Regenerative Medizin Selbstheilungskraft des Körpers verstehen und nutzen - DEEN NNOVATION

 
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Regenerative Medizin
Selbstheilungskraft des Körpers verstehen und nutzen
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Impressum

Herausgeber
Bundesministerium
für Bildung und Forschung (BMBF)
Referat Gesundheitswirtschaft
11055 Berlin

Bestellungen
Schriftlich an Publikationsversand der Bundesregierung
Postfach 48 10 09
18132 Rostock

oder per
Tel.: 01805 - 77 80 90
Fax.: 01805 - 77 80 94
(14 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz, Mobilfunk max. 42 Cent/Min.)
E-Mail: publikationen@bundesregierung.de
Internet: www.bmbf.de

Redaktion
biotechnologie.de, Berlin
Dr. Philipp Graf
Sandra Wirsching

Gestaltung
Sven Oliver Reblin

Druckerei
DruckVogt GmbH, Berlin

Bonn, Berlin 2013

Bildnachweise
Umschlag: TRM Leipzig/ Metronom GmbH, Leipzig, Franziska Frenzel
MHH Hannover, Axel Haverich (S. 2, S. 29); Universität des Saarlandes (S. 4); RTC, Peter Mark (S. 5.); BioTissue Technologies (S. 6);
Nissim Benvenisty (S.7); Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin, Münster ( S. 11); MDC, Heike Naumann (S. 12), Universität
Tübingen, Thomas Skutella (S. 9); Universität Würzburg, Jürgen Groll (S. 13); CRTD, Carsten Werner (S. 15, S. 17); CRTD, Katrin Boes
( S. 19, S. 20), CRTD, Elly Tanaka/Dunja Knapp (S. 21); RWTH Aachen, Stefan Jockenhövel (S. 16, S. 26); Max-Delbrück-Centrum für
molekulare Medizin (S. 21); Euroderm GmbH (S. 22, S. 23), TU Berlin, Gerd Lindner (S. 24); Fraunhofer IPA (S. 25); Pluristem (S. 28);
BCRT, Katrin Zeilinger (S. 30, S. 31, S. 32); Fraunhofer IGB, Heike Walles (S. 32); NMI Reutlingen, Martin Stelzle (S. 33); BCRT, Georg
Duda (S. 34); Tetec AG (S. 35); Biotissue Technologies GmbH (S. 36); Universität Lübeck, Holger Notbohm (S. 37); Matricel GmbH (S.
38, S. 39), Universität Bonn, Oliver Brüstle (S. 40); ZEBET, Manfred Liebsch (S. 42, S. 45); BCRT (S. 42, S. 46); pixelio.de, Rolf van Melis
(S. 43); Spherotec (S. 44); Fraunhofer FIT (S. 45)
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Vorwort

Vorwort

                                                     Das Bundesministerium für Bildung und For-
                                                     schung (BMBF) begleitet die Entwicklungen in der
                                                     regenerativen Medizin bereits seit vielen Jahren
                                                     mit unterschiedlichen Fördermaßnahmen, die
                                                     wesentlich dazu beigetragen haben, die deutsche
                                                     Forschungs- und Unternehmenslandschaft und ihre
                                                     internationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
                                                     Auch deshalb ist Deutschland heute führend in der
                                                     regenerativen Medizin.

                                                     Eine wichtige Voraussetzung für Spitzenleistungen
                                                     ist die Vernetzung der zentralen Akteure. Deshalb
                                                     fördert das BMBF Translationszentren, in denen
                                                     die Kooperation von Wissenschaftlern, Klinikern
                                                     und Unternehmern besonders gefördert wird.
                                                     Mit gezielten Maßnahmen unterstützen wir auch
                                                     den innovativen Mittelstand in der regenerativen
                                                     Medizin bei der Umsetzung anspruchsvoller For-
Die körpereigenen Kräfte nutzen, um Erkran-          schungs- und Entwicklungsprojekte. Zudem fördert
kungen zu behandeln und zu heilen – das ist eines    das BMBF den Dialog deutscher Forscherinnen
der wichtigsten Ziele der regenerativen Medizin.     und Forscher mit ihren internationalen Kollegen,
Bei Verletzungen der Haut, des Knorpels oder         zum Beispiel die bilaterale Kooperation mit dem
Erkrankungen des Herzens haben regenerative          renommierten California Institute for Regenerative
Verfahren bereits Eingang in die klinische Praxis    Medicine (CIRM).
gefunden. Innovative Forschung verbessert so
schon heute nicht nur die medizinische Versor-       Die vorliegende Broschüre gibt auf vielfältige
gung, sondern auch die Lebensqualität der            Weise Einblicke in das faszinierende Forschungs-
Menschen.                                            feld der regenerativen Medizin. Sie stellt aktuelle
                                                     Forschungsansätze und neue Entwicklungen in den
Der rasante wissenschaftliche Fortschritt zeigt      unterschiedlichen Anwendungsfeldern regenera-
eindrucksvoll: Das Potenzial der regenerativen       tiver Technologien vor. Informieren Sie sich über
Medizin ist noch längst nicht ausgeschöpft. Viele    die Chancen, die die regenerative Medizin nicht nur
Forschungseinrichtungen und Unternehmen              Wissenschaft und Wirtschaft, sondern vor allem
arbeiten daran, die Erkenntnisse aus dem Labor       Patientinnen und Patienten eröffnet.
noch besser für neue Therapien und Diagnostika
zu nutzen – beispielsweise für die Behandlung
altersbedingter Erkrankungen, die angesichts der
demografischen Entwicklung in Industrienationen
wie Deutschland eine immer größere Rolle spielen.
Regenerative Technologien eröffnen auch neue
Wege, um die Zahl von Tierversuchen zu reduzieren.   Bundesministerin für Bildung und Forschung
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InHalt                                                                                                                                                                              1

Inhalt
Regenerative Medizin im Überblick ................ 2                          Die Leber im Labor nachbauen........................................ 32

Was ist Regenerative Medizin ? ....................................... 2      Mikrochip als Medikamententestsystem ................... 33

Mit Tissue Engineering zum Organersatz................... 5                   Knochen und Knorpel:
                                                                              Zum wachstum anregen                                 ......................................... 34
Stammzellen: zelluläre Multitalente .............. 7
                                                                              Knorpelbildung im Körper stimulieren ........................ 36
Embryonale Stammzellen - die Alleskönner .............. 7
                                                                              Knochenheilung mit Stammzellen ................................ 37
Nützliche Gewebestammzellen ..................................... 8
                                                                              nerven und Gehirn:
Reprogrammieren als neuer Weg ................................. 9             Regenerationspotenzial ausloten                                            .................. 38

Regenerationstechnologien:                                                    Zellverluste bei Parkinson ersetzen .............................. 38
Helfer für die Medizin ................................................ 13
                                                                              Künstliche Straßen für wachsende Nerven ............... 40
Bioreaktoren: Gewächshäuser für Gewebe ............... 16
                                                                              Stammzellen im Gehirn gezielt nutzen ...................... 41
Hilfestellung für die Selbstheilung ................................ 17
                                                                              neue tests:
Gezielt Erbanlagen reparieren ........................................ 18     Gewebe als Ersatz zum tierversuch                                              .............. 42

Zebrafisch und Salamander:                                                    Zellkulturtests mit Prüfsiegel .......................................... 42
Von Modellen lernen .................................................. 19
                                                                              Organe auf dem Mikrochip ............................................... 45
Zebrafische regenerieren Herz und Gehirn ............... 19
                                                                              translation:
Heilungsprozesse beim Lurch verstehen .................... 21                 Der schwierige weg in die Praxis ..................... 46

Haut: Kleine und große wunden heilen ...... 22                                Kleine Unternehmen als Innovationsmotoren ........ 46

Wunden verschließen mit Ersatzgewebe ................... 22                   Fünf Translationszentren bundesweit ......................... 47

Künstliche Hautproduktion im Akkord......................... 25               Klare Regeln für den europäischen Markt .................. 50

Herz: Schwache Pumpen ankurbeln ............... 26                            Klinische Studien als große Herausforderung .......... 51

Herzmuskelzellen aus dem Labor .................................. 26          Fördermaßnahmen im Überblick                                            ..................... 53

Stammzelltherapie bei Herzinfarkt ............................... 27          Glossar      ................................................................................... 54

Herzklappen wachsen im Bioreaktor............................ 28              weiterführende Publikationen des BMBF .. 57

Herzgewebe für die Wirkstoffforschung..................... 29

leber: Regenerationskraft ausnutzen                            ......... 30

Leberzellen aus Stammzellen gewinnen .................... 30
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2                                                                               REGEnERatIVE MEDIZIn IM ÜBERBlIcK

Regenerative Medizin im Überblick

Viele Krankheiten lassen sich behandeln,
aber nicht heilen. Das gilt besonders für
altersbedingte leiden, bei denen oft Zellen
absterben und organfunktionen nachlassen.
Die Regenerative Medizin kann erkranktes
Gewebe wiederherstellen und funktions-
tüchtig machen. Dazu nutzt sie die Selbsthei-
lungskräfte des Körpers. Ein großes Potenzial
für die Medizin des 21. Jahrhunderts.

Die Fähigkeit zur Regeneration ist lebensnotwen-
dig. Unter Regeneration wird in der Biologie die
Fähigkeit eines Organismus verstanden, verloren
gegangene Körperteile und Körperfunktionen von
Grund auf zu ersetzen – um so möglichst den ge-
sunden Originalzustand wiederherzustellen. Diese
Regenerationsfähigkeit besitzen prinzipiell alle Le-
bewesen – aber nur bis zu einem bestimmten Grad.
Die treibende Kraft dieser Selbstheilungsfähigkeit
                                                        Forscher in Hannover arbeiten daran, Herzgewebe künstlich herzu-
geht von den Zellen aus, die die betroffenen Gewebe     stellen. Hier sind Herzmuskelzellen (grün mit blauem Zellkern) sowie
und Organe aufbauen. Bei Menschen ist die Rege-         Kollagenfasern (orange) zu sehen.
nerationsfähigkeit gerade bei den Organen aus-
geprägt, die in hohem Maße beansprucht werden:
Knochenmark, Leber, die obere Hautschicht oder          ist immer gleich: Möglichst den gesunden und funk-
etwa die Darmschleimhaut werden ständig nach-           tionalen Originalzustand eines betroffenen Gewebes
gebildet. Sogenannte Stammzellen sorgen in diesen       wiederherzustellen, anstatt es nur behelfsmäßig zu
Geweben ein Leben lang für Nachschub an neuen           ersetzen und zu reparieren. Heilen statt reparieren –
Zellen. In anderen menschlichen Organen ist dieses      das ist das Motto der Regenerationsmedizin.
Potenzial jedoch stark eingeschränkt, wie etwa im
Gehirn, im Herz und im Auge. Noch dazu bildet                Lebende Zellen sind dabei das zentrale Werkzeug
der Körper bei größeren Wunden Narbengewebe.            der Regenerativen Medizin. Sie liefern das Baumaterial
So werden entstandene Defekte nur behelfsmäßig          für den angestrebten Organersatz und sie bewirken,
repariert, aber nicht regeneriert.                      dass regenerative Prozesse im Körper in Gang gesetzt
                                                        werden. Auf diese Weise entstehen nicht nur Thera-
W                                                       pien, sondern auch neuartige Ansätze, um die Diagnos-
                                                        tik von Krankheiten zu verbessern oder zellbasierte
Innerhalb der Biomedizin gehört die Regenerative        Testsysteme, um die Wirkung von Medikamenten zu
Medizin zu den Gebieten mit der stärksten Ent-          prüfen. Als Forschungsdisziplin ist die Regenerative
wicklungsdynamik. Das spiegelt sich auch in den         Medizin in hohem Maße multidisziplinär, denn sie
verschiedenen Versuchen wider, dieses Medizin-          verknüpft Ansätze der Zellbiologie, der Biotechnologie
konzept in Worte zu fassen. Forscher haben sich         und der Pharmakologie mit Medizintechnik und Mate-
bisher nicht auf eine offizielle Definition geeinigt.   rialwissenschaften. Mit diversen Förderinitiativen, die
Prinzipiell gilt jedoch: Die Regenerative Medizin ist   all diese Forschungsdisziplinen adressieren, versucht
eine Heilkunst, die auf die Wiederherstellung funkti-   das Bundesministerium für Bildung und Forschung
onsgestörter Zellen, Gewebe oder Organe abzielt. Dies   (BMBF), die dynamische Entwicklung auf diesem Feld
geschieht entweder durch Anregung der körpereige-       voranzutreiben: Seit den 1990er Jahren werden dabei
nen Regenerations- und Reparaturprozesse oder aber      nicht nur akademische Forschungsprojekte, sondern
durch biologischen Ersatz in Form von lebenden Zellen   auch vielversprechende Projekte von Unternehmen
oder eigens im Labor gezüchteten Geweben. Das Ziel      gezielt unterstützt.
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REGEnERatIVE MEDIZIn IM ÜBERBlIcK                                                                                             3

Die Erforschung der Selbstheilungskräfte des                  Mit dem Siegeszug der Molekularbiologie in den
Körpers ist allerdings kein neues Phänomen. Schon             1970er Jahren begannen Genetiker und Zellbiolo-
seit der Antike beschäftigt Mediziner dieses Thema.           gen damit, diesen auch als Differenzierung bezeich-
Auch damals wollten sich die Ärzte diese Erkennt-             neten Prozess genauer zu untersuchen. Es zeigte
nisse für Therapien zunutze machen. Doch erst seit            sich, dass in den spezialisierten Zellen des Körpers
dem 19. Jahrhundert, als die Zellen als Ursache für           eine deutlich geringere Zahl an Genen im Erbgut
Krankheiten in den Blick der Mediziner rückten,               aktiv ist als etwa in befruchteten Eizellen.
begannen Forscher damit, die Prozesse der Rege-
neration tatsächlich zu entschlüsseln. Deutsche                   Lange Zeit gingen Forscher zudem davon aus,
Wissenschaftler gehörten dabei im frühen 20. Jahr-            dass die einmal erlangte Spezialisierung einer Zelle
hundert zu den Pionieren der Embryologie und Ent-             ein unumkehrbares Schicksal ist. Diese Auffas-
wicklungsbiologie, die viel Grundlagenwissen für              sung hat sich in den letzten Jahrzehnten durch
die Regenerative Medizin zutage gefördert haben.              die rasanten Entwicklungen in der Molekularbio-
So untersuchen Entwicklungsbiologen die Mecha-                logie, der Genom- und Stammzellforschung, der
nismen, die aus einer befruchteten Eizelle ein kom-           Fortpflanzungsmedizin sowie der Systembiologie
plexes Lebewesen formen. Inzwischen ist bekannt,              grundlegend geändert. So ermöglichte die in
dass der voll entwickelte menschliche Organismus              vitro-Befruchtung – also die künstliche Befruch-
aus mehr als 200 verschiedenen Zelltypen besteht,             tung im Labor – bedeutende Untersuchungen zur
die in Geweben und Organen organisiert sind und               Embryonalentwicklung. Im Jahr 1998 gelang es
dort bestimmte Funktionen übernehmen. Obwohl                  US-Forschern erstmals, menschliche embryonale
diese Zellen alle die gleiche genetische Ausstattung          Stammzellen zu gewinnen. Mit diesen Zellen, die
besitzen, spezialisieren sie sich im Laufe ihrer Ent-         sich nahezu unbegrenzt vermehren lassen und sich
wicklung und werden zu definierten Körperzellen.              in viele verschiedene Zelltypen entwickeln kön-

   Forschungslandschaft Regenerative Medizin in Deutschland

   Mit der Regenerativen Medizin beschäftigen
   sich in Deutschland zahlreiche Forschergrup-
   pen, die über das ganze Land verteilt sind. Sie
   decken ein weites Spektrum an Wissenschafts-
   gebieten ab, angefangen bei der Biomedizin, der
   Biotechnologie, der Pharmakologie, der Medi-
   zintechnik und Materialwissenschaften.
   Die Wissenschaftler arbeiten in Hochschulen
   und Universitätskliniken, in Fachhochschulen
   und außeruniversitären Forschungseinrich-
   tungen der Forschungsorganisationen (Max-
   Planck, Helmholtz, Leibniz, Fraunhofer).
   Von besonderer Bedeutung für die Forschung
   und Umsetzung regenerativer Therapien in die
   klinische Praxis sind sogenannte Translations-
   zentren, die in den vergangenen Jahren durch
   öffentliche Förderinitiativen eingerichtet wurden
   (vgl. S. 46 ff.). Solche Zentren gibt es mittlerweile in
   Berlin, Leipzig, Rostock (BMBF), Dresden und Han-
   nover (DFG). Wichtige Standorte der Stammzell-
   forschung sind zudem Bonn, München,Würzburg,
   Tübingen, Heidelberg und Münster.                          Forschungsstandorte der Regenerativen Medizin in Deutschland.
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4                                                                                       REGEnERatIVE MEDIZIn IM ÜBERBlIcK

nen, bekamen die Forscher eine Möglichkeit an die                     diesem Grund unterliegt die Stammzellforschung
Hand, in großen Mengen Zellen für die Grundlagen-                     im Gegensatz zu anderen Forschungsfeldern in
forschung zu gewinnen. Gleichzeitig entdeckten sie                    Deutschland vergleichsweise strengen Regeln, die
auch immer mehr neue Möglichkeiten bei anderen                        Wissenschaftler einhalten müssen. Das 1991 in Kraft
Stammzelltypen. So ist heute zunehmend ein Bild                       getretene Embryonenschutzgesetz verbietet die
entstanden, dass selbst spezialisierte Zellen keine                   verbrauchende Embryonenforschung einschließ-
festgelegten Bausteine des Körpers sind, sondern                      lich der Verwendung von Embryonen zur Herstel-
wandelbare Gebilde, deren Verhalten beeinflussbar                     lung von Stammzellen. Das Stammzellgesetz von
und umprogrammierbar ist. Die Stammzellfor-                           2002 (novelliert im Jahr 2008) erlaubt deutschen
schung steht dabei in ganz besonderer Weise im                        Forschern nur unter strengen Voraussetzungen und
Blickfeld der Öffentlichkeit – nicht zuletzt aufgrund                 nach Genehmigung durch das Robert Koch-Institut,
ihrer ethischen Dimension, denn neue embryonale                       embryonale Stammzellen aus dem Ausland zu
Stammzell-Linien können nur durch die Zerstö-                         Forschungszwecken zu importieren und zu verwen-
rung von Embryonen gewonnen werden. Aus                               den.

    Von der Stammzelle zur therapie

    Aufgrund ihrer vielseitigen Eigenschaften                         Anwendungen suchen. Zwischen 2008 und 2013
    erforschen Wissenschaftler seit Ende der 90er                     werden diesbezüglich insgesamt 47 Vorhaben mit
    Jahre das Potenzial von Stammzellen und ihren                     15 Millionen Euro unterstützt. Hierbei erkunden
    Einsatz in der Regenerativen Medizin. Deutsche                    Forscher entweder das Entwicklungspotenzial
    Forscher werden dabei seit 1999 vom BMBF mit                      natürlich vorkommender Gewebestammzellen.
    diversen Förderinitiativen unterstützt. Ging                      Oder sie entwickeln Verfahren, mit denen sich
    es dabei anfangs vor allem um Möglichkeiten                       Körperzellen künstlich in einen vielseitigen
    für den Ersatz einzelner Organfunktionen bei                      Zustand zurückprogrammieren lassen. Um auf
    verschiedenen volkswirtschaftlich relevanten                      der Basis dieser Erkenntnisse die Entwicklung
    Erkrankungen wie Parkinson, Diabetes oder                         zellbasierter Therapien voranzutreiben, werden
    Herzinfarkt, so liegt inzwischen ein Schwer-                      zwischen 2005 und 2013 weitere Mittel in Höhe
    punkt auf Projekten, die nach ethisch unpro-                      von mehr als 30 Millionen Euro zur Verfügung
    blematischen Wegen für die Gewinnung von                          gestellt.
    vielseitigen Stammzellen für medizinische
                                                                      Um die bislang in Deutschland aufgebauten
                                                                      Strukturen der grundlagenorientierten und
                                                                      angewandten Stammzellforschung sowohl
                                                                      national wie auch international gebündelt
                                                                      sichtbar zu machen und zu vertreten, soll 2012
                                                                      ein „Deutsches Stammzellnetzwerk“ entste-
                                                                      hen. Mithilfe einer solchen Dialogplattform
                                                                      ist auch geplant, die Nachwuchsförderung zu
                                                                      stärken und die rechtlichen sowie ethischen
                                                                      Rahmenbedingungen in diesem Forschungsfeld
                                                                      transparent darzustellen. Gleichzeitig soll die
                                                                      Translation von Ergebnissen gezielt unerstützt
                                                                      werden. Zum Start der Plattform stellt das BMBF
                                                                      eine Anschubfinanzierung zur Verfügung.

                                                                      Mehr Informationen:
    Angefärbte Herzmuskelzellen in der Kulturschale: Künftig lassen   www.bmbf.de/de/1084.php
    sich womöglich derartige Zellen aus Stammzellen gewinnen.         www.ptj.de/stammzellnetz
Regenerative Medizin Selbstheilungskraft des Körpers verstehen und nutzen - DEEN NNOVATION
REGEnERatIVE MEDIZIn IM ÜBERBlIcK                                                                                    5

Neben der Forschung an embryonalen Stamm-
zellen wurden in den letzten Jahrzehnten durch
staatliche Förderprogramme besonders die For-
schungen zu alternativen Quellen von Stammzellen
intensiviert. Dadurch ist insbesondere in Deutsch-
land im Bereich der adulten Stammzellforschung
eine große wissenschaftliche Expertise entstanden.
Die größte Herausforderung besteht nun darin, die
vielen wissenschaftlichen Erkenntnisse in weiter-
führende Strategien für medizinische Forschung
und Anwendungen zu überführen (vgl. Kapitel
Stammzellen).

Mit tissue Engineering zum organersatz

Entscheidene Impulse für den Fortschritt in der
Regenerativen Medizin, insbesondere was die
                                                     Frisch isolierte Stammzellen aus dem Knochenmark werden Patienten
Bereitstellung von Organen betrifft, kommen aber     nach einem Herzinfarkt in den betroffenen Herzmuskelbereich ge-
nicht nur aus der Stammzellforschung, sondern        spritzt. Dort sollen sie die Regeneration ankurbeln.
auch aus dem Bereich der Chirurgie. So gelang
Ärzten in Boston in den 1950er Jahren die erste
erfolgreiche Nierentransplantation. 1967 glückte     Die Potenziale der Regenerativen Medizin sind also
die erste Verpflanzung eines Herzens. Wenige         groß. Der Fokus auf die Regenerationsfähigkeiten
Jahre später meldeten Ärzte die erste erfolgreiche   des Körpers könnte dabei helfen, viele drängende
Knochenmarktransplantation. Seit es Mediziner        Probleme der medizinischen Versorgung zu
schaffen, mit Medikamenten die Immunabwehr           lösen. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird der
zu unterdrücken und so eine Abstoßung kör-           Regenerativen Medizin deshalb eine vielverspre-
perfremder Organe zu verhindern, hat sich die        chende Zukunft prognostiziert, insbesondere für
Transplantationsmedizin zu einem Eckpfeiler der      Industrienationen wie Deutschland. So nehmen
Hightech-Medizin entwickelt. Sie sichert heute das   mit dem demographischen Wandel auch hierzu-
Überleben vieler Patienten mit erkrankten oder       lande altersbedingte Krankheiten immer mehr zu:
verletzten Organen. Doch Spenderorgane sind          Bestimmte Organfunktionen lassen nach und die
knapp und können den stetig steigenden Bedarf        Zahl körperlicher Gebrechen steigt. Es sind Leiden
nicht decken. Allein in Deutschland werden zurzeit   wie Schlaganfall, Herzinfarkt, Alzheimer, aber auch
schätzungsweise doppelt so viele Transplantations-   Nierenversagen, Diabetes sowie Gelenkverschleiß,
organe gebraucht wie zur Verfügung stehen. Die       die zu den Volkskrankheiten in Deutschland gehö-
Wartelisten sind lang, viele Patienten überleben     ren. Eine Heilung ist dabei selten in Sicht. Zumeist
die Wartezeit nicht.                                 müssen die Patienten für den Rest des Lebens Medi-
                                                     kamente einnehmen. Doch diese können lediglich
    Auf der Suche nach Alternativen begannen Bio-    Symptome lindern und den Krankheitsverlauf
technologen deshalb in den 1990er Jahren verstärkt   verlangsamen. Oft sind mit der Einnahme auch
damit, lebendes Ersatzgewebe im Labor heranzu-       unerwünschte Nebenwirkungen verbunden. Die
züchten. Dies wird als sogenanntes Tissue Enginee-   Lebensqualität der Patienten bleibt deshalb meist
ring bezeichnet, das heute als wichtiger Bereich     eingeschränkt. In schweren Fällen sind Prothesen
der Regenerativen Medizin gilt. Ein immer tieferes   oder sogar Organtransplantationen die einzige
Verständnis der Zellbiologie und die Verwendung      Alternative. Solche Eingriffe sind zudem mit hohen
immer ausgeklügelter Gerüstmaterialien, auf de-      Behandlungskosten verbunden.
nen mithilfe menschlicher Zellen neue Gewebe und
Organe heranwachsen können, haben hier inzwi-           Die Vision der Regenerativen Medizin ist es, die
schen für bedeutende Fortschritte gesorgt, wenn-     medizinischen Probleme nicht nur symptomatisch
gleich das Organ auf Bestellung für jedermann noch   zu behandeln, sondern tatsächlich die Ursache zu
in ferner Zukunft liegt.                             bekämpfen und zu heilen. Erste Fortschritte in den
Regenerative Medizin Selbstheilungskraft des Körpers verstehen und nutzen - DEEN NNOVATION
6                                                                                      REGEnERatIVE MEDIZIn IM ÜBERBlIcK

Bereichen Haut (vgl. S. 22 ff.), Knochen (vgl. S. 34 ff.),          Forschungseinrichtungen und klinischen Zentren
Herz (vgl. S. 26 ff.), Leber (vgl. S. 30 ff.) und Nerven            wider. Darüber hinaus ist die Anwendungsorien-
(vgl. S. 38 ff.) zeigen, dass die Wissenschaft für eine             tierung der Forschng in den vergangenen Jahren
Vielzahl von Krankheiten bereits an vielverspre-                    deutlich gestiegen. So wurden auf Initiative der
chenden Behandlungsstrategien arbeitet. Zugleich                    Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie
steigt das Wissen über grundsätzliche Regenerati-                   des BMBF interdisziplinäre Forschungszentren
onsprozesse in Modellorganismen wie Salamander                      gegründet, deren Ziel es ist, Ideen aus dem Labor
oder Zebrafisch (vgl. S. 19 ff.).                                   möglichst schnell für Patientinnen und Patienten
                                                                    verfügbar zu machen (vgl. S. 46 ff.). Darüber hinaus
    Die Forschung in Deutschland ist dabei sehr                     wird im Rahmen internationaler Kooperationen die
breit aufgestellt – sei es in der Grundlagenforschung               Zusammenarbeit deutscher Forscher mit Kollegen
oder der Anwendung regenerativer Therapien.                         aus dem Ausland gefördert. All dies wiederum wird
Mit international renommierten Wissenschaftlern                     dazu führen, dass noch mehr Unternehmen Ansät-
gehört Deutschland zu den weltweit führenden                        ze aus der Regenerativen Medizin aufgreifen. Um
Nationen im Bereich der Regenerativen Medizin.                      für die Zukunft gewappnet zu sein, hat das BMBF
Besondere Stärken gibt es traditionell im medizin-                  zudem langfristig angelegte Strategieprozesse in
technischen Bereich, der Zellkulturtechnologie und                  den Bereichen Biotechnologie und Medizintechnik
der Gewebezüchtung. In der Stammzellforschung                       initiiert, in denen die Regenerative Medizin auch
baut Deutschland auf jahrzehntelanger Expertise                     eine Rolle spielt (vgl. S. 53). Hier werden schon heu-
in der Entwicklungsbiologie und bei Zelltherapien                   te Forschungs- und Entwicklungsroadmaps für die
auf. Dies spiegelt sich in einer hohen Dichte an                    Zukunft erarbeitet.

    Regenerationstechnologien: Der weg in die klinische Praxis

    Die Regenerative Medizin ist ein dynamisches For-               sie dabei vom BMBF unterstützt – insbesondere
    schungsgebiet, bei dem Spezialisten aus Biologie,               bei risikoreichen Projekten im Bereich der Ge-
    Chemie, Physik, Materialforschung, Geräte- und                  webeherstellung (Tissue Engineering). Bis 2007
    Verfahrenstechnologie, Informatik, und Medizin                  hat das BMBF dabei insgesamt 43 Millionen Euro
    zusammenarbeiten. Eine wichtige Triebfeder                      investiert. Erste Anwendungen, etwa Produkte
    sind dabei mittelständische Biotechnologie- und                 für die Regeneration von Haut oder Knorpel, be-
    Medizintechnik-Unternehmen (KMU), die die                       finden sich bereits im klinischen Einsatz. Die Er-
    Anwendungsmöglichkeiten der Regenerations-                      fahrungen der ersten Jahre haben jedoch gezeigt,
    technologien für Therapien oder Diagnostika                     dass noch zahlreiche Hürden zu meistern sind,
    ständig vorantreiben. Seit dem Jahr 2000 werden                 bis Regenerationstechnologien tatsächlich breit
                                                                    eingesetzt werden. An klinische Studien sowie
                                                                    die Zulassung werden in diesem Feld inzwischen
                                                                    hohe Anforderungen gestellt. Deshalb fördert das
                                                                    BMBF seit 2008 auch die Entwicklung neuer und
                                                                    zuverlässiger Prüf- und Standardisierungsver-
                                                                    fahren für Produkte der Regenerativen Medizin,
                                                                    um gravierende Innovationshemmnisse aus dem
                                                                    Weg zu räumen und den Nutzen regenerativer
                                                                    Therapien künftig bewerten zu können. Insge-
                                                                    samt 15 Millionen Euro fließen dabei in Verbund-
                                                                    projekte von Wissenschaft und Wirtschaft.

    Einige Biotechnologie-Unternehmen haben sich darauf speziali-   Mehr Informationen:
    siert, Gewebe für verschiedenste Anwendungen zu züchten.        www.ptj.de/regenerative-technologien
Regenerative Medizin Selbstheilungskraft des Körpers verstehen und nutzen - DEEN NNOVATION
StaMMZEllEn: ZElluläRE MultItalEntE                                                                           7

Stammzellen: zelluläre Multitalente
Stammzellen sind im Körper die treibenden
Kräfte für Entwicklung und Regeneration. Da
aus ihnen neue Zellen hervorgehen, sind sie
auch die zentrale Materialquelle für die
Regenerative Medizin. Je nach Herkunft sind
Stammzellen unterschiedlich vielseitig. In
Deutschland regelt ein striktes Stammzellge-
setz die Forschung mit menschlichen embryo-
nalen Stammzellen. Gewebestammzellen und
künstlich im labor gewonnene Stammzellen
sind in den Fokus der Forscher geraten.

Die „Familie“ der Stammzellen ist groß: Sie unter-       Humane embryonale Stammzellen unter dem Mikroskop.
scheiden sich in ihrem Entwicklungsvermögen und
lassen sich auf verschiedenen Wegen gewinnen.                Damit Wissenschaftler mit ES-Zellen arbeiten
Einfach formuliert ist eine Stammzelle eine Zelle,       können, werden sie in Kulturschalen übertragen, die
von der andere Zellen im Körper abstammen. Im            mit einer speziellen Nährlösung gefüllt sind. Hier
Vergleich zu hochspezialisierten Körperzellen sind       vermehren sie sich zu mehreren hundert Zellen, die
Stammzellen weniger stark auf eine bestimmte             wiederum in neue Kulturschalen überführt werden,
Entwicklungsrichtung festgelegt. Durch Zellteilung       so dass aus wenigen embryonalen Stammzellen
sind sie in der Lage, eine sich spezialisierende Toch-   schließlich Abermillionen entstehen. Bei geeigneter
terzelle und eine Stammzelle zu erzeugen, wodurch        Stimulierung mit einem Cocktail aus Wachstums-
sie sich selbst erhalten. Mithilfe von Stammzellen       faktoren lassen sie sich in jeden erdenklichen der
wächst und erneuert sich der Organismus ein Leben        200 menschlichen Zelltypen verwandeln. Somit sind
lang, Wunden und innere Schäden heilen aus eige-         ES-Zellen eine schier unerschöpfliche Quelle, mit
ner Kraft. Die Medizin versucht, die Heilkraft der       deren Hilfe sich Gewebe im Labor nachzüchten lässt,
Stammzellen zu verstehen und gezielt therapeutisch       um verschiedenste Fragestellungen zu beantworten.
zu nutzen. Die Herkunft der Stammzellen ist dabei        Diese Züchtung aber kontrolliert zu erreichen, ist für
entscheidend für eine mögliche Anwendung. Der            Forscher immer noch eine große Herausforderung.
Stammzell-Typ entscheidet auch, wie Forscher mit
den Multitalenten umgehen dürfen.                            Umstritten sind menschliche ES-Zellen, da zur
                                                         Gewinnung neuer Stammzelllinien Embryonen zer-
Embryonale Stammzellen – die alleskönner                 stört werden müssen. Deshalb wird die Herstellung
                                                         und Verwendung von humanen ES-Zellen ethisch
Aus einer befruchteten Eizelle gehen bis zum 8-Zell-     kontrovers diskutiert. Verschiedene Länder auf der
Stadium Tochterzellen hervor, die totipotent sind.       Welt haben politisch und rechtlich unterschiedliche
Jede für sich hat das Entwicklungspotenzial, einen       Lösungen für den Umgang mit Embryonen und
kompletten Organismus aufzubauen. Etwa fünf Tage         Stammzellen gefunden. In Deutschland sorgt das
nach der Befruchtung der Eizelle hat sich der Embryo     Embryonenschutzgesetz für einen strikten Schutz
zu einem kugeligen Zellgebilde entwickelt, der           des Embryos und verbietet das Herstellen mensch-
Blastozyste. Aus der inneren Zellmasse der Blastozy-     licher Embryonen zu Forschungszwecken sowie die
ste lassen sich embryonale Stammzellen (ES-Zellen)       verbrauchende Embryonenforschung einschließlich
gewinnen. Sie gelten als zelluläre Alleskönner.          der Herstellung von menschlichen ES-Zellen. Zu-
ES-Zellen sind pluripotent: Sie besitzen also grund-     sätzlich regelt das Stammzellgesetz den möglichen
sätzlich die Fähigkeit, noch alle Gewebe des mensch-     Import und die Verwendung von menschlichen ES-
lichen Körpers bilden zu können (mit Ausnahme des        Zellen aus dem Ausland. Solche ES-Zelllinien müssen
Plazentagewebes). Aus ihnen kann sich kein voll-         schon vor einem gesetzlich festgelegten Stichtag
ständiger Organismus mehr entwickeln, wie das bei        gewonnen worden sein (1. Mai 2007). Darüber hinaus
totipotenten Zellen der Fall ist.                        dürfen sie nur für Forschungszwecke importiert und
8                                                                    StaMMZEllEn: ZElluläRE MultItalEntE

verwandt werden, die hochrangig und auf anderem          Ein Gesetz für die Stammzellforschung
Wege voraussichtlich nicht zu erreichen sind (siehe
Kasten rechts). Ebenso wie bei der Nutzung anderer
Zellen mit vergleichbarem Potenzial müssen die For-      Nachdem US-Forscher 1998 erstmals
scher sicherstellen, dass die aus den menschlichen       menschliche embryonale Stammzellen
ES-Zellen herangezüchteten Zellen sich im Körper         (ES-Zellen) gewonnen hatten, setzte auch in
nicht plötzlich unkontrolliert vermehren. Aus den        Deutschland eine bioethische Debatte ein.
ES-Zellen gewonnene Zelltypen können nach einer          Bei der Herstellung von ES-Zellen müssen
Transplantation vom Empfänger als fremd erkannt          Embryonen zerstört werden, die bei künst-
werden. In diesem Fall können, wie bei Transplanta-      lichen Befruchtungen übrig geblieben sind.
tionen von Organen, gefährlichen Abstoßungsreak-         Das deutsche Embryonenschutzgesetz
tionen auftreten. Wissenschaftler weltweit forschen      stellt den Embryo unter strikten Schutz und
daher daran, diese potenziellen Immunreaktionen          verbietet das Herstellen von Embryonen
zu beherrschen.                                          zu Forschungszwecken sowie die verbrau-
                                                         chende Embryonenforschung. Um trotzdem
    In den USA und in Großbritannien wurden bereits      Forschung an menschlichen ES-Zellen zu
erste klinische Studien mit aus ES-Zellen abgeleiteten   ermöglichen, gleichzeitig aber zu verhin-
Präparaten gestartet. Das Biotechnologie-Unterneh-       dern, dass von Deutschland aus ein Anreiz
men Advanced Cell Technology (ACT) erprobt hierbei       ausgeht, im Ausland weiterhin Embryonen
aus ES-Zellen entwickelte Pigmentepithelzellen, die      zu zerstören, verabschiedete der Bundestag
zur Behandlung einer Augenerkrankung eingesetzt          im Jahr 2002 das „Gesetz zur Sicherstellung
werden. Neben der klinischen Anwendung dienen            des Embryonenschutzes im Zusammenhang
ES-Zellen heute schon als Basis für Krankheitsmo-        mit Einfuhr und Verwendung menschlicher
delle oder bei der Identifizierung und Suche neuer       Stammzellen“. Demnach dürfen Forscher
Wirkstoffe.                                              nur unter strikten Auflagen ES-Zellen aus
                                                         dem Ausland einführen und verwenden.
N                                                        Diese Stammzellen müssen aber vor einem
                                                         gesetzlich bestimmten Stichtag erzeugt wor-
Neben den ES-Zellen sind adulte Stammzellen oder         den sein. Um den Forschern die Möglichkeit
Gewebestammzellen die zweite große Gruppe an             zu geben, für ihre im internationalen Rah-
Stammzellen. Sie sind in zahlreichen Geweben von         men stattfindenden Arbeiten auf zwischen-
erwachsenen Menschen vorhanden und sitzen dort           zeitlich erheblich verbesserte und stabilere
in speziellen Nischen, um auf ihren Einsatz zu war-      Stammzelllinien zurückzugreifen, einigte
ten. Adulte Stammzellen sind die Reparaturreserve        sich der Bundestag 2008 in einer Gesetzesno-
des jeweiligen Gewebes. Sie sorgen für den nötigen       velle darauf, den Stichtag vom 1. Januar 2002
Zell-Nachschub, wenn im Gewebe Zellen abster-            auf den 1. Mai 2007 zu verlegen. Jede Einfuhr
ben und ersetzt werden müssen. So treiben sie            und Verwendung menschlicher ES-Zellen in
die Erneuerung und die Wundheilung an. Adulte            Deutschland muss vom Robert-Koch Institut
Stammzellen sind allerdings in ihrem Entwick-            (RKI) genehmigt werden. Zur Entscheidung
lungspotenzial eingeschränkt, sie gelten deshalb als     über einen Antrag holt das RKI eine Stellung-
multipotent, weil ihre Abkömmlinge nur noch zu           nahme der Zentralen Ethik-Kommission für
wenigen Zelltypen heranreifen können.                    die Stammzellenforschung (ZES) ein. Die ZES
                                                         prüft und bewertet, ob das Forschungsvor-
   Dank neuester Methoden haben Forscher inzwi-          haben die Voraussetzungen nach § 5 StZG
schen an immer mehr Stellen im Körper die vor Ort        erfüllt und in diesem Sinne ethisch vertret-
zuständigen Gewebestammzellen entdeckt. Im Blut,         bar ist. Bis Frühjahr 2012 hat das RKI auf diese
der Haut und im Darm sind sie besonders aktiv, da        Weise seit Bestehen des Stammzellgesetzes
diese Organe sich ständig erneuern. Doch auch in Or-     70 Projekte genehmigt. Insgesamt arbeiteten
ten, die nur bescheidene Regenerationsfähigkeiten        54 Wissenschaftlergruppen zu diesem Zeit-
besitzen, wie im Gehirn, wurden Forscher bereits         punkt mit humanen ES-Zellen.
fündig. Problem: Viele adulte Stammzellen sind nur
mit großem Aufwand zu gewinnen und ihre Zucht
StaMMZEllEn: ZElluläRE MultItalEntE                                                                            9

im Labor gestaltet sich oft schwierig. Die Vorteile:
Weil sie im erwachsenen Körper vorkommen, sind
sie nicht nur ethisch unproblematisch, sondern auch
einfacher für therapeutische Zwecke nutzbar. So
könnten adulte Stammzellen direkt vom Patienten
gewonnen und für eine Behandlung optimiert
werden. Ihr Einsatz führt auch nicht zu Abstoßungen
durch das Immunsystem. So arbeiten Forscher
derzeit unter anderem daran, adulte Stammzellen
bei der Behandlung von Herzinfarkt einzusetzen
– zum Beispiel an der Universität Frankfurt sowie
der Ludwig-Maximilians-Universität München. In
Rostock wurde darüber hinaus mit Unterstützung
des BMBF ein eigens darauf spezialisiertes Zentrum
eingerichtet (vgl. Kapitel Herz und Translation).        Adulte Stammzellen in Kultur.

    Eine besonders reiche und gut zugängliche
Quelle für adulte Stammzellen ist das Knochenmark.       zurückversetzt werden. Diese „Reprogrammierung“
Hier kommen unter anderen die Blutstammzellen            ist japanischen Forschern im Jahr 2006 erstmals ge-
vor und die mesenchymalen Stammzellen, die Vor-          lungen. Sie wandelten ausgereifte Hautzellen von
läuferzellen für Knorpel-, Fett- und Knochengewebe       Mäusen durch gentechnische Tricks so um, dass sie
darstellen. Gerade die mesenchymalen Stammzellen         sich wie embryonale Stammzellen verhielten. Das
haben in den vergangenen Jahren die Aufmerksam-          künstlich erzeugte Ergebnis nannten sie induzierte
keit der Forscher auf sich gezogen: Innerhalb der        pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen). Die dama-
Gruppe der adulten Stammzellen scheinen sie beson-       ligen Experimente haben für einen Paukenschlag
ders vielseitig zu sein und setzen in ihrer Umgebung     in der Wissenschaft gesorgt. Denn das Rezept für
offenbar einen Cocktail an Wachstumsfaktoren             die Verwandlung ist fast zu einfach, um wahr zu
frei, der die Heilung verschiedener Gewebe anregen       sein: Lediglich ein Cocktail aus den vier Genen
kann.                                                    namens Oct4, Sox2, c-Myc und Klf4 wurde mithilfe
                                                         von Viren in die Körperzellen eingeschleust. Dies
    Als weitere Quelle für adulte Stammzellen            reichte aus, um in den ausgereiften Zellen eigent-
kommt das Nabelschnurblut von Neugeborenen               lich stillgelegte Erbgutabschnitte zu aktivieren und
in Frage. Hierin finden sich besonders junge, ver-       so das embryonale Genaktivitäts-Programm wieder
mehrungsfähige Gewebestammzellen, die sich in            anzuschalten.
vergleichweise viele Körperzelltypen differenzieren
können. Sie haben die Fähigkeit, sich neben Blutzel-         Im Jahr 2007 gelang den japanischen Forschern
len auch zu Nerven, Leber, Muskel, Knochen- oder In-     dieselbe Verjüngungskur auch bei menschlichen
selzellen zu entwickeln. Doch in jeder Nabelschnur       Hautzellen. Seither entwickelt sich die Reprogram-
stecken nur etwa 50 Milliliter Blut, zu wenig für eine   mierungstechnik in rasantem Tempo weiter und
spätere Therapie. In einem vom BMBF geförderten          wird immer praxisfreundlicher und sicherer: Ein
Forschungsverbund suchen Wissenschaftler aus             deutsches Team um Hans Schöler vom Max-Planck-
Würzburg, Aachen und Hannover deshalb nach Re-           Institut für molekulare Biomedizin in Münster hat
zepten, mit denen sich die Zahl der Stammzellen aus      es geschafft, adulte Stammzellen von Mäusen und
dem Nabelschnurblut vervielfachen lässt.                 Menschen nur mit einem Gen (Oct4) zu iPS-Zellen
                                                         umzuprogrammieren. Dann schafften es die For-
Reprogrammieren als neuer weg                            scher, beim Einschleusen der Faktoren auf Viren
                                                         als Genfähre und andere gentechnische Methoden
Weder embryonale noch adulte Stammzellen                 zu verzichten. Offenbar reicht es aus, die Verjün-
haben Forscher bislang komplett zufriedengestellt.       gungsfaktoren in Form von Proteinen den Zellen
Aus diesem Grund wird seit langem nach Alterna-          zu verabreichen, um sie zu reprogrammieren. Aus
tiven gesucht – zum Beispiel, indem Zellen künst-        diesem Grund nannten sie die verwandelten Zellen
lich in eine Art embryonalen Alleskönnerzustand          protein-induzierte pluripotente Stammzellen (piPS).
Wie Stammzellen gewonnen werden                                                                                                         10

          In vitro-Befruchtung                                 Reprogrammieren                            Isolierung von
                                                                                                        Gewebestammzellen

                         Eizelle

          Spermium                                           Körperzellen
                                                              (z. B. Haut)
                                                                                                                       Entnahme von
                                                                                                                        Stammzellen
                                                                                                                       (z. B. aus dem
                                                                                                                       Knochenmark)

                        Embryo

                                                                                  Pluripotenz-
                                                                                    Faktoren
                                innere                                                                                Aufreinigung
                               Zellmasse                                                                             der Stammzellen
                        Blastozyste

           embryonale Stammzellen                        induzierte pluripotente Stammzellen                adulte Stammzellen

                                           pluripotent                                                         multipotent

    …                                                                                            …

          Inselzellen   Blutzellen    Herzmuskelzellen     Nervenzellen       Leberzellen            Knorpelzellen Bindegewebszellen
                                                                                                                                        StaMMZEllEn: ZElluläRE MultItalEntE
StaMMZEllEn: ZElluläRE MultItalEntE                                                                                              11

Nun tüfteln Stammzellforscher weltweit an wei-
teren Verfahren, um die Herstellung von iPS-Zellen
effizienter zu machen. Denn im Labor wird ungefähr
nur bei einem Prozent der behandelten Zellen eine
Reprogrammierung erreicht. Gleichzeitig wird
derzeit ausgiebig getestet, wie ähnlich sie in ihren Ei-
genschaften den natürlichen pluripotenten Stamm-
zellen wirklich sind. Die Weiterentwicklung der
iPS-Technologien steht auch im Fokus des künftigen
Centrums für angewandte Regenerationstechnolo-
gien (CARE), das an das Münsteraner Max-Planck-In-         Künstlich erzeugte induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen)
stitut für molekulare Biomedizin angedockt sein soll.      ballen sich zu einer Kolonie zusammen.

    Den iPS-Zellen wird ein hohes Potenzial zuer-
kannt, denn die Forschung an ihnen vermeidet den           Tierexperiment ergeben, dass auch von iPS-Zellen
Verbrauch menschlicher Embryonen zur Generie-              abgeleitetes Gewebe in manchen Fällen Immunre-
rung neuer Stammzelllinien. Da die iPS-Zellen aus          aktionen hervorrufen kann, was Forscher vor allem
winzigen Gewebeproben der Patienten selbst gewon-          auf die Herstellungsmethoden zurückführen. Ein
nen werden können, werden aus ihnen hergestellte           weiteres Problem: Die verwendeten Körperzellen der
Zellen bei einer späteren Therapie nicht vom Immun-        Patienten haben durch den Alterungsprozess bereits
system als fremd erkannt. Neuere Studien haben im          Mutationen in ihrer Erbinformation angesammelt.

                                                               Das Beispiel zeigt: Die alternativen Verfahren zur
   Europäisches Stammzellregister                          Herstellung pluripotenter Stammzellen sind noch
                                                           junge Entwicklungen. Es besteht noch reichlich
                                                           Forschungsbedarf, um sie differenziert bewerten zu
   Forscher, die in Deutschland an menschlichen            können. Noch ist nicht klar, wie sicher diese Zel-
   ES-Zellen forschen wollen, können diese ge-             len bei einem möglichen therapeutischen Einsatz
   mäß dem Stammzellgesetz aus dem Ausland                 wären und ob sie tatsächlich mit humanen ES-Zellen
   importieren. In anderen EU-Ländern, wie Bel-            vergleichbar sind. Um herauszufinden, welcher
   gien, Spanien, Großbritannien und Schweden,             Zelltyp sich als „Goldstandard“ für bestimmte Fra-
   ist die ES-Zellgewinnung hingegen erlaubt.              gestellungen durchsetzen wird, verfolgen Forscher
   Einmal hergestellt, lassen sich ES-Zellen nahe-         weltweit verschiedene Ansätze und vergleichen sie
   zu beliebig lange in Form sogenannter Zellli-           miteinander.
   nien aufbewahren und verschicken. Doch die
   existierenden Linien unterscheiden sich erheb-              Gleichzeitig geht auch die Suche nach weiteren
   lich in Alter und Qualität. Um Forschern einen          Stammzellquellen im Körper voran. Ein Beispiel sind
   Überblick zu verschaffen, werden die Daten zu           amniotische Stammzellen, die sich in großer Zahl im
   Zelleigenschaften in Internet-Datenbanken               Fruchtwasser wiederfinden. Für ihre Gewinnung ist
   katalogisiert, eine davon ist das mit EU-Förder-        weder die Arbeit mit Embryonen, noch eine Repro-
   mitteln aufgebaute europäische Stammzellre-             grammierung notwendig. Ob diese Zellen jedoch
   gister hESCreg, das vom Berlin-Brandenburg              über ein vergleichbares Differenzierungspotenzial
   Centrum für Regenerative Therapien (BCRT)               wie ES- oder iPS-Zellen verfügen, ist noch unklar.
   und einer Stammzell-Einrichtung in Barcelona            Eine neue Entwicklung aus den Stammzelllabors
   geführt wird. Hier sind mehr als 650 ES-Zellli-         ist die direkte Reprogrammierung. Hierbei ist es
   nien verzeichnet. Forscher können so prüfen,            gelungen, durch genetische und biochemische
   ob die verfügbaren Zellen zu ihren Experi-              Kommandos verschiedene Zelltypen ineinander
   menten und zu ihrer Gesetzeslage passen.                umzuwandeln, ohne den Umweg über Stammzel-
                                                           len zu gehen. So ist es bereits gelungen, Hautzellen
   Mehr Informationen: www.hescreg.eu                      direkt in Nervenzellen umzuwandeln. Die Stamm-
                                                           zellforschung bleibt ein hochdynamisches Feld der
                                                           biomedizinischen Forschung.
12                                                                          StaMMZEllEn: ZElluläRE MultItalEntE

     wie sich Stammzellen für die Medizin nutzen lassen

     Stammzellen haben ein vielseitiges Potenzial       b) Adulte Stammzellen: Eine klinische Anwen-
     für die Medizin. Biomediziner wollen sie im        dung von adulten Stammzellen ist bei der
     Labor gezielt zu einem speziellen Zelltyp oder     Behandlung von Leukämien bereits seit Jahr-
     zu Geweben heranreifen lassen. Wenn diese Re-      zehnten klinische Routine. Durch die Transplan-
     zepturen ausreichend sicher sind, dann sehen       tation von immunologisch passenden Stammzel-
     Experten drei Anwendungsbereiche:                  len eines Spenders kann das Blutbildungssystem
                                                        eines Krebskranken wieder neu aufgebaut
     Krankheitsmodelle in der Petrischale:              werden. Körpereigene Stammzellen aus dem
     Krankheiten können besser erforscht werden,        Knochenmark scheinen sich zudem – in krankes
     da die betroffenen Zelltypen eines Patienten mi-   Gewebe injiziert – für eine Therapie zu eignen,
     hilfe von Stammzellen im Labor herangezüchtet      indem sie vor Ort die körpereigene Regenerati-
     und beobachtet werden können. Forscher kön-        on ankurbeln. Eine weitere mögliche Anwen-
     nen so den Stoffwechsel und die Genaktivität in    dung: Forscher wollen Stammzellvorkommen
     kranken Zellen untersuchen und die moleku-         in erkrankten Organen durch Medikamente von
     laren Ursachen der Krankheiten besser verste-      außen gezielt zur Teilung anregen, um so die
     hen. Vor allem schwierig zu erforschende Leiden    Regeneration zu fördern.
     wie die Amyotrophe Lateralsklerose, Krebs oder
     Schizophrenie werden so besser zugänglich.         c) induzierte pluripotente Stammzellen: Noch ist
                                                        unklar, ob sich diese umprogrammierten Zellen
     wirkstoffsuche und arzneitests:                    direkt für therapeutische Zwecke nutzen las-
     An aus Stammzellen gezüchteten Herz-, Le-          sen. Vermutlich werden iPS-Zellen eher bei der
     ber- oder Nervenzellen lassen sich chemische       Wirkstoffsuche und für Arzneitests zum Einsatz
     Substanzen und Medikamente auf Giftigkeit und      kommen.
     andere Nebenwirkungen in hoher Stückzahl
     testen. So können Pharmahersteller schon früh
     in der Medikamentenentwicklung aussagekräf-
     tigere Schlüsse ziehen und womöglich Tierver-
     suche reduzieren. Eine Vision für die personali-
     sierte Medizin: An nachgezüchteten Zellen eines
     Patienten könnte man durch Tests ermitteln,
     welche Therapie zu ihm am besten passt.

     Zelltherapie:
     a) Embryonale Stammzellen: Bei Erkrankungen
     wie Parkinson, Herzinfarkt oder Diabetes wer-
     den ganz bestimmte Zelltypen im Körper zer-
     stört und können sich nicht von alleine regene-
     rieren. Im Labor nachgezüchtete Zellen sollen in
     die betroffenen Organe transplantiert werden,
     um dort die verlorengegangene Funktion zu
     ersetzen. Bisher sind auf ES-Zellen aufbauende
     Zellersatztherapien vor allem an Tiermodellen
     durchgeführt worden. Für den Einsatz beim
     Menschen sind noch viele Sicherheits- und
     Nutzenaspekte zu klären. Erste Patientenstu-
     dien mit ES-Zellpräparaten sind jedoch bereits     Aus Stammzellen wollen Forscher Beta-Zellen gewinnen, die in
     gestartet.                                         der Bauchspeicheldrüse für die Produktion von Insulin sorgen.
REGEnERatIonStEcHnoloGIEn: HElFER FÜR DIE MEDIZIn                                                                    13

Regenerationstechnologien: Helfer für die Medizin

Die Regenerative Medizin zielt darauf ab,                         Wichtigstes Werkzeug der Regenerativen Medizin
geschädigte Zellen, Gewebe oder organe im                         sind lebende Zellen, die für den Einsatz in einer
                                                                  Therapie noch mit Wirkstoffen oder Biomaterialien
Körper zu ersetzen oder zu erneuern, um sie
                                                                  kombiniert werden. Die Zellen werden entwe-
wieder funktionstüchtig zu machen. Diese                          der selbst innerhalb des Körpers zur Erneuerung
Verfahren bedienen sich lebender Zellen, die                      angeregt oder aber im Labor zu Ersatzgewebe
im labor herangezüchtet werden müssen.                            herangezüchtet. Für die Entwicklung dieser neu-
                                                                  artigen Behandlungsstrategien arbeiten Forscher
Dabei kommt ein vielseitiger Mix an Metho-
                                                                  aus den verschiedensten Wissenschaftszweigen
den aus der Zell- und Molekularbiologie                           zusammen – von der Biomedizin, der Biomaterial-
sowie den Ingenieurs- und Materialwissen-                         forschung, den Ingenieurswissenschaften bis hin zu
schaften zum Einsatz, die unter dem oberbe-                       einzelnen Disziplinen in der Chirurgie.
griff Regenerationstechnologien zusammen-
                                                                  Zu den Regenerationstechnologien werden vier
gefasst werden können.                                            wichtige Bereiche gezählt :

Innerhalb der Regenerativen Medizin wollen
Wissenschaftler nicht nur verstehen, wie Selbsthei-                  • Gewebeherstellung (tissue Engineering)
lungsprozesse des Körpers funktionieren. Sie wollen
dieses Wissen auch gezielt anwenden, um erkrank-                     • Zelltherapie
te oder verletzte Zellen, Gewebe oder Organe zu
heilen, teilweise wieder herzustellen oder ihre                      • anregung körpereigener Regeneration
Regeneration zu unterstützen. Mit diesem Ansatz                        (induzierte autoregeneration)
verbinden Ärzte nicht nur die Hoffnung, aufwen-
dige Organtransplantationen, rein technische                         • Gentherapie
Lösungen wie Prothesen oder etwa lebenslange Me-
dikamententherapien zu vermeiden. Bisher nicht
behandelbare Erkrankungen oder Verletzungen                       Für die Regenerative Medizin ist das Heranzüchten
sollen – so die Hoffnung – auch aus eigener Kraft                 von einzelnen Zellen und Zellverbänden im Labor
geheilt werden.                                                   von zentraler Bedeutung. Sie können einerseits als
                                                                  Ersatzgewebe eingesetzt werden, andererseits aber
                                                                  auch als Modell dienen, um die Funktionsweise
                                                                  von Organen besser zu verstehen. Darüber hinaus
                                                                  eignet sich im Labor erstelltes Gewebe auch für Me-
                                                                  dikamententests, um Nebenwirkungen im Modell
                                                                  zu erforschen (vgl. Kapitel Neue Tests), oder für die
                                                                  Suche nach neuen Wirkstoffen in der Medizin. Die
                                                                  künstliche Herstellung von Geweben in der Kul-
                                                                  turschale wird Tissue Engineering genannt. Dieses
                                                                  auch als in vitro -Gewebezüchtung bezeichnete
                                                                  Feld ist ein noch junges Forschungsgebiet. Erst 1975
                                                                  gelang es Forschern, menschliche Hautzellen im
                                                                  Labor künstlich zu vermehren. Seitdem macht die
                                                                  Disziplin große Fortschritte. Heute wird versucht,
                                                                  möglichst dreidimensionale, organähnliche Gebil-
                                                                  de aus verschiedenen Gewebetypen nachzuahmen.
                                                                  Für einige einfach aufgebaute Ersatzgewebe wie die
                                                                  Oberhaut, Knochen und Knorpel hat die aufwen-
                                                                  dige Gewebetechnik bereits erste klinische Verfah-
                                                                  ren hervorgebracht. Doch das Züchten von Zellen
Aus Polymeren lassen sich feine Fäden spinnen, die mit lebenden   und ihre Kultivierung im Labor ist ausgesprochen
Zellen besiedelt werden können.                                   schwierig und technisch anspruchsvoll. Dafür müs-
14                                                            REGEnERatIonStEcHnoloGIEn: HElFER FÜR DIE MEDIZIn

     tissue Engineering – wie Gewebe im labor gezüchtet wird

                       1. Biopsie,              entnommene
                       Zellisolierung              Zellen

                                                                      2. Zellvermehrung

                      Patient

                 4. Implantation

                                                                                               Trägerstruktur

                                                                     3. Besiedelung
                                                                       und Wachstum
                                                                        im Bioreaktor

sen unterschiedliche Experten aus Lebenswissen-              etwa bei embryonalen Stammzellen, spricht man
schaften, Material- und Ingenieurswissenschaften             von allogenen Zellen. Zellen von Tieren, die für
zusammenarbeiten.                                            Menschen verwendet werden, nennen sich xenogene
                                                             Transplantate. Hierzu gibt es inzwischen auch ein
    So genannte biologisch-künstliche (bioartifizielle)      eigenes Forschungsgebiet – die Xenotransplantation.
Gewebe oder Organe werden in drei Schritten herge-
stellt (siehe Grafik oben): Zellen eines bestimmten              Geeignetes Zellmaterial für Gewebetechnolo-
Typs werden zunächst gewonnen und vermehrt. Im               gen zu finden, ist nicht so einfach. So gestaltet sich
Labor werden sie auf speziellen Gerüstmaterialien            zum Beispiel die Verwendung von ausgereiften
angesiedelt. In Kultursystemen, den sogenannten              Gewebezellen meist schwierig: Sie sind oft nur mit
Bioreaktoren, werden die Zellen versorgt und zu              hohem Aufwand zu gewinnen, noch dazu haben
Gewebeverbänden herangezüchtet, bis sie als funk-            sie ihre Teilungsfähigkeit weitgehend verloren und
tionstüchtiges Transplantat wieder in den Patienten          lassen sich deshalb in der Petrischale nur langsam
zurückverpflanzt werden können.                              vermehren. Die Hoffnung der Zellingenieure richtet
                                                             sich daher vor allem auf Stammzellen als Quelle, da
   Die Gewinnung von Zellmaterial ist beim Tissue            sich diese in verschiedene andere Zelltypen ver-
Engineering der entscheidende Ausgangspunkt. In              wandeln lassen (vgl. Kapitel Stammzellen). Trotz er-
der Regel werden organspezifische Zellen verwen-             folgsversprechender Ansätze gibt es hier allerdings
det, die vom Patienten selbst stammen. Diese – auch          noch etliche Probleme zu lösen. Denn Stammzellen,
autolog genannten – Zellen liefern letztlich Trans-          egal in welcher Vielseitigkeit sie vorliegen, müssen
plantate, die vom Körper nicht abgestoßen werden.            mit geeigneten Rezepturen zuverlässig und voll-
Stammen die Zellen von anderen Menschen- wie                 ständig in einen gewünschten Zelltyp verwandelt
REGEnERatIonStEcHnoloGIEn: HElFER FÜR DIE MEDIZIn                                                               15

werden, ohne ein unstetes oder gar gefährliches       stoffwissenschaftler wollen dieses natürliche Vorbild
Eigenleben zu entwickeln.                             im Labor so gut wie möglich nachahmen: Dazu werden
                                                      Trägermaterialien verwendet, die natürlichen (auch
     Entscheidend für den Gewebezüchtungserfolg       tierischen) oder synthetischen Ursprungs sind. Zum
ist auch das eingesetzte Trägermaterial. Siedelnde    Einsatz kommen Hydrogele, Kollagene, mineralische
Zellen benötigen den Kontakt zu einer solchen         Substanzen wie Calciumphosphate oder Keramiken
Struktur, um tatsächlich wachsen zu können. Im        wie Aluminiumoxid. In manchen Fällen formen diese
Körper übernimmt diese Rolle als Trägerstruktur die   Materialien poröse Strukturen, mit zahlreichen Hohl-
sogenannte extrazelluläre Matrix, ein komplexes       räumen wie bei einem Schwamm. Zellen fühlen sich in
Netzwerk aus Eiweißen und Kohlenhydraten. Die         solchen Nischen und Höhlen besonders wohl. Als Trä-
extrazelluläre Matrix enthält wichtige Biomoleküle    germaterial werden auch Gewebe von Schweinen und
und Anhaftungsstellen, die dafür sorgen, dass sich    Rindern benutzt. Mit einer Waschlösung werden die
Zellen richtig entwickeln. Bioingenieure und Werk-    tierischen Zellen komplett aus einem Organ entfernt,

   Biomaterialien: Maßgeschneiderte werkstoffe für die Regenerative Medizin

   Für nahezu alle Techniken der Regenerativen
   Medizin werden Biomaterialien benötigt.
   Darunter werden synthetische Hightech-Werk-
   stoffe verstanden, die in Kontakt mit lebendem
   Körpergewebe kommen. Meist sind sie mit biolo-
   gisch aktiven Molekülen beladen, damit sie von
   Zellen und Geweben nicht abgestoßen werden
   und sich möglichst gut in den Körper einpassen.
   Biomaterialien dienen in der Gewebezüchtung
   als Trägergerüst (Matrix), auf denen sich Zellen
   ansiedeln können. Außerdem werden sie für          Polymere haben Materialeigenschaften, die sich für
   biologisch abbaubare Implantate eingesetzt, die    Anwendungen in der Regenerativen Medizin nutzen lassen.
   zum Beispiel bei Knochendefekten vorüberge-
   hend als Lückenfüller und Wachstumsleitschie-      Sie können sich also quasi per Knopfdruck
   ne dienen. Auch bei der gezielten Verabreichung    verformen und setzen dann Wirkstoffe je nach
   von Medikamenten und Wirkstoffen (Drug             Bedarf frei. Wichtig beim Design der neuar-
   Delivery) im menschlichen Körper kommen            tigen Kunststoffe: Um für den späteren Einsatz
   Biomaterialien zum Einsatz. Hier tüfteln Mate-     in einem Gewebe maßgeschneidert zu sein,
   rialwissenschaftler an intelligenten Wirkstoff-    müssen oftmals die Oberflächen der Polymere
   depots. Künstliche Kapseln sollen empfindliche     verändert werden – zum Beispiel zur Veranke-
   Signaleiweiße in den Körper transportieren, sich   rung biologisch aktiver Moleküle. So haben die
   dann vor Ort öffnen und so die Selbstheilungs-     Teltower Forscher Materialien hergestellt, auf
   kräfte des Körpers aktivieren.                     denen hornhautbildende Zellen (Keratinozyten)
                                                      gut wachsen, die bindegewebsbildenden Fibro-
       Forscher um Andreas Lendlein vom Teltower      blasten jedoch nicht.
   Zentrum für Biomaterialentwicklung des
   Helmholtz-Zentrums Geesthacht setzen               Projekt in der BMBF-Förderinitiative „Translations-
   zum Beispiel auf Polymere als Ausgangsstoff        zentren in der Regenerativen Medizin“:
   für ihre Entwicklungen, die als sogenannte         „Berlin-Brandenburg Center for Regenerative
   Formgedächtnis-Kunststoffe dienen. Auf einen       Therapies“
   Wärme- oder Lichtreiz hin ändern diese intelli-    Partner: Helmholtz-Zentrum Geesthacht,
   genten Polymere ihre dreidimensionale Gestalt.     Zentrum für Biomaterialentwicklung, Teltow
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