Momentum - Therapie und Corona: Entschlossene Schritte ins Unbekannte - N 2/2020 - Anton Proksch Institut

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Momentum - Therapie und Corona: Entschlossene Schritte ins Unbekannte - N 2/2020 - Anton Proksch Institut
N° 2/2020

Momentum
Das österreichische Journal für positive Suchttherapie
     Herausgegeben vom Anton Proksch Institut

         Therapie und Corona:
 Entschlossene Schritte ins Unbekannte

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Momentum - Therapie und Corona: Entschlossene Schritte ins Unbekannte - N 2/2020 - Anton Proksch Institut
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Momentum - Therapie und Corona: Entschlossene Schritte ins Unbekannte - N 2/2020 - Anton Proksch Institut
Editorial
            Liebe Leserin, lieber Leser!

            V
                    iele Superlative wurden in den letzten Monaten strapaziert, um die Herausforderun-
                    gen, die durch die globale CoVid-19-Pandemie entstanden sind, zu beschreiben.
                    Von der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg war die Rede, von einer Welt, die
             nie wieder so sein würde wie zuvor, von bisher ungeahnten Transformationsprozessen für
             Gesellschaft und Wirtschaft.
                    Wir im Anton Proksch Institut fokussieren uns auf die psychosozialen Folgeerschei-
             nungen des ersten Halbjahres 2020. Sicher haben Sie sich in den letzten Monaten gefragt,
                                           was es zum Beispiel in Menschen auslöst, wenn sie über
                                           lange Zeit keinen physischen Kontakt zu anderen haben

 4   Ein maskierter
     Spaziergang durch
     den Alltag
                                           (Seiten 18–21); oder was es für uns als Gesellschaft bedeutet,
                                           wenn wir einander nur noch maskiert begegnen (Seiten 4–7).
                                           Es freut mich, dass wir mit der Biologin Elisabeth Oberzau-
     Margarethe 		                         cher und der Journalistin Margarethe Engelhardt-Krajanek
     Engelhardt-Krajanek                   zwei renommierte Gastautorinnen gefunden haben, die diese

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                                           beiden Aspekte der Corona-Krise beleuchten.
     Unterwegs auf neuen
     Pfaden                                       Selbstverständlich möchten wir Ihnen auch einen
     Gabriele Gottwald-                    Einblick geben, wie wir im Anton Proksch Institut mit der
     Nathaniel                             CoVid-19-Krise   umgegangen sind. Lassen Sie mich eines vor-
                                           weg sagen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses

12   Virus vernichtet
     Dogma
     Ernst C. Zach
                                           und seiner unterschiedlichen Einrichtungen haben Großarti-
                                           ges geleistet. Es ist uns gelungen, während der gesamten Zeit
                                           nicht nur den Betrieb aufrecht zu erhalten, sondern – phasen-

18   Kommunikation ist
     mehr als Worte
     Elisabeth Ober-
                                           weise als einzige Einrichtung für Suchtkranke in Österreich
                                           – Patientinnen und Patienten neu aufzunehmen. Dabei hat
                                           uns die Überzeugung geleitet, dass Suchtbehandlung kein
     zaucher                               elektiver Eingriff ist. Was das genau bedeutet, können Sie

22   „Sie laufen Gefahr,
     den Weg zurück ins
     reale Leben nicht zu
                                           an verschiedenen Stellen in „Momentum“ nachlesen – aus
                                           der Perspektive der Organisation, aus der Perspektive eines
                                           Arztes und aus der Perspektive einer Patientin.
     finden“                                      Und wo findet man in Phasen der Unsicherheit Orien-
     Roland Mader                          tierung? Die Redaktion hat nachgelesen bei den Denkern
                                           und Denkerinnen aus Philosophie und Soziologie. Die
                                           spannendsten Zitate finden Sie auf den Seiten 24 und 25.
                    Die CoVid-19-Krise ist noch nicht vorbei – trotzdem erlauben wir uns eine erste
             Nachlese der vergangenen Monate. Selbstverständlich freuen wir uns darüber, wenn Sie
             unser Heft weiterempfehlen. Kostenlose Abonnements können Sie weiterhin per Mail an
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            Genießen Sie den Sommer und vor allem: Achten Sie auf sich und damit auch auf
            andere! Bleiben Sie gesund!

            DSA Gabriele Gottwald-Nathaniel, MAS
            Geschäftsführerin

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Momentum - Therapie und Corona: Entschlossene Schritte ins Unbekannte - N 2/2020 - Anton Proksch Institut
Ein maskierter
                          Spaziergang durch
                          den Alltag
                          Was bis vor wenigen Monaten noch völlig undenkbar war,
                          prägt seit Ausbruch der Corona-Pandemie auch in Österreich
                          das Straßenbild: Menschen tragen Masken, um sich selbst
                          und andere zu schützen. Aber was macht das mit uns? Eine
                          psychologische und kulturhistorische Betrachtung.
                          MARGARETHE ENGELHARDT-KRAJANEK

                          B
                                  eim notwendig gewordenen Besuch in einer              kann, um das Infektionsrisiko zu vermindern. Hände
                                  Zahnambulanz zeigt sich, dass die Gruppe              waschen, Abstand halten, Maske tragen – das waren
                                  der Patientinnen und Patienten ausnahmslos            die Slogans, die uns mehr als drei Monate lang be-
                          medizinische Masken trägt. In der U-Bahn hingegen             gleitet haben. Ist mit dem Ablegen der Maske nun
                          wird beim Maskenschmuck der Individualität Rech-              auch die Angst beseitigt, die diese verborgen hat?
                          nung getragen. Fast alle halten sich an die Masken-                   Die medizinischen Masken, die im Zeitalter
                          pflicht. Eine ältere Frau mit schwerem Einkaufswagen          der CoVid-19-Pandemie das Straßenbild prägen,
                          streift genervt ihre Maske ab, um zu telefonieren,            sind zu 95 Prozent zum Fremdschutz gedacht. Diese
                          was ihr strafende Blicke seitens der anderen Fahr-            Masken verbergen Nase und Mund. Die Maske
MAG. DR.                  gäste einbringt. Ein junger Mann spielt maskenfrei            soll von allen getragen werden, um Aerosole – also
MARGARETHE                mit seinem Handy. Seine Körperhaltung strahlt so              Mikropartikel in der Atemluft, an die sich Viren an-
ENGELHARDT-KRA-           viel aggressive Abwehr aus, dass niemand es wagt,             heften können – nicht zu verstreuen. Damit wird ein
JANEK ist Kultur-
                          ihn zu maßregeln. Man stellt sich von ihm weg und             Infektionsrisiko reduziert. Was die CoVid-19- Maske
wissenschaftlerin,
Wissenschaftsjourna-      wendet ihm den Rücken zu. Ein anderer, einen Kaf-             frei lässt, ist die Augenpartie. Der Kontakt zum
listin und Buchautorin.   feebecher in der Hand, kämpft mit dem Impuls, die             anderen wird über den Blick hergestellt, die Maske
Sie studierte an der      Maske hochzustreifen und zu trinken. Die Blicke der           selbst mutiert häufig zum modischen Accessoire. Sie
Universität für           Fahrgäste lassen ihn innehalten. Erst als er aussteigt,       wird zum individuellen Ausdruck einer Angst, sich
angewandte Kunst          nimmt er einen kräftigen Schluck.                             anzustecken, und soll diese gleichzeitig bannen.
und dem Max
Reinhardt Seminar in
                          Mit 15. Juni 2020 wurde die Maskenpflicht in Öster-           Die ganz anderen Masken in der „Traumnovelle“
Wien. 1996 promo-
vierte sie an der         reich weitgehend aufgehoben. Ausgenommen                      Anders die schwarzen Masken in Arthur Schnitzlers
Bergischen Universität    sind unter anderem Ambulanzen, Apotheken und                  „Traumnovelle“: sie bedecken Stirn, Augenpartie
Wuppertal im Fach-        öffentliche Verkehrsmittel. Zumindest vorläufig.              und Backenknochen. Der Mund als Symbol von
bereich Kommuni-          Denn für ein großes Aufatmen ist es noch zu früh.             Sinnlichkeit und Sexualität bleibt frei. Diese Masken
kation und Ästhetik.
                          Die Corona-Pandemie ist nicht überwunden. Noch                sollen verhüllen, um Lusterfüllung zu gewährleisten.
Seit 1992 ist sie Ö1
                          ist kein Impfstoff gefunden, der vor der Erkrankung                  „Die anderen männlichen Masken strömten
Redakteurin mit den
Schwerpunkten Sozio-      schützt. Nach wie vor sterben weltweit Menschen an            herein, die Türen nach beiden Seiten schlossen sich.
logie, Psychologie und    dieser Viruserkrankung. Und die Maske gehört zu               Fridolin stand alleine da im Mönchsgewand mitten
Pädagogik.                den drei Strategien, die jede und jeder anwenden              unter bunten Kavalieren.“

                                                                                    4
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Foto: Getty Images

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Getrieben von seinen unerfüllten Sehn-                ,Spiel‘. Die Maske, so müsste man sagen, ist eine
     süchten wird Schnitzlers Protagonist Fridolin in eine        ,todernste‘ Angelegenheit, bei der es im Wortsinne
     maskierte Gesellschaft eingeführt. Die Augenmas-             um die ,letzten‘, noch eher freilich um die ,ersten
     ken und Capes der Teilnehmerinnen und Teilneh-               Dinge‘ des menschlichen Seins geht.“
     mer garantieren Anonymität. Diese ermöglicht der                      Repräsentieren Blumen, Schmetterlinge und
     erlesenen Gesellschaft an einem geheimen Ort,                Vampirzähne, die CoVid-19-Masken schmücken,
     orgiastische Feste zu feiern. Gesichert wird diese           magische Kräfte? Sind diese stark genug, um die
     Veranstaltung durch ein Losungswort, das Fridolin            Angst vor einer lebensbedrohenden Krankheit zu
     nicht kennt.                                                 überwinden?

                                                                  Angst warnt vor Gefahr
     Die Maske verbirgt die                                       Angst zählt zu den basalen Affekten. Ihre Aufgabe
                                                                  ist es, vor einer Gefahr zu warnen. Flight or fight
Angst der Ansteckung. Beim                                        ist die Reaktion, die sie auslöst. Sigmund Freud
  Gegenüber löst sie jedoch                                       bezeichnet diese als Realangst: „Sie erscheint uns
                                                                  nun als etwas sehr Rationelles und Begreifliches.“
             Schrecken aus.                                       Eine Infektion durch einen unberechenbaren Virus
                                                                  wie CoVid-19 löst diese Realangst aus. Sich mit
                                                                  einer Maske zu schützen, ist ein Akt des Selbst-
            „Die Maske herunter!“ Riefen einige zugleich.         erhaltungstriebes. Warum dann die aufgemalten
     Wie zum Schutz hielt Fridolin die Arme vor sich              Zähne, die manche Masken schmücken? Die Her-
     hingestreckt. Tausendmal schlimmer wäre es ihm               zen, Blumenmuster, Totenköpfe, die Maskenträger
     erschienen, der einzige mit unverlarvtem Gesicht             und Maskenträgerinnen selbstbewusst zur Schau
     unter lauter Masken dazustehen, als plötzlich unter          stellen?
     angekleideten nackt. Und mit fester Stimme sagte                     „Maskierte Angst“: Mit dieser Publikation
     er: „Wenn einer von den Herren sich durch mein               ließen bereits 2011 Wissenschaftlerinnen und
     Erscheinen in seiner Ehre gekränkt fühlen sollte, so         Wissenschaftler aus Freiburg, Basel und Bordeaux
     erkläre ich mich bereit, ihm in üblicher Weise Ge-           aufhorchen. Sie hatten die Vorgänge im Gehirn bei
     nugtuung zu geben. Doch meine Maske werde ich                der Entstehung und Unterdrückung von Ängsten
     nur in dem Falle ablegen, dass sie alle das Gleiche          im Computer simuliert. In der Fachzeitschrift „PLoS
     tun, meine Herren.“                                          Computational Biology“ erklärten Ioannis Vlachos
            Mit der möglichen Demaskierung wird aus               vom Bernstein Center der Universität Freiburg und
     der Scharade Ernst, das Spiel verwandelt sich in             WissenschaftlerInnen aus Bordeaux und Basel erst-
     Konfrontation und wird zur Gefahr. Die Lust, das             mals, auf welche Weise scheinbar abgelegte Ängste
     Triebgeschehen einer Gruppe fokussiert sich auf              in Wirklichkeit nur verdeckt, aber nicht verschwun-
     eine Person, bereit, den Eindringling zu zerstören.          den sein können. Der Grund für die Hartnäckigkeit
     Nur durch die Unterstützung einer Unbekannten                von Ängsten ist, dass sie tief sitzen: Unter dem
     gelingt es Fridolin, zu fliehen. Am folgenden Tag            Großhirn liegt in unserem Denkorgan, der „Mandel-
     wird die Frau tot aufgefunden.                               kern“. Was bis zu diesem Zeitpunkt am Tierversuch
            Die CoVid-19-Maske verbirgt die Angst vor             erfolgreich untersucht wurde, war die Beobachtung,
     einer unmittelbaren Gefahr: der Ansteckung. Beim             dass Angstreaktionen durch positive Erfahrungen
     Gegenüber löst sie jedoch Schrecken aus.                     überdeckt werden können. Hatten die Versuchstiere
                                                                  verlernt, sich zu ängstigen?
     Der Gegner wird eingeschüchtert
     „Schon als Kinder haben wir gelernt, dass man mit ei-        Komplexe Nervennetze
     ner Maske Leute erschrecken kann, und wir erinnern           Ioannis Vlachos und seine Kollegen entdeckten nun,
     uns vielleicht auch noch an die lustvoll-angespannte         dass bei Angstverhalten zwei Gruppen von Nerven-
     Erwartung, in der wir uns unserem ,Opfer‘ unbemerkt          zellen im Mandelkern eine Rolle spielen. In einer
     näherten“, schreibt Gerhard Schmitz in seinem Essay:         Computersimulation, in der sie die Nervennetze
     Maske und Angst. Bemerkungen aus psychoanalyti-              nachbauten, ließ sich anschaulich demonstrieren,
     scher Sicht. Er verweist darauf, dass in sogenannten         wie die Maskierung der Angst konkret abläuft: Eine
     primitiven Zivilisationen Masken eine wichtige Funkti-       Gruppe von Zellen steuert das Angstverhalten, die
     on in kriegerischen Auseinandersetzungen hatten. In          zweite die Unterdrückung von Angst. Ist die zweite
     Kombination mit Drohgebärden und Kampfgeschrei               Gruppe aktiv, verhindert sie, dass die Aktivität der
     sollten sie den Gegner einschüchtern und seiner              ersten an andere Stellen im Gehirn weitergeleitet
     Selbstermächtigung berauben.                                 wird. Trotzdem sind die Verbindungen zwischen den
            „Die bedeutsame Rolle, die die Maske im Feld          Zellen, die Angst kodieren, noch vorhanden. Sobald
     der sozialen und religiösen Praktiken aller Zivilisa-        die Maskierung wegfällt, zum Beispiel durch eine
     tionen gespielt hat […] muss uns ein Hinweis darauf          Veränderung des Kontexts, werden diese Verbin-
     sein, dass es bei ihrem Einsatz mehr geht als um ein         dungen wieder aktiv und die Angst kehrt zurück.

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Momentum - Therapie und Corona: Entschlossene Schritte ins Unbekannte - N 2/2020 - Anton Proksch Institut
„Die Maske ist eine Bühne, auf der die              Maske möglich sein? […] Wenn sie beim                   TIPPS ZUM WEITERLESEN:
Gefahrensituation inszeniert wird,“ schreibt Ger-           Beschauer gleichwohl eine affektive Reak-
                                                                                                                    Sigmund Freud, „Vorlesungen zur
hard Schmitz. Er nähert sich dem Phänomen aus               tion auslöst, muss die Gefahr eine andere               Einführung in die Psychoanalyse“
tiefenpsychologischer Sicht und argumentiert mit            sein, als eine objektiv-materielle.“                    Psychologie Fischer, Frankfurt am Main
Sigmund Freud. Dieser unterscheidet Angst, Furcht                                                                   1991
und Schrecken.                                              Das Paradoxon der Maske
        „Angst bezieht sich auf den Zustand und sieht       Die Maske, so folgert Gerhard Schmitz,             Arthur Schnitzler, „Traumnovelle und
                                                                                                               andere Erzählungen“, Das erzählerische
vom Objekt ab, während Furcht die Aufmerksamkeit            entfaltet erst ihre Wirkung, indem sie
                                                                                                               Werk Band 6, Fischer Verlag, Frankfurt
gerade auf das Objekt richtet. Schreck scheint hin-         wahrgenommen wird. Damit löst sie
                                                                                                               am Main 1961
gegen einen besonderen Sinn zu haben, nämlich die           eine Erinnerung an den Schrecken der
Wirkung einer Gefahr hervorzuheben, welche nicht            Trennung, des Verlustes, den Akt der               Alfred Schäfer, Michael Wimmer (Hrsg),
von einer Angstbereitschaft empfangen wird.“                „Ur-Trennung“ aus, an die Kastrations-             „Masken und Maskierungen“, Grenz-
        Angst, so Freud, bezeichne einen Zustand,           angst. „Unter dem bewussten Motiv,                 überschreitungen Band 3, Springer
in dem man sich auf eine Gefahr vorbereitet „mag            einen anderen zu erschrecken, liegt der            Fachmedien Wiesbaden GmbH, 2000
sie auch eine unbekannte sein. […] Schreck [...]            unbewusste ,Wille zur Angst des ande-
benennt den Zustand, in den man gerät, wenn                 ren‘. Was diesen Willen ins Werk zu setzen hilft, ist
man in Gefahr kommt, ohne auf sie vorbereitet zu            das Wissen um die Wirkung der Maske.“ Die Maske
sein.“ Warum erschrecken Menschen, wenn sie eine            zielt auf diese Urerfahrung ab, sie löst dadurch
Maske sehen? Warum lösen Masken Angst aus?                  Ohnmacht aus, Lähmung, Angst und beraubt damit
        „Die Gefahr, mit der sich der Beschauer un-         das Gegenüber seiner Handlungsfähigkeit.
vorbereitet konfrontiert sieht, kann von nirgendswo                 Die CoVid19-Masken lösen ein Paradoxon
anders als ihr selbst ausgehen.“ schreibt Gerhard           aus. Wer seine Maske ablegt, wird zur Gefahr.
Schmitz über das Erschrecken vor einer Maske.               Gleichzeitig signalisieren die Masken, die andere
Doch die Maske aus Papier, Holz, Farbe oder Mull            tragen, dass wir alle gefährdet sind. Gemildert wird
ist an sich ungefährlich. Was ist im Zusammenhang           diese Angst nur durch den Blick, den Augenkontakt,
mit Masken also unter einer „Gefahr“ zu verstehen?          die Beziehung zum anderen. Sehen und gesehen
„Freud geht noch einen Schritt weiter, wenn er sagt,        werden heißt auch: sich gemeinsam der Gefahr
dass, wer einer Maske angesichtig wird, ,in Gefahr          bewusst sein und sich davor, so gut es geht, zu
kommt‘. […] Wie aber sollte das gegenüber einer             schützen.                                           

  Mundschutz, global betrachtet
  In Asien ist der Mundschutz im      zumindest halbwegs gesund                         Das steigert vielleicht
  Alltag schon seit vielen Jahren     durch den Alltag zu kommen.               auch die Akzeptanz der Maske.
  etabliert; das gilt selbstver-              Freilich dient die Maske          Immerhin: Etwa 60 Prozent
  ständlich auch für den Urlaub,      nicht nur dem Gesundheits-                von 1.000 österreichischen
  wo er dann wiederum in Schön-       schutz, sondern kann auch als             Befragten gaben Anfang Juli
  brunn, Dürnstein oder Hallstatt     Accessoire verstanden werden.             an, sie seien für eine Wiederein-
  für Kopfschütteln bei den Öster-    Die passende Maske zu jedem               führung der Maskenpflicht im
  reicherinnen und Österreichern      Outfit – was vielen Asiatinnen            Handel und in der Gastronomie.
  gesorgt hat. Bis Corona kam.        und Asiaten schon
          Infektionskrankheiten       lange nicht mehr
  wie die Schweinegrippe oder         fremd ist, das
  das Ansteckungsrisiko in der        hat Europa jetzt
  ultra-überfüllten U-Bahn zur        binnen weniger
  Rush Hour haben dazu geführt,       Monate ereilt. Vom
  dass Menschen in Fernost auf        aus Bettwäsche
  die Maske als Mittel zur Präven-    upgecycelten
  tion setzen. Ein weiterer Faktor    Modell über das
  ist die Luftqualität: Im Smog       Emblem des Lieb-
  von Megastädten wie Bangkok,        lings-Sportvereins
  Hanoi oder Peking kann eine         bishin zum Modell
  Atemschutzmaske helfen,             des Luxus-Labels.
                                                                                                                                                         Foto: Getty Images

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Momentum - Therapie und Corona: Entschlossene Schritte ins Unbekannte - N 2/2020 - Anton Proksch Institut
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Momentum - Therapie und Corona: Entschlossene Schritte ins Unbekannte - N 2/2020 - Anton Proksch Institut
Unterwegs auf
neuen Pfaden
Der CoVid19-bedingte Lockdown stellte das Anton Proksch
Institut vor völlig neue Herausforderungen. Es gelang, das Haus
durchgehend offen zu halten – mit viel Engagement, Teamgeist
und der Überzeugung, dass Suchtbehandlung kein elektiver
Eingriff ist.
GABRIELE GOTTWALD-NATHANIEL

D
        er 13. März 2020 hätte im wahrsten Sinn des                   In dieser Besprechung wurde mir klar: Wir
        Wortes ein Feier-Tag im Anton Proksch Insti-          sind ein wichtiger Baustein in der Aufrechterhaltung
        tut sein sollen. Das Festzelt war bestellt, das       der Gesundheitsversorgung und müssen andere
Catering vorbereitet, die Ehrengäste eingeladen.              Gesundheitseinrichtungen entlasten. Aber wir sind
Die Grundsteinlegung für den Neubau des Hauses                anders als die anderen. Unsere Herausforderun-
in Wien-Liesing stand an – ein echter Meilenstein             gen unterscheiden sich von denen vieler anderer
in der mehr als 60-jährigen Geschichte des Anton              Institutionen. Wir müssen einen Weg finden, um die
Proksch Instituts.                                            Versorgung von suchtkranken Menschen in dieser
       Wie Sie wissen, kam es anders. Just am 13.             herausfordernden Zeit sicherzustellen.
März 2020 verkündete die Bundesregierung das,
was man später als „Lockdown“ bezeichnen würde.               Akut-Spitäler mussten entlastet werden
Der Alltag, wie wir ihn kannten, existierte von einem         Das hatte einerseits ganz praktische Gründe. Nie-
Tag auf den anderen nicht mehr, an irgendwelche               mand wusste Mitte März, inwieweit die Spitalska-
                                                                                                                      DSA GABRIELE
Feiern war schon gar nicht zu denken. Wir hatten              pazitäten in Österreich für CoVid-19-Patientinnen       GOTTWALD-
den Festakt ohnehin schon ein paar Tage zuvor                 und -Patienten ausreichend sein würden. Jeden           NATHANIEL, MAS,
abgesagt, um unsere Patientinnen und Patienten,               Tag sahen wir in den Nachrichten die schrecklichen      ist seit über 20 Jahren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Gäste keinem             Bilder aus Norditalien, die nahe legten: Auch bei       am Anton Proksch
unnötigen Risiko auszusetzen.                                 uns könnten Ärztinnen und Ärzte bald vor der Frage      Institut tätig und
                                                                                                                      seit 2011 dessen
                                                              stehen, wen sie überhaupt noch behandeln sollen
                                                                                                                      Geschäftsführerin. Sie
Im Krisenmodus                                                und wen nicht. Also war ganz klar: Die Spitäler
                                                                                                                      ist stellvertretende
Also verbrachte ich – wie viele andere in unserem             müssen entlastet werden, wer nicht unbedingt in         Vorsitzende bei arbeit
Land – diesen mittlerweile berühmt gewordenen                 ein Krankenhaus muss, soll dort in den nächsten         plus Wien, Vorstands-
Freitag den 13. nicht feiernd, sondern im wahrsten            Wochen auch nicht sein.                                 mitglied beim Verein
Sinn des Wortes im Krisenmodus. Genauer gesagt                        Und darüber hinaus stellten Personen, die       JUVIVO, Gründerin
                                                                                                                      und ehrenamtliche
in einer Koordinationssitzung der MA 24 (Anm.:                sich im öffentlichen Raum aufhalten – und das tun
                                                                                                                      Obfrau von gabarage-
Magistratsabteilung der Stadt Wien für strategische           Suchtkranke im urbanen Raum unterschiedlich
                                                                                                                      upcycling design und
Gesundheitsversorgung) gemeinsam mit einer                    häufig – in der Hochphase der CoVid19-Infektionen       hat einen Lehrauftrag
Reihe von Vertreterinnen und Vertretern anderer               ein Risiko dar; für sich selbst und für andere. Unter   an der Donau-Univer-
Wiener Krankenanstalten.                                      anderem aus diesen beiden Überlegungen heraus           sität Krems.

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Momentum - Therapie und Corona: Entschlossene Schritte ins Unbekannte - N 2/2020 - Anton Proksch Institut
gab es die ganz klar ausgesprochene Festlegung,                       Das war für jene, die schon vor der Corona-
       das Anton Proksch Institut offen zu halten. Als Teil           Krise Patientinnen und Patienten bei uns waren,
       des Wiener Sucht- und Drogenhilfenetzwerk, aber                sicher die größte Umstellung im Therapie-Alltag:
       auch als wichtiger Bestandteil der Versorgungsland-            das Ausgangsverbot, das notwendig war, um das
       schaft für Suchtkranke in Österreich.                          Ansteckungsrisiko zu minimieren. Manche Patien-
                                                                      tinnen und Patienten haben ihre Therapie frühzeitig
       Suche nach unserem eigenen Weg                                 beendet. Ein Teil auch, weil sie die CoVid-19-Hoch-
       Auf der Suche nach unserem eigenen Weg durch                   phase lieber zu Hause oder mit ihren Familien
       die Krise hat uns aber auch unsere Haltung ge-                 verbringen wollten. Andere waren froh, im Haus
       leitet, dass Sucht eine chronisch-rezidivierende               bleiben zu können – sie haben sich bei uns sicher
       Erkrankung ist und als solche zu behandeln ist. Ein            und geschützt gefühlt, sowohl vor der Ansteckung
       geplanter stationärer Aufenthalt im Anton Proksch              als auch vor einem möglichen Rückfall in ihr altes
       Institut kann nicht auf unbestimmte Zeit aufgescho-            Suchtverhalten.
       ben werden; die Behandlung einer Suchtkrankheit
       ist kein elektiver Eingriff. Der richtige Zeitpunkt ist        Völlig neue Abläufe
       entscheidend für den Therapieerfolg und lässt sich             Wir wollten aber nicht nur jene Patientinnen und
       nicht beliebig nach vorne und nach hinten verschie-            Patienten, die bereits im Haus waren, weiter behan-
       ben.                                                           deln; wir wollten auch neue aufnehmen, und zwar
                                                                      nicht nur aus anderen stationären Einrichtungen wie
                                                                      etwa Akutspitälern, sondern sozusagen auch von zu
         Die Behandlung einer                                         Hause weg. Es entstand die Idee einer Aufnahme-
                                                                      station: Neue Patientinnen und Patienten blieben
       Suchtkrankheit ist kein                                        anfangs 14 Tage, später sieben Tage isoliert in
elektiver Eingriff. Der richtige                                      einem eigenen Bereich unter individueller Betreu-
                                                                      ung. Erst nach einem negativen Corona-Test wurden
   Zeitpunkt ist entscheidend.                                        sie daraufhin in den allgemeinen Therapiebereich
                                                                      verlegt.
                                                                             So ist es uns tatsächlich gelungen, in der
              Dieser Therapieerfolg kann durch ambulante              Hoch-Zeit der CoVid-19-Schutzmaßnahmen bis
       Unterstützungsmaßnahmen im Vorfeld oder in der                 Ende Juni über 300 Patientinnen und Patienten auf-
       Nachbetreuung gefestigt werden, diese wiederum                 zunehmen. Übrigens als einzige Suchtklinik in ganz
       können aber dort, wo dies medizinisch-therapeu-                Österreich in dieser hohen Anzahl.
       tisch angezeigt ist, einen stationären Aufenthalt                     Binnen weniger Wochen haben wir also
       nicht ersetzen. Ganz abgesehen davon, dass                     die Art und Weise, wie wir unsere Patientinnen
       Patientinnen und Patienten, die aufgrund eines lang-           und Patienten betreuen und behandeln, drastisch
       jährigen Substanzmissbrauchs nicht nur psychisch,              verändert. Möglich war das nur mittels enger Ab-
       sondern auch physisch häufig schwer angegriffen                stimmung im Team – von der Geschäftsleitung über
       sind, zur CoVid19-Hochrisikogruppe zu zählen sind.             die kollegiale Führung, das klinisch-therapeutische
                                                                      Personal, das Hygieneteam bis hin zur Verwaltung,
       Ein Krisenstab und dutzende Fragen                             der hauseigenen Küche, der Reinigung und dem
       Es war also Zeit zu handeln. Der rasch installierte            Betriebsrat. Unsere enorme Expertise zu der Frage,
       Krisenstab des Anton Proksch Instituts trat zu Beginn          was unsere Patientinnen und Patienten brauchen,
       täglich zusammen. Es galt, eine Fülle komplexer                hat uns dabei unterstützt und geleitet.
       Fragen zu klären, allem voran: Wie schützen wir die                   Gleichzeitig haben wir auf größtmögliche
       Menschen, die in unserem Haus arbeiten und die                 Transparenz gesetzt und Patientinnen und Patienten
       Menschen, die behandelt werden, vor einer CoVid-               sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit einer
       19-Infektion? Aber auch: Wie schaffen wir es, die              neuen Hauszeitung informiert. Das hat die Akzep-
       psychische Belastung aller Beteiligten so gering wie           tanz für die teilweise doch sehr einschneidenden
       möglich zu halten? Wie gelingt es rasch, die Infra-            Maßnahmen spürbar gesteigert.
       struktur für völlig veränderte Abläufe herzustellen?
       Wie können Therapiemaßnahmen weitergeführt                     Zusammenhalt während der Krise
       werden? Wie müssen Dienstpläne in dieser speziel-              Wir haben also das erlebt, was wohl viele Organi-
       len Zeit aussehen? Und so weiter.                              sationen aus den vergangenen Monaten kennen:
              Im regulären Betrieb sind unsere Patientin-             einen Innovationsschub, der zwar aus einer Krisen-
       nen und Patienten selbstverständlich nicht im Haus             situation entstanden ist, uns aber als Team enorm
       „ein- oder weggesperrt“, sondern können sich frei              gestärkt hat. Der Zusammenhalt und die Dynamik
       bewegen. Regelmäßige therapeutische Ausgänge                   während der Krise waren getragen vom Gefühl: Wir
       gehören zum fixen Angebot während der stationä-                haben eine hohe Verantwortung für unsere Patien-
       ren Behandlung.                                                tinnen und Patienten, für die Mitarbeiterinnen und

                                                                 10
Mitarbeiter, aber auch für das Anton Proksch Institut       und Patienten. Wir konnten durch die gemeinsamen
als Institution. Wir sind für sie da und wir wissen, was    Anstrengungen bisher auch wichtige und notwen-
wir tun.                                                    dige Arbeitsplätze für die ambulante und stationäre
        Das gilt im Übrigen auch für unsere Außen-
stellen, die Ambulanzen in Wien, die Suchtbera-
tungsstellen in Niederösterreich und unserer „Re-           Wir haben uns etwas getraut.
haHUT“, eine stationäre Rehabilitationseinrichtung
in der Hinterbrühl bei Mödling. Oder aber auch für
                                                            Und wir wurden belohnt mit
unser Angebot der ganztägig ambulanten Therapie.            neuen Erkenntnissen und
Auch dort wurden die Betreuung und Behandlung
weitergeführt, wir haben ganz neue, digitale Me-            positivem Feedback.
thoden getestet und stark auf „in regelmäßigem
Kontakt bleiben“ gesetzt (siehe S. 12). Die Lernkurve       Versorgung und Behandlung von suchtkranken
war in diesen Wochen und Monaten enorm hoch.                Menschen in Österreich erhalten - und damit fach-
                                                            liche Expertise.
Arbeitsplätze gesichert                                             Wir haben einmal mehr den Menschen in den
Wir haben uns etwas getraut. Und wir wurden                 Mittelpunkt gestellt. Das ist und bleibt die Maxime
belohnt. Mit neuen Erkenntnissen, aber auch mit             unseres Handelns. Auch - oder gerade - in einer
enorm positivem Feedback unserer Patientinnen               Krise.                                             

                                              „Der Mensch im Mittelpunkt“
                                              Im täglichen Handeln – ob Corona-Krise oder nicht – lässt sich das Anton Proksch
                                              Institut vom Motto „Der Mensch im Mittelpunkt“ leiten. Was bedeutet das konkret?
                                              Hier finden Sie das Leitbild des Hauses:

                                              • Positive Veränderungen im Leben            •S
                                                                                              ucht ist eine Krankheit mit vielen
                                                 sind jederzeit möglich. Dazu braucht        Ursachen und lässt sich nicht auf
                                                 es Freude, Lust und Genuss - Zutaten,       einen auslösenden Faktor reduzieren.
                                                 die uns das Leben täglich bietet. Das       Sucht ist eine gut zu behandelnde
                                                 aktive und genussvolle Teilnehmen           Erkrankung - Unsere Methoden sind
                                                 am Leben wird bei uns in der Sucht-         state of the art.
                                                therapie in den Vordergrund gestellt,
                                                um wieder die schönen Seiten am             • Gemeinsames therapeutisches Ziel
                                                Leben entdecken zu können.                     unserer differenzierten Behandlungs-
                                                                                               strategien sind sowohl Modelle der
                                              • Wir orientieren uns an den Stärken            „harm reduction“ als auch die „absti-
                                                 und positiven Faktoren im Leben.              nenzgestützte Therapie“.

                                              • Damit leben wir ein Menschenbild,          • Wir legen Wert auf die Zusammen-
                                                 das Diskriminierung strikt ablehnt            arbeit von unterschiedlichen be-
                                                 und ein selbstbestimmtes und freud-           handelnden Berufsgruppen und ein
                                                 volles Leben in den Mittelpunkt der           ganzheitliches Menschenbild. Denn
                                                 Bemühungen rückt.                             nur so kann individuelle Entwicklung
                                                                                               im Sinne gesunder Lebensgestaltung
                                              • Wir begegnen einander mit Respekt,            die Rehabilitation fördern.
                                                 Wertschätzung und Achtung der
                                                 Menschenwürde. In einem haltgeben-
                                                 den Klima haben Eigenverantwort-
                                                 lichkeit und Freiwilligkeit ihren Platz.
                                                 Wir handeln immer nach den Prinzi-
                                                 pien der Akzeptanz, Parteilichkeit und
                                                 Gendersensibilität.

                                                           11
Virus vernichtet
                         Dogma
                         Jahrzehntelang war es undenkbar, psychologische und
                         psychotherapeutische Behandlung ohne direkten Kontakt
                         durchzuführen. Dann kam Corona. Ein Erfahrungsbericht
                         aus dem Anton Proksch Institut.
                         ERNST C. ZACH

                         I
                            n Österreich gilt seit jeher ein klares Dogma: psy-         Realitäten schafft – auch finanziell im gewohnten
                            chologische und psychotherapeutische Behand-                Rahmen abgegolten werden würden. Mehr oder
                            lung ist nur dann möglich, wenn sich Therapeut              weniger stillschweigend wurden so die oben an-
                         bzw. Therapeutin und Klient bzw. Klientin im selben            geführten Abschnitte der Psychologen- und Psycho-
                         Raum aufhalten. Dies ist auch klar in den gesetz-              therapeutengesetze außer Kraft gesetzt.
                         lichen Rahmenbedingungen festgehalten: Behand-                        Gleichzeitig erlebte ich in der Suchtberatung
                         lung – sei es in der Psychologie oder Psychotherapie           sowie in der eigenen Praxis die Aufgabe, von einem
                         – hat „persönlich und unmittelbar“ zu erfolgen. Das            Tag auf den anderen komplett auf „Fernbehand-
                         bedeutete in der gängigen Interpretation „in physi-            lung“ via Telefon oder/und Videotelefonie umzu-
                         scher Nähe“. Alles andere war im besten Falle eine             stellen. Damit begann für mich eine Reise in eine
                         Form von Beratung – und mitgeschwungen hatte                   bislang unbekannte Welt der Behandlung.
                         das Verdikt: von minderer Qualität.                                   Am Anfang gab es in der Suchtberatung nur
                                 Auch die Arbeit in den Suchtberatungsstellen           mehr das Telefon. Ich begann, meine Klientinnen
                         des Anton Proksch Instituts war bis Anfang 2020                und Klienten durchzurufen, und erklärte ihnen die
                         rein auf persönliche Kontakte vor Ort ausgerichtet:            neue Situation. Sicher auch durch die anfängliche
MAG. ERNST CHRIS-
TIAN ZACH studierte      Ärztinnen und Ärzte, Sozialarbeiterinnen und                   „Wir halten zusammen“-Stimmung unterstützt,
Psychologie an der       Sozialarbeiter, Psychologinnen und Psychologen,                wurde dieses Angebot sehr gerne angenommen.
Universität Wien         Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten – alle              In meiner persönlichen Stichprobe gab es gerade
und ist Klinischer       arbeiteten vor Ort, das Telefon diente fast aus-               eine Person, die meinte: Dann warten wir halt, bis
Psychologe und           schließlich dazu, Termine auszumachen, sowie zur               wieder ein persönlicher Termin möglich ist. Nach
Psychotherapeut.
                         ersten Kontaktaufnahme.                                        drei Wochen meldete sich auch diese Person wieder
Im Anton Proksch
Institut leitete er
                                                                                        und ersuchte um einen Telefontermin.
von 1988–2004 den        Plötzlich war alles anders
Bereich Arbeits- und     Im März 2020 war dann plötzlich alles anders: In               Mehr Konzentration erforderlich
Beschäftigungsthera-     einer Rasanz, die keinerlei Inkubationszeit Platz ließ,        Am Montag nach dem Lockdown begann ich mit
pie, 1990–2010 den       vernichtete das Virus das Dogma der physischen                 der telefonischen Therapie. Etwas wurde sofort
Bereich Informations-
                         Nähe: Bereits in der zweiten Märzwoche – kurz vor              deutlich: Die Arbeit via Telefon ist ungleich an-
technologie. Seit 2018
                         dem Lockdown – wurde seitens der Österreichi-                  strengender und erfordert mehr Konzentration. Aus
ist er Standortleiter
der Suchtberatungs-      schen Gesundheitskasse bekanntgegeben, dass                    meiner Erfahrung gibt es hier mehrere Ursachen:
stelle Wiener            Therapien über Videotelefonie und Telefon abge-                         1. Einfache technische Probleme des Hö-
Neustadt.                halten werden dürften und – was ja durchaus schnell            rens: Die Tonqualität kann – bedingt durch Verbin-

                                                                                   12
Foto: Getty Images

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dung und Telefone – sehr schlecht sein. In manchen          Wahrnehmung der Termine von der Klientin/vom
     Fällen ist es dann bereits eine Herausforderung, den        Klienten auf die Behandlerin/den Behandler über.
     Wortsinn erfassen zu können.                                Zum anderen fielen für die Klientinnen und Klienten
               2. Auch bei guter Tonqualität ist es über         die Aufwände Fahrtzeit und Fahrtkosten weg. Ohne
     Telefon oft deutlich schwerer, Feinheiten und Modu-         hier bereits einen statistischen Nachweis zu haben,
     lationen wahrzunehmen.                                      habe ich den Eindruck, dass weniger Termine ent-
               3. Das Fehlen von Mimik und Bewegung              fallen sind.
     hinterlässt ein Gefühl der partiellen Blindheit, und
     man versucht automatisch, diese durch ein Mehr an           „Hätt‘ i jetzt voll vergessen“
     Aufmerksamkeit beim Hören auszugleichen.                    Diese „nachgehende“ Vorgehensweise hat Vorteile
               4. In der Telefonie haben in der Regel Ge-        und Nachteile. Ein Gesprächsbeginn wie „Hallo, ah
     sprächspausen keinen Platz. Dies erhöht den Druck           ja, na des hätt‘ i jetzt voll vergessen, gut dass Sie mi
     auf beiden Seiten.                                          anrufen“ oder ein „Ja, hallo – ja, laut is‘ hier, ich geh
               5. Schwierig wird es auch besonders bei           schon raus. War Einkaufen beim Merkur und jetzt
     Klientinnen und Klienten mit geringeren Kennt-              bin ich beim Wirten eingekehrt“ kann positiv oder
     nissen der deutschen Sprache. Im persönlichen               negativ gesehen werden.
     Gespräch kann wenn nötig auch mit Händen und                        Eine Erkenntnis wurde in der Zeit seit März
     Füßen kommuniziert werden.                                  2020 für mich sehr klar: Eine komplette Behandlung
                                                                 vom Erstgespräch beginnend via Telefon abzu-
                                                                 handeln, stellt einen massiven Qualitätsverlust und
   Durch die Umstellung auf                                      eine starke Behinderung der Arbeit dar. Bei jenen
                                                                 Klientinnen und Klienten, die während des Lock-
Telefonkontakte wurden wir                                       downs über Erstgespräch hinzukamen, bemerkte
                                                                 ich: Der Aufbau einer therapeutischen Beziehung
 deutlich niederschwelliger.                                     dauert – falls überhaupt möglich – deutlich länger
                                                                 als mit „echtem“ Kontakt. Erstgespräche via Telefon
            Die Qualität und Tiefe der Gespräche sind            sind auch für Klientinnen und Klienten nicht attraktiv.
     sehr unterschiedlich. Zwei Faktoren sind hier aus-                  Zusammengefasst: Behandlungen via Telefon
     schlaggebend: Menschen, denen die Sprache ein               sind jedenfalls besser als keine Behandlung und
     gutes, sicheres Werkzeug der Kommunikation ist,             Betreuung. Wenn die sprachlichen Fähigkeiten und
     können mit der rein auditiven Gesprächssituation            die Qualität der Tonübertragung gut sind und eine
     sehr gut umgehen. Das erleichtert die Arbeit der            tragfähige therapeutische Beziehung vorhanden
     Behandlerin bzw. des Behandlers.                            ist, sind sie der persönlichen Behandlung nahezu
                                                                 gleichwertig.
     Faktor Beziehung
     Doch der wichtigste Faktor ist – wenig überraschend
     wie in allen therapeutischen Kontakten – die Be-            Behandlung über Videotelefonie
     ziehung: Wenn zuvor in persönlichen Kontakten               Einen besonders Platz hat in allen Bereichen in den
     bereits eine tragfähige, gute Beziehung aufgebaut           letzten Monaten die Videotelefonie bekommen.
     werden konnte, stellt die Einschränkung auf das rein        Wenn aktuell jemand von einem „Meeting“ spricht,
     Auditive kaum einen Nachteil dar. Je nach Ausprä-           ist dies sofort mit der Vorstellung einer Videokonfe-
     gung dieser beiden Faktoren ist im Telefonat von            renz verbunden. Videotelefonie ist nun tatsächlich
     einem oberflächlichen, kurzen Anruf bis zu einem            im Mainstream angekommen und stellt eine Option
     tiefen, ausgiebigen Gespräch alles möglich.                 für viele Lebensbereiche dar. Die Vorteile werden
             Die organisatorische Umstellung auf Tele-           wir in die Zukunft mitnehmen, hier ist einiges im
     fonkontakte erzeugte nach meiner Erfahrung einen            Umbruch.
     interessanten Nebeneffekt: Wir wurden deutlich                      Angesichts des CoVid-19 Lockdowns war
     niedrigschwelliger. Bis zur Umstellung auf Tele-            mir sofort klar, dass Videotelefonie die beste und
     fonkontakte im März 2020 war der Ablauf in der              einzige Chance bietet, Behandlung und Therapie
     Terminambulanz so: Wenn die Person zum verein-              weiter durchführen zu können. Bei dieser Über-
     barten Zeitpunkt nicht erschien – was im Kontext der        legung half mir sicher mein technischer Background
     Sucht immer wieder geschieht – verfiel der Termin.          und meine jahrelange Erfahrung mit Videotelefonie
     Mit der Umstellung auf Telefonkontakte in der               und Videokonferenzen.
     Suchtberatung wurde der Ablauf geändert: Die Be-                    Auf Seite der Klientinnen und Klienten stellen
     handlerinnen und Behandler riefen die Klientinnen           allerdings fehlende technische Ausstattung und
     und Klienten zum vereinbarten Zeitpunkt an.                 mangelndes Wissen die größten Hindernisse für die
             Dadurch wurde die Schwelle zur Wahr-                Videotelefonie dar. Meistens ist beides miteinander
     nehmung unserer Angebote in zwei Bereichen                  verbunden: Wer sich nicht auskennt oder keinen
     deutlich gesenkt. Zum einen ging durch den aktiven          Bezug zu neuen Medien hat, hat zumeist auch keine
     Anruf zur vereinbarten Zeit die Verantwortung zur           guten Geräte und Internetanbindung.

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Somit sind leider einige Menschen von                      Nicht alle therapeutischen Techniken sind
der Möglichkeit der Behandlung über Videotele-              über Videotelefonie anwendbar, nicht alle Informati-
fonie ausgeschlossen. Höheres Alter, niedrigerer            on, die wir aus den persönlichen Kontakten gewohnt
Bildungsgrad bzw. geistige Leistungsfähigkeit und           sind, verfügbar (z.B. Geruch, ein nicht unwichtiger
schlechte Einkommenssituation sind hier hinderliche         Faktor in der Suchtbehandlung). Doch ist nach
Faktoren. Auch die prinzipielle Ablehnung und Skep-         meiner Erfahrung der letzten Monate mit Video-
sis neuen Medien gegenüber muss genannt werden.             telefonie eine qualitativ hochwertige Behandlung
Dies erlebe ich interessanterweise zumeist eher im          sehr gut möglich, wenn die betreute Person und
Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen.
        Für mich begann die Ära der Videotelefonie
in der Behandlung am 14. und 15. März – also am             Videotelefonie ist ein
Wochenende nach dem Lockdown – mit der Er-
stellung einer technischen Anleitung. Meine erste           Guckloch in die Welt der
Behandlung mit Hilfe der Videotelefonie folgte kurz
danach. Anfänglich ist es eine ungewohnte Situation:
                                                            Klientinnen und Klienten.
Sich selbst am Bildschirm zu sehen, kann durch-
aus irritieren. Verblüffend schnell wurde aber die          alle technischen Rahmenbedingungen passen. Mit
therapeutische Arbeit via Videotelefonie für mich zur       wenigen Einschränkungen für die Suchttherapie: So
gewohnten Routine und im Unterschied zur reinen             ist es schwieriger zu erkennen, ob eine Person aktu-
Telefonie zu einem nahezu vollwertigen Ersatz. Ich          ell unter Alkohol- oder Drogeneinfluss steht. Meine
habe auch Klientinnen und Klienten, die die Kontak-         Lösung ist dazu eine einfache: Wenn ich unsicher
te über Videotelefonie bevorzugen, einfach weil Zeit        bin, frage ich geradeheraus – eine Strategie, die ich
und Aufwand für die Fahrt in die Praxis entfallen.          auch im physisch-persönlichen Gespräch anwende.
                                                            Und nicht ideal ist es, Klientinnen und Klienten mit
Heiße Diskussion über Sicherheit                            Problemen mit ausuferndem Internetgebrauch über
In der Institution der Suchtberatung dauerte die Um-        Videotelefonie zu betreuen.                         
stellung auf Video-Beratung aus strukturellen Grün-
den etwas länger. Nicht hilfreich war dabei auch die
überhitzte Diskussion zur Sicherheit der Videotele-
fonie. Durch den Lockdown war von einem Tag auf
den anderen das Thema Kommunikation via Internet
in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Kaum ein
Tag, an dem nicht ein Medium einen neuen Bericht
zu gewaltigen Sicherheitslücken verbreitete.
        Im Kontakt mit Klientinnen und Klienten merk-
te ich interessanterweise nichts davon. Auch wenn
ich bei technisch affinen Personen das Angebot, ge-             Resümee und Ausblick
macht habe, ein End-to-End verschlüsseltes System
zu verwenden, so blieben auch diese lieber bei ihren            Wenn keine physisch-persönlichen Termine möglich sind, ist in je-
gewohnten Produkten wie Zoom oder Skype. Die                    dem Fall eine Betreuung über Telefon oder Videomeeting eine gute
Sicherheitsdiskussion war also eine, die Institutionen          Unterstützung. Die Arbeit über Telefon hat sehr große Einschrän-
und sowie Behandlerinnen und Behandler geführt                  kungen, vor allem, wenn zuvor kein persönliches Kennenlernen und
haben - nicht jedoch die Klientinnen und Klienten.              somit kein Beziehungsaufbau möglich war. Die Videotelefonie hin-
                                                                gegen weist deutlich weniger Einschränkungen auf und ermöglicht
Guckloch in die private Welt                                    Behandlungen auf hohem Niveau.
Eine weitere Besonderheit bietet die Behandlung                        Allem Anschein nach wird uns die virtuelle Behandlung noch
via Videotelefonie: Sie ist für die Behandlerin oder            einige Zeit begleiten. Hierzu ein Zitat aus der aktuell gültigen „Hand-
den Behandler ein Guckloch in die private Welt der              lungsempfehlung für niedergelassene nichtärztliche Gesundheits-
Klientin oder des Klienten, zumeist in einen Wohn-              berufe“, die das Gesundheitsministerium herausgegeben hat: „Zu
raum. Interessant ist auch die Frage, welche Regeln             bevorzugen ist nach wie vor, dass Behandlungen/Therapien – soweit
für die Behandlung gelten. Manche sind eindeutig                möglich – mit digitalen Hilfsmitteln/per Telefon erfolgen.“
zu beantworten: Völlig klar ist, dass Klientin oder Kli-               Für die Zukunft wünsche ich mir, dass die nun erfahrenen
ent und Behandlerin oder Behandler ungestört sein               Möglichkeiten und Chancen, die die Videotelefonie bietet – vor
sollten. Viele andere Fragen gehören noch überlegt              allem in der leichteren Verfügbarkeit und Niedrigschwelligkeit durch
und können nur individuell entschieden werden: Ist              Wegfall der Anreise liegen – einen fixen Platz im therapeutischen Be-
es in Ordnung, wenn sich die Klientin oder der Klient           handlungssetting behalten, wenngleich ich vor allem zu Beginn der
während der Therapie im eigenen Wohnzimmer                      Behandlung physisch-persönliche Termine als wichtig und unver-
eine Zigarette anzündet? Oder passt es, wenn eine               zichtbar sehe. Die klassische Telefonie wünsche ich mir hingegen in
Klientin oder ein Klient die Videositzung in seinem             naher Zukunft wieder auf Terminvereinbarung und Notfall reduziert.
Auto sitzend via Smartphone absolviert?

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„Ich bin gerade
vor Corona noch
hineingerutscht“
 Johanna ist wegen einer Alkoholsucht Patientin im
    Anton Proksch Institut. Das ist ihre Geschichte.
                           AUFGEZEICHNET VON MICHAEL ROBAUSCH

    I
       ch bin 50 Jahre alt und komme ursprünglich aus              und bin in die Ambulanz gegangen. Es war alles
       Wien. Seit dem 12. März bin ich im Anton Proksch            angstbesetzt. Ich habe mich gefragt, was ich hier
       Institut, also seit kurz vor dem Lockdown. Ich              tue, wie es wird – ob ich nicht lieber gleich wieder
     mache einen Alkohol-Entzug. Ich habe den Alkohol              gehen soll. Aber die Gelassenheit des Arztes, mit
     ursprünglich als Selbstmedikation gegen meine De-             dem ich gesprochen habe, hat mich sehr beein-
     pressionen verwendet. Über drei Jahre lang war ich            druckt. Zwei Tage später habe ich meinen Platz
     deswegen auch bei einer Psychotherapeutin. Es ist             bekommen. Ich war dann nur noch froh, dass es
     dann eine absolute berufliche Überlastung dazu ge-            jetzt gleich geht. Dass ich nicht lange warten muss.
     kommen, in Wirklichkeit war es schon ein Burnout.             Ich bin gerade vor Corona noch hineingerutscht.
             Wegen meiner Alkoholsucht eine Therapie zu                    Mir wurde gesagt, dass die Standarddauer
     machen war schon früher ein Thema. Ich habe dann              für eine Therapie acht Wochen ist. Darauf habe
     auch wieder trocken gelebt, aber es ist zu einem              ich mich auch eingestellt. Nach drei Wochen ist
     Rückfall gekommen. Ich war über einen Monat                   mir aber klar geworden, dass ich es in dieser Zeit
     im Krankenstand. Da hat sich die Spirale immer                nicht schaffen werde. Ich war nicht so weit. Ich habe
     schneller zu drehen angefangen. Jetzt bin ich hier.           dann zweimal um je vier Wochen verlängert. Erst in
     Es ist eine der gescheitesten Ideen meines Lebens             meiner siebenten Woche hier habe ich begonnen,
     gewesen, mich in Behandlung zu begeben.                       Kraft zu schöpfen. So groß war der Druck, aus dem
                                                                   ich gekommen bin. Ich war so erschöpft, obwohl
     Alkoholikerin in dritter Generation                           der körperliche Entzug bei mir nicht so wahnsinnig
     Schon länger ist mir bewusst gewesen, dass mein               schlimm gewesen ist.
     Trinkverhalten problematisch ist. Irgendwie war
     dann der Punkt gegeben, an dem ich mir gesagt                 Rückzug dank Corona
     habe: Entweder ich tue jetzt etwas dagegen, oder              Was ich von Corona mitbekommen habe? Den
     es wird mich endgültig zugrunde richten. Ich bin              ersten geplanten Ausgang nach zehn Tagen in
     Alkoholikerin in dritter Generation. Ich möchte nicht,        Therapie hat es für mich nicht mehr gegeben. Ganz
     dass die Sucht den gleichen Weg nimmt wie bei                 ehrlich: Ich war heilfroh, dass ich nicht hinausge-
     meinen Verwandten.                                            musst habe, sondern mich komplett auf mich selbst
            Das Anton Proksch Institut ist mir von meiner          konzentrieren konnte. Ich war für die Möglichkeit
     ehemaligen Therapeutin empfohlen worden. Ich                  des Rückzugs sehr dankbar. Man hat bemerkt, dass
     habe meinen ganzen Mut zusammengenommen                       es im Haus viele Besprechungen im Hintergrund

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                                                                 „Ich mache Pläne für die Zeit nach der Therapie. Daran merke ich, dass ich bereit bin.“

gibt. Dass daran gearbeitet wird, dass es trotz allem        legt, bei den meisten anderen Leuten die gleichen
hier weiterlaufen kann. Es hat Umbauten gegeben,             sind. Dass wir mit den gleichen Problemen kämpfen.
die Häuser wurden separiert, aus dem Speisesaal              Es ist ein wohltuender Austausch. Es ist gut, dass
Sessel entfernt. Es gab Zeitfenster für die verschie-        hier ein vorurteilsfreier Ort ist. Alkoholkrankheit ist
denen Abteilungen, in denen man dort hingehen                extrem stigmatisiert, bei Frauen ganz besonders.
konnte. Was das Wohnen betrifft, habe ich den Jack-                  Das Therapieangebot ist trotz Corona weit
pot gezogen: ein Einzelzimmer.                               gefächert: Es gibt Bewegungsangebote, Kunstthe-
       Mich hat es beeindruckt, dass kurzfristig             rapie, Kinotherapie, Musik. Man kann auch eigene
immer Lösungen gefunden worden sind. Es hat ja               Projekte verwirklichen. Eigentlich ist mir nie langwei-
keine Vorlaufzeiten gegeben. Die Therapie-Grup-              lig. Ich glaube, viele genießen die Phasen der Ruhe
pen waren wegen der Beschränkungen kleiner.                  und Erholung. Für mich war es Balsam für die Seele,
Das Personal ist mit Mund-Nasenschutz unterwegs,             dass ich mich einfach nur in den Garten habe setzen
Patientinnen und Patienten tragen ihn nur, wenn sie          können. Er ist so schön, mit den alten Bäumen. Da
einen Termin bei einem Arzt oder einer Ärztin ha-            haben wir Glück. Das ist auch therapeutisch!
ben. Es wurden ja alle, die aufgenommen wurden,                      Ich glaube, es ist mir seit Jahrzenten nicht
auf Corona getestet. Weil Besuche nicht möglich              mehr so gut gegangen wie jetzt. Ich habe auch
waren, habe ich zu meiner Familie über Telefon               wichtige Impulse für mein Leben danach be-
Kontakt gehalten, das ist komplett okay. Andere              kommen. Ich weiß, dass es da einiges gibt, was ich
leiden da vielleicht stärker.                                persönlich verändern muss. Damit ich nicht mehr
                                                             dorthin komme, wo ich vorher war. Das möchte ich
Ein vorurteilsfreier Ort                                     unter allen Umständen verhindern. Meine Familie
Meine Hauptansprechpartner ist mein Bezugsthe-               unterstützt mich sehr, steht zu mir. Das ist eine
rapeut. Da gibt es intensive Gespräche, zweimal in           große Erleichterung. Ich mache Pläne für die Zeit
der Woche. Falls etwas Dringliches auftaucht, hat er         nach der Therapie. Daran merke ich, dass ich bereit
aber auch sonst Zeit für mich. Es gibt auch Grup-            bin. Als erstes werde ich Pizza essen! Seit einigen
pentherapien, wo man Themen untereinander be-                Tagen ist das jetzt so. Davor hatte ich Angst vor dem
sprechen kann. Das finde ich so hilfreich! Man sieht,        Draußen, denn ich wusste ja: Hier bin ich an einem
dass viele Situationen, von denen man glaubt, okay,          geschützten Ort. Nun gehe ich mit Zuversicht.          
das ist nur bei mir so – dass andere das ganz ähnlich
erleben. Dass Strategien, die man sich so zurecht-

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Kommunikation ist
                        mehr als Worte
                        Wir plaudern und berühren einander, um Nähe herzustellen –
                        das tut unserer Psyche gut. Das Fehlen physischer Begegnungen
                        war daher für viele Menschen während des Corona-Lockdowns
                        eine große Belastung. Trotzdem müssen wir wohl noch eine
                        Weile durchhalten.
                        ELISABETH OBERZAUCHER

                        E
                              ines der evolutionären Erfolgsrezepte der              beim Plaudern nicht dieselben Bindungshormone
                              Spezies Homo sapiens ist die ausgeprägte               ausschütten. Deshalb verzichten wir auch nicht ganz
                              soziale Ausrichtung. Der Zusammenschluss               darauf – allerdings äußert sich soziale Fellpflege bei
                        in größere Gruppen bedeutete für unsere Vorfah-              uns weniger darin, dass wir uns Parasiten aus dem
                        ren, dass sie neue Lebensräume erschließen und               Haarkleid pflücken, sondern eher darin, dass wir
                        Nahrungsquellen nutzen konnten, die ihnen als                Fussel entfernen, die Kleidung zurechtrücken, oder
                        Einzellebewesen nicht zugänglich gewesen wären.              uns einfach nur so berühren.
                        Das Gruppenleben erfordert aber auch eine Kombi-                    Diese Berührungen finden meist statt, ohne
                        nation von Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die es          dass wir groß darüber nachdenken, und deshalb
                        uns erlauben, die soziale Struktur aufzubauen und            sind wir uns gar nicht dessen bewusst, wie wichtig
                        Beziehungen zu pflegen.                                      sie nicht nur für unser soziales Miteinander, sondern
                                Unsere nächsten Verwandten bedienen sich             auch für unser individuelles Wohlbefinden sind.
                        der sozialen Fellpflege, um ihre Beziehungen zu
                        stärken. Durch die Fellpflege wird Hingabe kom-              Unglücklicher Begriff: Social Distancing
                        muniziert, und es werden Hormone ausgeschüttet,              Um zu verhindern, dass die Corona-Pandemie außer
                        die die Bindung zwischen den Individuen stärken.             Kontrolle gerät, wurden Regeln verhängt, die uns
                        Je größer die Gruppe, in der Primaten zusammen-              zum Distanzhalten zwangen. Etwas unglücklich ge-
                        leben, desto mehr Zeit muss in die soziale Fellpflege        wählt ist hier der Begriff des Social Distancing, weil
                        investiert werden. Der britische Forscher Robin Dun-         dieser nahelegt, dass wir unsere Sozialbeziehungen
                        bar hat berechnet, dass wir Menschen knapp die               völlig einstellen. Wenn wir uns nur auf unsere bio-
                        Hälfte unserer Zeit damit verbringen müssten, uns            logischen Mechanismen der Pflege von Sozialbe-
                        gegenseitig zu lausen, wenn wir uns allein auf den           ziehungen verlassen müssten, dann wäre das auch
MAG. DR.                sozialen Kleber der Fellpflege verlassen würden. Er          tatsächlich die Konsequenz gewesen.
ELISABETH OBER-         kam deshalb zu dem Schluss, dass wir die Sprache                     Doch dank technischer Hilfsmittel war es uns
ZAUCHER (Jahrgang       vornehmlich als soziales Instrument erfunden                 in dieser Situation durchaus möglich, trotz physi-
1974) ist Verhaltens-
                        haben, um unsere Beziehungen effizienter pflegen             scher Distanz unsere Sozialkontakte zu pflegen. Im
biologin und forscht
                        zu können. Dafür spricht auch die Tatsache, dass der         Vergleich mit der letzten großen Pandemie, der
und lehrt seit 2001
an der Fakultät für     Großteil unserer Unterhaltungen sich um soziale              Spanischen Grippe, stehen uns heute viel mehr
Lebenswissenschaften    Inhalte dreht. Allerdings ist die Sprache nicht so           Möglichkeiten zur Verfügung, um unsere sozialen
der Universität Wien.   effektiv wie das gegenseitige Berühren, da wir               Bedürfnisse zu befriedigen. War man damals darauf

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reduziert, Briefe zu schreiben, erlebten im Frühjahr        verfasst und die fehlende Sorgfalt führt dazu, dass
               2020 Videotelefonieplattformen den finalen Durch-           wir ungenau kommunizieren.
               bruch. Selbst technophobe und innovationsscheue                    Bei einem Telefonat kommt immerhin die
               Menschen näherten sich dieser Kommunikations-               sprachbegleitende Information hinzu. Die Intonation
               form an, weil sie klassischen Distanzkommunika-             dient dazu, Doppeldeutigkeiten zu klären, und kann
               tionsmitteln in einer Hinsicht massiv überlegen ist:        die Bedeutung des Gesagten massiv verändern. Ein
               Hier sind zumindest Teile der nichtsprachlichen             Lächeln ist auch am Telefon hörbar, genauso wie
               Kommunikationskanäle auch involviert.                       die gerunzelte Stirn. Wenn wir unser Gegenüber
                                                                           obendrein auch noch sehen können, wird die Kom-
                                                                           munikation um nichtsprachliche Signale erweitert.
   Textnachrichten und Emails                                              Das reduziert nicht nur Missverständnisse, es erhöht
                                                                           auch die Effizienz einer Besprechung. Wenn man
        sind besonders anfällig                                            Zustimmung nicht dadurch äußern muss, dass alle
                                                                           Beteiligten nacheinander verbal ja sagen, sondern
      dafür, Missverständnisse                                             sie gleichzeitig durch einen nach oben deutenden
                hervorzurufen.                                             Daumen die gleiche Botschaft schicken können,
                                                                           erleichtert dies das Gespräch immens.

                       Bei Briefen, Emails und Textnachrichten ist         Eine Videokonferenz jagt die andere
               man auf das rein Sprachliche reduziert. Diese Form          Durch das Erschließen zusätzlicher Kommunika-
               der Kommunikation gibt keinen Raum für die Einfär-          tionskanäle kann parallel kommuniziert werden, es
               bung des Geschriebenen durch sprachbegleitende              kann also nichtsprachliches Feedback dafür sorgen,
               und nichtsprachliche Signale. Die Einführung von            dass die Sprecherinnen und Sprecher gleich wissen,
               Emojis sollte den Bedarf nach leicht verständlichen         wenn sie nicht verstanden wurden, oder ob die an-
               Indikatoren decken, die für die Einordnung von              deren etwas ergänzen möchten. Freilich empfinden
               Aussagen unverzichtbar sind. Dennoch sind speziell          viele gerade im beruflichen Kontext das Teilen des
               Textnachrichten und Emails besonders anfällig               Videos bei Besprechungen als Eindringen in ihre
               dafür, Missverständnisse hervorzurufen. Anders              Privatsphäre, besonders wenn sie gerade im Home
               als Briefe werden diese Textformen eher schnell             Office sitzen. Da aber die Vorteile durch die Erweite-

Der Homo urbanus und seine Prägung
Arbeitsschwerpunkte von Elisabeth        2015 ist sie die wissenschaftliche           biologischen Wurzeln unseres Verhal-
Oberzaucher sind Mensch-Umwelt-          Leiterin des Vereins Urban Human, im         tens und zeigt die Herausforderungen
Interaktionen, Kommunikation sowie       gleichen Jahr erhielt sie gemeinsam          des modernen Großstadtlebens auf.
Attraktivität und Partnerwahl. Seit      mit Karl Grammer den als „alternati-                Unsere heutige urbane Lebens-
                                         ven Nobelpreis“ bezeichneten und             weise unterscheidet sich teilweise
                                         in der Wissenschaft renommierten             massiv von den Bedingungen, auf
                                         Ig-Nobelpreis für eine Studie, in der        die wir im Laufe unserer Evolutions-
                                         sie erforschte, wie viele Kinder ein         geschichte biologische Antworten
                                         Mann zeugen kann. Darüber hinaus             gefunden haben. Wie verhalten sich
                                         ist Oberzaucher Mitglied des Wissen-         Menschen in Städten? Wie müssen
                                         schaftskabaretts Science Busters.            Städte beschaffen sein, damit Men-
                                                                                      schen sich dort wohl fühlen? In einem
                                         Dem menschlichen Verhalten auf               tiefen Verständnis der menschlichen
                                         der Spur                                     Natur verankerte Lösungsvorschläge
                                         In ihrem aktuellen Buch „Homo                bieten praktische Ansätze für Architek-
                                         urbanus“ (Springer Verlag, März 2017)        ten, Stadtplaner und Privatpersonen.
                                         begibt sich Elisabeth Oberzaucher auf
                                         eine spannende Spurensuche nach              www.oberzaucher.eu
                                         den evolutionären Rahmenbedingun-
                                         gen, die unsere physische und soziale
                                         Umwelt geprägt haben. Sie erklärt die

                                                                      20
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