
aus der Perspektive der Beschäftigten war                           schwelle führen, die oftmals weder von den
das häufger, bei etwa 7 Prozent, rund 2,5                           Beschäftigten noch seitens der Betriebe
Millionen Beschäftigten (auf Basis des                              gewünscht werden. Bei Beschäftigungs-
SOEP 2018), der Fall.9                                              verhältnissen im zweiten Dezil der monatli-
Aus Abbildung 3 geht hervor, dass die Brut-                         chen Arbeitsentgelte sind Steigerungen von
tomonatslöhne in allen Dezilen gestiegen                            über 25 Prozent auf rund 1000 Euro im Jahr
sind, wobei das durchschnittliche Wachs-                            2018 zu verzeichnen. In diesem Bereich der
tum der Bruttomonatslöhne (linear Ø) mit                            Verteilung scheinen durch den Mindestlohn
10,5 Prozent rund einen Prozentpunkt                                bedingte höhere Stundenlöhne auch die
unter dem Wachstum der Bruttostunden-                               Monatslöhne zu erhöhen. Die relativen Stei-
löhne liegt. Überdurchschnittliche Wachs-                           gerungen der monatlichen Arbeitsentgelte
tumsraten mit über 10,5 Prozent sind vor                            sind zwar in der oberen Hälfte der Einkom-
allem im zweiten und deutlich schwächer                             mensverteilung geringer als im unteren Be-
auch im dritten Dezil festzustellen. Im ers-                        reich, liegen aber in absoluten Zahlen zwi-
ten Dezil sind durchschnittliche und etwa                           schen 200 und 400 Euro.
ab dem Median unterdurchschnittliche                                Um Antworten auf die Frage zu fnden,
Wachstumsraten der Bruttoarbeitsentgel-                             wie Bruttostundenlöhne mit monatlichen
te zu verzeichnen. Im ersten Dezil liegt der                        Arbeitsentgelten zusammenhängen, wird
entsprechende Bruttomonatsverdienst bei
441 Euro, und damit knapp unter der Ge-
                                                                    9 Zu den Ergebnissen verschiedener Datenerhebungen zur Nicht-
ringfügigkeitsgrenze von 450 Euro. Wei-                               einhaltung des Mindestlohnes bei Betrieben und Beschäftigten
tere Einkommenssteigerungen würden zu                                 siehe Mindestlohnkommission (2020a: 57 ff.).
Mindestlohn                                                                                                                513

Abbildung 3:          Wachstumsraten in Prozent und Dezile der nominalen monatlichen Arbeits-
                      entgelte in Euro, 2014 und 2018 (VSE)

Anmerkungen: Untersuchungspopulation sind Arbeitnehmer ab 18 Jahre, ohne Auszubildende, Praktikanten sowie ehrenamtlich Tätige.

Quelle: Verdienststrukturerhebung (VSE) 2014, 2018; eigene Berechnungen.

im Folgenden die Analyse modifziert. Inner-                         zwischen 2014 und 2018 entwickelt haben.
halb der Dezile der Bruttostundenlöhne wird                         In der VSE wie im SOEP sind die monatli-
untersucht, wie sich in diesem Bereich der                          chen Arbeitsentgelte zwischen 2014 und
Stundenlohnverteilung entsprechende Mo-                             2018 insgesamt im Durchschnitt (linear Ø)
natslöhne entwickelt haben. Hierzu werden                           um knapp 10,5 Prozent und damit etwas
auf Datenbasis des SOEP innerhalb der zehn                          schwächer als die Stundenlöhne gestiegen.
Dezile dazugehörige arithmetische Mittel im                         Die durchschnittlichen Monatslöhne im ers-
jeweiligen Dezil ausgewiesen. Zunächst fo-                          ten Stundenlohndezil sind zwischen 2014
kussiert Abbildung 4 auf die Entwicklung                            und 2018 um 120 Euro auf 840 Euro ge-
der Bruttostundenlöhne. Im SOEP sind die                            stiegen. Der in Abbildung 4 gezeigte starke
Bruttostundenlöhne zwischen 2014 und                                Anstieg der Bruttostundenlöhne von knapp
2018 wie in der VSE insgesamt im Durch-                             18 Prozent hat sich im Durchschnitt mit
schnitt (linear Ø) um etwa 11,4 Prozent ge-                         einer Steigerung der Bruttomonatsentgelte
stiegen. Ganz ähnlich wie in Abbildung 2                            von etwa 17 Prozent, also nahezu äquiva-
sind die Stundenlöhne auch im SOEP vor                              lent, übertragen. Das bedeutet, während bei
allem im ersten, jedoch auch im zweiten und                         der Einführung des Mindestlohnes im Über-
im obersten Dezil der Bruttostundenlöhne                            gang von 2014 auf 2015 besonders im Be-
überdurchschnittlich stark gestiegen. Diese                         reich der geringfügigen Beschäftigung die
Steigerungen im unteren Bereich wurden im                           Monatslöhne wegen Arbeitszeitverkürzun-
Rahmen von Kausalanalysen von Burauel                               gen kaum gestiegen waren (Caliendo et al.
et al. (2018), in denen Effekte des Mindest-                        2018), zeigt sich dieser Effekt im Jahr vier
lohnes isoliert betrachtet werden können,                           des Mindestlohnes kaum noch. Vermutlich
auf diesen zurückgeführt.                                           unterstützt durch die gute Konjunktur sowie
Abbildung 5 zeigt, wie sich die Monatslöh-                          den hohen Beschäftigungsstand wurden be-
ne innerhalb der Bruttostundenlohndezile                            zahlte Arbeitszeiten eher nicht reduziert oder
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Abbildung 4:          Wachstumsraten in Prozent und Dezile der nominalen Bruttostundenlöhne
                      in Euro, 2014 und 2018 (SOEP)

Anmerkungen: Untersuchungspopulation sind Arbeitnehmer ab 18 Jahre, ohne Auszubildende, Praktikanten sowie ehrenamtlich Tätige.

Quelle: Sozio-oekonomisches Panel (SOEP), v35; eigene Berechnungen.

Abbildung 5:          Wachstumsraten in Prozent und Entwicklung der nominalen
                      monatlichen Arbeitsentgelte innerhalb der Bruttostundenlohndezile
                      in Euro, 2014 und 2018 (SOEP)

Anmerkungen: Untersuchungspopulation sind Arbeitnehmer ab 18 Jahre, ohne Auszubildende, Praktikanten sowie ehrenamtlich Tätige.

Quelle: Sozio-oekonomisches Panel (SOEP), v35; eigene Berechnungen.
Mindestlohn                                                                              515

im Vergleich zu den Vorjahren wieder erhöht,    nehmer leben, die Mindestlöhne beziehen
weshalb gestiegene Stundenlöhne im unte-        (Schröder et al. 2020). Insofern führten die
ren Einkommensbereich mit gestiegenen           Einführung und die Anpassungen des Min-
monatlichen Arbeitsentgelten einhergehen        destlohnes zu steigenden beitragspfichtigen
(Burauel et al. 2020).                          Arbeitsentgelten.
Gestiegene monatliche Arbeitsentgelte kön-      In einem nächsten Schritt geht es darum
nen die Einkommensungleichheit reduzieren       herauszuarbeiten, in welchen Regionen in
(Grabka 2020), den Niedriglohnsektor zu-        Deutschland auf der Ebene von Bundes-
rückdrängen (Fedorets et al. 2020) und die      ländern besondere Effekte zu verzeichnen
Beitragssituation in den sozialen Sicherungs-   sind. Auf Basis der VSE 2014 und 2018 wird
systemen und vor allem in der GRV stabili-      die regionale Bedeutung des Mindestlohnes
sieren. Zu erwarten ist zudem, dass Verbes-     dargestellt. Dabei wird auf zwei Indikatoren
serungen in der Einkommenssituation von         abgestellt: zum einen auf den Anteil der Be-
Haushalten mit Beschäftigten, die zusätzlich    schäftigungsverhältnisse, die unterhalb des
bedarfsgeprüfte Transferleistungen bezie-       jeweiligen Mindestlohnes vergütet wurden,
hen, die Transferzahlungen reduzieren oder      im Verhältnis zu allen Beschäftigungsver-
teilweise überfüssig machen. Inwiefern sich     hältnissen (Bite-Index) und zum anderen
die durch den Mindestlohn bedingte Steige-      der Kaitz-Index, bei dem der Wert des ge-
rung der monatlichen Arbeitsentgelte auf die    setzlichen Mindestlohnes durch den mittle-
individuellen Anwartschaften in der GRV aus-    ren Bruttostundenlohn (Median) in der Re-
wirken, ist vor allem abhängig vom Lohn vor     gion dividiert wird. Beide Maße enthalten
dessen Einführung (Ehrentraut et al. 2019).     Informationen zur Eingriffstiefe des Min-
Zudem dürfte das Einziehen einer unteren        destlohnes, indem sie deutlich machen, wie
Lohngrenze in die Einkommensverteilung          hoch der Anteil der Beschäftigten ist, deren
mit sich bringen, dass die für die Ermittlung   Löhne noch anzuheben sind, und wie sich
der Rentenanwartschaften maßgebenden            der relative Wert des Mindestlohnes zum
durchschnittlichen Bruttojahresentgelte laut    mittleren Lohnniveau einer Region verhält
Anlage 1 SGB VI ebenfalls steigen und sich      (Schulten und Müller 2020). Im Unterschied
dadurch die individuellen in Entgeltpunkten     zu anderen Studien beziehen sich die hier
bemessenen Anwartschaften „verteuern“.          dargestellten Befunde auf alle Beschäf-
Grundsätzlich kann der Mindestlohn die in-      tigungsverhältnisse, während in anderen
dividuellen Rentenanwartschaften erhöhen,       Studien der internationalen Vergleichbarkeit
vor allem dann, wenn die Lohnsteigerungen       wegen ausschließlich auf Vollzeit-Beschäfti-
im Mindestlohnbereich stärker sind als die      gungsverhältnisse abgestellt wird. Das be-
allgemeine Lohnentwicklung. Das heißt, in       deutet im Ergebnis, dass die hier ausgewie-
diesem Zusammenhang kommt es auf die            senen Kaitz-Indizes tendenziell höher sind,
Lohndrift, also die Entwicklung des Mindest-    weil die Medianlöhne von allen Beschäftig-
lohnes im Vergleich zur allgemeinen Lohn-       ten, also inklusive geringfügig und in Teil-
entwicklung, an.                                zeit Beschäftigten, niedriger sind als die von
Als Zwischenfazit lässt sich zusammenfas-       Vollzeitbeschäftigten.
sen, dass der Mindestlohn direkt nach sei-      Im Jahr 2014, ein Jahr vor der Einführung
ner Einführung und auch danach zu über-         des gesetzlichen Mindestlohnes in Deutsch-
proportionalen Erhöhungen im Bereich der        land, sind starke Ost-West-Unterschiede
unteren Stundenlöhne geführt und etwas          hinsichtlich der Entlohnung festzustellen
verzögert auch zu höheren Steigerungen der      (Abbildung 6). Mit Ausnahme von Berlin be-
monatlichen Arbeitsentgelte beigetragen         trägt der Bite-Index in allen ostdeutschen
hat. Inzwischen liegen zudem Studien vor,       Ländern über 20 Prozent. Damit wurde jeder
die gestiegene Haushaltseinkommen in sol-       fünfte Job mit weniger als 8,50 Euro brutto
chen Haushalten berichten, in denen Arbeit-     pro Stunde bezahlt. Zudem war der Kaitz-
516                                                      Deutsche Rentenversicherung 4/2020

Index im Osten mit über 70 Prozent deut-           sind in einer mittleren Schätzvariante etwa
lich höher als im Westen. Der Kaitz-Index          2,4 Millionen Beschäftigte ermittelt worden,
gilt als Maß der potenziellen Betroffenheit        die 2018 Löhne unterhalb des Mindestloh-
von Effekten des Mindestlohnes, insbeson-          nes bezogen haben (Mindestlohnkommis-
dere in Bezug auf die Beschäftigungsent-           sion, 2020a: 71). Saisonale und gelegent-
wicklung: Je höher er in einer Region ist,         liche Beschäftigungsverhältnisse sind dabei
desto stärker könnte die Auswirkung des            regelmäßig untererfasst, weshalb eine valide
Mindestlohnes dort sein. Während der Me-           Abschätzung schwierig ist. Als Maßnahme
dianbruttostundenlohn von allen Beschäf-           gegen Non-Compliance ist eine verbindli-
tigten in Hamburg bei knapp 17 Euro lag,           che Regelung und Erfassung der Arbeits-
betrug er in Mecklenburg-Vorpommern le-            zeit eine wichtige Voraussetzung. Der Euro-
diglich 12 Euro. Zusammenfassend sind im           päische Gerichtshof hat ein entsprechendes
Jahr 2014 starke regionale Disparitäten ent-       Urteil erlassen, das die einzelnen Europäi-
lang der ehemaligen innerdeutschen Gren-           schen Länder verpfichtet, eine verbindli-
ze festzustellen. Seitens der Kritiker des         che Arbeitszeitregelung einzuführen. Das
gesetzlichen Mindestlohnes wurde deshalb           Bundesministerium für Arbeit und Soziales
vor allem vor besonders starken negativen          bereitet eine entsprechende Gesetzesvor-
Folgen des Mindestlohnes in Ostdeutsch-            lage vor, deren Ziel die ordnungsgemäße
land gewarnt; für einen Überblick siehe            Erfassung der Arbeitszeit aller Beschäf-
Baumann et al. (2019).                             tigten ist. In Bezug auf die Kontrolle des
Im Jahr 2018 hat sich der Bite-Index des           Mindestlohnes durch den Zoll und dessen
Mindestlohnes stark verringert (Abbildung 6).      Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) wur-
Basierend auf den Informationen aus den            den im Jahr 2019 rund 55 000 Arbeitgeber
Lohnbuchhaltungen der Betriebe sind es in          überprüft. Dabei wurden 6 732 Ermittlungs-
Ost- wie Westdeutschland etwa 2 Prozent            verfahren wegen eines Verstoßes gegen
der Beschäftigten, denen der Mindestlohn zu-       das Mindestlohngesetz eingeleitet. Die An-
steht und die ihn nicht erhalten. Dabei sind die   zahl der Unter nehmen insgesamt liegt in
Unterschiede zwischen den Bundesländern            Deutschland bei knapp 3,5 Millionen recht-
sehr gering. Starke und auch belastbare Ver-       lichen Einheiten mit steuerbarem Umsatz
änderungen zeigen sich hinsichtlich der Ent-       aus Lieferungen und Leistungen und/oder
wicklung des Kaitz-Indexes. In allen Bundes-       mit Beschäftigten 2018 (Statistisches Bun-
ländern ist der Kaitz-Index kleiner geworden,      desamt 2020). Eine höhere Kontrolldichte in
was bedeutet, dass der Abstand zwischen            vor allem vom Mindestlohn besonders hoch
Medianlohn und Mindestlohn relativ zuge-           betroffenen Branchen könnte einen Beitrag
nommen hat, weil die Medianlöhne gestiegen         dazu leisten, dass der Mindestlohn bezahlt
sind. Dies ist der Fall, obwohl der Mindestlohn    beziehungsweise bei Nichtzahlung zeitnah
von 8,50 Euro auf 8,84 Euro im Jahr 2018 ge-       geahndet wird. Vor dem Hintergrund der in
stiegen ist. Die Abbildungen 6 und 7 weisen        Zukunft besseren Erfassung der Arbeitszeit
darauf hin, dass sehr niedrige Entlohnung vor      könnte die Kooperation zwischen FKS und
allem in Ostdeutschland wesentlich seltener        dem Prüfdienst der Rentenversicherungs-
geworden ist und der Mindestlohn einen Bei-        träger im Rahmen ihrer regelmäßigen Be-
trag zur wirtschaftlichen Annäherung zwi-          triebsprüfungen intensiviert werden. Denn
schen den Regionen geleistet hat. Deutliche        gerade eine nicht korrekte Erfassung der
Unterschiede in der Entlohnung bestehen            Arbeitszeit, unrealistische Leistungsvorga-
nach wie vor, jedoch sind diese regionalen         ben und zum Beispiel eine ungerechtfertigt
Disparitäten kleiner geworden.                     hohe Anrechnung von Kost und Logis auf
Noch immer erhalten nicht alle Beschäftig-         den Mindestlohn sind beobachtete Umge-
ten den ihnen zustehenden gesetzlichen             hungspraktiken (Mindestlohnkommission
Mindestlohn. Auf Datenbasis des SOEP               2020a: 65 ff.).
Mindestlohn                                                                                                                    517

Abbildung 6:           Bite- und Kaitz-Index (Säulen) des Mindestlohnes in Prozent
                       nach Bundesländern im Jahr 2014

Anmerkungen: Bite-Index: Anteil der Jobs < 8,50 Euro pro Stunde an allen Jobs. Kaitz-Index: Mindestlohn/regionaler Medianstundenlohn.
Untersuchungspopulation sind Arbeitnehmer ab 18 Jahre, ohne Auszubildende, Praktikanten sowie ehrenamtlich Tätige.

Quelle: Verdienststrukturerhebung (VSE) 2014; eigene Berechnungen.
518                                                                           Deutsche Rentenversicherung 4/2020

Abbildung 7:           Bite- und Kaitz-Index (Säulen) des Mindestlohnes in Prozent
                       nach Bundesländern im Jahr 2018

Anmerkungen: Bite-Index: Anteil der Jobs < 8,84 Euro pro Stunde an allen Jobs. Kaitz-Index: Mindestlohn/regionaler Medianstundenlohn.
Untersuchungspopulation sind Arbeitnehmer ab 18 Jahre, ohne Auszubildende, Praktikanten sowie ehrenamtlich Tätige.

Quelle: Verdienststrukturerhebung (VSE) 2018; eigene Berechnungen.
Mindestlohn                                                                              519

4. Schlussfolgerungen und Ausblick              jenigen Arbeitnehmer, die zuvor besonders
                                                niedrige Löhne hatten. Dort gab es zum Teil
Der Mindestlohn hat dazu geführt, dass das      sogar zweistellige prozentuale Zuwachsra-
Ausfransen der Löhne im unteren Bereich         ten. Allerdings gibt es noch immer Arbeit-
der Bruttostundenlohnverteilung aufgehal-       nehmer, die weniger als den Mindestlohn
ten werden konnte. Die Steigerung der Stun-     bekommen. Insgesamt gesehen jedoch gibt
denlöhne übersetzt sich nicht eins zu eins      es starke Indizien dafür, dass die beitrags-
in Steigerungen der Monatslöhne, sondern        pfichtigen Arbeitsentgelte durch die Einfüh-
wird vor allem durch Einkommensgrenzen          rung des Mindestlohnes vor allem im unteren
gedämpft, hier vor allem die Geringfügig-       Bereich der Lohnverteilung gestiegen sind.
keitsgrenze bei 450 Euro/Monat. Ob weitere      Zur Vermeidung von Altersarmut kann der
vorhandene Einkommensgrenzen limitierend        gesetzliche Mindestlohn kaum beitragen,
wirken, konnte in dieser Studie nicht über-     weil das Gros der Beschäftigten im Mindest-
prüft werden, weil hierfür administrative In-   lohnbereich nicht in Vollzeit beschäftigt ist.
formationen erforderlich wären, die in den      Selbst bei alleinlebenden Vollzeitbeschäftig-
genutzten Daten nicht zur Verfügung ste-        ten würde, sofern keine weiteren Einkünfte
hen. Beispiele hierfür sind Hinzuverdienst-     vorhanden sind, eine dauerhafte Beschäfti-
grenzen im Falle des Bezugs von Erwerbs-        gung auf dem Mindestlohnniveau nicht dazu
minderungsrente oder bei Lohnpfändungen.        führen, die Grundsicherungsschwelle im
In der Gleitzone und darüber sind überpro-      Alter zu erreichen (Ehrentraut et al. 2019).
portional steigende Monatslöhne und damit
auch beitragspfichtige Arbeitsentgelte zu
verzeichnen. Somit kann der gesetzliche         Literatur
Mindestlohn die Finanzierung der sozialen
Sicherungssysteme stabilisieren. Ob die Be-     Arni, Patrick/Eichhorst, Werner/Pestel, Nico/
schäftigten höhere Anwartschaften gegen-           Spermann, Alexander und Zimmermann,
über der GRV erwerben konnten, hängt               Klaus F. (2014), Der gesetzliche Min-
davon ab, wie stark ihre beitragspfichtigen        destlohn in Deutschland: Einsichten und
Arbeitsentgelte gestiegen sind und wie sich        Handlungsempfehlungen aus der Eva-
ihre individuelle relative Einkommensposi-         luationsforschung, Schmollers Jahrbuch,
tion in Bezug zum durchschnittlichen Ein-          134(2), 149–182.
kommen entwickelt hat (Ehrentraut et al.        Baumann, Arne/Bruttel, Oliver und Dütsch,
2019). Diese relative Einkommensposition           Matthias (2019), Beschäftigungseffekte
ist nach der Rentenformel maßgeblich für           des gesetzlichen Mindestlohns: Was er-
die Höhe der individuellen Anwartschaften          klärt die Diskrepanz zwischen Prognosen
in Entgeltpunkten.                                 und empirischen Befunden? Abrufbar
Mit der Einführung des Mindestlohnes wur-          unter: https://www.oekonomenstimme.
den überdurchschnittliche Lohnsteigerun-           org/artikel/2019/11/beschaeftigungsef-
gen erzielt. Zudem hat die Lohnungleich-           fekte-des-gesetzlichen-mindestlohns-
heit in der unteren Hälfte der Lohnverteilung      was-erklaert-die-diskrepanz-zwischen-
deutlich und signifkant abgenommen (Boss-          prognosen-und-empirischen-befunden/
ler et al. 2020; Grabka 2020). Betrachtet man      (Abfragedatum: 13.05.2020).
die Verteilung der gesamten monatlichen         BMAS (Bundesministerium für Arbeit und
Löhne, kann zwischen den Jahren 2014 und           Soziales) (2020), Der Mindestlohn. Fra-
2018 ein deutlicher Rückgang zwischen den          gen und Antworten, Bonn.
ärmeren und reicheren Arbeitnehmern fest-       Bossler, Mario/Fitzenberger, Bernd und
gestellt werden. Damit hat der Mindestlohn         Seidlitz, Arnim (2020), Neues zur Lohn-
einen deutlichen Einfuss auf die Entwicklung       ungleichheit in Deutschland, ifo Schnell-
der Lohnungleichheit gehabt, gerade für die-       dienst, 73(2), 12–16.
520                                                     Deutsche Rentenversicherung 4/2020

Bruckmeier, Kerstin und Becker, Sebastian            im Auftrag der Mindestlohnkommission,
   (2018), Auswirkung des gesetzlichen               Prognos, Freiburg u. a.
   Mindestlohns auf die Armutsgefähr-             Eurofound (European Foundation for the Im-
   dung und die Lage von erwerbstätigen              provement of Living and Working Con-
   Arbeitslosengeld II-Bezieherinnen und             ditions) (2017), In-work poverty in the
   Beziehern, Studie im Auftrag der Min-             EU, Publications Offce of the European
   destlohnkommission, Institut für Arbeits-         Union, Luxemburg.
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Bruckmeier, Kerstin und Bruttel, Oliver (2020),      Annual review, Publications Offce of
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