Neofeudale Almosen Musiker*innen und Kulturarbeiter*innen fehlt eine Lobby. Das zeigt sich gerade in Corona-Zeiten. Von Berthold Seliger

Die Seite wird erstellt Femke Michels
 
WEITER LESEN
Neofeudale Almosen Musiker*innen und Kulturarbeiter*innen fehlt eine Lobby. Das zeigt sich gerade in Corona-Zeiten. Von Berthold Seliger
Picture Alliance /DPA
Neofeudale
Almosen
Musiker*innen und Kulturarbeiter*innen
fehlt eine Lobby. Das zeigt sich gerade
in Corona-Zeiten. Von Berthold Seliger

D
               ie Konzertbranche hat sich in   auf das Immobiliengeschäft konzentriert          und Festivals also nur noch veranstaltet,
               den letzten beiden Jahrzehn-    und baut und betreibt einige der weltgrößten     um »Content« für das höchst profitable Ge-
               ten dramatisch verändert. Aus   »Live Entertainment Districts« in London,        schäft mit den Eintrittskarten zu generie-
               einer unabhängigen Szene, in    Las Vegas, Berlin, Beijing und Dubai. Die bei-   ren. Der Gründer und Vorstandsvorsitzende
               der Musikliebhaber*innen        den erstgenannten Konzerne setzen auf Tic-       von CTS Eventim, Klaus-Peter Schulenberg,
und Afficinados mit ihren privaten Firmen      ketingfirmen, denn mit diesem weitgehend         nennt als Unternehmensziel, die »Content-
Konzerte und Tourneen in Pop, Jazz und         risikolosen Provisionsgeschäft lassen sich       Pipeline weiterzuentwickeln«.
Klassik organisiert haben, ist ein weltweit    nicht zuletzt dank des Internets die höch-            Zum Geschäftsmodell der kapitalisti-
agierender Wirtschaftszweig entstanden, der    sten Renditen erzielen: Die Bruttomarge der      schen Konzertwirtschaft gehört der Aufbau
mittlerweile als »Live-Industrie« bezeichnet   Ticketing-Abteilung beträgt bei CTS Even-        weltweiter Imperien. Die genannten Groß-
wird. Multinationale Großkonzerne bestim-      tim sensationelle 60,5 Prozent (gegenüber        konzerne sind seit Jahren auf Einkaufstour
men das Geschehen: vor allem der deutsche      11,1 im »Live-Entertainment«), und Live Na-      und reißen sich unabhängige Tournee- und
Quasimonopolist CTS Eventim (Jahresum-         tion macht im eigentlichen Konzertgeschäft       Konzertveranstalter, -hallen und Festivals
satz 2019: 1,44 Milliarden Euro), der welt-    jedes Jahr sogar Verluste im deutlich zwei-      unter den Nagel, das Konzert-Monopoly hat
größte Konzertveranstalter Live Nation (Jah-   stelligen Millionenbereich (2019 53,5 Mil-       dramatisch Fahrt aufgenommen. Von den
resumsatz: 11,55 Milliarden US-Dollar) und     lionen US-Dollar), während das Ticketing         zehn größten Live-Nation-Aktionären sind
die Anschutz Entertainment Group (AEG).        und der Bereich »Sponsorship & Adverti-          acht Hedgefonds, also die berüchtigten Ka-
Letztere hat sich neben weltweiten Tourneen    sing« für die Profite (über 560 Millionen)       pitalorganisatoren der westlichen Welt. Ende
(von Ed Sheeran bis zu den Rolling Stones)     sorgen. Eigentlich werden Großkonzerte           April hat der Public Investment Fund of Sau-

44                                                                                                                              konkret 6/20
Neofeudale Almosen Musiker*innen und Kulturarbeiter*innen fehlt eine Lobby. Das zeigt sich gerade in Corona-Zeiten. Von Berthold Seliger
You can’t always get what you want:                   siker*innen und neuer Bands sorgsam auf-          ker*innen aus. Niemand weiß, wie lange die
Die Rolling Stones im Homeoffice                      zubauen, wenn damit praktisch kein Geld zu        konzertlose Zeit anhalten wird; frühestens
                                                      verdienen ist? Sollten sie irgendwann erfolg-     im Herbst dürften wieder Konzerte stattfin-
     di Arabia den Kauf von 5,7 Prozent der Ak-       reich werden, kann man immer noch mit             den, wahrscheinlicher ist ein Neustart 2021.
     tien von Live Nation bekanntgegeben – ein        Geldbündeln wedeln und sie den unabhängi-         Das bedeutet, dass den etwa 50.000 freien
     Fonds, der im Auftrag der Regierung des          gen Konzert- und Tourneeveranstaltern ab-         Musiker*innen und der deutlich sechsstel-
     Scharia-Staats Saudi-Arabien agiert und zum      werben, die für die kulturelle Vielfalt sorgen.   ligen Zahl von sogenannten Solo-Selbstän-
     viertgrößten Anteilseigner des Konzerns                                                            digen, Freiberuflern, Aufstockern oder Mi-
     wurde. Größter Aktionär von Live Nation mit      Kulturarbeitsbienchen                             nijobbern, die Konzerte überhaupt erst
     einem unlängst auf den Mehrheitsanteil           in der Corona-Ära                                 möglich machen, mindestens sechs, wahr-
     von 50,1 Prozent erhöhten Aktienpaket bleibt     »Das Virus macht uns alle gleich«, diese Be-      scheinlicher neun und mehr Monate das
     allerdings Liberty Media Formula One, ein        hauptung hört man jetzt häufig, in Leitarti-      komplette Einkommen wegbricht.
     US-Medienkonzern, der Fernsehkanäle wie          keln der Qualitätsmedien ebenso wie in den             Hier rächt sich die festinstallierte Pre-
     Discovery (Eurosport), Online-Reisebüros         sozialen Medien. Das Gegenteil ist richtig:       karisierung weiter Teile der unabhängigen
     und Sportkonzerne (von der Formel 1 bis zu       Covid-19 zementiert die in den letzten Jah-       Szene, das Von-der-Hand-in-den-Mund-Le-
     Baseballmannschaften) betreibt und dessen        ren etablierte Ungleichheit, global wie lokal,    ben-Prinzip, das nicht nur in der Subkultur
     Präsident John Malone als Libertärer und         ob für das Dienstleistungsprekariat oder für      gang und gäbe ist. Die Popkultur ist wie die
     Trump-Förderer gilt.                             die Kulturschaffenden. Mittelschichtsange-        Jazzszene längst Teil der etablierten Mit-
           Die Beteiligung von Hedgefonds und Pri-    hörige, die über ihr vom Festgehalt gestütz-      telschichtskultur, sie hat in Teilen das er-
     vate-Equity-Firmen an Konzertkonzernen           tes Dasein im Homeoffice barmen, und Mil-         setzt, was im 19. und 20. Jahrhundert dem
     ist in der Branche mittlerweile gang und gäbe.   lionen Flüchtende weltweit, die unter de-         Bürgertum die Klassik war. Allerdings hat sie
     Auch etwa ein Fünftel der Aktien von CTS         saströsen hygienischen Bedingungen auf            es nicht nur versäumt, sondern geradezu
     Eventim ist im Besitz derartiger Kapitalor-      engstem Raum ausharren müssen, sind alles         verschmäht, ebenso wie diese institutionell
     ganisatoren (der weltgrößte Anleihefonds         andere als gleich. Die Quandt-Familie, die zu     und sozial abgesichert zu werden. Sieht man
     und hinter Blackrock zweitgrößte Kapital-        den allerreichsten Deutschen gehört, darf         von wenigen deutschen Bands und Musi-
     organisator, die Vanguard Group, ist wie die     auch während der Krise auf eine dreistellige      ker*innen ab, die sich die Wirkohnmacht ih-
     Select Equity Group Großaktionär sowohl bei      Millionen-Dividende von BMW zählen, wäh-          rer Kunst wenigstens in Staatstheatern gut
     Live Nation als auch bei CTS Eventim), und       rend die BMW-Arbeiter*innen in Kurzarbeit         bezahlen lassen, hat sich das Gros geradezu
     bei der deutlich kleineren Deutschen Enter-      auf gut ein Drittel ihres Einkommens ver-         euphorisch auf die Narration von der »krea-
     tainment AG (DEAG, Jahresumsatz 2019: gut        zichten müssen. Und selbst hier herrscht Un-      tiven Klasse« und der damit verbundenen,
     185 Millionen Euro) sind sogar rund drei         gleichheit: Das Kurzarbeitergeld für leiten-      von SPD und Grünen vorangetriebenen Ideo-
     Viertel aller Aktien im Besitz von Kapitalor-    de Angestellte und gutbezahlte Facharbeiter       logie des Unternehmertums eingelassen:
     ganisatoren. Da nimmt es sich schon einiger-     ist häufig höher als das Gehalt von Vollzeit      Jede*r eine kleine Ich-AG, alle sind Unter-
     maßen drollig aus, wenn sich der DEAG-Vor-       arbeitenden Verkäufer*innen, Paketzustel-         nehmer*innen ihrer selbst und kümmern
     standsvorsitzende und ehemalige Berliner         lern oder anderen Arbeiter*innen der neuen        sich beherzt um Selbstvermarktung und -op-
     CDU-Abgeordnete Peter Schwenkow in der           prekären »Serviceklasse«.                         timierung – eine Art outgesourctes Experi-
     »Zeit« oder bei »Markus Lanz« über »die Be-           Eine ähnliche Kluft herrscht im Kon-         mentallabor, ganz die fleißigen Kulturar-
     deutung der privat finanzierten Kultur« aus-     zertbetrieb. Sicher, Anna Netrebko, Madon-        beitsbienchen mit verinnerlichtem Nicht-
     lässt und von »mindestens acht Monaten Be-       na oder Elton John können derzeit ebenso-         klassenbewusstsein, dafür allzeit bereit zur
     rufsverbot« schwafelt, das »die Politik gegen    wenig öffentlich auftreten wie die jungen         geradezu stolz gelebten Selbstausbeutung.
     uns verhängt hat«.                               Songwriter*innen oder Jazzmusiker*innen           Kampf für Arbeitsrechte? Engagement für
           Auch auf niedrigerer Ebene waren Ka-       in Neukölln, Giesing oder auf St. Pauli. Doch     gute Bezahlung, für soziale Absicherung? Wo
     pitalorganisatoren in den vergangenen Jah-       die Superstars verfügen über einen ausrei-        kämen wir da hin.
     ren auf Einkaufstour durch die europäische       chenden ökonomischen Background, um                     Zu dieser Haltung gehört, dass viele
     Festival- und Tourneelandschaft (siehe           problemlos über die Runden zu kommen. Das         Künstler*innen ihre Produktionen nur noch
               5/19). Letzten Sommer hat der Pri-     durchschnittliche Jahreseinkommen von             als Ware verstehen. Musik wird im Zeitalter
     vate-Equity-Konzern Superstruct Entertain-       Musiker*innen in Deutschland aber betrug          der digitalen Verwertbarkeit als Vertreter-
     ment Mehrheitsbeteiligungen an den deut-         zum 1. Januar 2019 laut Künstlersozialkasse       ware herumgereicht, die Ich-AGs stromern
     schen Festivals Parookaville und Wacken er-      gerade einmal 14.628 Euro, das der weibli-        mit ihrem Bauchladen durch die Niederun-
     worben. Nicht mehr Impresarios haben             chen sogar nur 12.222 Euro. Während Schu-         gen des »Markts« und bieten Distinktions-
     heute im Konzertgeschäft das Heft in der         lenberg Dollar-Milliardär ist und der CEO         möglichkeiten feil. Ihre Waren wollen die
     Hand, sondern das globale Finanzkapital, das     von Live Nation, Michael Rapino, laut »New        Kulturschaffenden nicht ohne Gegenwert
     auf der Suche nach Superrenditen auf den         York Times« über ein Jahreseinkommen von          abgeben, woraus sich auch die latente Feind-
     Superstarmarkt gestoßen ist. Sex & Drugs &       mehr als 70 Millionen Dollar und der Gema-        lichkeit gegenüber Streaming-Angeboten,
     Rock’n’Roll? I wo. Heute gilt: Private Equity    Vorstandsvorsitzende immerhin über mehr           von Spotify bis Youtube, erklärt. Die Ware
     & Hedgefonds & Brands’n’Sponsoring!              als 800.000 Euro verfügt, verdienen die zahl-     soll einen Wert haben, sie darf nicht »kosten-
           Die oberen fünf Prozent der Musiker*in-    reichen meist selbständigen Arbeiter*innen        los« verbreitet werden. Dieser Warenfeti-
     nen und Bands generieren heute 85 Prozent        im Konzertbetrieb, also die Bühnenarbei-          schismus verbindet sich häufig mit einer
     aller Konzerteinnahmen weltweit. Für die         ter*innen, Stagehands, Securities, Roadies,       merkwürdigen Digitalfeindlichkeit, viele
     unteren 95 Prozent der Musiker*innen blei-       Techniker*innen, Busfahrer und so weiter,         wünschen sich Indiehausen als eine ewig ver-
     ben gerade einmal 15 Prozent aller Konzert-      häufig gerade einmal Mindestlohn. Seit Be-        längerte Unplugged-Session aus dem Wohn-
     einnahmen übrig. Für die Aktiengesellschaf-      ginn des Lockdowns im März sind die mei-          zimmer, und Jazz soll möglichst im kleinen
     ten reicht es also völlig aus, Events mit den    sten dieser Arbeiter*innen im Kulturbereich       Keller stattfinden, in dem hinterher der Hut
     Superstars zu organisieren – dort winkt der      ohne jede Einnahme. Ähnlich sieht es bei den      rumgeht. Seit einigen Jahren gibt es endlich
     größte Profit. Warum sich den Tort antun         selbständigen oder von Medien und Politik         den Mindestlohn – die Forderung nach Min-
     und die Karrieren junger, unbekannter Mu-        euphemistisch als frei bezeichneten Musi-         destgagen hat bei all den Ich-AGs und »frei-

     konkret 6/20                                                                                                                                 45
en« Musiker*innen hierzulande jedoch nie         tenen Hamburger SPD-Haushaltspolitiker           nator der Linkspartei den Solo-Selbständi-
verfangen.                                       und Bundeswehroberst Johannes Kahrs or-          gen schon nach wenigen Wochen eine »lei-
     Ganz anders in Frankreich. Dort hat         ganisiert (der kurz vor Drucklegung dieser       stungslose« Soforthilfe hat zukommen las-
Jack Lang als sozialistischer Kulturminister     Ausgabe überraschend von der Fahne gegan-        sen, die von einer sechsstelligen Zahl von
in den achtziger Jahren das bereits seit 1936    gen ist). Das Museum der Moderne in Berlin       Kulturarbeiter*innen in Anspruch genom-
existierende System des »Intermittent du         etwa sollte ursprünglich 130 Millionen Euro      men wurde, und mittlerweile auch ein Sofort-
spectacle« massiv ausgedehnt. Hierbei han-       kosten, dafür bekomme man eine »Kathe-           hilfepaket für kleine und mittlere Kulturbe-
delt es sich um eine Art Arbeitslosenversi-      drale der Moderne«. Dann stiegen die geplan-     triebe installiert hat. Grütters aber schafft es
cherung für freie Mitarbeiter*innen und          ten Baukosten auf 200 Millionen, und En-         nicht einmal, dafür zu sorgen, dass die be-
Selbständige in der Kulturindustrie, zum Bei-    de 2019 wurde in einer schwarzroten Hau-         sonderen Lebens- und Arbeitsbedingungen
spiel für Musiker*innen, Schauspieler*in-        ruckaktion im Haushaltsausschuss unter           der freischaffenden Künstler*innen im Pro-
nen, Regisseur*innen, aber auch für das          Ausschluss der Öffentlichkeit noch mal nach-     gramm der Bundesregierung für Selbständi-
technische Personal und die Arbeiter*innen,      gelegt, jetzt ist man bei 450 Millionen Euro     ge besondere Berücksichtigung finden – die-
die für künstlerische Aufführungen notwen-       angelangt, 354 Prozent mehr als ursprüng-        se Unterstützung darf nicht für Lebenshal-
dig sind. Wer in zehn Monaten 507 Arbeits-       lich angesetzt, und das dürfte nicht das Ende    tungskosten oder Krankenversicherung,
stunden vorweisen kann (oder eine bestimm-       der Fahnenstange sein. Niklas Maak mut-          sondern nur für Betriebskosten aufgewendet
te Zahl von Auftritten), erhält bei Nichtbe-     maßte in der »FAZ«, Grütters wolle wohl ein      werden. Sie wünscht sich stattdessen, dass
schäftigung acht Monate lang Kompensati-         Bauwerk, »das an ihre Amtszeit erinnert«,        die Künstler*innen Geld vom an Hartz IV an-
onszahlungen in nennenswerter Höhe, min-         ein Bundes-Moni-Denkmal. Ohne das Muse-          gelehnten Sozialschutzpaket abrufen, einer
destens den französischen Mindestnettolohn       um der Moderne – von »maßloser Größe bei         Art Grundsicherung mit seitenlangen und
von derzeit 1.521 Euro, maximal 4.380 Euro       konzeptueller Armut« (»Süddeutsche«) –           zum Großteil wirklichkeitsfremden Bedin-
monatlich. Weit über 100.000 Kulturschaf-        würde dereinst nur die alberne Einheitswip-      gungen, und zeigt damit, wo sie die Kultur-
fende Frankreichs profitieren von dieser Re-     pe an die Kulturstaatsministerin erinnern.       schaffenden sieht – am Katzentisch der Ge-
gelung. Doch damit geben sich die Künst-              Für ein »Soforthilfeprogramm für Kul-       sellschaft, als Bettler*innen, die froh sein
ler*innen dort nicht zufrieden. Auch in          turzentren auf dem Land« hat Grütters gera-      sollen, dass sie dabei sein dürfen, so »liest
Frankreich liegt der Kulturbetrieb darnieder,    de mal 1,5 Millionen, für die Rettung freier     sie Künstlern im Kulturausschuss die Levi-
alle großen Festivals und Veranstaltungen        Orchester und Ensembles 5,4 Millionen Euro       ten«, wie die »Berliner Zeitung« titelte. Ein
wurden bis in den Herbst abgesagt. Fast alle     zur Verfügung gestellt. Diese neofeudale Al-     Strukturfonds für die Konzertbranche? Dazu
Wirtschaftszweige hat die Regierung mit Ret-                                                      ist Grütters Ende April »gerne bereit«, Kon-
tungsplänen bedacht, nur Kunst und Kultur                                                         kretes hat man jedoch noch nicht gehört.
nicht. 230 Künstler*innen, von Catherine         Habt Erbarmen,                                   Auch braucht sie fast zwei Monate und etli-
Deneuve und Isabelle Adjani bis zu Benjamin      Monika Grütters                                  che Versuche, den Ländern die Verantwor-
Biolay und Patrick Bruel, haben von Präsi-
dent Macron deshalb ein Rettungspaket ge-
                                                 schläft schlecht                                 tung zuzuschieben, bis sie endlich dafür
                                                                                                  sorgt, dass Freischaffende von Kulturinsti-
fordert, einen »präzisen Plan für die Kultur«,                                                    tutionen Ausfallhonorare für abgesagte Auf-
der unter anderem das Recht auf Entschädi-       mosenpolitik hat System: Über einige Clubs,      tritte erhalten – allerdings nur »bis zu 60
gungszahlungen für ein Jahr über den Zeit-       Kulturzentren und Konzertveranstalter            Prozent« bei Gagen unter 1.000 und »maxi-
punkt hinaus, bis zu dem sie nicht arbeiten       schüttet man einmal jährlich Brosamen in        mal 40 Prozent« bei Gagen über 1.000 Euro.
können, vorsieht.                                Höhe von insgesamt knapp 1,8 Millionen           Aber wir sollten Erbarmen mit der Almosen-
     Deutsche Künstler*innen und Kulturar-       Euro in Form eines Spielstättenpreises na-       verteilerin haben: Im Kulturausschuss des
beiter*innen können von einer derartigen         mens »Applaus« aus, je 23 Clubs erhalten         Bundestages gab sie zu Protokoll, dass sie
Absicherung nur träumen. Beim großen Co-         38.000 beziehungsweise 18.000 Euro als           schlecht schlafe, verzweifelt sei und ihr das
vid-19-Beschlusspaket des Bundes und der         »Auszeichnung«, dazu kommen 61mal 7.500          Herz blute. Auch das ein Kunstgriff feudaler
Länder wurden Kunst und Kultur komplett          Euro für Clubs und Programmreihen. Statt         Zustände: Die darbenden Untertanen sollen
ausgespart, sie rutschten in den Anhang, der      einer dringend notwendigen institutionel-       Mitleid mit den Herrschenden haben, die die
Schließungsanordnungen für Gastronomie-          len Förderung der Spielstätten in der Dimen-     Verantwortung tragen.
betriebe und Prostitutionsstätten aufführt,       sion von 100 Millionen Euro verteilt auf fünf         Die »Untertanen« sind an dieser Situa-
also »zwischen Bier und Bordell« (Andreas        Jahre gibt es nicht einmal ein Zehntel davon     tion allerdings nicht unschuldig. Zu lange ha-
Kilb). Der bayrische Ministerpräsident er-       – dafür eine öffentliche Preisverleihung, auf    ben Kulturschaffende ihre problematische
geht sich auf Pressekonferenzen endlos zu         der die Ministerin Sonntagsreden von den        soziale Situation hingenommen und sich ir-
Oktoberfest, Biergärten und Pediküre, und        »Clubs als Schmelztiegel der Kulturen in un-     gendwie durchgewurschtelt, ohne entschie-
jeder zu öffnende Baumarkt scheint den Re-        serer Gesellschaft« halten darf. Maria The-     den für ihre Rechte und eine Absicherung zu
gierenden wichtiger zu sein als die Kultur.      resia hat dem Wunderkind Mozart weiland          kämpfen. Jetzt, wo ein großzügig ausgestat-
Die scheint für die Politiker*innen kein         100 Dukaten und bestickte Galakleider ge-        teter Nothilfefonds benötigt wird, ein echtes
Grundbedürfnis zu sein, also »die Idee vom        schenkt, Monika Antoinette Grütters spen-       Corona-Rettungssystem für die Vielfalt der
Menschsein des Menschen« (Georg Lukács),          diert den Clubs ein paar Euro, warme Worte      Kultur, sowie ein mindestens drei, besser
sondern ein Genussmittel, das man in guten       und eine Party – und die freuen sich drüber,     sechs Monate währendes Moratorium für die
Zeiten zum Spaß und zur Unterhaltung kon-        weil sie jeden Euro brauchen können.             Mietzahlungen der Clubs, Kulturzentren und
sumieren kann und das möglichst nichts ko-            Die neofeudalen Strukturen der Kultur-      Konzertveranstalter, das essentiell für das
sten soll.                                       politik treten in der Corona-Ära besonders       Fortbestehen der kulturellen Infrastruktur
     Es sei denn, es handelt sich um Leucht-      drastisch hervor. Dort, wo ein entschiedenes    ist, fehlen die Erfahrungen mit Kampffor-
turmprojekte – für Elphi, Humboldt Forum         Eintreten der Staatsministerin für einen Ret-    men, um derartige Forderungen durchzuset-
oder ein Berliner Museum der Moderne sind        tungsfonds für freie Künstler*innen und          zen. Es fehlt eine emanzipatorische Selbst-
immer Hunderte von Millionen da, die die         Kulturarbeiter*innen nötig wäre, geschieht       organisation der Musiker*innen und Kultur-
Staatsministerin für Kultur, Monika Grüt-        – nichts. Jedenfalls, wenn sie nicht das Glück   arbeiter*innen, eine »wirkliche Bewegung,
ters (CDU), Hand in Hand mit dem umstrit-        haben, in Berlin zu leben, wo der Kulturse-      welche den jetzigen Zustand aufhebt« (Marx).

46                                                                                                                                   konkret 6/20
Die bestehenden Interessenverbände
reichen nicht aus. Die Gewerkschaft Ver.di
etwa, in der einige Musiker*innen, Journa-
list*innen und Autor*innen organisiert sind,
vertritt häufig Positionen der Gegenseite, et-
wa bei der Verschärfung des Urheberrechts:
Ver.di und der Verband deutscher Schriftstel-
lerinnen und Schriftsteller (VS) traten Hand
in Hand mit SPD, CDU/CSU und Teilen der
Grünen dafür ein, den Urheber*innen 30
(Print), 40 (Online) und 50 Prozent (Wissen-
schaft) ihrer VG-Wort-Einnahmen zugun-
sten einer Verlegerbeteiligung zu klauen
(eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im
Bundestag zeigt: 80 Prozent der Verlagsaus-
schüttung der VG Wort gehen an die obe-
ren neun Prozent der Verlage). Dabei sind
nur sieben Prozent der Urheber*innen selbst
für eine Verlegerbeteiligung an den Aus-
schüttungen. Wenn Gewerkschaften die »In-

                                                  Christoph Krämer
teressenidentität« (Paul Mattick) zwischen
Kapital und Arbeit, zwischen Urheber*innen
und Verwertungsindustrie gleichsam ver-
innerlicht haben, kann man auf sie getrost
verzichten.
      Musiker*innen und Kulturarbeiter*in-
nen fehlt eine Lobby. Es gibt wichtige Ver-
bände der Clubs und Spielstätten, der sozio-
kulturellen Zentren, und es gibt zum Beispiel
die IG Jazz oder Berufsverbände der an-
gestellten Orchestermusiker*innen. Für
selbständige, freie Musiker*innen gibt es
keine Selbstorganisation und Vertretung. In
Großbritannien existiert dagegen bereits
 seit 1893 die Musicians’ Union (MU). Diese
kampagnenorientierte Organisation steht
seit mehr als 120 Jahren im Zentrum aller
wesentlichen Vereinbarungen, die Musi-
ker*innen betreffen, und verhandelt mit al-
len wichtigen Arbeitgebern. Dabei vertritt
sie alle Musiker*innen, ob angestellt oder
selbständig, ob sie in Orchestern spielen oder
in Popbands, ob sie als Jazzer*innen oder
Rapper*innen auftreten. Die MU versteht
sie ausnahmslos als »workers«, als »beson-
dere Art von Arbeiter*innen, die bezahlte
Beschäftigung suchen«.
      Solange sich das kulturelle Prekariat
hierzulande nicht als Arbeiter*innen, son-
dern als Unternehmer*innen oder als klein-
bürgerliche Bohème sieht, wird es unterbe-
zahlter Akteur neoliberaler Ideologie bleiben.
Es wird Zeit, dass sich Kulturarbeiter*innen
aller Genres organisieren und vehement ihre
Interessen artikulieren und durchsetzen, um
dem neuen Kulturkonservatismus entgegen-
zutreten, der im Angesicht der Corona-Kri-
se der »Systemrelevanz« von Automobilin-
dustrie, Fluggesellschaften und Banken das
Wort redet und die Kultur zu nettem Beiwerk
degradiert, das wenig kosten darf. Kultur ist
systemrelevant. Genau wie jeder einzelne
Mensch. 			                                  l

Berthold Seliger musste alle Tourneen sei-
ner Agentur auf 2021 verlegen

konkret 6/20
Sie können auch lesen