"So wie ich es weiß, so wie ich es verstehe, werde ich dolmetschen" - unipub UB Graz

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„So wie ich es weiß, so wie ich es verstehe, werde ich
                    dolmetschen“
   Nicht professionelles Dolmetschen während der
             Flüchtlingskrise in Kroatien

                     Masterarbeit

         zur Erlangung des akademischen Grades
                  Master of Arts (MA)

          an der Karl-Franzens-Universität Graz

                      vorgelegt von
                   Anita Mužek, MA

                     am Institut für
  Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft

       Begutachter: Univ.-Prof. Dr. Pekka Kujamäki
                       Graz, 2020
Danksagung

An der Erstellung dieser Arbeit waren so viele wundervolle Menschen beteiligt, denen ich an
dieser Stelle danken möchte.

Ein großes Dankeschön geht an meinen Betreuer Herrn Univ.-Prof. Dr. Kujamäki. Danke für
Ihre Unterstützung, Ihre wertvollen Ratschläge, Ihre Flexibilität und Ihre Ruhe. Einen
besseren Betreuer hätte ich mir nicht wünschen können. Danke, dass Sie Ihr Wissen mit mir
teilten und dafür, dass ich von Ihnen lernen durfte.

Danke auch an alle lieben Studienkollegen/innen, mit denen ich den Kummer und die Freude
des Studiums am ITAT im Laufe der Jahre teilen durfte.

Besonders bedanken möchte ich mich bei meiner KHG-Crew! Danke Katharina, Claudia,
Angelika, Leonie, Vicky und David für alles! Ohne euch wäre meine Studienzeit in Graz nur
halb so lustig gewesen. Ihr seid Freunde fürs Leben!

Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei der allerbesten Mitbewohnerin und Studienkollegin
der Welt, Katrin! Ich weiß nicht, was ich ohne dich täte! Danke, dass du meine Studienzeit in
Graz verschönert hast und mir geholfen hast, mein Studium abzuschließen. “You're my
person. You will always be my person” – Christina Yang.

Thank you Amin for taking the time to talk to me about your work as an interpreter during the
refugee crisis. Without you and your experience, this thesis would not have been possible. I
admire you for what you have been through, what it taught you and where you are now.

Hvala mojoj Sandri na prijateljstvu, na podršci, na smijehu i na suzama. Hvala ti što si tu i što
postojiš.

I za kraj, želim se zahvaliti svojoj obitelji. Hvala što ste uvijek vjerovali u mene iako se na
trenutke činilo da ovaj rad nikada neće ugledati svjetlo dana. Bez vas ja ne bih bila ovdje,
stoga ovaj rad posvećujem vama. Ovo je naš zajednički uspjeh.

Over and out! 
It takes more than having two hands to be a good pianist. It takes more than
               knowing two languages to be a good translator or interpreter.

                                                         François Grosjean
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ................................................................................................................................... 1
1. Der Konflikt in Syrien............................................................................................................ 5
   1.1 Der Syrien-Konflikt im Überblick.................................................................................... 5
      1.1.1 Migration als Begriff................................................................................................ 12
   1.2 Die Flüchtlingskrise in Kroatien..................................................................................... 18
2. Kommunaldolmetschen........................................................................................................ 22
   2.1 Begriffsklärung und Einsatzbereiche.............................................................................. 22
   2.2 Abgrenzung zu anderen Dolmetschtypen....................................................................... 25
   2.3 Anforderungen und Erwartungen an Kommunaldolmetscher/innen.............................. 28
   2.4 Status und Rollenbilder von Kommunaldolmetschern/innen ......................................... 29
3. Professionelle und nicht professionelle Translatoren/innen................................................. 32
   3.1 Professionelle Translatoren/innen .................................................................................. 32
   3.2 Nicht professionelle Translatoren/innen......................................................................... 36
4. Die Berufsethik beim Dolmetschen ..................................................................................... 42
5. Empirische Studie ................................................................................................................ 48
   5.1 Zielsetzung, Forschungsfragen und Hypothesen............................................................ 48
   5.2 Datenerhebung: Das qualitative Interview ..................................................................... 49
      5.2.1 Erstellung des Interviewleitfadens ........................................................................... 51
      5.2.2 Die Interviewpartner/innen ...................................................................................... 52
   5.3 Datenaufbereitung: Transkription................................................................................... 53
   5.4 Datenanalyse: Qualitative Inhaltsanalyse ....................................................................... 54
   5.5. Interpretation der erhobenen Daten ............................................................................... 56
      5.5.1 Der Dolmetscher ...................................................................................................... 58
      5.5.2 Einsatzbereiche ........................................................................................................ 61
      5.5.3 Die Arbeit als nicht professioneller Dolmetscher .................................................... 64
      5.5.4 Probleme beim Dolmetschen ................................................................................... 68
   5.6. Diskussion der Ergebnisse............................................................................................. 70
6. Conclusio.............................................................................................................................. 74
Bibliographie ............................................................................................................................ 76
Einleitung
Das Thema dieser MA-Arbeit ist das Dolmetschen für Flüchtlinge in Kroatien. Da Kroatien
traditionell   kein       Einwanderungsland     ist   und     folglich     der    Bedarf     an
Kommunaldolmetschern/innen gering ist, liegt der Fokus dieser Arbeit auf der
Flüchtlingskrise. Diese Arbeit umfasst den Zeitraum von September 2015 (Schließung der
ungarisch-serbischen Grenze für Flüchtlinge) bis März 2016 (Schließung der Balkanroute, die
bis dahin wichtigste Fluchtroute). In diesem Zeitraum kamen zehntausende Flüchtlinge über
Kroatien in andere EU-Mitgliedsstaaten, wie zum Beispiel Österreich und Deutschland.
Während dieser Zeit engagierten sich viele Freiwillige, wie auch Behörden und internationale
Organisationen, in der Flüchtlingshilfe. Unterkunft und Verpflegung wurden vom Staat
bereitgestellt und die Flüchtlinge wurden über ihre Rechte und die Weiterreise, die viele von
ihnen noch vor sich hatten, informiert. Hierbei stellt sich die Frage, wie mit Flüchtlingen, die
vorwiegend aus dem Nahen und Mittleren Osten kamen und Arabisch, Urdu, Persisch oder
andere orientalische Sprachen sprechen, kommuniziert wurde. In Kroatien gibt es kein
Arabistik Studium. Arabisch kann nur in Sprachschulen oder im Rahmen des Turkologie-
Studiums an der Philosophischen Fakultät in Zagreb gelernt werden. Zudem gibt es keine
Ausbildung zum/zur Übersetzer/Übersetzerin und/oder Dolmetscher/Dolmetscherin für
orientalische Sprachen.

Im Rahmen dieser Forschungsarbeit gilt zu erforschen, wie das Dolmetschen während der
Flüchtlingskrise in Kroatien organisiert war beziehungsweise wie es in der Praxis
funktionierte. Um dies zu erreichen, wurden themenbezogene Forschungsfragen formuliert.
Die erste Frage beschäftigt sich mit den Dolmetschern/innen, die eingesetzt wurden. Dabei
wird erforscht, wer und für welche Sprachen als Dolmetscher/in eingesetzt wurde und ob es
sich um professionelle oder nicht professionelle Dolmetscher/innen handelte. Das Ziel der
zweiten Forschungsfrage ist herauszufinden, was diese Dolmetscher/innen dazu bewegte, für
Flüchtlinge zu dolmetschen. Besonderes Augenmerk gilt dabei der persönlichen Motivation.
Die dritte Fragestellung bezieht sich auf das Engagement. Hierbei wird erforscht, wie die
Dolmetscher/innen zu ihrer Tätigkeit kamen, ob sie beauftragt wurden oder sich freiwillig
meldeten. Der Fokus der vierten Forschungsfrage liegt auf der Tätigkeit selbst, das heißt, aus
welchen Aufgaben die Tätigkeit bestand, wie sie organisiert war, wie und wo gedolmetscht
wurde und ob es Probleme gab. Es wird angenommen, dass hauptsächlich nicht professionelle
Dolmetscher/innen beziehungsweise Laiendolmetscher/innen zum Einsatz kamen, weil für die
nötigen Sprachen keine ausgebildeten Dolmetscher/innen zur Verfügung standen. Ohne den

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Einsatz von nicht professionellen Dolmetschern/innen wäre die Kommunikation mit den
Flüchtlingen wesentlich erschwert oder gar unmöglich gewesen. Da NPIT (Non-Professional
Interpreting   and    Translation)    ein   wachsendes      Forschungsfeld    innerhalb    der
Translationswissenschaft darstellt und es in Kroatien bislang weitgehend unerforscht blieb, ist
diese MA-Arbeit ein wertvoller wissenschaftlicher Beitrag zur Erforschung dieses Bereiches
in Kroatien.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Blockfreienbewegung, eine internationale
Organisation von Staaten, gegründet. Die Mitgliedsstaaten der Bewegung hatten kein
Interesse am Ost-West-Konflikt und widmeten sich ihren eigenen politischen Bedürfnissen.
Ihr Hauptziel war es, ihre „frisch erworbene Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gegenüber
neuerlicher Einmischungen und Fremdbestimmung von außen abzusichern und auszuweiten“
(Woyke 1986:81). Die Organisation wurde Anfang der sechziger Jahre vom damaligen
jugoslawischen Präsidenten Tito, dem ägyptischen Staatschef Nasser und dem indischen
Premierminister Nehru, die sich alle keinem der zwei existierenden Militärblöcke anschließen
wollten, ins Leben gerufen. Bis Mitte der Achtziger beteiligten sich über 100 Länder,
vorwiegend aus Asien und Afrika, an der Blockfreienbewegung. Die Mitgliedsstaaten setzten
sich vorwiegend für eine friedliche Koexistenz ein, versuchten gute internationale
Beziehungen zu pflegen und wirtschaftlich zusammenzuarbeiten. Die Zusammenarbeit in
mehreren Bereichen sollte zur Entwicklung der Drittländer beitragen und es ihnen
ermöglichen, als Gegengewicht zu den damaligen Großmächten zu agieren (vgl. Woyke
1986:81ff.). Das ehemalige Jugoslawien, als ein Mitgliedsland der Bewegung der blockfreien
Staaten, arbeitete   ebenfalls   eng mit     anderen Mitgliedsländern      zusammen. Diese
Zusammenarbeit wirkte sich auch auf Universitäten und Hochschulen aus und ermöglichte
einen Studierendenaustausch zwischen Mitgliedsländern. Im Rahmen dessen kamen viele
Studenten/innen aus Ägypten, Libyen oder Syrien nach Jugoslawien für das Studium. Nach
dem Abschluss ihres Studiums blieben einige von ihnen im damaligen Jugoslawien
beziehungsweise im heutigen Kroatien. Es gibt auch andere, spätere Beispiele von
Migranten/innen aus dem Nahen und Mittleren Osten, die sich in Kroatien niedergelassen
haben und dort ihre Familien gründeten. Es wird angenommen, dass gerade diese Menschen
oder ihre Familienmitglieder, die noch während des ehemaligen Jugoslawiens nach Kroatien
kamen, während der Flüchtlingskrise als Dolmetscher/innen tätig waren. Dank ihrer
muttersprachlichen Kompetenzen in orientalischen Sprachen und in Kroatisch, agierten sie als
Dolmetscher/innen und ermöglichten die Kommunikation zwischen Behörden und

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Flüchtlingen. Weiterhin wird angenommen, dass sie zuvor keine formelle Ausbildung oder
Erfahrung im Dolmetsch- und/oder Übersetzungsbereich hatten. Obwohl es sich um nicht
professionelle Dolmetscher/innen handelt, wird angenommen, dass sie sich an die
berufsethischen         Grundprinzipien           und            Standards           (Professionalität,
Vertraulichkeit/Verschwiegenheitspflicht,         Genauigkeit/Vollständigkeit,           respektvolles
Verhalten, Neutralität/Unparteilichkeit) für professionelle Dolmetscher/innen hielten und
ihrer Tätigkeit verantwortungsvoll nachgingen. Diese Hypothese basiert auf der
Forschungsarbeit von Drugan, die im Laufe ihrer Untersuchungen von professionellen und
nicht professionellen Ethikkodizes zum Schluss gekommen ist, dass nicht professionelle und
professionelle Übersetzer/innen teilweise ähnliche ethische Grundprinzipien verfolgen. Der
Hauptunterschied zwischen diesen zwei Gruppen liegt, laut Drugan, im Stellenwert, der den
einzelnen Prinzipien zugeschrieben wird. Während beispielsweise drei Viertel aller nicht
profesioneller Ethikkodizes die gemeinsamen Ziele und Vorsäzte nennen, wird diese
Komponente in professionellen Kodizes nur beiläufig und in Kürze erwähnt (vgl. Drugan
2011:116ff.).     Drugans   Forschung,    trotz    ihres     Fokuses       auf   nicht   professionelle
Übersetzer/innen, diente als Basis für die Ausarbeitung der Hypothese für diese Arbeit, die
sich mit nicht professionellen Kommunaldolmetscher/innen befasst.

Der Aufbau dieser Arbeit gliedert sich in mehrere Kapitel, die im Folgenden kurz vorgestellt
werden sollen. Nach der vorliegenden Einleitung folgt ein kurzer Überblick über den Konflikt
in Syrien und die darauffolgende Flüchtlingskrise in Kroatien. Zudem werden beim Überblick
über den Konflikt in Syrien in einem Unterkapitel die Unterschiede zwischen Migration und
Flucht erörtert, da sie im Zusammenhang mit Konflikten und/oder Kriegen oft verwechselt
werden. Das Thema der Flüchtlingskrise in Kroatien wird näher beleuchtet, indem erörtert
wird, wie Flüchtlinge nach Kroatien kamen, wie mit ihnen kommuniziert wurde, wer
gedolmetscht hat und welchen Herausforderungen sich Hilfsorganisationen und die Regierung
bei der Beauftragung von Dolmetschern/innen stellen mussten. Da diese Arbeit thematisch
zum     Kommunaldolmetschen         gehört,       wird       dieses    näher        betrachtet.    Das
Kommunaldolmetschen als Forschungsfeld innerhalb der Translationswissenschaft wird
dargestellt und von anderen Dolmetschbereichen abgegrenzt. Hierbei wird näher auf den
Bereich des Dolmetschens für Migranten/innen und Flüchtlinge eingegangen. Darauf folgt
eine Diskussion über die Anforderungen und Erwartungen an Kommunaldolmetscher/innen.
Hier   werden     die   Hauptvoraussetzungen      für      erfolgreiches     Dolmetschen     und   die
Herausforderungen, mit denen Dolmetscher/innen im kommunalen Bereich zu kämpfen

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haben, genannt. Das letzte Unterkapitel zum Thema Kommunaldolmetschen beschäftigt sich
mit dem Status und den Rollenbildern von Kommunaldolmetschern/innen. Der Schwerpunkt
liegt auf der unterschiedlichen Wahrnehmung von Kommunaldolmetschern/innen in der
Öffentlichkeit. Thematisch ist das nächste große Kapitel den professionellen beziehungsweise
nicht professionellen Translatoren/innen gewidmet. Verschiedene Ansätze und Definitionen
diesbezüglich werden diskutiert und gegenübergestellt. Diesem folgt ein Kapitel über die
beruflichen und ethischen Grundprinzipien beim Dolmetschen. Ethische Normen und
Konventionen, die beim professionellen Dolmetschen vorausgesetzt werden, werden
dargelegt und analysiert. Weiterhin werden potenzielle ethische Konflikte (zum Beispiel
Loyalität und Neutralität in Konflikt- oder Extremsituationen) beim Dolmetschen erörtert und
ein Vergleich mit der Tätigkeit von nicht professionellen Dolmetschern/innen wird gezogen.

Den praktischen Teil dieser Arbeit bildet ein semistrukturiertes Interview, das mit einem nicht
professionellen Dolmetscher, der während der Flüchtlingskrise in Kroatien tätig war, geführt
wurde. Um die Forschungsfragen dieser Arbeit zu beantworten und der Hypothese
nachzugehen, wurde für die Analyse des Interviews eine qualitative Forschungsmethode
angewendet. Die Durchführung des Interviews, die Beschreibung der angewandten
Forschungsmethode und die Interpretation der gewonnenen Daten erfolgen in jeweils
separaten Kapiteln. Anschließend werden die Analyseergebnisse zusammengefasst und
diskutiert.

Das primäre Ziel dieser Arbeit ist die Erforschung von nicht professionellem Dolmetschen
während der Flüchtlingskrise in Kroatien mit Blick auf die ethischen Grundprinzipien des
professionellen Dolmetschens.

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1. Der Konflikt in Syrien
Einleitend wird der Syrien-Konflikt erörtert. Der Zeitrahmen, die Hintergründe, die
Akteure/innen und die Folgen des Konfliktes werden dargelegt, um die Basis für diese Arbeit
zu legen. Es folgt die Erklärung der Begriffe „Migration“ und „Flucht“, die oft verwechselt
und folglich als Synonyme verwendet werden. Weiterhin werden Migrationstypen, das Push-
Pull-Modell der Migration und die mikro- und makroökonomischen Theorien der Migration,
definiert, erklärt und abgegrenzt. Zuletzt folgt die Darstellung der Flüchtlingskrise in
Kroatien.

1.1 Der Syrien-Konflikt im Überblick
Mit dem Syrien-Konflikt kam der Krieg vor die Türen der Europäischen Union. „Der syrische
Aufstand als Teil der regionalen, arabischen Revolte begann im März 2011“ (Bank/Mohns
2013:85). Zu dieser Zeit war der Arabische Frühling im vollen Gang, in Tunesien und
Ägypten waren die Staats- und Regierungsoberhäupter bereits gestürzt. Der Ausbruch der
Konflikte in Syrien war nun eine Fortsetzung der Protestwelle, die durch die arabische Welt
zog (vgl. Bank/Mohns 2013:85). Die anfangs friedlichen Protestbewegungen in Syrien
forderten Reformen im Land, der Sturz des Regimes wurde erst später zu ihrem Ziel.
Verschiedene Protestgruppen forderten politische, wirtschaftliche und soziale Reformen, und
erste Rufe nach Demokratie wurden laut (vgl. Becker 2016:84).

Die ersten Protestbewegungen fanden auf lokaler Ebene statt und waren dezentralisiert. Die
weitgehend friedlichen Gruppen samt Opposition waren sich zu Beginn der Proteste einig, die
territoriale Integrität Syriens und die Einigkeit des Volkes zu erhalten (vgl. Phillips 2015:359;
van Dam 2017:o.S.; Asseburg 2014:98). Nationale Fragen waren für die Protestgruppen und
die Opposition wichtiger als die Spaltung der Bevölkerung entlang ethnischer und
konfessionell-religiöser Linien. Obwohl sich die syrische Gesellschaft aus vielen
verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammensetzt, wie beispielsweise den Alawiten/innen,
Sunniten/innen, Schiiten/innen, Christen/innen und Kurden/innen, waren die einzelnen
Interessen   der   jeweiligen    Gruppen     zu    Beginn     nicht   im    Vordergrund.     Die
Demonstranten/innen identifizierten sich als ein Volk, erst als Syrer/innen und dann als
Mitglied einer Gruppe (vgl. van Dam 2017:o.S.; Phillips 2015:359). Die Slogans, die sie bei
Protesten skandierten und mit denen sie ihre Ziele ausdrücken und ihre Einheit beweisen
wollten, lauteten: „„Gott, Syrien und Freiheit“ (in Abwandlung des Regime-Leitspruchs
„Gott, Syrien und Baschar“), „friedlich, friedlich“ und „das syrische Volk ist eins““

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(Asseburg 2014:96). Mit der Zeit änderten sich aber die Forderungen der Protestgruppen und
es kam vermehrt zur Fragmentierung innerhalb der einzelnen Gruppen entlang konfessionell-
religiöser Linien:

              Der im Süden des Landes entfachte, zu Beginn von Seiten der
              Protestbewegung gewaltlos geführte Volksaufstand hat sich sukzessive in
              eine bewaffnete Revolte transformiert, die in einigen Landesteilen Merkmale
              eines Bürgerkriegs angenommen hat. (Bank/Mohns 2013:85f.)

Obwohl die Einheit des Volkes einst so betont wurde, verlor sie mit der Zeit an Bedeutung.
Unter internationaler Beobachtung entfaltete sich der Konflikt zu einem offenen Bürgerkrieg,
den niemand vorhersehen konnte und dessen Ende nicht absehbar ist (vgl. van Dam
2017:o.S.).

Mitte März 2011 brachen die ersten „Proteste in der südsyrischen Stadt Dara’a aus, die sich
innerhalb weniger Wochen in ganz Syrien ausbreiteten“ (Bank/Mohns 2013:88). Der Grund
warum die initialen Protestbewegungen in ländlichen Regionen als Erstes ausbrachen, liegt in
der Tatsache, dass diese Gegenden Armut, soziale Ungleichheiten, wirtschaftliche Probleme,
Arbeitslosigkeit, Korruption und die Repression des Staates am meisten zu spüren bekamen.
Die Kluft zwischen ländlichen Gegenden und urbanen Zentren, und der Bevölkerung, die in
den jeweiligen Orten wohnte, war in Syrien besonders stark ausgeprägt. Die Bewohner/innen
der urbanen Zentren, wie beispielsweise Aleppo und Damaskus, konnten sich mit den
Problemen der Menschen in ländlichen Regionen nur teilweise identifizieren (vgl. van Dam
2017:o.S.; Asseburg 2014:96ff.; Bank/Mohns 2013:88f.).

Wie bereits angedeutet, waren die ersten Protestbewegungen weitgehend friedlicher Art.
Menschen versammelten sich auf den Straßen und verlangten Reformen, die ihnen ein
besseres Leben hätten ermöglichen sollen. Anfangs reagierte das Regime noch mit
Verhaftungen, doch als die Proteste anfingen, immer mehr Menschen anzuziehen, antwortete
Präsident Bashar al-Assad mit Gewalt. Während das Regime noch zu Beginn mit
Reformversprechen und Verhaftungen versuchte, die Lage zu stabilisieren, wurde es mit der
Zeit immer brutaler im Umgang mit den Demonstranten/innen. Präsident al-Assad antwortete
mit Gewalt und setze das Militär ein. Er wollte wieder die Kontrolle über die Situation
zurückerlangen und den Demonstrationen ein Ende setzen. Folter, Verhaftungen,
Misshandlungen und weitere brutale Methoden wurden zum Merkmal des Regimes. Die
enorme Brutalität mit der al-Assad vorging, führte dazu, dass sich immer mehr Menschen

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gegen das Regime wandten und auf die Straßen gingen, was folglich zu noch mehr Unruhen
führte. Mittlerweile verlangten die Demonstranten/innen nicht nur Reformen, sondern auch
den Sturz des Regimes (vgl. Asseburg 2014:96f.; Bank/Mohns 2013:89f.).

Baschar al-Assad aus der al-Assad Familie trat im Jahr 2000 als Nachfolger seines Vaters
Hafiz al-Assad das Amt des syrischen Präsidenten an. Hafiz al-Assad ergriff die Macht nach
einem Militärputsch 1970 und war der erste Präsident, der der religiösen Minderheit der
Alawiten/innen angehörte und somit die Tradition der sunnitischen Präsidenten brach (vgl.
Marsing 2012:39f.). Die alawitische Minderheit wurde im Laufe seiner Amtszeit die
mächtigste Gruppe innerhalb des Landes, obwohl sie nur zehn bis zwölf Prozent der syrischen
Bevölkerung, die 22 Millionen Menschen umfasst, ausmacht. Die Mehrheit der Syrer/innen
sind Sunniten/innen (65 Prozent), während der Rest der Bevölkerung der christlichen (10
Prozent) oder sunnitisch-kurdischen (10 Prozent) Gemeinde angehört (vgl. Hokayem
2013:17).

Hafiz al-Assad hinterließ seinem Sohn einen autoritären Staat, über den er Jahrzehnte lang mit
harter Hand regierte. Zudem installierte er zahlreiche Mitglieder seiner Familie, wie auch
andere Alawiten/innen aus den einflussreichen Kreisen Syriens an wichtigen Posten innerhalb
der Regierung, der Partei, der Armee, des Sicherheitsapparates und der Wirtschaft. Eine
Praxis, die auch Baschar al-Assad fortführte. Somit wurde die syrische religiöse Minderheit
der Alawiten/innen, die zum schiitischen Spektrum des Islams gehört, Machtträger innerhalb
eines Landes in dem Sunniten/innen die Mehrheit bilden (vgl. Marsing 2012:39).

            Nahezu alle politischen Schlüsselrollen sind in Syrien mit alawitischen
            Politikern, Funktionären und Offizieren besetzt. Die massgeblichen
            Entscheidungsträger zeichnen sich vielfach durch eine verwandtschaftliche
            Verbundenheit zur al-Assad-Familie aus. Die Kabinettsliste der Regierung
            ist ein deutliches Spiegelbild des alawitischen „Patronage- und
            Klientelsystems“ und die Offiziersriege des Militär besteht zur 80-90
            Prozent aus Alawiten. (Marsing 2012:39)

Der Nepotismus und politische Klientelismus, die von Hafiz al-Assad eingeführt und von
seinem Sohn fortgeführt wurden, ermöglichten es der Glaubensgruppe der Alawiten/innen an
die Macht zu kommen und ihren Einfluss von dort aus auszubreiten. Die Alawiten/innen
wurden zur mächtigsten Gruppe innerhalb des Landes, die den Sicherheitsapparat benutzte,
um Syrer/innen zu kontrollieren und an der Macht zu bleiben. Baschar al-Assad übernahm
2000 auch den Vorsitz in der Baath-Partei, der führenden Partei des Landes. „Die alawitische

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Glaubensgruppe ist innerhalb der Baath-Partei traditionell überproportional stark vertreten“
(Marsing 2012:35), doch auch der Anteil an Sunniten/innen stieg während Hafiz al-Assads
Amtszeit. Es wird angenommen, dass dies eine Maßnahme zur Machtfestigung war, da die
Baath-Partei eine große Rolle innerhalb Syriens spielt. Sie ist nicht nur die führende Partei des
Landes, sondern dient als Festung Baschar al-Assads und als Mittel zur Kontrolle seiner
eigenen Landsleute (vgl. Marsing 2012:35-39).

Mit der Zeit formten sich aus den Reihen der friedlichen Demonstranten/innen verschiedene
Gruppen, die gegen die Regimekräfte, insbesondere das Militär, kämpften. Teile der
Protestbewegungen, die „in grenznahen Gebieten verortet                waren, wurden durch
Schmugglernetzwerke aus dem Libanon, der Türkei und Jordanien mit Kleinwaffen versorgt“
(Bank/Mohns 2013:91). Teile der syrischen Armee, hauptsächlich Deserteure/innen
versammelt um den Offizier Riad al-Asaad, wehrten sich gegen die Verordnungen des
Präsidenten und gründeten im Sommer 2011 im türkischen Exil die Freie Syrische Armee
(FSA). Die FSA wurde zu einer der bekanntesten und größten Gruppen, die gegen das
Regime kämpfte und von westlichen Ländern teilweise unterstützt wurde. Die FSA kann
jedoch nicht als klassische Armee bezeichnet werden, da sie sich aus verschiedenen
dezentralisierten Protestbewegungen zusammensetzt, die zwar gleiche oder ähnliche Ziele
verfolgten, jedoch nicht als eine Einheit fungierten. Dazu verfügte die FSA über keine
ausgebildeten Soldaten/innen, sondern war auf die Teilnahme und Mitgliedschaft von
Deserteuren/innen und Zivilisten/innen, die lokal handelten, angewiesen (vgl. Asseburg
2014:99f.;   Phillips 2015:359;     van   Dam     2017:o.S.;   Bank/Mohns 2013:96f.). Die
Schmuggelnetzwerke ermöglichten die Bewaffnung verschiedener Protestgruppen, die immer
fragmentierter wurden und anfingen, sich entlang ethnischer und religiöser Linien zu teilen.
Gewalt, Exekutionen und weitere Gräueltaten wurden zum Alltag in zahlreichen syrischen
Städten und Provinzen. Neben der FSA wurde im türkischen Exil auch der Syrische
Nationalrat (SNR) gegründet. Diese Koalition vereinigte verschiedene Gruppen jenseits ihrer
persönlichen Bekenntnisse und sollte vor allem „als Ansprechpartner für die internationale
Gemeinschaft fungieren und Unterstützung für die syrische Revolution generieren“ (Asseburg
2014:98). Das Nationale Koordinierungskomitee für demokratischen Wandel (NKDW) aus
Damaskus, eine weitere politische Oppositionsgruppe, setzte sich ebenfalls aus verschiedenen
Bevölkerungsgruppen zusammen und strebte ähnliche Ziele wie das SNR an. Eine
Zusammenarbeit des SNR und des NKDW kam aber nie zustande, da sie sich über
Vorgangsweise und Mittel zur Erlangung ihrer Ziele nicht einigen konnten. Beide politischen

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Oppositionsgruppen wünschten sich zwar einen höheren Grad an Einfluss auf die Ereignisse
im Land und strebten Veränderungen an, ihr wahrhaftiger Einfluss blieb aber marginal (vgl.
Bank/Mohns 2013:94ff.).

Die stark fragmentierte syrische politische Opposition erwies sich als unkoordiniert,
dezentralisiert und ineffektiv, da Angriffe auf die Regimekräfte oft nur lokal und impulsiv
beziehungsweise ohne Struktur und sorgfältige Planung durchgeführt wurden. Der Mangel an
Koordination und Einheit in den Reihen der Opposition verschaffte dem Regime einen
Vorteil, da die Opposition keine wahre Bedrohung für sie darstellte. Die Regimekräfte waren
im Gegensatz zur Opposition besser organisiert und wurden immer brutaler im Umgang mit
der Opposition und den Demonstranten/innen (vgl. Bank/Mohns 2013:94ff.). Während das
Regime zu Beginn der Proteste mit gewaltsamen Unterdrückungen und Reformen die
Verbreitung der Protestbewegungen verhindern wollte, wechselte es mit der Zeit seine
Vorgangsweise.

           In seiner Aufstandsbekämpfung stützt sich das Regime auf einen
           weitverzweigten Sicherheitsapparat, Eliteeinheiten, Teile der Armee,
           bewaffnete Mitglieder der Ba‘th-Partei und bewaffnete irreguläre Milizen,
           die sogenannten schabīha (arab. „Geister“), die sich aus zivilen
           Unterstützern des Regimes und Mitgliedern klandestiner, ehemals
           krimineller Netzwerke zusammensetzen. (Bank/Mohns 2013:92)

Mit Unterstützung der genannten Gruppen setzte das Regime auch auf gezielte
Medienkampagnen,       die    die    Demonstranten/innen       als         Terroristen/innen   und
Unruhestifter/innen   darstellten   und    die    Regimekräfte       als     Befreier/innen.   Der
Sicherheitsapparat, die Eliteeinheiten und Teile der Armee, die sich alle vorwiegend aus
Familienmitgliedern   der    al-Assad   Familie   und/oder    Mitgliedern        der   alawitischen
Glaubensgemeinschaft zusammensetzen, waren jedoch das wichtigste Mittel al-Assads in der
Bekämpfung der Aufstände (vgl. ibid.:92f.).

Der Konflikt in Syrien beeinflusste nicht nur die politische Dynamik des Landes, sondern
auch die Zivilgesellschaft. Der Einsatz der Armee änderte den Charakter der
Protestbewegungen. In kurzer Zeit eskalierten die friedlichen Proteste. Die Opposition
antworteten ebenfalls mit Gewalt auf al-Assads Unterdrückungen. Die ethnische und religiös-
konfessionelle Vielfalt innerhalb der Oppositionsgruppen verlor an Bedeutung und wurde
zum Problem. Dies führte zu Fragmentierungen innerhalb der Oppositionsgruppen und damit

                                                                                                 9
verloren die Bewegungen an Legitimität und Stärke. Die FSA und die verschiedenen
Oppositionsgruppen wehrten sich gegen die Regimekräfte und lieferten sich Kämpfe in
Dörfern, Städten und ländlichen Gebieten. Während der Kämpfe kamen zahlreiche Menschen
ums Leben, tausende wurden schwer verletzt und weitere Millionen wurden gezwungen, sich
auf die Flucht zu machen. Auf jede Aktion der FSA und der Oppositionsgruppen antwortete
das Regime mit noch mehr Brutalität. Die Einsätze der Luftwaffe verliehen dem Konflikt eine
neue Dimension und den Regimekräften einen Vorteil. Der Höhepunkt der Konflikte wurde
im Sommer 2013 erreicht, als Chemiewaffen in einem Ort in der Nähe von Damaskus
eingesetzt wurden. Al-Assad wurde des Angriffes beschuldigt und die internationale
Gemeinschaft reagierte mit Empörung (vgl. Asseburg 2014:99-102; Bank/Mohns 2013:96-99;
Hokayem 2013: 39-104).

Grundsätzlich lässt sich das Verhalten der internationalen Gemeinschaft in Bezug auf Syrien
in zwei Lager aufteilen: Unterstützer/innen und Opponenten/innen von al-Assad. Zu Beginn
erwarteten viele westliche Staats- und Regierungsoberhäupter, dass das Regime als Folge der
Protestwellen, ähnlich wie in einigen anderen Ländern in der Umgebung, fallen würde. Sie
waren davon überzeugt, dass al-Assad bald zurücktreten würde, um größere Konflikte und
Gewaltausbrüche zu verhindern. Die Stärke des Regimes und al-Assads Kontrolle über das
Land wurden massiv unterschätzt. Die Türkei, einer der wichtigsten syrischen Handelspartner,
löste einige Abkommen auf und sprach sich gegen das Regime aus. In der Arabischen Liga
wurden die syrische Mitgliedschaft suspendiert und Sanktionen eingeführt, während zugleich
zwischen dem Regime und der Opposition Mediationsgespräche organisiert wurden. Es wurde
versucht, al-Assad zum Rücktritt zu bewegen, in dem immer mehr Druck von allen beteiligten
Seiten auf ihn ausgeübt wurde. Militärinterventionen auf syrischem Boden wurden jedoch von
allen internationalen Akteuren/innen von Anfang an abgelehnt, um größeren Konflikten und
Gewaltausbrüchen in der Region vorzubeugen. Weitere Maßnahmen die westliche Länder
gegenüber Syrien ergriffen waren fast ausschließlich durch die innen- und außenpolitische
Situation im eigenen Land eingeschränkt. Kein Land wollte innenpolitische Probleme und
Auseinandersetzungen mit wichtigen internationalen Partnern/innen riskieren. Einige EU-
Mitgliedsstaaten, die Türkei und die USA versuchten der Opposition und Rebellen/innen zu
helfen, indem sie „überwiegend politische und logistische, zum Teil auch militärische
Unterstützung“ (Asseburg 2014:104) zur Verfügung stellten. Die Waffenlieferung hielt sich
jedoch in Grenzen, aus Angst, dass die Waffen nicht an ihr Ziel gelangen würden. Die geringe
Hilfe, die die Opposition und die Rebellen/innen vom Westen erhielten, war nicht

                                                                                         10
ausreichend, um gegen die Regimekräfte anzukämpfen und größere Durchbrüche zu
erreichen. Saudi-Arabien und Katar verfolgten ihre eigene Politik gegenüber Syrien, während
der Iran und Libanon al-Assads Regime weiterhin unterstützen und im internationalen Umfeld
verteidigten. China und Russland legten mehrere Male ein Veto gegen eine Resolution des
UN-Sicherheitsrates gegen Syrien ein. Russland erwies sich als al-Assad größter Unterstützer
und Partner und verhinderte jegliche Versuche, ihn und sein Regime zu stürzen. Russland
verfolgte eigene Interessen in Syrien und pflegt politische Beziehungen, die weit in die
Geschichte reichen und in deren Mittelpunkt die geo-politische Bedeutung Syriens für
Russland steht (vgl. Hokayem 2013:105-190; van Dam 2017:o.S.; Bank/Mohns 2013:99-102;
Asseburg 2014:99-105).

„Die Gewalteskalation hat zur Radikalisierung der Rebellen beigetragen“ (Asseburg/Wimmen
2012:2). Vor allem bei Mitgliedern der sunnitischen Glaubensgemeinde ist eine
Radikalisierung zu beobachten. Der Dschihad wurde zum Mittelpunkt im Kampf gegen das
Regime. Die Errichtung eines islamischen Staates, beziehungsweise eines Kalifates mit dem
sunnitischen Islam als Staatsreligion wurde zum ultimativen Ziel. Nicht nur Syrer/innen
schlossen sich den Dschihadisten/innen an, sondern auch viele freiwillige ausländische
Kämpfer/innen, was zur Komplexität des Krieges in Syrien beitrug. Islamistische
Organisationen, wie beispielsweise Ahrar ash-Sham und Jaysh al-Islam wurden gegründet,
wie auch die dschihadistische al-Nusra-Front, die Beziehungen zur al-Qaida pflegte. Der IS
(Islamischer Staat) breitete sich aus dem Irak nach Syrien aus. Somit wuchs die Zahl der
Terrorzellen in Syrien, die eine direkte Bedrohung für westliche Länder darstellten. Der
Bürgerkrieg in Syrien erwies sich als fruchtbarer Boden für die Gründung extremer
Terrorzellen, die Angst und Schrecken innerhalb und außerhalb Syriens verbreiteten. Die
verschiedenen extremistischen Organisationen wurden aus mehreren internationalen Quellen
finanziert, was ihnen eine rasche Ausbreitung ermöglichte. Das Hervortreten solcher
Organisationen und die Bedrohung, die sie für den Westen darstellten, zwang die USA und
einige EU-Länder ihre Politik gegenüber Syrien zu ändern und den Fokus auf die
Terrorbekämpfung zu legen (vgl. van Dam 2017:o.S.; Bank/Mohns 2013:99-102; Hokayem
2013:68-104; Asseburg 2014:99-105; Balanche 2018:68-91).

Die Zwischenbilanz des Krieges in Syrien ist katastrophal. Seit seinem Beginn im Jahr 2011
sind über 400.000 Menschen ums Leben gekommen. Über 5,6 Millionen Menschen haben
Syrien verlassen. Rund drei Millionen wurden in Flüchtlingslagern in der Türkei

                                                                                         11
aufgenommen, während sich der Rest in Flüchtlingslagern in Jordanien, im Libanon, dem Irak
und Ägypten befindet. Ein Teil fand Zuflucht in westlichen Ländern. Über 6,5 Millionen
Menschen sind Opfer interner Vertreibungen und insgesamt 13 Millionen Syrer/innen
befinden sich in Not und brauchen humanitäre Hilfe. Seit Beginn der Konflikte wurde ein
Drittel des Wohnungsbestandes und die Hälfte aller medizinischen Einrichtungen und
Bildungsinstitutionen entweder beschädigt oder zerstört. Die syrische Wirtschaft leidet
ebenfalls unter den Folgen des Krieges. 538.000 Arbeitsplätze gingen jährlich seit Beginn des
Konflikts verloren und neun Millionen Menschen arbeiten zurzeit nicht. Insgesamt schätzt die
Weltbank die wirtschaftlichen Verluste Syriens seit 2011 auf 226 Milliarden US-Dollar (vgl.
The World Bank 2017; UNHCR 2018). Neben der wirtschaftlichen Dimension dürfen die
menschlichen Schicksale nicht außer Acht gelassen werden. Millionen von Syrern/innen
kämpfen täglich ums Überleben und ein Ende des Konfliktes ist nicht in Sicht. Jegliche
Mediationsgespräche und Verhandlungen führten nicht zu Frieden, sondern ermöglichten es
lediglich, den Menschen in Not humanitäre Hilfe zu bieten.

Das Verhältnis des Westens gegenüber dem Konflikt in Syrien lässt sich in wie folgt
zusammenfassen:    fehlgeschlagene    Massnahmen     und     verpasste   Möglichkeiten.   Die
Friedensaufrufe blieben nur Aufrufe und konkrete Maßnahmen wurden nicht ergriffen. Zu
Beginn der Konflikte setzte der Westen den Fokus auf al-Assads Rücktritt und versuchte ihn
unter Druck zu setzen, unternahm jedoch keine Interventionen aus Angst vor innen- und
außenpolitischen Auseinandersetzungen. Danach kamen islamistische Organisationen, vor
allem der IS, die eine Bedrohung für den Westen darstellten und der Schwerpunkt wurde auf
dessen Bekämpfung gesetzt. Zuletzt kamen hunderttausende Flüchtlinge nach Europa und
Europa kümmerte sich erneut um sich selbst und seine Grenzen. Die wahren Ursachen des
Konfliktes in Syrien wurden nie angesprochen und die Reaktionen des Westens hielten sich in
Grenzen. Das Problem der Flüchtlinge wurde als ein internes politisches Problem gesehen und
die Angst vor einer Islamisierung europäischer Bevölkerungen wuchs, während die
menschlichen Schicksale von Millionen Syrer/innen außer Acht gelassen wurden (vgl. van
Dam 2017:o.S.; Asseburg 2014:105-106; Hokayem 2013:191-210).

1.1.1 Migration als Begriff
Migration, wie auch die Unterbegriffe Emigration und Immigration, werden oft synonym
verwendet, obwohl sie eigentlich keine Synonyme sind. Dazu kommen noch die Begriffe

                                                                                           12
Asylwerber/in und Flüchtling, die ebenfalls inkorrekt verwendet werden. Im Rahmen der
vorliegenden Arbeit ist deshalb eine differenziertere Erläuterung der Begriffe notwendig.

Der Duden definiert Migration als „(Soziologie) Abwanderung in ein anderes Land, in eine
andere Gegend, an einen anderen Ort“ (Duden online 2018) wobei der/die Migrant/in jene
Person ist, die freiwillig ins Ausland zieht oder schon umgezogen ist, beziehungsweise ihren
Wohnort innerhalb eines Landes verlegt hat. Hierbei sind die Umzugsgründe und der
rechtliche Status der Person irrelevant (vgl. International Organization for Migration
2004:41). Im Vorfeld festgelegte Aufenthalte an einem anderen Ort innerhalb oder außerhalb
des Landes, wie beispielsweise Studienaufenthalte, werden nicht als Migration bezeichnet, da
sie zeitlich begrenzt sind. Migration wird grundsätzlich auf „Emigration (Auswanderung) aus
einem Herkunftsland und Immigration (Einwanderung) in ein Zielland“ (Treibel 2008:295;
Hervorh. i. Orig.) aufgeteilt. In diesem Zusammenhang schreibt Treibel:

           Für die meisten Migrantinnen und Migranten ist, ob ihre Wanderung nun
           dauerhaft wird oder nicht, ein Grund ausschlaggebend: Sie wollen ihr Leben
           auf eine bessere Grundlage stellen und sie entscheiden sich mehr oder
           weniger freiwillig zu diesem Schritt. Dies bezeichnet man im weitesten
           Sinne als Arbeitsmigration. Davon abgegrenzt wird die Fluchtmigration.
           Hier gibt es konkrete Akteuere wie Diktatoren oder Ereignisse, wie Kriege
           oder Erdbeben, die Menschen zur Flucht zwingen. (Treibel 2008:295;
           Hervorh. i. Orig.)

Treibel weicht in ihrer Definierung von Migration von der traditionellen Sichtweise, die
Migration nur auf Emigration und Immigration beschränkt ab, sie bezieht zusätzlich die
Begriffe Arbeits- und Fluchtmigration mit ein und stellt sie als untergeordnete Formen der
Migration dar. Arbeitsmigration ist, laut Treibel, eine Art von Migration, zu der sich eine
Person freiwillig entscheidet, während bei Fluchtmigration dies nicht der Fall ist. In der
Theorie sind diese Definitionen anwendbar, in der Praxis jedoch werden Menschen oft zu
Arbeitsmigranten/innen, weil sie die wirtschaftlichen Zustände im eigenen Land dazu
bewegen beziehungsweise „zwingen“. Bei Fluchtmigration gibt es zwar die Möglichkeit im
eigenen Land zu bleiben, diese ist jedoch mit Risiken und Angst um das eigene Leben
verbunden (vgl. Treibel 2008:295-298; Treibel 2011:20f.,157f.).

Ähnlich zu Treibel beschäftigt sich auch Han mit dem Thema Migration. Hierbei stützt er sich
auf Definitionen aus der Soziologie, die besagen, dass jeder dauerhafte Wohnortwechsel als
Migration betrachtet werden kann. Wie ein dauerhafter Wohnortwechsel zu definieren ist,

                                                                                            13
beziehungsweise welcher zeitliche Rahmen in Betracht gezogen wird, bleibt jedem Land
selbst überlassen. Weiters wird nicht jeder Wohnortwechsel Migration genannt, weil nicht
jeder Wechsel permanent ist, wie zum Beispiel im Fall von Touristen/innen und/oder
Pendler/innen. Wie auch Treibel betont Han, dass die Freiwilligkeit zum Wohnortwechsel
keine Rolle in der Definition des Begriffes Migration spielt. Migration wird „durch eine
Vielzahl zusammenhängender Ursachen und Zwänge“ (Han 2005:8) jeglicher Art ausgelöst
und „kann selten monokausal erklärt werden“ (ibid.). Die Migration wird weiterhin als ein
komplexer Prozess gesehen, der sich auf einer geistigen und physischen Ebene abwickelt, und
sich über mehrere Phasen erstreckt (vgl. Han 2005:8f.).

Wie schon von Han angedeutet, sind Migrationsgründe vielfältig und entstehen als Folge
persönlicher Erfahrungen. Da jeder Mensch eigene Erfahrungen macht und diese auch auf
eigene Weise interpretiert, unterscheiden sich die Migrationsgründe und -motive von Person
zu Person. Bei gewissen Gruppen von Menschen, die beispielsweise vor Krieg flüchten, kann
es zu einer Überschneidung von Migrationsgründen kommen. Grundsätzlich können
Migrationsmotive in zwei Gruppen aufgeteilt werden: 1) Push- und 2) Pull-Faktoren. Push-
Faktoren sind jene Gründe, die einen Menschen zur Migration bewegen. Dazu zählen Armut,
Hunger, Umweltkatastrophen, wirtschaftliche Krisen, Kriege, Naturkatastrophen, verschieden
Arten von Verfolgung und andere Gründe, durch die sich eine Person zur Flucht gezwungen
fühlt.   In   Gegensatz    zu   Push-Faktoren     stehen   Pull-Faktoren   beziehungsweise
Anziehungsgründe. Pull-Faktoren sind wie Push-Faktoren unterschiedlich. Das Versprechen
von Wohlstand und Arbeit, bessere Arbeitsmöglichkeiten, ein besseres Bildungs- und
Gesundheitswesen und weitere positive Aspekte eines Landes, durch die sich eine Person
angesprochen fühlen könnte, sind den Pull-Faktoren zuzuordnen. Push- und Pull-Faktoren
sind subjektiver Art und deren Bedeutung und Abstoßungs- und/oder Anziehungskraft hängt
von der einzelnen Person ab. Informationen über das Land aus dem geflüchtet oder in das
geflüchtet wird sind heutzutage, dank der Globalisierung und dem Internet, leicht auffindbar
und können die Entscheidung über den Verbleib oder die Flucht deutlich beschleunigen.
Darüber hinaus führte die Vernetzung von Migranten/innen über das Internet zur Gründung
von Migrationsnetzwerken, die als Informationsgruppen dienen und zugleich Unterstützung
und andere Arten von Hilfe anbieten. Diese Netzwerke haben das Potenzial, Menschen zur
Flucht zu bewegen oder sie davon abzuhalten, da sie heutzutage zu mehr Informationen in
kürzer Zeit kommen können, als es unzählige Migranten/innen vor ihnen konnten (vgl. Han
2005:14ff.; Lee 1966:49-52).

                                                                                         14
In der Migrationsforschung wird neben dem Push-Pull-Modell auch die neoklassische
Wirtschaftstheorie als Erklärungsmodell für Migration herangezogen. Diese Theorie bezieht
sich vor allem auf die Arbeitsmigration. Dabei wird zwischen dem Makro- und Mikroansatz
unterschieden. Die makroökonomische Theorie besagt, dass inländische und internationale
Migration die Folge von unterschiedlichen geografischen Angeboten und Nachfragen an
Arbeitskräften ist. Aus Ländern, die niedrige Investitionen in das Humankapital leisten,
ungenügend Kapital besitzen, einen Überschuss an Arbeitnehmern/innen und ein niedriges
Lohnniveau haben, wird meistens ausgewandert. Im Gegensatz zu ihnen stehen
Einwanderungsländer, denen es an Arbeitskräften mangelt, die das nötige Kapital besitzen
und hohe Verdienstmöglichkeiten bieten. Der Austausch an Arbeitskräften zwischen Ländern
mit wenig und Ländern mit viel Kapital wird auch als Austausch von Investitionskapital
bezeichnet. Dazu zählt auch das Humankapital des/der einzelnen Migranten/in, der/die als
hoch ausgebildete und qualifizierte Arbeitskraft in ein anderes Land auswandert. Das
Humankapital darf mit der puren Wirtschaftsmigration jedoch nicht gleichgestellt werden, da
unter Migranten/innen große Unterschiede im Ausbildungsgrad und Wissen bestehen. Der
zentrale Punkt des makroökonomischen Ansatzes ist, dass die Situation am Arbeitsmarkt
ausschlaggebend für Migration ist. Unterschiedliche Lohnniveaus in Ländern bewegen
Menschen zur Migration. Die Beseitigung dieser und/oder die staatliche Kontrolle des
Arbeitsmarkts im Aus- und Einwanderungsland würden den Anreiz zur Migration mindern
(vgl. Massey et al. 1993:433f.). Im Gegensatz zur makroökonomischen Theorie steht der
mikroökonomische Ansatz. Während beim makroökonomischen Ansatz die wirtschaftliche
Situation und ihre Auswirkung auf die Gesellschaft eine Rolle spielen, wird der Fokus im
Rahmen der mikroökonomischen Theorie auf die einzelne Person beziehungsweise den/die
Migranten/in gesetzt. Im Vordergrund stehen die Motive und Gründe, die die Person zur
Migration bewegen. Die Entscheidung zu migrieren wird aufgrund einer rationalen Kosten-
Nutzen-Analyse gefällt. Hierbei betrachtet die einzelne Person, welche persönlichen und
beruflichen Vorteile eine Auswanderung mit sich bringen würde. Neben den Vorteilen und
einer möglichen Verbesserung des Lebensstandards werden auch die Probleme, die auf eine
Person zukommen, berücksichtigt, wie zum Beispiel das Erlernen einer neuen Sprache, die
Kosten des Umzuges und die psychische Belastung, die als Folge der Trennung vom
gewohnten Umfeld entsteht. Die zentrale These der mikroökonomischen Theorie ist, dass sich
Menschen für Migration entscheiden, weil sie sich eine Verbesserung des Lebensstandards
und der -qualität erhoffen und ihre Entscheidungen in den meisten Fällen individuell sind.
Dabei werden die Kosten und Nutzen einer Migration berechnet und eine rationale

                                                                                        15
Entscheidung wird getroffen. Wenn der Nutzen der Migration die damit verbundenen
Probleme übersteigt, kommt es zur Migration. Wie auch bei der makroökonomischen Theorie,
haben Staaten die Möglichkeit den Migrationsprozess zu beeinflussen, indem sie Gesetze und
Verordnungen erlassen, die die Auswanderung ins andere Land weniger anziehend machen
(vgl. Massey et al. 1993:434ff.).

Das Push-Pull-Modell und der makro- und mikroökonomische Ansatz der Migration sind weit
anwendbar in der Migrationsforschung, vor allem im Bereich der Arbeitsmigration. Wie auch
Arbeitsmigration, ist Flucht eine Sonderform der Migration. Das Bedürfnis, die Begriffe
Flucht und Flüchtling zu definieren und erklären, kam erst nach dem zweiten Weltkrieg auf,
infolgedessen Millionen von Menschen vor Krieg, Zerstörung, Verfolgung, Hunger und
Armut aus ihren Heimatländern geflüchtet sind. Hierbei muss jedoch betont werden, dass es
Flucht und Flüchtlinge schon seit den Anfängen der Menschheit gibt und dies kein Phänomen
der neuen Zeit ist. Am 28. Juli 1951 wurde das erste universell geltende „Abkommen über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge“ im Rahmen einer UN-Sonderkonferenz in Genf
verabschiedet. Dieses internationale Dokument, das heutzutage unter dem Namen Genfer
Flüchtlingskonvention (GFK) bekannt ist, ist das wichtigste Dokument für den Schutz von
Flüchtlingen. Das Abkommen war nur der Anwendung auf europäischem Boden und für
europäische Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg gedacht, doch im Laufe der Zeit wurde
das Bedürfnis nach Schutz von nicht-europäischen Flüchtlingen bemerkt und das Abkommen
erweitert. Im Dokument wird definiert, wer das Recht auf einen Flüchtlingsstatus hat, wer ein
Flüchtling ist und welche Rechte und Pflichten die Person gegenüber dem Gastland hat.
Weiterhin werden auch die Verpflichtungen von Unterzeichnerstaaten genannt und erklärt
(UNHCR o.J.a). In Artikel 1, Absatz 2 ist festgelegt, dass als Flüchtling jede Person
bezeichnet werden kann, die:

            […] aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse,
            Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
            oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes
            befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses
            Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen
            nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher
            Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren
            gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder
            wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.
            (UNHCR o.J.b:2)

Insgesamt haben 148 Staaten die GFK unterschrieben. In nicht Unterzeichnerstaaten ist der
                                                                                            16
Schutz von Flüchtlingen nicht gewährleistet, da diese Länder eigene Vorschriften und Gesetze
in Bezug auf Flüchtlinge haben (vgl. UNHCR o.J.a).

Flüchtlinge sind zur Flucht durch die Ereignisse im eigenen Land gezwungen. Laut UNHCR
(United Nations High Commissioner for Refugees), dem Flüchtlingswerk der Vereinten
Nationen, befinden sich zurzeit über 25 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Davon
befinden sich rund 85 Prozent in Entwicklungsländern (vgl. UNHCR o.J.c). Die Problematik
der Flüchtlinge wird erst dann thematisiert, wenn sie in westliche Länder flüchten und diese
die Verantwortung für sie übernehmen müssen. Die Fluchtursachen und die Tatsache, dass
Flucht „teilweise das Ergebnis einer verfehlten Politik […] der Aufnahmeländer“ (Scheffran
1994:23) gegenüber den Fluchtländern ist, werden dabei außer Acht gelassen. Des Weiteren
tragen vor allem westliche Länder, die oft das primäre Ziel der Flüchtlinge sind und einen
Einfluss auf globaler Ebene haben, zum Menschenhandel und Menschenschmuggel bei. Ihre
verfehlte Politik macht den Verbleib im eigenen Land unmöglich und eine legale
Auswanderung in ein anderes Land wird dermaßen erschwert, dass Menschen dazu
gezwungen sind Grenzen illegal zu überschreiten. Neben Armut und Hunger sind Kriege und
bewaffnete Konflikte weltweit die größten Fluchtursachen, die zur Entstehung von
Flüchtlingsströmen führen. Ein Flüchtlingsstrom ist eine Art Migrationsstrom, den Han als
„Richtung der Migrationsbewegung von einem bestimmten Ausgangsort (Auswanderungsort)
zu einem bestimmten Zielort (Einwanderungsort) hin“ (Han 2005:10) definiert. In der
Vergangenheit wurde als Migrationsstrom die Migration von Menschen aus ländlichen
Gegenden in Städte bezeichnet. Heutzutage zeichnen sich Migrationsströme durch die
Arbeitsmigration aus, das heißt von niedrig qualifizierter Arbeitskraft in wirtschaftlich starke
Länder     und     von        hoch    qualifizierten    Arbeitnehmern/Arbeitnehmerinnen       in
Entwicklungsländer,      wo    sie   mit   ihrem   Fachwissen    einen   großen   Beitrag   zur
Entwicklungshilfe leisten können. Als Flüchtlingsstrom wird daher die Bewegung einer
Gruppe von Menschen bezeichnet, die freiwillig oder unfreiwillig ihren Wohnort verlassen
und sich auf die Flucht begeben (vgl. ibid.). Ein Beispiel für einen Flüchtlingsstrom ist jener
aus Syrien, der auch in dieser Arbeit behandelt wird.

Die GFK regelt den Rechtsstatus von Flüchtlingen, ihr Recht auf Aufnahme und Schutz. Im
Gegensatz zu Flüchtlingen stehen Asylsuchende. Asylsuchende sind jene Menschen, die sich
im Asylverfahren befinden und auf die Anerkennung ihres Flüchtlingsstatus warten. Dieser
ermöglicht ihnen den Verbleib im Land und regelt ihre Rechte und Pflichten. Das

                                                                                             17
Asylverfahren unterscheidet sich von Land zu Land und dauert unterschiedlich lang. Im Laufe
des Verfahrens muss der/die Asylsuchende beweisen, dass er/sie im eigenen Land nicht sicher
ist, Gründe dafür nennen und warum eine Rückkehr nicht infrage kommt (vgl. UNHCR o.J.d).
Nicht jede Person wird der Flüchtlingsstatus nach Abschluss des Asylverfahrens auch
anerkannt.

1.2 Die Flüchtlingskrise in Kroatien
Nachdem im Sommer 2015 die erste große Flüchtlingswelle Deutschland erreichte, kam im
September des gleichen Jahres die Flüchtlingskrise auch nach Kroatien. Das Ziel der
Flüchtlinge, die sich auf ihren Weg nach Europa aus Syrien und zahlreichen Flüchtlingslagern
in Syriens Nachbarländern machten, war Westeuropa, insbesondere Deutschland. Zuerst
führte ihre Reise aus Syrien und der Türkei über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn
und Slowenien in die wirtschaftlich starken Länder Westeuropas, wie Österreich, Deutschland
und die skandinavischen Länder. Der Weg durch diese Transitländer, später auch durch
Kroatien, die als Korridor in den Westen dienten, bekam den Namen „Balkanroute“, weil er
über die verschiedenen Länder Osteuropas beziehungsweise des Balkans führte (vgl. Berc
2018:63f.; Mikac/Dragović 2017:132). Tausende von Menschen überquerten täglich die
serbisch-ungarische Grenze nach Ungarn, bis die Regierung mit der Errichtung eines
Stacheldrahtzauns die Schließung der Grenze ankündigte. Die Anzahl der Flüchtlinge nahm
dadurch jedoch nicht ab. Eine neue Balkanroute, die durch Kroatien führte, wurde errichtet.

Am 16. September 2015 betraten die ersten Flüchtlinge den kroatischen Boden in der Stadt
Tovarnik im Osten des Landes. Daraufhin gründete die Regierung eine Koordinationsstelle
für Flüchtlingsfragen, deren Leiter der damalige Innenminister Ranko Ostojić war. Unter
seiner Leitung wurde die Verpflegung von Flüchtlingen und deren Transport zur
slowenischen Grenze organisiert. Die kroatische Regierung wollte Flüchtlinge so schnell wie
möglich zur slowenischen Grenze bringen, um ihren Verbleib auf kroatischem Boden zu
verhindern. Eine ähnliche Methode wandte auch Serbien an, das ebenfalls versuchte,
Flüchtlinge schnell von der serbisch-mazedonischen zur serbisch-kroatischen Grenze zu
befördern. Dies führte zu politischen Auseinandersetzungen zwischen Kroatien und Serbien,
weil Kroatien nicht bereit war, weitere Flüchtlinge aus Serbien aufzunehmen. Bis zum Ende
des Jahres 2015 zogen 558.724 Flüchtlinge durch Kroatien, ungefähr 10.000 Menschen pro
Tag. Davon haben nur 39 einen Asylantrag in Kroatien gestellt (vgl. Berc 2018:66;
Koprić/Škarica 2016:918; Zrinjski 2016).

                                                                                              18
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