Nachhaltige Werkstoffe - Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
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01 2018 Nachhaltige Werkstoffe Sie machen E-Autos leichter: Faserverbundmaterialien Schnellere Ladezeit: Wie Politischer Protest: Welchen Transkulturelles Konzept: Wie funktionieren umweltfreundliche Einfluss haben Medienbilder erweitert Forschung im Team den Batterien? > Seite 20 auf Emotionen? > Seite 32 eigenen Blickwinkel? > Seite 40
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01 2018 Inhalt Forschung Molekularer Klebstoff 4 Eine neuartige chemische Beschichtung erhöht die Stabilität von Faserverbundmaterialien Schriftdenkmal der Erinnerung 8 Die Edition von rund 5.000 Quellen in 16 Bänden gibt Einblick in die Verfolgung und Ermordung europäischer Juden Gedacht, getan 12 Wie Mensch-Maschine-Schnittstellen traditionelle Konzepte des Handelns erschüttern Profit schlagen aus dem Niemandsland 16 Staaten und Unternehmen wollen an genetischen Ressourcen der Tiefsee verdienen – wie verträgt sich das mit dem Völkerrecht? Umweltfreundliche Batterien 20 Keine Schwermetalle, schnellere Ladezeit, längere Haltbarkeit: Eine Freiburger Chemikerin entwickelt neuartige Akkus Antiker Neubau 24 Ein römisches Streifenhaus als lebendiger Ort der Geschichtsvermittlung Berechenbare Fließwege 28 Dank der Software eines Freiburger Start-ups lässt sich das Verhalten von Flüssigkeiten bis zum letzten Tropfen simulieren Das Bild im Fokus 32 Eine Studie untersucht, wie sich Medienbilder auf die Bereitschaft zum politischen Protest auswirken Das ATLAS-Phantom 36 Zwei Freiburger Physiker suchen nach dem Teilchen, aus dem Dunkle Materie besteht Lehre Besser nicht allein im Feld 40 Transkulturelle Teams in der Ethnologie bereiten Studierende auf Kooperation in der Arbeitswelt vor Seminarrückblick mit rotem Faden 44 Anhand von E-Portfolios können Lehrende die Reflexions- kompetenzen ihrer Studierenden bewerten Die erstaunliche Konferenz 48 Eine Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus eröffnet Studierenden der Germanistik neue Zugänge zu Texten
4 Molekularer Klebstoff Eine neuartige chemische Beschichtung erhöht die Stabilität von Faserverbundmaterialien von Nicolas Scherger P rothesen, Tennisschläger, Autos, Windräder: Bei vielen Produkten, die leicht und zugleich stabil sein sollen, geht der Trend hin zu Faser- Physik von Grenzflächen am Institut für Mikro- systemtechnik (IMTEK) der Universität Freiburg. Kooperationspartner ist die Arbeitsgruppe von verbundmaterialien. Diese bestehen aus einem Privatdozent Dr. Jörg Hohe am Fraunhofer-Institut Kunststoff, der so genannten Matrix, und be- für Werkstoffmechanik (IWM). Das Team will einen sonders festen Fasern, etwa aus Kohlenstoff, stabileren Verbund erreichen und die Nachhaltig- Zellulose oder Glas. Die Matrix umhüllt die Fasern, keit der eingesetzten Materialien verbessern. wodurch ein robustes Verbundmaterial entsteht. Doch die Grenzfläche zwischen den beiden Kom- ponenten stellt eine Schwachstelle dar, an der das „Leichtere Fahrzeuge haben eine Material am ehesten bricht, wenn es über die Belastungsgrenze hinaus beansprucht wird. Ein deutlich höhere Reichweite“ Projekt am „Leistungszentrum Nachhaltigkeit“, das von der Albert-Ludwigs-Universität und den fünf Freiburger Fraunhofer-Instituten gemeinsam ge- Ob im Windradflügel, der Böen standhalten startet wurde, will Abhilfe schaffen: mithilfe einer muss, im Fahrradrahmen, der Erschütterungen neuartigen chemischen Beschichtung, entwickelt auf unebenen Wegen ausgesetzt ist, oder im von Jürgen Rühe, Professor für die Chemie und Tennisschläger, der gegen den Ball drischt: Wirkt
uni wissen 01 2018 5 Vielseitig einsetzbar: Faserverbundmaterialien sind leichte und zugleich feste Werkstoffe, die sich für eine breite Produktpalette eignen. Fotos: tiero/Fotolia, Michael Rosskothen/Fotolia, pattilabelle/Fotolia, Montage: Jürgen Oschwald eine große Kraft auf ein Material, kann sie darin besteht aus Kunststoffmolekülen mit reaktions- mikroskopisch kleine Risse hervorrufen. Diese freudigen Gruppen, die an das erste andere Risse können sich bei weiterer Belastung immer Molekül, auf das sie treffen, chemisch binden – weiter entwickeln, sodass das Material schließ- allerdings erst, nachdem sie mittels Wärme oder lich zerbricht. Um dies zu vermeiden, lassen sich Licht aktiviert wurden. Also braucht es drei Kunststoffe mit hochfesten Fasern verstärken. Schritte: „Wir überziehen die Fasern mit der Be- Trifft nun ein Riss auf eine derartige stabile, in schichtung, umhüllen sie dann mit Kunststoff und den Kunststoff eingebettete Faser, wird die Kraft aktivieren schließlich die reaktionsfreudigen quer zur ursprünglichen Richtung abgelenkt und Gruppen“, erklärt Rühe. Das Resultat ist die auf ein größeres Volumen verteilt. „Die Energie, vollkommene Vernetzung: Die aktivierten die in den Werkstoff hineinkommt, verteilt sich, Gruppen gehen chemische Bindungen mit die Kraft an der Spitze des Risses wird Molekülen innerhalb der Beschichtung, an der schwächer, ein Bruch wird verhindert“, erklärt Faserober fläche und an der Matrixoberfläche ein. Rühe. Die Fasern, die dies bewirken, haben nur „Die Faser bekommt eine Art Tarnkappe – die Be- einen Durchmesser von etwa zehn Mikrometern, schichtung sieht für den Kunststoff genauso aus was einem Zehntel eines menschlichen Haares wie der Kunststoff selbst, und die Bindungen entspricht. Bei Kurzfasermaterialien liegen viele zwischen beiden sind genauso stabil wie die- einzelne Fasern von etwa 200 Mikrometer Länge jenigen innerhalb der Matrix.“ kreuz und quer im Kunststoff. „Eine solche Anordnung ist sinnvoll, wenn die Kraft, die auf das Das neuartige Verfahren hat einen weiteren Material einwirkt, aus verschiedenen Richtungen Vorteil: Wird ein schmelzbarer oder löslicher kommen kann“, sagt Rühe. Ist die Kraftrichtung Kunststoff verwendet, ist es möglich, ihn wieder dagegen mehr oder weniger konstant, eignen sich sauber von den Fasern zu trennen und diese zu Langfasermaterialien: In ihnen können die Fasern recyceln. Die nächste Beschichtung wird dann mehrere Zentimeter lang sein, zu einer Matte ge- einfach über die alte aufgetragen und vernetzt fl ochten und senkrecht zur Belastungsrichtung sich mit dieser wiederum über chemische angeordnet werden. Bindungen. „Das ist ein bisschen wie bei Bohnerwachs, das man aufträgt, wenn Parkett Dennoch bleibt eine Schwachstelle: Bei her- stumpf geworden ist: Die Schicht wächst zwar im kömmlichen Faserverbundwerkstoffen umschließt Laufe der Zeit an, aber da sie bei unseren Fasern der Kunststoff die Fasern, und die beiden Materia- molekular dünn ist, spielt das im Verhältnis zur lien haften nur durch physikalische Wechsel- Gesamtabmessung der Faser keine Rolle.“ Die wirkung aneinander. Daher bietet die Grenzfläche Faser kann anschließend in eine neue Matrix zwischen ihnen, also ausgerechnet die Stelle, an eingebettet werden, wohingegen sich der ab- der bei Materialbelastung die eingehende Kraft gelöste Kunststoff wieder neu verarbeiten lässt. umgelenkt wird, einen Angriffspunkt für Brüche. Das Ziel bestehe also darin, die Haftfestigkeit Um herauszufi nden, welche Kombinationen zu erhöhen, betont Rühe: „Wir haben dafür einen von Fasern, Kunststoffen und Beschichtungen die molekularen Klebstoff entwickelt, der eine leistungsfähigsten Werkstoffe hervorbringen, chemische Bindung von der Faser zur Matrix be- kooperiert Rühe mit dem Freiburger Fraunhofer- wirkt.“ Um diese Art von Bindung aufzubrechen, Institut für Werkstoffmechanik. Dort untersucht ist wesentlich mehr Kraft nötig – der Verbundwerk- ein Team zunächst die Eigenschaften von stoff kann Belastungen besser standhalten. einzelnen beschichteten Fasern – etwa, wie gleichmäßig die Beschichtung aufgetragen ist Vollkommene Vernetzung und wie gut sie haftet. Dann folgen Experimente an einzelnen Fasern, bei denen die Matrix durch Rühes Klebstoffbeschichtung ist nur etwa zehn einen einzigen Kunststofftropfen dargestellt wird. Nanometer dick, was etwa einem Zehntausendstel Die Forscherinnen und Forscher wollen dadurch eines menschlichen Haares entspricht. Sie beispielsweise klären: Wann kommt es zum
6 Geringeres Gewicht durch neue Kombinationen von Fasern, Kunststoffen und Beschichtungen: Dadurch sparen Flugzeuge Treibstoff und Elektroautos erhöhen ihre Reichweite. Foto: tiero/Fotolia, aapsky/Fotolia, Michael Flippo/Fotolia Bruch, wenn Kräfte auf den Tropfen einwirken, herzustellen – eine aus Eisen wiegt zehnmal so und wie sieht die Bruchfläche aus? Drittens stellt viel.“ Auch für die Stromerzeugung können die das Team Proben der Verbundwerkstoffe, die viele Materialien eine wichtige Rolle spielen: Je leichter Fasern enthalten, her und beobachtet, wie sich die der Flügel eines Windrads ist, desto höher fällt die Materialien bei Belastung verhalten. „So sehen wir Energieernte aus, weil weniger Wind nötig ist, um auf unterschiedlichen Ebenen, an welchen Stellen es anzutreiben. wir ansetzen müssen, um die Performance des Werkstoffs zu verbessern“, fasst Rühe zusammen. „Die Faser bekommt Erste Kombinationen, die eine hohe Leistungs- fähigkeit ermöglichen, sind bereits identifiziert und eine Art Tarnkappe“ reif für die Anwendung. Nachhaltige Werkstoffe Die neuartige Beschichtung sei allerdings nicht nur für Faserverbundwerkstoffe geeignet, betont Die Faserverbundwerkstoffe aus dem For- Rühe. „Wir wollen ein chemisches Werkzeug be- schungs projekt sind damit unter mehreren Ge- reitstellen, das vielfältige Materialien miteinander sichtspunkten nachhaltig: Sie lassen sich recyceln, verbinden kann.“ Gleichzeitig freut er sich über die ermöglichen aufgrund ihrer verbesserten Eigen- Chance, den molekularen Klebstoff im Leichtbau schaften, die gewünschte Leistungsfähigkeit eines einzusetzen und somit nachhaltigere Produkte Produkts mit geringerem Materialeinsatz zu zu ermöglichen: „Es ist diese Anwendungs- er zielen – und wenn sie dazu beitragen, das perspektive, die unsere Zusammenarbeit mit den Gewicht von Autos oder Flugzeugen zu reduzieren, Kolleginnen und Kollegen des Fraunhofer-Instituts helfen sie, Treibstoff zu sparen. Besonders interes- im ‚Leistungszentrum Nachhaltigkeit‘ so attraktiv sant sind die Werkstoffe im Hinblick auf die macht.“ Elektromobilität, sagt Rühe: „Leichtere Fahrzeuge haben eine deutlich höhere Reichweite. Es wäre beispielsweise ein großer Schritt, die Achse w w w. l e i s t u n g s ze n t r u m - n a c h h a l t i g k e i t . d e / eines Autos aus einem Faserverbundwerkstoff pilotprojekte/leichtbau
uni wissen 01 2018 7 Prof. Dr. Jürgen Rühe hat Chemie in Münster und Mainz studiert und wurde 1989 an der Universität Mainz mit einer Arbeit über elektrisch leitende Polymere promoviert. Anschließend befasste er sich bei IBM in San José/USA mit ultra- dünnen Beschichtungen. 1991 begann er mit seiner Forschung an Polymerober- flächen – zunächst an der Universität Bayreuth, an der er 1995 habilitiert wurde, und später am Max-Planck- Institut für Polymerforschung in Mainz. Seit 1999 ist Rühe Professor für die Chemie und Physik von Grenz- Bruchstelle eines langfaserverstärkten flächen am Institut für Mikro- Kunststoffs: Die Forscher beobachten systemtechnik (IMTEK) der bei Experimenten, wie sich die Verbund- Universität Freiburg. Zudem materialien bei Belastung verhalten. war er einer der Gründungs- Foto: Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik direktoren des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) und von 2006 bis 2014 Prorektor für Internationalisierung und Technologietransfer der Albert- Ludwigs- Zum Weiterlesen Universität. Foto: Klaus Polkowski Prucker, O./Brandstetter, T./Rühe, J. (2018): Surface-attached hydrogel coatings via C,H-insertion crosslinking for biomedical and bioanalytical applications (Review). In: Biointerphases 2018, 13, 010801. doi: 10.1116/1.4999786 https://avs.scitation.org/doi/10.1116/1.4999786 Kotrade, P./Rühe, J. (2017): Malonic acid diazo esters for C,H - insertion crosslinking (CHic) reactions: A versatile and powerful tool forthe generation of tailor made surfaces. In: Angewandte Chemie Intl. Ed. 2017, 56, 14405–14410. doi: 10.1002/ anie.201704486 https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1002/anie.201704486 AVK – Industrievereinigung Verstärkte Kunststoffe (Hrsg.)(2014): Handbuch Faserver- bundkunststoffe/Composites. Grundlagen, Verarbeitung, Anwendungen. Wiesbaden.
8 Schriftdenkmal der Erinnerung Die Edition von rund 5.000 Quellen in 16 Bänden gibt Einblick in die Verfolgung und Ermordung europäischer Juden von Eva Opitz Rund 5.000 bisher unveröffentlichte Quellen zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden sind nun zugänglich: So auch dieser Bericht des Kampf- kommandos der jüdischen Aufständischen über den Beginn des Aufstands vom 19. April 1943 – zuerst im Original handschriftlich, dann in gedruckter Form. Foto: AZIN/Warschau, VEJ, Bd. 9, Dok. 227
uni wissen 01 2018 9 „Wir wollen keine Erinnerungsliteratur, damit der Charakter der Authentizität gewahrt bleibt“ W as mit den Worten „Liebe Rosa, liebe auch wenn der Zugang zu den Archiven in Ost- Kinder und kleine Inga“ beginnt, könnte ein europa teilweise einfacher geworden sei. Postkartengruß an die Familie sein, wenn es die Daraufhin fand sich ein Kreis von acht Heraus- grausame Geschichte des Holocaust nicht geberinnen und Herausgebern zusammen. anders entschieden hätte. Auf die liebevolle An- „Diese Arbeit hat mit einer normalen Herausge- rede folgt die Schilderung der abenteuerlichen berschaft wenig zu tun“, sagt Herbert. Er und die Flucht des Vaters Marc Lester am 16. Oktober anderen Herausgeber seien stark an der Projekt- 1943 vor der Gestapo nach Schweden. Der arbeit beteiligt. Finanziell gefördert wird die persönliche Brief ist Teil einer 16-bändigen Edition von der Deutschen Forschungsgemein- Quellensammlung zur „Verfolgung und Ermor- schaft (DFG), und herausgegeben wird sie im dung der europäischen Juden durch das Auftrag des Bundesarchivs, des Instituts für Zeit- Nationalsozialistische Deutschland 1933–1945“ geschichte und des Lehrstuhls für Neuere und (VEJ). Jeder Band umfasst an die 300 Quellen, Neueste Geschichte der Universität Freiburg. die meisten davon bislang unveröffentlicht: „Die VEJ ist zurzeit das größte geisteswissen- Briefe der Opfer, Berichte von Täterinnen und schaftliche Langzeitprojekt der DFG“, erklärt Tätern sowie Zeuginnen und Zeugen, Verordnun- Herbert. „2019 wird der letzte Band der deutschen gen, Befehle und Tagebücher. Mit der Edition ist Edition ausgeliefert.“ Die sich anschließende eine umfangreiche Archivarbeit verbunden, die Übersetzung aller Texte aus den Original- die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in mehr als sprachen ins Englische soll circa 2025 abge- 20 Länder führte. Bisher sind 11 der 16 Bände schlossen sein und erfolgt in Kooperation mit erschienen. Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem. Der Anstoß, diese Mammutaufgabe anzu- gehen, kam von Prof. Dr. Ulrich Herbert, Historiker Im ersten Band, der den Titel „Deutsches an der Albert-Ludwigs-Universität, und dem Reich 1933–1937“ trägt, legten die Herausgeber Berliner Geschichtswissenschaftler Dr. Götz Aly. die Editionsprinzipien fest. Sie klärten, welche „Die intensive empirische Erforschung des Dokumente aufgenommen werden sollten, und Massenmords an den Juden hat erst Ende der beschlossen, keine Quellen aus der Zeit nach 1980er Jahre eingesetzt“, sagt Herbert. Bis da- dem 8. Mai 1945 zu veröffentlichen. „Wir wollen hin hätten selbst gut Informierte Schwierigkeiten keine Erinnerungsliteratur, damit der Charakter gehabt, das ganze Ausmaß des europaweiten der Authentizität gewahrt bleibt“, erklärt Herbert. Mordens zu erkennen. So sei beispielsweise Entschieden werden musste zudem, wie viele kaum bekannt gewesen, dass der Anteil der Dokumente pro Land aufgenommen werden. deutschen Juden an den Mordopfern nur bei „Wir sind von der Zahl der Juden ausgegangen, etwa zwei Prozent lag. Für weitere Forschungen die vor Beginn der Verfolgung in dem jeweiligen bedurfte es einer breiten dokumentarischen Land gelebt haben“, so Herbert. Deshalb behan- Grundlage. Hier lag der Ansatz des Projekts. deln drei Bände die Massenmorde in der Sowjet- union und nur ein kleiner Teil eines Bandes die Kooperation mit Yad Vashem Situation in Dänemark. Die weit überwiegende Zahl der Texte, etwa 70 Prozent, wurden aus 22 Den Anfang der neuen Edition machte zu anderen Sprachen übersetzt. Beginn des Jahres 2000 zunächst eine Vorstudie, um abzuklären, ob die Aufgabe überhaupt zu Mühsame Quellensuche bewältigen wäre. „Wir dachten zuerst an drei oder vier Taschenbücher“, so der Wissenschaftler. Ein enormer Aufwand, so Herbert, sei be- Relativ schnell sei ihnen jedoch klar geworden, trieben worden, um die Quellen zu kommentieren dass eine gigantische Aufgabe vor ihnen lag, und die Biografien aller handelnden Personen,
10 Ein Stoßtrupp der deutschen Verbände kontrolliert im bren- nenden Warschauer Ghetto: Für jeden Toten gebe es ja einen Täter, betont der Historiker. Foto: IPN, Warschau „Viele dieser Dokumente sind kaum erträglich“ Forscher hielt sich fast zwei Jahre in Polen auf, um ein Archiv nach dem anderen aufzusuchen. Opfer wie Täter, so weit wie möglich zu recher- Er erstellte pro Band für etwa 500 Quellen eine chieren – insgesamt wohl mehr als 9000. Übersicht mit kurzen Inhaltsangaben, sodass die Dadurch träten die Personen aus der Anonymität Hausgeber rund 350 Texte auswählen konnten, heraus und erhielten ein Gesicht, ein Leben. Eine die ins Deutsche übersetzt werden sollten. weitere Festlegung betraf das Verhältnis von Davon flossen 300 nach einem weiteren Dokumenten von beziehungsweise zu Tätern, Prüfungs prozess in den Band ein. „Wir wollen Opfern und „Dritten“, also Zuschauerinnen und alle wichtigen Quellen berücksichtigen und da- Zuschauern, ausländischen Berichterstatterinnen bei den Anteil der bisher nicht veröffentlichten und Berichterstattern oder internationalen Institu- Texte hoch halten“, sagt Herbert. Im Durchschnitt tionen. Ein Verhältnis von 1:1:1 habe sich als seien etwa 70 Prozent der Quellen bisher nicht nicht darstellbar herausgestellt, sodass eher eine publiziert worden. Bei dem Projekt gehe es Relation von 2:2:1 entstanden sei. Zudem sei die jedoch nicht darum, eine bestimmte Forschungs- Suche nach Texten gelegentlich mühselig ge- lücke zu schließen oder eine These zu verfolgen, wesen. „In Albanien zum Beispiel war es sehr betont der Historiker. Die Bände lieferten viel- schwer, Quellen aus dem Bereich der Opfer zu mehr Grundlagen und Anregungen für weitere fi nden“, sagt der Historiker. Insgesamt aber seien Forschungen. die europäischen Archive voll von direkten und indirekten Zeugnissen des Judenmords. Erinnerung an die Getöteten Für die Arbeit an den einzelnen Bänden waren „Viele dieser Dokumente sind kaum erträglich“, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verant- sagt Herbert – etwa der Bericht einer Ärztin über wortlich, die bereits zu diesen Ländern geforscht das Leben im Getto Minsk und die Morde an den hatten und die jeweilige Sprache beherrschten. Gettobewohnern oder die hastig geschriebenen Der für die Bände über Polen zuständige und in Ritzen der Güterwaggons versteckten
uni wissen 01 2018 11 Zettel, auf denen nichts anderes gestanden habe Erinnerung an die Millionen Getöteten und eine als „Wir sind im Zug und wissen nicht wohin“. Die Hilfe zum Verständnis ihres Schicksals. Herausgeber, so Herbert, würden alle schon Profitieren von dem Projekt sollen Lehrende lange über den Judenmord arbeiten. „Ange- und Lernende an Universitäten und Schulen so- sichts der Dokumente herrschte trotzdem oft wie interessierte Laien. Jeder der bis zu 800 nichts als Schweigen.“ Die Quellen zeigen auf Seiten dicken Bände beginnt mit einer aus- drastische Weise, dass weit mehr als die Hälfte führlichen Einführung von rund 100 Seiten in Prof. Dr. Ulrich Herbert der sechs Millionen ermordeten Juden eben die Geschichte des jeweiligen Landes und hat Geschichte, Germanis- nicht in abgeschirmten Vernichtungslagern, sondern seiner jüdischen Bevölkerung bis zur Ver- tik und Volkskunde an der auf herkömmliche Weise durch Erschlagen, folgung und zum Massenmord. Die Quellen Universität Freiburg stu- Erschießen, Erwürgen, Ertränken, Ersticken selbst sind rein chronologisch geordnet. „Liest diert. 1985 schloss er seine oder Aufhängen ums Leben gekommen sind. Mit man die Dokumente tatsächlich hintereinander Promotion an der Universi- dem Holocaust verbunden ist außerdem der – den Befehl eines deutschen Polizeioffiziers, tät Essen ab. Seine Habili- tation beschäftigte sich mit größte Kindermord der Weltgeschichte: Rund den Protest des örtlichen Judenrats, den Werner Best, dem führen- zwei Millionen Kinder fielen den Nazi verbrechern zynischen Zeitungsartikel eines deutschen den Ideologen und Organi- zum Opfer. Für jeden Toten gebe es ja einen Journalisten, die Tagebuchnotiz eines jüdischen sator der Gestapo. Bis Täter, betont Herbert. Das Ausmaß der Be- Mädchens, den Report über die Deportation 1995 war Herbert Direktor teiligung an diesen Morden werde in den Quellen von 500 Juden ins Vernichtungs lager –, wird der Forschungsstelle für geradezu schmerzhaft sichtbar. einem das mörderische Geschehen in seinem die Geschichte des Natio- Ablauf erst bewusst.“ nalsozialismus in Hamburg, Das Ergebnis dieser Arbeit sei einerseits ein danach nahm er eine geschichtswissenschaftliches Grundlagenwerk, Professur am Historischen zugleich aber auch eine Art „Schriftdenkmal“ www.edition-judenverfolgung.de Seminar der Universität Freiburg für den Bereich – kein Denkmal auf einem Sockel, sondern eine www.die-quellen-sprechen.de Neuere und Neueste Ge- schichte an. 1999 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsge- meinschaft. Ab 2001 war er sechs Jahre lang Mitglied des Wissenschaftsrats und von 2007 bis 2013 Direktor der School of History des Freiburg Institute for Advanced Studies. Foto: Thomas Kunz Zum Weiterlesen Herbert, U. (2016): Das Dritte Reich. Geschichte einer Diktatur. München. Das Editionsprojekt ist zurzeit das größte Herbert, U. (2014): Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München. geisteswissenschaftliche Langzeitprojekt der DFG: Bisher sind 11 der 16 Bände Herbert, U. (2001): Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. erschienen. Foto: privat Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. München.
12 t a n ht , ge da c Ge Im menschlichen Gehirn entstehen komplexe Entscheidungen und Absichten, die das Handeln bestimmen. Kann ein Computer solche Intentionen aus dem menschlichen Gehirn auslesen und in eine bestimmte Aktion übersetzen? Foto: Mathilde Bessert-Nettelbeck, Zeichnung: Jürgen Oschwald Wie Mensch-Maschine-Schnittstellen traditionelle Konzepte des Handelns erschüttern von Sonja Seidel
uni wissen 01 2018 13 D as menschliche Gehirn ist ein Workaholic. Es besitzt 86 Milliarden Nervenzellen, die ununterbrochen damit beschäftigt sind, Signale die empfangenen Impulse in eine bestimmte Bewegung und übermittelt die Daten an die Prothese. Bisher lassen sich mit den Signalen, zu senden und zu verarbeiten. Die Neuronen die die Elektroden aufzeichnen, einfache Ab läufe regeln nicht nur Atmung und Herzschlag und nachahmen: In Experimenten greift der Roboter- steuern unsere Bewegungen, sondern lösen arm eine Flasche, schenkt daraus Orangensaft auch die kleinen und großen Probleme des in ein Glas und führt es an den Mund der Alltags: Kaffee oder Tee? Fahrrad oder U-Bahn? Probandin oder des Probanden. Um zu er- Zur Miete wohnen oder ein Haus kaufen? Das reichen, dass die Prothesen präziser agieren, menschliche Handeln ist mitunter von komple- bauen die Forschenden zunehmend auf das xen Entscheidungen bestimmt, denen bestimm- maschinelle Lernen. Sie setzen einen Algorithmus te Absichten zugrunde liegen. Lassen sich ein, der eigenständig spezifische Muster in den solche Intentionen aus dem Feuer neuronaler verzeichneten Hirnströmen erkennt, indem er auf Aktivität herausfiltern? Kann ein Computer sie eine riesige Menge an Rohdaten und Mess- aus dem menschlichen Gehirn auslesen und in ergebnissen zurückgreift. eine bestimmte Aktion übersetzen? Zugriff aufs Gehirn Mit Fragen wie diesen beschäftigen sich Prof. Dr. Oliver Müller und der Doktorand Boris Eßmann Ein Computer, der Zugriff auf das Gehirn hat. vom Philosophischen Seminar der Universität Eine metallene Prothese, die Handlungen ausführt, Freiburg. Was passiert, wenn Mensch und die der Mensch nur gedacht hat: Das wirft philoso- Maschine eins werden, untersuchen sie in ihrem phische Fragen auf, die auch die Forschenden von Projekt „Hybridity, Personhood, Agency: Ethical BrainLinks-BrainTools beschäftigen. „Die Neuro- Foundations of Neurotechnological Closed-Loop wissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler Interactions“, mit dem sie die Forschung am des Clusters sind bei ihrer Arbeit selbst auf phi- Exzellenzcluster BrainLinks-BrainTools begleiten. losophische Fragen gestoßen und wollten mit Dort arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissen- uns ins Gespräch kommen“, sagt Müller. Für ihn schaftler aus Robotik, Neurowissenschaft und und seinen Kollegen Eßmann geht es zunächst Mikrosystemtechnik an so genannten Mensch- einmal um den Begriff „Intention“: Diese sollen Maschine-Schnittstellen. „Unsere Aufgabe ist es, die intelligenten Algorithmen aus den Daten her- die technischen Entwicklungen während ihrer ausfiltern. „Wir hatten das Gefühl, dass der Entstehung zu reflektieren“, erläutert Müller die Terminus in der Neurowissenschaft nah am all- Zusammenarbeit. Dabei wagen die beiden täglichen Sprachgebrauch verwendet wird. Und Philosophen einen Blick in die Zukunft. wir dachten, dass es helfen könnte, wenn wir die Bedeutungsdifferenzierungen, die wir in der Philosophie haben, in die interdisziplinäre „Wenn wir nicht wissen, wie genau Reflexion einspeisen“, sagt Müller. Orientierung bietet dabei die so genannte Handlungstheorie, die neuronale Aktivität mit der die zu erklären versucht, was eine Intention aus- Intention zusammenhängt, kommen macht. „Da ist zum Beispiel die Frage, wie genau die Intention die Handlung auslöst. Es wird Verantwortlichkeiten durcheinander“ diskutiert, ob ein Kausalverhältnis besteht, das heißt, es gibt eine Intention, und gemäß einer Art von Naturgesetz folgt daraus eine Handlung. Diese klingt zunächst einmal vielversprechend: Doch wir dürfen bezweifeln, dass das Verhältnis Wissenschaftler arbeiten bei BrainLinks-BrainTools von Intention und Handlung sich auf das von an so genannten Neuroprothesen, also beispiel- Ursache und Wirkung reduzieren lässt.“ sweise Roboterarmen, die gelähmten Patientin- nen und Patienten im Alltag helfen könnten. Die In der Philosophie fasst man unter den Begriff Grundlage dafür sind Messungen der Gehirnak- „Intention“ eine ganze Reihe von Gedanken, also tivität, die mithilfe von Elektroden vorgenommen nicht nur solche, die eine konkrete Handlung werden. Die Elektroden sind als Haube auf der auslösen, sondern auch langfristige Pläne. „Im Kopfoberfläche angebracht, wo sie die Aktivität Gehirn gibt es Aktivitäten, die anzeigen, dass des Gehirns messen. Ein Computer übersetzt bald eine Bewegung ausgeführt wird. In der
14 durcheinander“, sagt Müller. In dem Auslese- und Übertragungsprozess kann das Gehirn, die Maschine oder der Mensch der Akteur sein. „Es wird also immer unklarer werden, ob ich das bin, der den Arm bewegt, oder ob der Roboter ihn für mich bewegt.“ Diese Überlegungen haben auch eine strafrechtliche Dimension, im Falle, dass ein anderer Mensch bei einer Handlung der Prothese verletzt wird. Denn dann stellt sich die Frage, wer dafür belangt werden kann. Bleibt der Mensch er selbst? Weitreichende Folgen zeichnen sich außer- dem für die Identität des Menschen ab, ganz besonders dann, wenn der Eingriff ins Gehirn Neuroprothesen sollen gelähmten Patientinnen und Patienten im noch unmittelbarer passiert. Ließen sich Daten Alltag helfen. Foto: LifeHand2Project nicht präziser auslesen, wenn die Elektroden direkt am Gehirn angebracht würden, genauer: in dem Teil, der Bewegungen steuert? In den USA wird dieses Verfahren für Neuroprothesen bereits erprobt. In Deutschland kommt eine Neurowissenschaft werden diese Aktivitäten ähnliche Technik bisher nur bei Patienten zum manchmal als neurophysiologischer Ausdruck Einsatz, die beispielsweise an Parkinson er- einer Intention interpretiert“, sagt Eßmann. „Aber krankt sind. Bei ihnen lesen die Elektroden keine nur weil eine Bewegung vorbereitet wird, heißt Daten aus, sondern geben Stromimpulse an das noch nicht, dass eine Intention im vollen bestimmte Hirnregionen ab. Dadurch lassen sich Sinne dafür verantwortlich sein muss oder dass Symptome der Krankheit wie das unkontrollier- genau diese Bewegung beabsichtigt ist. Aus bare Zittern unterdrücken. Müller und Eßmann philosophischer Sicht ist eine Intention daher haben für ihr Projekt Personen interviewt, die mit mehr als nur eine Bewegung.“ Man müsse viel der Technik der „Tiefen Hirnstimulation“ leben. mehr über die Wünsche, Überzeugungen und Deren Erfahrungen wollen sie in Erwartung Präferenzen einer Person wissen, um wirklich künftiger Entwicklungen der Neuroprothetik in eine Vorstellung davon zu haben, worin eine den Cluster einspeisen. „Identitätsfragen sind Intention besteht und welche Handlung daraus schwer zu artikulieren, und sie sind schon gar folgt. „Diese Unterscheidung von Absichten, also nicht von außen messbar“, erklärt Müller. „Dass kurzfristigen, die sich als Bewegung äußern, uns manche Patienten erzählen, dass ihr Umfeld mittelfristigen und langfristigen, die mit Plänen sie nach der Implantation als andere wahrnimmt, für die Zukunft zu tun haben, ist besonders zeigt uns, dass auch die soziale Dimension bei dann wichtig, wenn die Prothesen mithilfe des Identitätsfragen eine Rolle spielt.“ maschinellen Lernens selbst künftig beabsichtigte Handlungen erkennen sollen.“ Der Mensch bleibt der gleiche, solange er die neue Technik und die Veränderung, die sie an ihm hervorruft, in seine Lebensgeschichte „In der modernen Philosophie ist der Gedanke, integrieren kann, sagen so genannte narrative dass Körper und Geist klar voneinander unter- Theorien der Philosophie. Komplexere Konzepte wie die des amerikanischen Philosophen Shaun scheidbar sind, nicht mehr haltbar“ Gallagher versuchen die neuen Erfahrungen des Ichs in ein System zu integrieren. Gallaghers In diesem Fall stellt sich die Frage, wer ei- Annahme: Die Persönlichkeit besteht aus zwölf gentlich die oder der Handelnde ist: der Mensch verschiedenen Schichten oder „patterns“. So oder die Maschine? „Wenn wir nicht wissen, wie wie sich um die Knochen des menschlichen genau die neuronale Aktivität mit der Intention Körpers Muskelmasse, Fettgewebe und Haut zusammenhängt, kommen Verantwortlichkeiten schmiegen, besteht auch sein Selbst aus einem
uni wissen 01 2018 15 Kern, der beispielsweise von Überzeugungen, Kompetenzen und vom Verhalten umgeben ist. „Die neurowissenschaftliche Forschung hat selbst dazu beigetragen, dass traditionelle Konzepte von Identität inzwischen überholt sind. In der modernen Philosophie ist der Gedanke, dass der Mensch aus den zwei klar unterscheid- baren Komponenten Körper und Geist besteht, nicht mehr haltbar“, erklärt Eßmann. Die beiden Prof. Dr. Oliver Müller Boris Eßmann studierte Philosophie und studierte Philosophie, Kog- Forscher wollen die Kolleginnen und Kollegen Neuere deutsche Literatur nitionswissenschaft und anderer Fachrichtungen mit diesen neuen in Heidelberg, Hamburg, Biologische Anthropologie Theorien vertraut machen. „Offenbar sprechen Venedig/Italien und an der an der Universität Freiburg. die einzelnen Disziplinen, wenn es um Begriffe Humboldt-Universität zu Von 2009 bis 2013 arbeitete wie Intention und Identität geht, eine unter- Berlin, an der er 2005 er als Doktorand im Teilpro- schiedliche Sprache“, sagt Müller. Anfang 2019 promoviert wurde. Anschlie- jekt „Neuroethics & Neuro- könnte sich das ändern. Dann werden Müller ßend wechselte er an die technology: Emerging und Eßmann ein Kompendium veröffentlichen, Universität Freiburg, wo er questions from hybrid das zentrale Begriffe des Handelns aus sich 2012 für Philosophie brains“ des Bernstein Focus philosophischer Perspektive erläutert. habilitierte. Seine Habilitati- für Neurotechnologie in onsschrift „Selbst, Welt und Freiburg und Tübingen. Au- Technik. Eine anthropologi- ßerdem war er Mitarbeiter www.nexusexperiments.uni-freiburg.de sche, geistesgeschichtliche am Institut für Ethik und Ge- und ethische Untersuchung“ schichte der Medizin der wurde 2014 publiziert. 2017 Universität Freiburg und ab- übernahm Müller eine Hei- solvierte einen Forschungs- senberg-Professur am Phi- aufenthalt am Philosophy losophischen Seminar. Er Department der University beschäftigt sich mit der of Massachusetts in Boston/ Frage, wie sich das Auf- USA. Seit 2014 ist er Mitar- kommen und der Fortschritt beiter der Nachwuchsgrup- Je weiter die Pro- der modernen Technik auf pe „NPAC: A thesen entwickelt Individuen und Gesell- neuro-philo-action compen- schaften sowie auf deren dium“ am Exzellenzcluster sind, umso unklarer Verständnis von Wirklichkeit BrainLinks-BrainTools. wird es, ob der und Natur auswirken. Foto: Thomas Kunz Mensch den Arm Foto: Mathilde Bessert Nettelbeck bewegt, oder ob der Roboter ihn für den Menschen bewegt. Foto: LifeHand2Project Zum Weiterlesen Müller, O. (2018): Gehirn-Prothesen. Philosophische Überlegungen. In: Jürgen Straub und Alexandre Métraux (Hg.): Prothetische Transformationen des Menschen – Ersatz, Ergänzung, Erweiterung, Ersetzung. Bochum, S. 86-105. Müller, O./Rotter S. (2017): Neurotechnology: Current Developments and Ethical Issues. In: Front. Syst. Neurosci. 11:93. doi: 10.3389/fnsys.2017.00093 Horn,C./Lährer, G. (Hrsg.) (2010): Gründe und Zwecke: Texte zur aktuellen Handlungstheorie. Berlin.
16 Profit schlagen aus dem Niemandsland Staaten und Unternehmen wollen an genetischen Ressourcen der Tiefsee verdienen – wie verträgt sich das mit dem Völkerrecht? von Rimma Gerenstein Expedition auf Hoher See: Zu den Vorreitern des Bioprospecting gehören Deutschland, Japan und die USA. Foto: bygimmy/Fotolia
uni wissen 01 2018 17 E s gab eine Zeit, da drängten Entdecker in alle Himmelsrichtungen der Erde. Christoph Ko- lumbus landete mit seiner Flotte an einem Strand oder Cremes, die trockene, rissige Haut samt- weich pfl egen wollen: Das Marketing für Produk- te, die auf der DNA mariner Stoffe basieren, in Amerika, Vasco da Gama strandete in Indien, boomt. James Cook nahm Kurs auf Neuseeland und schipperte bis nach Australien, und David Li- Parzellen auf dem Meer vingstone durchquerte Afrika. Im Laufe der Jahr- hunderte wurden die weißen Flecken auf der Vöneky ist davon überzeugt, dass Bioprospec- Landkarte kleiner, verschwanden allmählich ganz ting in den nächsten Jahrzehnten weiterhin an und wichen neuen Namen für Länder, Wälder, Bedeutung gewinnen wird. Umso wichtiger sei es Wüsten, Gebirge und Gewässer. Man könnte jetzt, die Frage nach der Gerechtigkeit zu stellen: meinen, die Aufteilung der Welt unter den Staa- Bisher können es sich nur einige Staaten – zu ten, ob gerecht oder ungerecht, sei inzwischen den Vorreitern zählen Deutschland, Japan und geregelt. Weit gefehlt: Etwa 40 Prozent der Welt- die USA – leisten, genetische Ressourcen aus meere gehören juristisch gesehen keinem Staat dem Meeresboden zu extrahieren, zu erforschen und sind auch nicht okkupierbar. Die „hohe See“, und kommerziell nutzbar zu machen. Ist das fair? auch „Hochsee“ genannt, umfasst alle Teile der Oder sollten auch Entwicklungsländer, vor deren globalen Meeresfl äche, die nicht unter die Juris- Küsten die Expeditionen meistens stattfinden, ein diktion von Nationalstaaten fallen. Dieses Gebiet Stück vom Kuchen abbekommen? „Das be- gehört allen. „Res communis omnium“ nennen stehende Seevölkerrecht sieht bislang keine das die Juristinnen und Juristen. Trotzdem wol- Regelung dafür vor, wie die Nutzung der geneti- len eine Handvoll Länder und dort ansässige Un- schen Ressourcen erfolgen soll“, resümiert ternehmen daraus Profi t schlagen. Das Interesse Vöneky. Wie im Wilden Westen gehe es auf der der modernen Entdecker scheint also nicht mehr Hochsee trotzdem nicht zu, betont die Rechts- der Weite, sondern der Tiefe zu gelten. Die tiefs- wissenschaftlerin. „Es gibt gute inter nationale te Stelle der Erde liegt 11.000 Meter unter den Verträge, die einen verbindlichen normativen Meeresspiegel. Rahmen setzen.“ Dieses so genannte Bioprospecting – kurz für „Wenn die neue Technik nicht „biological diversity prospecting“ – hat sich in den 1990er Jahren entwickelt. Es bezeichnet die mehr zum ‚alten‘ Recht passt, Erkundung unterschiedlicher pfl anzlicher oder muss es überprüft werden“ tierischer Organismen, genetischer Ressourcen – allerdings nicht vorrangig zu Forschungszwe- Der wichtigste Grundpfeiler ist das Seerechts- cken, präzisiert die Freiburger Völkerrechtsex- übereinkommen (SRÜ) der Vereinten Nationen, pertin Prof. Dr. Silja Vöneky: „Es ist die das seit 1994 in Kraft ist. Von 168 Staaten ratifi- systematische Erkundung und Sammlung geneti- ziert, regelt es auch den Schutz der Meeres- schen Materials sowie der Aufbereitung der darin umwelt und enthält Vorschriften zur marinen enthaltenen Informationen insbesondere zur Forschung sowie der Entwicklung und Weiter- kommerziellen Nutzung, etwa durch Unterneh- gabe der dafür notwendigen Technologien. Au- men der Pharmaindustrie.“ Bald schon könnte ßerdem stellt das Abkommen klar, welche Bioprospecting lukrativ werden: Derzeit wird Gebiete unter die Hoheit von Nationalstaaten knapp die Hälfte aller Medikamente aus Substan- fallen. Es teilt das Meer sozusagen in drei zen gewonnen, die in der Natur vorkommen. Parzellen mit drei Zonen ein: das Wasser, den Auch die Kosmetikindustrie zieht bei diesem Meeresboden und den Meeresuntergrund. Das Trend mit. Wie wirkungsvoll müssen dann erst Küstenmeer eines Landes erstreckt sich bis zu Substanzen aus Organismen sein, die in der maximal 12 Seemeilen von den Basislinien des dunklen, ultrakalten, unter hohem Druck stehen- Festlandes. Daran schließen sich die aus- den und äußerst unwirtlichen Tiefsee überleben schließliche Wirtschaftszone des jeweiligen können? Ob Tabletten, die von Krebs verursach- Staates mit maximal 200 Seemeilen und dessen te chronische Schmerzen zu lindern versprechen, Festlandsockel an. Vereinfacht gesagt, darf ein
18 uni wissen 01 2018 Das Seerechtsüberein- kommen der Vereinten Nationen stellt klar, welche Gebiete unter die Hoheit von National- staaten fallen. Es teilt das Meer in Zonen ein. Grafik: Svenja Kirsch Nationalstaat innerhalb dieser Grenzen über die mit verbindlichen Normen und nicht nur mit Emp- marinen g enetischen Ressourcen verfügen – fehlungen, die lediglich gute Absichten erkennen d anach beginnt die Hohe See. lassen. Bereits Ende 2017 hat ein UN-Komitee mit den Vorbereitungen zu möglichen Verhand- Das SRÜ wendet zudem ein Prinzip aus den lungen begonnen. Obwohl sich fast 170 Staaten 1960er Jahren an, das bisher für andere Grenz- mit dem SRÜ auf eine gemeinsame Grundlage gebiete, zum Beispiel den Weltraum, galt: berufen können, werden die Interessen weit aus- „Common heritage of mankind“ (CHM) ist ein einanderklaffen: „Es ist davon auszugehen, dass ethisches Prinzip des internationalen Rechts, die Entwicklungsländer auch im Hinblick auf Bio- das auf Teilhabe basiert. Bestimmte Orte und prospecting das Prinzip des gemeinsamen Er- Ressourcen, so die Argumentation, gelten als bes der Menschheit geltend machen möchten gemeinsames Erbe der Menschheit. Alle sollen – zumal es jetzt schon für die mineralischen Res- von ihnen profitieren – und zwar nicht nur von sourcen des Tiefseebergbaus gilt“, sagt Vöneky. ihrer Schönheit, sondern auch von ihrem wirt- Allerdings gebe es hierfür keine gesicherte schaftlichen Potenzial. Bis ins kleinste Detail rechtliche Basis. Schließlich seien genetische r egelt das Seerechtsübereinkommen in solchen Ressourcen nicht im selben Maße endlich und Fällen den finanziellen Ausgleich. erschöpfbar wie mineralische. Auf Kompromisskurs Die Industrie- und einige Schwellenländer hingegen würden sich am anderen Ende des Die Vereinten Nationen haben den Hand- Spektrums positionieren und die Anwendung lungsbedarf erkannt. „Wenn die neue Technik des CHM blockieren, vermutet die Forscherin. nicht mehr zum ‚alten‘ Recht passt, muss es Ihnen gehe es um die Freiheit auf Hohen See: überprüft und unter Umständen ergänzt werden“, „Unternehmen brauchen wirtschaftliche Anreize. erklärt Vöneky. Demnächst soll die Staatenge- Man darf also kein völkerrechtliches System ent- meinschaft über die juristische Grundlage des wickeln, das für die Industrieländer nicht attrak- Bioprospecting verhandeln – das Ziel einiger tiv ist und den Wettbewerb sowie jegliche Staaten ist ein neuer völkerrechtlicher Vertrag Investitionslust bremst.“ Vöneky nimmt an, dass
19 die Staaten sich auf eine Kompromisslinie eini- Die Verhandlungen in Sachen Bioprospecting gen, wenn es zu Verhandlungen kommt. Doch wird Vönkey, die seit 2017 Mitglied im völker- wie könnte ein Mittelweg aussehen? „Es ist vor- rechtlichen Beirat des deutschen Auswärtigen stellbar, dass zum Beispiel die Bioprospecting- Amts ist, ebenfalls begleiten. „Wir Wissenschaft- Vorreiter Forschungsergebnisse mit den lerinnen und Wissenschaftler tun das, was wir Entwicklungsländern teilen, was auch Letzteren am besten können: Wir schreiben Aufsätze, in eine wirtschaftliche Perspektive eröffnen würde.“ denen wir darlegen, warum bestimmte Regeln Ferner sei denkbar, den Patentschutz nicht voll- legitim oder nicht legitim sind.“ Ob ein Vertrag umfänglich zu verankern oder einen Teil der Ge- gerecht ist, sei eben nur die eine Frage. „Er Prof. Dr. Silja Vöneky winne den Entwicklungsländern zugutekommen muss auch mit dem übereinstimmen, was vorher hat seit 2010 die Professur zu lassen. „Natürlich werden das die Industrie- da war.“ Eine konsequente Weiterentwicklung für Völkerrecht, Rechtsver- und Schwellenländer nicht gerne hören“, sagt des Seevölkerrechts muss sich an den Pfeilern gleichung und Rechtsethik Vöneky. Möglicherweise müsse man sich auch orientieren, die die Staatengemeinschaft bereits am Institut für Öffentliches auf ganz neue Begriffe und Konzepte einigen. ordnen, und kann nicht einst getroffene Verein- Recht der Universität Frei- „Im Moment ist noch alles offen. Solche Vertrags- barungen missachten. „In diesem Sinne können burg inne. Sie studierte verhandlungen dauern meistens Jahrzehnte. Da- wir sagen, was aus Sicht der Rechtswissen- Rechtswissenschaft und von darf man sich nicht erschrecken lassen.“ schaft ‚wahr‘ oder ‚richtig‘ ist“, betont Vöneky. Rechtsphilosophie an den Wichtig ist aus Vönekys Sicht, dass die Verhand- „Wahrheit“ – das sei ein großes Wort, aber ihr Universitäten Freiburg, lungen überhaupt beginnen. Am Ende könne Wert sei unverrückbar. Bonn, Edinburgh und Hei- dann eine rechtliche Grundlage geschaffen wer- delberg. Nach ihrer Disser- den, die für die nächsten 50 oder 100 Jahre gel- tation, zum Schutz der te. Das sei, so die Freiburger Forscherin, den Umwelt in bewaffneten Verhandlungsmarathon wert. Konfl ikten, und Referend- arzeit begann sie ihre aka- Wahr und stimmig demische Laufbahn am Max-Planck-Institut für Silja Vöneky kennt sich bestens mit Diplo- ausländisches öffentliches matie aus. Seit 2001 ist sie Rechtsberaterin der Recht und Völkerrecht in deutschen Delegation bei den Antarktis- Heidelberg, wo sie zum Vertragsstaaten-Konferenzen und hat vier Jahre Thema „Recht, Moral und lang den Haftungsannex zum Umweltschutz- Ethik“ habilitierte. Von protokoll des Antarktis-Vertrags mitverhandelt. 2012 bis 2016 war sie Mit- 51 Staaten haben die Übereinkunft inzwischen glied des Deutschen Ethik- ratifiziert, und sie gilt als eine der innovativsten Chancengleichheit auf dem Mond: In den 1960er rats und leitete die des internationalen Umweltvölkerrechts. Auch Jahren verhandelten die Vereinten Nationen über die Arbeitsgruppe „Biosicher- dabei ging es um die Frage, wie man das Gebiet Frage, wer den Weltraum zu welchen Zwecken nutzen heit“. Seit 2001 berät sie vor Umweltschäden schützen und den Südpol für dürfe. 1967 wurde schließlich der Weltraumvertrag verschiedene Bundesmi- friedliche Forschung bewahren kann. geschlossen. Foto: NASA nisterien völkerrechtlich. 2017 wurde sie zudem in den völkerrechtlichen Bei- Zum Weiterlesen rat des Auswärtigen Amts berufen. Vönekys For- Vöneky, S. (2018): Bioprospecting – Marine genetische Ressourcen und das Seevölkerrecht schungsschwerpunkte lie- der Zukunft. In: Freiburger Informationspapiere zum Völkerrecht und Öffentlichen Recht gen im internationalen 7/2018. Abrufbar unter: www.jura.uni-freiburg.de/de/institute/ioeffr2/online-papers Recht und in der Recht- sethik. Vöneky, S./Höfelmeier, A./Beck, F. (2017): Commentary, Art. 136: Common Heritage of Foto: Deutscher Ethikrat Mankind, Art. 140: Benefit of Mankind, Art. 144: Transfer of Technology, Art. 148: Participa- tion of Developing States in Activities in the Area. In: Proelss, A. (Hrsg.) (2017): United Na- tions Convention on the Law of the Sea: A Commentary, S. 949–1052. Vöneky, S.: The Liability Annex to the Protocol on Environmental Protection to the Antarctic Treaty. In: König, D./Stoll, P.-T./Röben, V./Matz-Lück, N. (Hrsg.) (2008): International Law Today: New Challenges and the Need for Reform? Heidelberg, S. 165–197.
20 Interessante Komposition: Die nach oben zeigende Seite der Elektrode enthält die Mischung aus aktivem Kunststoff und Leitruß. Fotos: Klaus Polkowski Umweltfreundliche Batterien Keine Schwermetalle, schnellere Lade- zeit, längere Haltbarkeit: Eine Freiburger Chemikerin entwickelt neuartige Akkus von Anita Rüffer
uni wissen 01 2018 21 B atterien und umweltfreundlich – ist das nicht ein Widerspruch in sich? Für Prof. Dr. Birgit Esser nicht: Ihre sind nämlich aus Kunststoff, selbst nicht leitfähig ist, wird ihm ein Quäntchen Ruß zugesetzt. Der darin enthaltene Kohlenstoff kann Strom leiten. Durch Mischung mit einem enthalten also keine giftigen Schwermetalle, las- Bindemittel und einer kleinen Menge Lösungs- sen sich schnell laden und halten lange. „Ich mittel entsteht ein tiefschwarzes Gel. Mit einer mag es, wenn meine Forschungen einen prakti- Pipette wird es auf Alufolie aufgetragen und schen Bezug haben“, sagt die Forscherin, die dünn verteilt. Die Alufolie dient als Sammel- am Institut für Organische Chemie der Albert- fläche für das aktive Material. Beim Trocknen Ludwigs-Universität tätig ist. Nach ihrer Promoti- des aufgetragenen Films verdunstet das on wollte sich Esser nicht ausschließlich der Lösungsmittel. Zum Schluss wird eine Scheibe Grundlagenforschung und neuen organischen von der Größe einer Fingerkuppe aus der Moleküleinheiten widmen, sie interessierte sich beschichteten Alufolie ausgestanzt – und fertig auch für deren Verwendungsmöglichkeiten. Die ist die Elektrode und damit die halbe Batterie. Freiburger Chemikerin fragte sich, ob diese Mo- Zur ganzen wird sie, wenn sie einen Gegenpol leküleinheiten wohl dafür geeignet seien, elektri- bekommt. sche Ladung zu speichern und damit die giftigen Schwermetalle in herkömmlichen Batterien zu ersetzen. „Das interessiert auch die Studieren- den. Für sie ist es viel befriedigender, mit unter- „Ich mag es, wenn meine schiedlichen chemischen Strukturen von Forschungen einen praktischen Kunststoffen zu experimentieren, wenn hinterher nicht alles im Mülleimer landet, sondern einen Bezug haben“ konkreten Nutzen hat.“ Handys, Laptops, E-Mobilität: Ohne leistungsfähige Batterien sähe In herkömmlichen Batterien oder die neue digitale Revolution alt aus. Akkus bestehen die Elektroden aus Anfang der 1990er Jahre haben Lithi- unterschiedlichen Metalloxiden. „Wir um-Ionen-Akkus ihren Siegeszug ange- haben das Schwermetalloxid auf der Ka- treten. Allein in einem Smartphone sind bis zu thode durch organisches Material ersetzt“, er- 30 unterschiedliche Metalle verarbeitet. Queck- klärt Esser. Die Kathode ist die Elektrode, die silber, Mangan, Blei und Kadmium vergiften beim Entladen Elektronen aufnimmt. Die Anode, nicht nur Mensch und Umwelt, sie gelten auch ihr Gegenpol, gibt Elektronen ab. Hier findet als „Blut-“ oder „Konfliktmineralien“: Häufig in also beim Entladen eine Oxidationsreaktion statt. Konfliktregionen wie dem Kongo unter ausbeute- Eine komplette Kunststoffbatterie aus dem Frei- rischen Arbeitsbedingungen gewonnen, dienen burger Labor ist vorerst noch Zukunftsmusik. sie bewaffneten Milizen zur Finanzierung bluti- Die Anode besteht weiterhin aus Lithium. „Für ger Bürgerkriege. Deshalb ist die neunköpfige sie ein passendes organisches Material zu entwi- Arbeitsgruppe, die mit dem Batterieforschungs- ckeln ist schwieriger“, so die Professorin. „Das zentrum der Universität Münster zusammen- kann nicht jeder Kunststoff. Viele Kunststoffe arbeitet, nicht nur wissenschaftlich, sondern halten nicht lange genug.“ Esser und ihr Team auch ethisch-moralisch motiviert. sind aber dabei, auch für die Anode Materialien aus organischem Kunststoff zu entwickeln. Ihr Experimentieren mit der Polymersynthese Ziel ist es, am Ende „eine Batterie zu haben, die auf beiden Seiten aus Polymeren besteht“. Eine winzige Menge eines weißen Pulvers ist die Grundkomponente des neuartigen Akku- Der Testaufbau ist ein metallisches T-förmiges materials: ein Polymer-Kunststoff mit Namen Rohr mit drei Öffnungen, das auch aus dem Polyvinylphenothiazin. Die Hauptarbeit im Labor Sanitärfachhandel stammen könnte. Auf einer ist das Experimentieren mit der Polymersynthese, Seite wird die selbst hergestellte Kunststoff- um verschiedene Strukturen und Synthese- kathode platziert, auf der anderen eine Elektrode wegen auszuprobieren. Weil dieser Kunststoff aus reinem Lithium. Dazwischen befindet sich
22 wie bei allen Batterien eine Membran als Sepa- zu betreiben erscheint daher auf lange Sicht rator. Ohne diesen gäbe es einen Kurzschluss, eher unwahrscheinlich. Das hat auch mit der ge- sobald Strom fließt. Die dritte Öffnung des ringen Dichte von Kunststoff zu tun. Die Freibur- T-Stücks dient der Spannungsmessung. Unzählige ger Forschenden tüfteln noch daran, wie sich die dieser Modelle sind über ein Gewirr aus Kabeln Dichte der aktiven Molekülgruppen erhöhen mit einem so genannten Batterie-Zyklierer ver- lässt, haben aber das von ihnen entwickelte or- bunden: Pausenlos werden alle Labor-Akkus ganische Material für den Einsatz in Batterien gleichzeitig ge- und wieder entladen. Sämtliche schon mal als Patent angemeldet. Vorgänge, die in der Batteriezelle ablaufen, wer- den über mehrere Tage bis Monate gemessen Überall dort, wo dünne Batterien gefragt sind und aufgezeichnet. Der Monitor neben dem Zyk- und der Stromverbrauch niedrig ist, könnten die lierer zeigt viele lilafarbene und grüne Lade- und Energielieferanten aus Kunststoff Bedeutung er- Entladekurven. langen: bei so genannten intelligenten Klei- dungsstücken oder in der Medizintechnik, zum Beispiel bei Implantaten. Die Entwicklerinnen „Es lassen sich auch Kunststoffe und Entwickler sind von den Eigenschaften des Materials begeistert. Es ist sehr dünn, flexibel aus Biomasse entwickeln“ und biegsam und in Windeseile aufladbar. Bis der Akku eines Handys voll ist, dauert es be- In puncto Spannung steht die Kunststoffbatte- kanntlich mindestens eine Stunde. Und mit der rie mit 3,6 Volt einer Lithium-Ionen-Batterie in Zeit lässt dessen Leistung spürbar nach. Die in nichts nach. Allerdings kommt sie auf zwei Drit- Freiburg und Münster entwickelten Batterien tel weniger Speicherkapazität, gemessen in Am- hingegen sind innerhalb von drei Minuten wie- perestunden pro Kilogramm Gewicht. Wollte deraufgeladen, was sie der ungeordneten chemi- man ein Handy damit betreiben, was laut der schen Struktur des Kunststoffs zu verdanken Chemikerin möglich wäre, würde dessen Batte- haben. Denn hier ist es nicht so wichtig, ob sich rie das Dreifache einer herkömmlichen Batterie die Gegenionen aus dem Elektrolyten exakt an wiegen. Ein Elektroauto mit Kunststoffbatterien der richtigen Stelle anordnen. Lithium-Ionen-
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