Spectra - Spectra - Gesundheitsförderung und Prävention

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Gesundheitsförderung und Prävention | September 2020                             News, Newsletter und Podcast | www.spectra-online.ch

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                                                                                                            128

       Kinder und Jugendliche
  5    Wenn Kinder und Jugendliche Angehörige
       betreuen
       Eine Bevölkerungsbefragung zeigt, wie viele Kinder und Jugendliche sich in der Schweiz um kranke
       Grosseltern, Eltern oder Geschwister kümmern und wie es ihnen dabei geht. Die Studie macht deut-
       lich, dass eine Betreuungsaufgabe sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben kann und
       dass Unterstützung vor allem in Notfällen gefragt ist.

  6    «Ärzte sollen mit ihrer Expertise auch zum
       Allgemeinwohl beitragen»
       Susanne Stronski Huwiler, Kinderärztin und Co-Leiterin des Gesundheitsdienstes der Stadt Bern,
       erklärt im Gespräch, wieso bei Adoleszenten konkrete Präventionsbotschaften besser funktionieren
       als abstrakte. Und wieso sich Kinder- und Hausärzte stärker gesundheitspolitisch einbringen sollten.

  10   Mehr Wissen über Suizidversuche von
       LGBT-Jugendlichen
       In internationalen Studien ist gut belegt, dass queere Jugendliche im Vergleich zu heterosexuellen
       Teenagern ein stark erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten aufweisen. Doch wie sich der Prozess
       hin zum Suizidversuch gestaltet und welches etwa die genauen Hintergründe und Motive sind, liegt
       noch weitgehend im Dunkeln. Dabei sind qualitative Studien prinzipiell machbar, wie eine vom
       Bundesamt für Gesundheit (BAG) finanzierte Vorstudie nun gezeigt hat.
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Gesunde Kinder und Jugendliche:
Die Startchancen angleichen
Eine gesunde Kindheit und Jugend ist die Basis für ein                             bleiben will, fängt am besten früh        Manifest
gesundes Älterwerden. Daher investiert das BAG in das                              damit an. Gesundheit im Alter ist         Neben dieser Strategie gibt es wei-
                                                                                   oft geprägt von Gewohnheiten,             tere wichtige Initiativen, welche
körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden von                                Verhaltensweisen oder auch psy-           die Gesundheit von Kindern und
Kindern und Jugendlichen. Ein Blick auf die aktuellen                              chischen Belastungen in jungen            Jugendlichen in den kommenden
Herausforderungen und künftigen Schwerpunkte.                                      Jahren. Solche Erfahrungen kön-           Jahren fördern wollen, zum Bei-
                                                                                   nen ein Leben lang Auswirkungen           spiel das Manifest «Gesunde Kin-
                                                                                   haben.                                    der und Jugendliche», das von den
In den vergangenen Monaten hat            sum (z.B. Alkohol oder Cannabis),            Daher hat der Bundesrat in            drei Trägerinnen Public Health
das neue Coronavirus (SARS-               Bewegungsverhalten, Chemikalien          «Gesundheit 2030» folgendes Ziel          Schweiz, Swiss School of Public
CoV-2) die Schweiz verändert. Fast        (Schutz der Kinder im Haushalt)          formuliert: «Ein gesunder Start ins       Health und Departement für Ge-
alles drehte und dreht sich um die        über das Thema Impfen bis zu psy-        Leben ist eine entscheidende Vor-         sundheit der ZHAW erarbeitet
gesundheitlichen Folgen der Pan-          chischer Gesundheit und Young            aussetzung für ein gesundes Er-           wurde und von 43 Organisationen
demie, andere gesundheitliche             Carers. Die aktuelle Ausgabe von         wachsenenleben. Bund, Kantone             unterstützt wird. In diesem Mani-
Themen rückten in den Hinter-             spectra will aufzeigen, was das          sowie alle Institutionen der Erzie-       fest werden verschiedene Aspekte
grund. Die Pandemie hatte ohne            BAG unternimmt, um die Gesund-           hung und Bildung von Kindern und          im Bereich Kinder- und Jugendge-
Zweifel auch Auswirkungen auf             heit von Kindern und Jugendli-           Jugendlichen sollen Massnahmen            sundheit erörtert und Forderun-
die körperliche und psychische Ge-        chen zu schützen und zu fördern.         entwickeln für eine Nutzung bisher        gen gestellt. Das Manifest hält fest:
sundheit von Kindern und Jugend-                                                   nicht ausgeschöpfter Potenziale in        «In keinem Lebensabschnitt sind
lichen (siehe Box). Das BAG ist da-       Neue Gesamtstrategie                     der Schwangerschaft, der Früh-            Gesundheitsförderung und Prä-
ran, diese Auswirkungen zu                Im Dezember 2019 hat der Bun-            kindphase, im Kindergarten, in der        vention so wirksam, nachhaltig
analysieren und allenfalls auch           desrat die neue gesundheitliche          Schule und im Übergang zum Be-            und wirtschaftlich ertragreich wie
Massnahmen zu ergreifen. Nichts-          Gesamtstrategie «Gesundheit              ruf.» Ein zweiter Schwerpunkt ist         in Kindheit und Jugend.» Das Ma-
destotrotz ist es für das BAG wich-       2030» verabschiedet, welche die          die Vorbeugung: Gesundheitsförde-         nifest fokussiert auf alle Phasen
tig, auch die bereits laufenden           Entwicklung des schweizerischen          rung und Prävention sollen mög-           von der Geburt bis zum jungen Er-
Strategien, Programme und Pro-            Gesundheitssystems im kommen-            lichst in jungen Jahren beginnen          wachsenen und benennt mögliche
jekte im Bereich Kinder- und Ju-          den Jahrzehnt mitbestimmen               und im Erwachsenenalter ergänzt           Massnahmen, die auch dazu bei-
gendgesundheit fortzuführen. Die          wird. In der Gesamtstrategie ist         werden. Durch ein günstiges Ge-           tragen könnten, die Rollen und die
Themen, an denen das BAG neben            unter dem Ziel «Gesund älter wer-        sundheitsverhalten in jungen Jah-         Zusammenarbeit von Bund und
Corona arbeitet, sind sehr vielfäl-       den» auch die Gesundheit der Kin-        ren, aber auch durch entsprechen-         Kantonen zu schärfen und allen-
tig, wie diese nicht abschliessende       der und Jugendlichen erwähnt –           de Massnahmen im Älterwerden,             falls gemeinsame Rahmenbedin-
Übersicht zeigt: Von Substanzkon-         denn wer im Alter lange gesund           lassen sich Krankheiten vorbeugen.        gungen festzuhalten.

    Forum

     Mendrisio: Ein Blick auf gute Praxis in der Gemeinschaft
                                  «Standpunkte aufzuzeigen bedeutet unter          − Das Projekt «Rete Infanzia Mendrisio – per una progettualità integrata
                                  anderem, das narrative Kapital aller gesell-        e comunitaria» (Netzwerk Kindheit Mendrisio – für eine integrierte und
                                  schaftlichen Akteure zu mobilisieren, die in        gemeinschaftliche Politik) hat sich zum Ziel gesetzt, formelle und infor-
                                  Problemlösungen vor Ort eingebunden                 melle Netzwerke zu konsolidieren, um Erleichterungen für Familien zu
                                  sind. Dieses Kapital besteht aus Erzäh-             schaffen, die durch schwache Schutzfaktoren und hohe Risikofaktoren
                                  lungen, Geschichten, Schriften und My-              gekennzeichnet sind. Die Anlaufstelle für Familien und Jugendliche
                                  then, Traditionen, die Zeugen von Idealen           fungiert als Sponsor des Projekts und arbeitet mit 15 Partnern zusam-
                                  und Kulturen sind, die in Krisenzeiten und          men, die auf diesem Gebiet aktiv sind. In gemeinsamer Arbeit werden
                                  Zeiten des Wandels so wichtig sind wie nie          Präventions- und Fördermassnahmen aufgebaut.
                                  und welche die Qualität unserer Gegen-           − Das Projekt «Parchi animati» (Belebte Pärke) sieht die Eröffnung von
                                  wart und die Möglichkeiten für unsere               Gemeinschaftslaboratorien vor, um Bürgerinnen und Bürger, Eltern-
                                  Zukunft bestimmen.» (Bruni, 2018)                   vereine und andere im Quartier ansässige Partner einzubinden und
                                                                                      zusammen Konzepte für Pärke als ideale Orte für das Zusammensein,
     Die kooperative Gestaltung unter Einbezug aller Stakeholder ist somit            für Festivitäten und Freizeitaktivitäten von Kindern, Eltern und Gross­
     nicht nur eine Technik zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme,              eltern zu entwerfen.
     sondern vielmehr die Folge einer Sicht der Realität, in welcher die           Bürgernahe Welfare bedeutet somit eine Erweiterung des Blickwinkels
     soziale Gemeinschaft nicht nur für ihre Probleme selbst verantwortlich        auf das Stadtmanagement im weiteren Sinn und einen Einbezug von
     ist, sondern auch für die Suche nach Lösungswegen (Brunod, 2004).             Zeitfenstern und Orten, Mobilität und verschiedenen Entwicklungs-
        Diesen Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit hat sich das Amt für   formen. Die Reflexion zu diesem Thema steht bei uns für die Entwick-
     Sozialpolitik der Stadt Mendrisio zu eigen gemacht: In den letzten Jah-       lung politischer Ansätze, welche die Bürgereigenschaften zum Tragen
     ren hat es neben der üblichen Sozialarbeit, welche auf die Bedürfnisse        bringen. Derzeit geht es darum, der von der Stadtverwaltung entwi-
     der Einwohnerinnen und Einwohner eingeht, auch einen Ansatz für die           ckelten Politik Kohärenz und Kontinuität zu verleihen und die Handlun-
     Arbeit in Gemeinschaften eingeführt. Die Sozialarbeit für die Gemein-         gen der Bürgerinnen und Bürger in eine bürgernahe Welfare einzubin-
     schaft im Sinne von Welfare setzt in diesem Fall bei den Bedürfnissen         den, kurz: Es geht darum, die Schlüssel zur gegenseitigen Stärkung
     an, sie baut gemeinschaftliche Hilfsbeziehungen auf, sie holt vulnerable      und die gegenseitige Animierung zu finden.
     Personen dort ab, wo diese stehen, sie entwickelt informelle Bindungen
     und setzt Schwerpunkt bei der Inklusion und der Zusammenarbeit in
     den jeweiligen Umfeldern. Diese Ansätze haben sich zu Vorgaben für            Tiziana Madella
     das Amt für Sozialarbeit von Mendrisio entwickelt. Dieser konzeptuelle        Bereichsleiterin Sozialdienst und Anlaufstelle für Familien und Jugendliche
     Rahmen umfasst eine Reihe von Initiativen, die von der Stadt einge-           Tiziana.madella@mendrisio.ch
     leitet wurden. Hier zwei Beispiele:

2   spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche
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Aus erster Hand

                                                                                sonen. Entsprechend wichtig ist
                                                                                die changengerechte Förderung
                                                                                von gesunden Kindern und Ju-
                                                                                gendlichen. Denn wie erwähnt: In
                                                                                keinem Lebensabschnitt sind Ge-              Jasmin Rüfenacht und Jovana Hrvacanin
                                                                                sundheitsförderung und Präven­               (beide Lehre als Kauffrau im BAG)
                                                                                tion so wirksam, nachhaltig und

                                                                                                                             «Social Media
                                                                                wirtschaftlich ertragreich wie in
                                                                                dieser Lebensphase.

                                                                                                                             haben gros­sen
                                                                                                                             Einfluss»
                                                                                Grundlagen
Homeschooling ist Chance wie auch Risiko. Die schulischen Fortschritte          Das BAG stützt sich bei den Arbei-
hängen davon ab, wie gut die Kinder zu Hause betreut werden können.             ten auf verschiedene Grundlagen:
                                                                                − NCD-Strategie (Strategie zur               «Gesundheit heisst für uns, dass es einem
                                                                                   Prävention nicht übertragbarer            körperlich und psychisch gut geht. Sie hat
Das Bundesamt für Gesundheit            liegen, verstanden werden und              Krankheiten)                              für uns einen sehr hohen Stellenwert,
sieht Potenzial in vielen in den im     wirklich wirksame Massnahmen            − Strategie Sucht                            wenn nicht sogar den höchsten! Zu einer
Manifest aufgeführten Themen, et-       definiert werden. Aktuell bestehen      − Dialogbericht zu den Massnah-              guten Gesundheit kann man selber etwas
wa die Herausforderungen bei der        zum Beispiel Datenlücken in Bezug          men im Bereich der psychischen            beitragen. Wir bewegen uns gerne und
psychischen Gesundheit von Kin-         auf bestimmte Altersgruppen                Gesundheit                                achten auf eine ausgewogene Ernährung.
dern und Jugendlichen. Viele psy-       (0 bis 10 Jahre).                       − Motion Ingold (Suizid­                     Beim Sport lassen sich verschiedene As-
chische Störungen treten in jungen                                                 prävention)                               pekte kombinieren, die uns gut tun. Zum
Jahren auf, werden aber leider oft      Die Startchancen angleichen             − Betäubungsmittelgesetz                     Beispiel beim Volleyball – der Austausch
erst sehr viel später diagnostiziert.   Ein weiteres Problem ist der un-        − Strahlenschutzgesetz (Radon)               mit dem Team motiviert und die Bewe-
Bei den 8- bis 18-Jährigen ist jede     gleiche Zugang von Kindern und          − Förderprogramm betreuende                  gung macht fit und ausgeglichen.
Fünfte, jeder Fünfte mindestens         Jugendlichen zur Gesundheitsver-           Angehörige (2017–2020)                        Gesundheit ist im Trend und es gibt so
einmal psychisch auffällig und lei-     sorgung. Das beginnt bei unglei-                                                     viele Informationen dazu. Gerade bei der
det zum Beispiel unter Angst- oder      chen Startchancen der Kinder, zum                                                    Ernährung bewegen sich viele auf einem
Aufmerksamkeitsstörungen.               Beispiel aufgrund ungenügender          Kontakte:                                    schmalen Grat zwischen bewusster Ernäh-
    Eine weitere Herausforderung        Gesundheitskompetenz der Eltern         – Dagmar Costantini, Sektion                 rung und gefährlichem Gesundheitswahn.
besteht in der Suizidprävention bei     oder bei ungleichen finanziellen        Gesundheitsförderung und                     Die Social Media haben da einen grossen
Jugendlichen in der Schweiz, denn       Möglichkeiten, die Kinder sportlich     Prävention,                                  Einfluss auf viele junge Leute. Diese legen
Suizide sind nach dem Unfalltod         zu fördern (zum Beispiel Mitglie-       dagmar.costantini@bag.admin.ch               Wert auf einen schönen, schlanken Körper
die zweithäufigste Todesursache.        derbeiträge von Sportvereinen).         – Lea Pucci-Meier, Sektion Natio-            und vergleichen sich ständig mit anderen.
Etwa 30 Jugendliche im Alter von        Solche Defizite können sich auf die     nale Gesundheitspolitik,                     Das braucht mega Disziplin. Ja, und
15 bis 18 Jahren nehmen sich in         Kinder übertragen, sich über die        lea.pucci@bag.admin.ch                       manchmal denkst du dann: ‹Hm, etwas
der Schweiz jedes Jahr das Leben,       Schulzeit hindurch fortbilden, kön-                                                  mehr Sport würde mir ja auch gut tun.›
bei den 19- bis 24-Jährigen sind es     nen zu Schwierigkeiten bei der          Link:                                        Dann geht es nur noch um das äussere
etwa doppelt so viele. Die Zahl der     Lehrstellensuche oder gar zu            BAG-Dossier Gesundheit für Kinder            Erscheinungsbild und nicht um Gesund-
Suizidversuche ist etwa 10- bis 20-     Schulabbruch führen – und enden         und Jugendliche                              heit. Es kann ja nicht sein, dass ich ein
mal höher. Gemäss einer Studie          damit in langfristigen Auswirkun-       https://tinyurl.com/y7n3kme7                 schlechtes Gewissen bekomme, wenn ich
des Schweizerischen Gesundheits-        gen auf die Gesundheit dieser Per-                                                   ein Schoggi-Gipfeli esse, oder?
observatoriums Obsan geben 10                                                                                                    Wir werden ständig konfrontiert mit
Prozent der Jugendlichen und jun-                                                                                            unterschiedlichen Vorstellungen von Ge-
gen Erwachsenen an, in den letz-                                                                                             sundheit. Da muss man sich abgrenzen
ten zwei Wochen Suizidgedanken             Einfluss des neuen Coronavirus auf die                                            können. Was für die eine Person gut ist, ist
gehabt zu haben.                           Gesundheit von Kindern und Jugendlichen                                           für mich vielleicht nicht gleich gut. Die einen
    Dazu kommt eine in der                                                                                                   gehen gerne ins Fitnesscenter, die anderen
Schweiz ungenügende psychiatri-            Noch ist es zu früh, um Aussagen darüber zu machen, welche Aus-                   bewegen sich lieber in der Natur. Es ist
sche Versorgung von Kindern und            wirkungen das neue Coronavirus auf die Gesundheit von Kindern                     wichtig, dass jeder für sich herausfindet,
Jugendlichen, die mit einem Man-           und Jugendlichen haben wird. Studien dazu sind am Laufen. Klar ist                was für ihn stimmt. Das ist aus unserer
gel an derartigen Therapieplätzen          nur, dass es Auswirkungen gibt.                                                   Sicht die grösste Herausforderung.
und Fachpersonen zusammen-                    Zwar gehören Kinder und Jugendliche nicht zur Risikogruppe, aber                   Sport und Ernährung sind aber nur ein
hängt und zu langen Wartefristen           von den Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie waren und sind                     Teil der Gesundheit. Für uns ist die men-
führt. Für das BAG ist klar, dass die      sie stark betroffen. Der Lockdown führte dazu, dass der soziale Aus-              tale Gesundheit genauso wichtig. Wir
psychische Gesundheit für alle Kin-        tausch im Klassenverband, auf dem Pausenplatz unterbrochen wurde.                 denken, dass Inputs zur Gesundheitsförde-
der und Jugendlichen Nachbesse-            Zudem hingen die schulischen Fortschritte in dieser Zeit auch davon               rung von Eltern oder Lehrpersonen hilf-
rungen benötigt, von der Präven­           ab, wie gut die Kinder zu Hause betreut wurden. Damit stellt sich die             reich sind, aber ab einem bestimmten Alter
tion bis hin zur psychiatrischen           Frage nach der Chancengerechtigkeit: Insbesondere für benachteiligte             ist jeder für die eigene Gesundheit verant-
Versorgung.                                Kinder besteht die Gefahr, dass sie durch Fernschule schulisch weiter             wortlich. Freizeit mit anderen Menschen zu
                                           abgehängt wurden. Dies kann bei den Kindern Stress verursachen.                   verbringen, tut sicher gut. Man muss aber
Mangel an Daten                               Eine Umfrage der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissen-                     auch mal Rücksicht auf sich selber nehmen
Womit wir bei einer weiteren Her-          schaften ZHAW bei Gymischülerinnen und Gymischülern im Kanton                     können. Und dann halt etwas absagen,
ausforderung wären: dem Mangel             Zürich ergab, dass die Jugendlichen mehr Zeit vor dem Bildschirm                  wenn man Ruhe und Zeit für sich braucht.
an guten Daten. Das gilt nicht nur         verbrachten: fünfeinhalb Stunden anstatt vier Stunden pro Tag. Aber               Man muss lernen, gut auf sich zu hören.
für die psychische Gesundheit, son-        es gab auch überraschend positive Ergebnisse: So nahm der Drogen-                 Das ist nicht immer so einfach.»
dern ganz generell im Bereich der          konsum in dieser Zeit ab, es wurde fast gleich viel Sport getrieben wie
Gesundheit von Kindern und Ju-             zuvor und die Beziehung zu den Eltern verbesserte sich: Die inner­
gendlichen. Nur mit guten Daten            familiären Beziehungen haben sich in der Zeit des Lockdown positiv
können die komplexen Mechanis-             entwickelt.
men, die der Gesundheit zugrunde

                                                                                                                     spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche     3
Spectra - Spectra - Gesundheitsförderung und Prävention
Wie gesund sind Kinder, Jugendliche und
junge Erwachsene in der Schweiz?
Neun von zehn Schulkindern stufen ihre eigene Gesundheit als gut bis ausgezeichnet ein. Doch etwa ein Fünftel der
Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist übergewichtig oder lebt mit einer chronischen Erkrankung wie
Heuschnupfen, Neurodermitis oder Bluthochdruck. Für verlässliche Aussagen zur Gesundheit von Kindern (insbesondere
unter zehn Jahren) muss die Datenlage verbessert werden.

Auf die Frage «Wie würdest du dei-
nen Gesundheitszustand beschrei-
ben?» antwortet etwa die Hälfte
der Schulkinder in der Schweiz mit
«ausgezeichnet» – und knapp
nochmals so viele der 11-Jährigen
und ein Drittel der 15-Jährigen mit
«gut». Die Resultate der internatio-
nalen HBSC-Studie (die Abkürzung
steht für Health Behaviour in
School Children, siehe Kasten)
stimmen auch mit der nationalen
Gesundheitsbefragung überein:
Kinder, Jugendliche und junge Er-
wachsene in der Schweiz schätzen
ihren Gesundheitszustand erfreu-
lich positiv ein.
    Den Empfehlungen für Bewe-
gung folgt die grosse Mehrheit der
Kinder zwischen sechs und zehn
Jahren, doch danach sinkt die kör-
perliche Aktivität mit zunehmen-
dem Alter. Bei den 11- bis 15-Jäh-
rigen bewegen sich nur noch
17,5 % der Jungen und 10,6 % der
Mädchen intensiv während min-
destens einer Stunde pro Tag, ob-
wohl die meisten von ihnen auch
ausserhalb der Schule Sport betrei-       Vor einem Schultag schlafen 14- bis 15-Jährige im Schnitt rund acht Stunden. Doch viele Jugendliche haben
ben. Auch junge Erwachsene ge-            Schlafstörungen.
ben meistens an, körperlich aktiv
zu sein, dazu liegen allerdings kei-
ne verlässlichen Zahlen vor.              Erwachsenen legt. Der Bericht          Health-Problem sind, kann man-
    Vor einem Schultag schlafen 14-       wurde am 27. August 2020 veröf-        gels Daten nicht verifiziert werden.   Kontakt:
bis 15-Jährige im Schnitt rund acht       fentlicht. Die vorläufigen Ergebnis-   Zu den Empfehlungen des Berichts       Claudio Peter, Schweizerisches
Stunden. Doch viele Jugendliche           se zeigen, dass schätzungsweise        gehört denn auch, epidemiologi-        Gesundheitsobservatorium,
und junge Erwachsene haben                ein Fünftel der Kinder und Ju-         sche Daten für Kinder bis zum 10.      claudio.peter@bfs.admin.ch
Schlafstörungen. Seit 2002 steigt         gendlichen entweder ein chroni-        Altersjahr schweizweit einheitlich
der Anteil der 11- bis 16-Jährigen        sches Gesundheitsrisiko wie etwa       zu sammeln – und so die Daten-         Link:
mit psychoaffektiven Beschwerden          Übergewicht aufweist oder mit ei-      grundlagen zu schaffen, um etwa        HSBC-Studie
wie etwa Müdigkeit und Einschlaf-         ner chronischen Erkrankung oder        Massnahmen der Gesundheitsför-         https://tinyurl.com/yc5klg3j
schwierigkeiten. Zeitlich korreliert      Behinderung lebt. Zu den häufigs-      derung evaluieren zu können.
diese Entwicklung mit der zuneh-          ten chronischen Krankheiten, an
menden Nutzung von digitalen Me-          denen bis zu 5 % der Kinder und
dien. Heute beginnt die Nutzung im        Jugendlichen leiden, zählen Stö-
Vorschulalter mit Fernsehen, Hör-         rungen des Immunsystems wie et-           Health Behaviour in School-aged Children
spielen und Tablets, spätestens ab        wa Heuschnupfen, Asthma oder
der Oberstufe überwiegt dann die          Neurodermitis. Ungefähr gleich            Im Rahmen der internationalen HBSC-Studie werden Schulkinder
Nutzung des Internets und des ei-         viele junge Menschen sind von er-         alle vier Jahre in über 40 (mehrheitlich europäischen) Ländern über
genen Smartphones. Der exzessive          höhten kardiovaskulären Risiken           ihr Gesundheitsverhalten befragt. In der Schweiz wird die Befra-
Gebrauch von digitalen Medien             wie Übergewicht und Bluthoch-             gung seit 1986 durchgeführt, die aktuellsten Daten stammen aus
kann zu Bewegungsmangel und               druck betroffen.                          dem Jahr 2018, als 11 121 Schülerinnen und Schüler im Alter zwi-
Übergewicht, aber auch zu Einsam-             Für den Bericht sollten die Au-       schen 11 und 15 Jahren freiwillig und anonym Auskunft gaben. Drei
keit und Depression führen. Aus           torinnen und Autoren national re-         Viertel der befragten Jugendlichen haben ein normales Körperge-
methodischen Gründen sind viele           präsentative Datenquellen aufar-          wicht, je etwa ein Achtel wiegt entweder zu wenig oder zu viel.
Studienbefunde mit Vorsicht zu ge-        beiten. Aber: Die Datenlage war oft       Trotzdem war nur die Hälfte – die Jungen etwas mehr als die Mäd-
niessen.                                  mager. In der Schweiz werden zum          chen – mit ihrem Körpergewicht zufrieden. Während sich Mädchen
    Das Schweizerische Gesund-            Beispiel nicht alle Indikatoren er-       öfters als zu dick sehen, finden Jungen eher, dass sie zu dünn
heitsobservatorium (Obsan) erar-          hoben, die von der europäischen           seien. Weil in der Adoleszenz wichtige Weichen in der Identitätsfin-
beitete unter Einbezug eines Ex-          Geburtsstatistik empfohlen wer-           dung gestellt würden, sei es wichtig, die Jugendlichen darin zu
pertengremiums mit breitem                den. Ob sich die international zu         unterstützen, ein positives Bild ihres (sich fortlaufend entwickeln-
Fach- und Praxiswissen die vierte         beobachtende Zunahme der Kurz-            den) Körpers zu gewinnen, schliesst der neu veröffentlichte HBSC-
Ausgabe des Nationalen Gesund-            sichtigkeit auch bei den Kindern          Studienbericht aus der Schweiz.
heitsberichts, der im Jahr 2020           und Jugendlichen hierzulande
den Fokus auf die Gesundheit von          spiegelt oder ob chronische
Kindern, Jugendlichen und jungen          Schmerzen ein relevantes Public-

4   spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche
Spectra - Spectra - Gesundheitsförderung und Prävention
Wenn Kinder und Jugendliche
Angehörige betreuen
Eine Bevölkerungsbefragung zeigt, wie viele Kinder und Jugendliche sich in der Schweiz um kranke Grosseltern, Eltern
oder Geschwister kümmern und wie es ihnen dabei geht. Die Studie macht deutlich, dass eine Betreuungsaufgabe
sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben kann und dass Unterstützung vor allem in Notfällen gefragt ist.

Das Förderprogramm «Entlas-             sie mit ihrer Selbstfindung beschäf-
tungsangebote für betreuende            tigt, andererseits lernen sie, soziale
Ange­hörige 2017–2020» des BAG          Verantwortung innerhalb und aus­
erforscht die Situation und die Be-     serhalb der Familie zu überneh-
dürfnisse von betreuenden Angehö-       men. Eine zusätzliche Betreuungs-
rigen, mit dem Ziel, Entlastungs­       aufgabe kann in diesen Fällen
angebote (weiter) zu entwickeln. In     anspruchsvoll und belastend sein.
diesem Zusammenhang haben die                Die Betreuung von Angehöri-
Careum Hochschule Gesundheit            gen kann sich aber auch positiv
und gfs.bern eine für die Schweiz       auswirken: Soziale und praktische
repräsentative Bevölkerungsbefra-       Fähigkeiten werden gestärkt und
gung von betreuenden Angehörigen        das Selbstwertgefühl steigt. 90 %
durchgeführt. Über 2400 betreuen-       der betreuenden Kinder und Ju-
de Angehörige – davon 389 Kinder        gendlichen schätzen ihre eigene
und Jugendliche zwischen 9 und 15       Gesundheit als «gut» oder «sehr
Jahren – haben sich freiwillig an       gut» ein und viele betonen die neu-
der Studie beteiligt.                   en Fähigkeiten, die sie durch ihre
                                        Tätigkeit erworben haben (siehe
Auch Kinder und Jugendliche             Abbildung).
betreuen Angehörige
Geschätzte 49 000 Kinder und Ju-        Wünsche nach Unterstützung
gendliche in der Schweiz nehmen         Die Young Carers wünschen sich
betreuende und pflegerische Auf-        vor allem Hilfe, Informationen und
gaben wahr. Das heisst, 9 % der         Tipps im Umgang mit Notfällen.           Geschätzte 49 000 Kinder und Jugendliche in der Schweiz nehmen betreuende und
Personen zwischen 9 und 15 Jah-         Besonders wichtig ist vielen auch,       pflegerische Aufgaben wahr. Dazu gehört zum Beispiel: Gesellschaft leisten.
ren sind sogenannte Young Carers.       dass sie weiter ihren Hobbys nach-
Meistens betreuen sie Verwandte         gehen können und dass man sie            Positive und negative Auswirkungen für betreuende Angehörige unter 16 Jahren
(40 % Grosseltern, 32 % Eltern,         nach ihrer Meinung fragt.
14 % Geschwister). Im Vordergrund
                                                                                      Neue Fähigkeiten gelernt
steht die emotionale Unterstüt-         Ausblick
zung, also den Angehörigen Gesell-      Im letzten Jahr des Förderpro-                  Bin traurig und besorgt

schaft zu leisten oder zum Rechten      gramms «Entlastungsangebote für                        Weniger Freizeit
zu schauen. Im Schnitt beginnt die      betreuende Angehörige» erarbei-           Schwierigkeiten in der Schule
Unterstützung im Alter von 10 Jah-      tet das BAG auf der Grundlage al-                           Weniger fit
ren. Das Geschlechterverhältnis ist     ler durchgeführten Forschungs-
ziemlich ausgeglichen (Mädchen:         mandate und der Modelle guter
                                                                                         Stimmt sehr              Stimmt ein wenig      Stimmt eher nicht      Stimmt nicht
52 %, Jungen: 48 %).                    Praxis einen Synthesebericht. Die-
                                        ser nimmt den Handlungsbedarf
Betreuungsaufgabe auf meh-              sowie datengestützte Empfehlun-
rere Schultern verteilt                 gen der Forschenden auch in Be-
Die grosse Mehrheit der Young Ca-       zug auf Young Carers auf und wird
rers kann bei der Betreuung auf die     in der zweiten Jahreshälfte 2020            Bestehende Angebote
Unterstützung einer weiteren Per-       veröffentlicht.
son zählen. Sehr häufig handelt es                                                  Unterstützungsangebote für             de Kinder und Jugendliche und
sich um ein Familienmitglied (82 %),    Kontakt:                                    Kinder und Jugendliche gibt es         ermöglicht ihnen, sich auszutau-
es kann auch eine Ärztin oder ein       Facia Marta Gamez, Sektion                  viele: Onlineplattformen mit           schen, Spass zu haben oder
Arzt (27 %) oder jemand von der         Nationale Gesundheitspolitik,               Informationen, Beratung und            Tipps und Ideen zu teilen.
Spitex (20 %) sein. 5 % der Jugendli-   Facia.MartaGamez@bag.admin.ch               Austausch, Kurse, Feriencamps          https://tinyurl.com/ybmspjda
chen erhalten keine Unterstützung                                                   und Austauschtreffen. Einige
in der Betreuung. Insgesamt 83 %        Links:                                      fokussieren auf ein bestimmtes         147 – Beratung und Hilfe
der Young Carers finden die Unter-      – Förderprogramm «Entlastung-               Themenfeld, andere sind the-           für Kinder und Jugendliche in
stützung ausreichend, bei 16 % trifft   sangebote für betreuende Angehö-            matisch offen.                         der Schweiz
dies manchmal zu. Gut 1% oder           rige 2017–2020»                                                                    Das kostenlose Angebot von
hochgerechnet 700 Kindern fehlt         https://tinyurl.com/y835kyfc                Kinderseele Schweiz                    Pro Juventute unterstützt Kinder
gemäss eigener Einschätzung die                                                     Das Institut Kinderseele Schweiz       und Jugendliche, insbesondere
nötige Unterstützung. Besonders oft     – Schlussbericht Forschungsprojekt          bietet Kindern von psychisch           Young Carers, bei verschiedenen
ist das der Fall, wenn keine Bezugs-    «Bedürfnisse und Bedarf von                 erkrankten Eltern Informationen,       Fragen via Telefon, Chat, SMS
person innerhalb der Familie vor-       betreuenden Angehörigen nach                Beratung und Austausch und             oder E-Mail.
handen ist, mit der Young Carers        Unterstützung und Entlastung –              vermittelt ihnen konkrete Hilfe.       www.147.ch
ihre persönlichen Wünsche und Ge-       eine Bevölkerungsbefragung»                 www.kinderseele.ch
fühle besprechen können.                https://tinyurl.com/yd52sneb                                                       Über die Onlinedatenbank des
                                                                                    Young Carers Get Together –            Förderprogramms «Entlastungs­
Positive und negative                                                               Austauschtreffen für Young             angebot für betreuende Angehö-
Auswirkungen                                                                        Carers                                 rige 2017 – 2020» finden Sie
Die Young Carers befinden sich                                                      Dieses Angebot von Careum              weitere Angebote.
selbst oft in einer entscheidenden                                                  richtet sich speziell an betreuen-     https://tinyurl.com/y6blrwxo
Entwicklungsphase. Einerseits sind

                                                                                                                              spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche   5
Spectra - Spectra - Gesundheitsförderung und Prävention
«Ärzte sollen mit ihrer Expertise auch
zum Allgemeinwohl beitragen»
Susanne Stronski Huwiler, Kinderärztin und Co-Leiterin des Gesundheitsdienstes der Stadt Bern, erklärt
im Gespräch, wieso bei Adoleszenten konkrete Präventionsbotschaften besser funktionieren als abstrakte.
Und wieso sich Kinder- und Hausärzte stärker gesundheitspolitisch einbringen sollten.

Frau Stronski, im Vergleich mit           Inwiefern?
vor 20 Jahren konsumieren                 Gerade für die Substanzabhängig-
Jugendliche heute weniger                 keit – insbesondere die Abhängig-
Drogen, dafür verbringen sie              keit von Nikotin – ist das jugend­
mehr Zeit vor dem Bildschirm.             liche Gehirn deutlich vulnerabler
Wie ungesund ist das?                     als das Erwachsener. Mit den Prä-
Wir wissen ja seit Paracelsus, dass       ventionsbotschaften sollten wir
nichts per se gesund oder unge-           weniger auf abstrakte und mehr
sund ist, sondern: Es ist die Dosis,      auf konkrete Inhalte abzielen –
die das Gift macht. Bei den digita-       und die Jugendlichen nicht nur
len Medien liegt das Hauptproblem         vor Raucherbeinen und Lungen-
darin, dass bei einem exzessiven          krebs warnen, also vor Risiken,
Konsum die Zeit für anderes fehlt,        denen sie erst viel später in ihrem
etwa zum Lernen oder für Bewe-            Leben ausgesetzt sind. Sondern
gung an der frischen Luft. Hinzu
kommt, dass das Blaulicht aus den
Bildschirmen den Schlaf-Wach-             «Mir fällt auf, dass die
Rhythmus, der bei Jugendlichen            Wahrnehmung für das
ohnehin verschoben ist, noch wei-         Hier und Jetzt immer
ter destabilisiert. Die einseitige Er-
                                          mehr verloren zu gehen
nährung und die vom Schlafman-
gel beeinflusste fehlende Bewegung        scheint: Man sitzt zwar
gehören zu den Hauptgründen,              im Bus, ist aber mental
wieso heute ein knappes Viertel           ganz woanders.»
der Jugendlichen übergewichtig
oder sogar adipös ist. Mir fällt auch
auf, dass die Wahrnehmung für das         wir sollten den Jugendlichen
Hier und Jetzt immer mehr verlo-          etwas, was sie direkt betrifft, vor
ren zu gehen scheint: Man sitzt           Augen führen, zum Beispiel den
zwar im Bus, ist aber mental ganz         finanziellen Aufwand. Wenn Ju-
woanders.                                 gendliche ausrechnen, welchen
                                          Anteil ihres Taschengelds sie für
In einem kürzlich erschie-                den Zigarettenkonsum aufwenden
nenen Fachbeitrag (*) fordern             müssten, wenn sie mit dem Rau-
Sie, dass sich die Prävention             chen beginnen würden, stellt sich
an den Entwicklungsaufgaben               oft ein Aha-Effekt ein. Zu einer gu-
orientieren sollte, die Adoles-           ten Prävention gehören aber nicht
zente im Verlauf ihres Über-              nur jugendgerechte Botschaften,
gangs vom Kinder- ins Erwach-             mindestens ebenso wichtig sind
senenalter zu lösen haben.                auch griffige staatliche Regelun-
Was meinen Sie damit?                     gen, etwa ein umfassendes Werbe-
Jugendliche durchleben eine Zeit          verbot für Tabakprodukte.
mit raschen körperlichen Entwick-
lungsprozessen. Es entsteht ein se-       In Ihrem Beitrag weisen Sie
xueller Antrieb – und man stellt          auf die Bedeutung der Schule
sich mit neuer Dringlichkeit Fra-         für die Gesundheit von Ju-
gen wie «Wer bin ich?», «Wo ist           gendlichen hin.
mein Platz in der Welt?» und «Wo-         Ja, zu den Entwicklungsaufgaben
zu bin ich da?». In der Adoleszenz        von Jugendlichen gehört auch,
findet eine tief greifende Reorgani-      dass sie sich neue Lebenswelten
sation des Gehirns statt. Nicht ge-       ausserhalb der Familie erschlies­
brauchte Synapsen werden abge-            sen. Für viele spielt dabei die Schu-
baut, der Anteil an grauer Substanz       le eine herausragende Rolle. In den
sinkt, dafür steigt der Anteil an         drei obligatorischen Jahren der Se-
weisser Substanz im Hirn. Die             kundarstufe I besuchen Jugendli-
Denkprozesse werden schneller             che im Durchschnitt etwa 4000
und effizienter, jedoch nicht alle        Lektionen. Dass dabei – gemäss
zur gleichen Zeit: Zuerst reifen die      dem Lehrplan 21 – vermehrt auch
Strukturen des Belohnungssys-             Lebens- und Gesundheitskompe-
tems. Die Areale des präfrontalen         tenzen vermittelt werden sollen,
Kortex, wo unter anderem die Im-          begrüsse ich. Zudem zeigen statis-
pulskontrolle sitzt, reifen zuletzt.      tische Auswertungen, dass der Bil-
Solche Erkenntnisse sollten bei der       dungserfolg einen massgeblichen
Gestaltung von Präventionsmass-           Einfluss auf die lebenslange Ge-
nahmen berücksichtigt werden.             sundheit hat, weil ein tiefer Bil-      Es gibt einige jugendspezifische Gesundheitsprobleme: Beispielsweise machen sich
                                          dungsstatus öfter als ein hoher mit     viele psychische Probleme in diesem Alter erstmals bemerkbar – und werden häufig erst
                                          einem ungünstigen Gesundheits-          spät erkannt.

6   spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche
Spectra - Spectra - Gesundheitsförderung und Prävention
Dr. med. Susanne Stronski Huwiler

                                                                                   Susanne Stronski Huwiler hat in Fribourg und Bern
                                                                                   Medizin studiert – und dann den Facharzttitel Pädi-
                                                                                   atrie in Luzern und Bern erworben. Anschliessend
                                                                                   war sie als Oberärztin auf der Neonatologie des
                                                                                   Frauenspitals Bern tätig, bevor sie für einen mehr-
                                                                                   jährigen Forschungsaufenthalt an der University of
                                                                                   Minnesota in die USA zog. Dort beschäftigte sie
                                                                                   sich mit der «Adolescent Medicine» und schloss
                                                                                   zudem einen Master in Public Health ab. Von 2001
verhalten und einer Akkumulation        zifische gesundheitliche Probleme:         bis 2015 leitete sie den schulärztlichen Dienst der
von Risikofaktoren einhergeht. Da-      In diesem Alter machen sich bei-           Stadt Zürich. Aktuell arbeitet Stronski Huwiler als
her betrifft die Prävention, die im     spielsweise viele psychische Er-           Co-Leiterin des Gesundheitsdienstes der Stadt
Jugendalter ansetzt, auch die Ge-       krankungen erstmals bemerkbar              Bern und in Teilzeit als Oberärztin auf der Neuro-
sundheit von Erwachsenen. Und           – und werden häufig erst spät er-          und Entwicklungspädiatrie der Kinderklinik in Bern.
weil die heutigen Jugendlichen die      kannt. Für viele Personen mit chro-
Eltern von morgen sind, betrifft die    nischen Krankheiten ist die Adoles-
Prävention sogar auch die Gesund-       zenz eine schwierige Zeit, weil die
heit der folgenden Generationen.        Erkrankungen in dieser Phase oft
                                        entgleisen. Einerseits, weil mit der    men werden, mit Risiken zu ver-         Ja, das neue TPG ist ein wichtiger
In Ihrem Beitrag beklagen Sie,          körperlichen Entwicklung vielfach       gleichen, denen man sich gewollt        Schritt in die richtige Richtung. Lei-
dass das Präventionspotenzial           auch das bisher gefundene Gleich-       oder alltäglich aussetzt. Beim Bei-     der sind im Gesetz immer noch nur
der Gesundheitsberichterstat-           gewicht verloren geht und etwa bei      spiel mit den Transformatoren et-       partielle Werbeeinschränkungen
tung in der Schweiz nicht               Diabetikern neu gefunden und ein-       wa entsprach das Risiko durch ihre      vorgesehen. So wird das Ziel, Kin-
ausgeschöpft werde.                     gestellt werden muss. Aber ande-        Strahlung ungefähr dem der kos-         der und Jugendliche umfassend
Wir sind mit unserem Gesund-            rerseits, weil Jugendliche auch Re-     mischen Strahlung, die auf einem        vor dem Einstieg in den Tabakkon-
heitssystem gut unterwegs, aber         geln brechen und überschreiten          Interkontinentalflug anfällt.           sum zu schützen, noch nicht er-
wir wissen sehr wenig darüber, wie      wollen. Einem jungen Asthmatiker                                                reicht. Ich hoffe, dass die Erfahrun-
es funktioniert. Das gilt für die Er-   ist es vielleicht wichtiger, mit sei-   Warum möchten Sie, dass sich            gen mit der Initiative «Kinder ohne
wachsenenmedizin – und noch viel        nen Kollegen in den Ausgang zu          auch Haus- und Kinderärzte              Tabak» viele Kolleginnen und Kol-
mehr für die Medizin für Kinder         gehen, als sich strikte an die An-      vermehrt auf politischer Ebene          legen motiviert, sich künftig ver-
und Jugendliche. Im internationa-       weisungen der Eltern oder der Ärz-      einbringen?                             mehrt für strukturelle Veränderun-
len Vergleich ist die Schweiz bezüg-    tin zu halten. Das ist ein Stück weit   Aus der Sicht von Medizinern gibt       gen und eine gesundheitsförderliche
lich Gesundheitsdaten eine regel-       verständlich, weil es dem Jugendli-     es so viele Sachen, die eigentlich      Umgebung einzusetzen. Denn auf-
rechte Datenwüste. Auf der              chen auch um das Streben nach           nicht verhandelbar sind. Aber           grund ihrer Erfahrung und ihrer
politischen Ebene wird das zuse-        Autonomie geht. Hier könnte man         wenn wir unsere Meinung nicht           Glaubwürdigkeit sind Ärzte bes-
hends anerkannt. Das zeigt sich                                                 laut kundtun, ändert sich nichts.       tens für ein anwaltschaftliches En-
zum Beispiel auch darin, dass im                                                Ich war längere Zeit in den USA,        gagement zugunsten einer positi-
Nationalen Gesundheitsbericht           «Im internationalen                     wo es selbstverständlicher ist, dass    ven Entwicklung von Jugendlichen
2020 die Gesundheit von Kindern         Vergleich ist die Schweiz               die Ärzteschaft ihr Fachwissen          geeignet.
und Jugendlichen im Hauptfokus          bezüglich Gesundheits-                  auch in gesundheitspolitische Dis-
steht. Um das System steuern zu                                                 kussionen einbringt. Dieses gesell-     Zum Schluss noch eine Frage
können, brauchen wir Daten. Die
                                        daten eine regelrechte                  schaftliche Engagement fehlt mir        zu einem anderen Thema: zum
sind in der Schweiz zwar da, liegen     Datenwüste. Auf der                     in der Schweiz ein Stück weit. Klar     neuen Coronavirus. Welche
aber meist ungenutzt etwa in Hun-       politischen Ebene wird das              sollten sich Ärzte in erster Linie um   Auswirkungen hatte der Lock-
derten verschiedener Arztpraxen.        zusehends anerkannt.»                   das individuelle Wohl ihrer Patien-     down auf die Gesundheit der
Nur wenn wir diese Daten – in ano­                                              tinnen und Patienten kümmern,           Jugendlichen?
nymisierter Form – zusammenfüh-                                                 aber darüber hinaus sollten sie         Zu einer gesunden Entwicklung ge-
ren, können wir sie auch nutzen.        ansetzen – und den Jugendlichen         sich nicht scheuen, mit ihrer Ex-       hört, dass Jugendliche eigene Le-
                                        in seinem Findungsprozess unter-        pertise auch zum Allgemeinwohl          benswelten ausserhalb der Familie
Sind Jugendliche gut aufgeho-           stützen, denn schliesslich ist er es,   beizutragen.                            erschaffen. Stattdessen wurden sie
ben im Schweizer Gesund-                der lernen muss, wie er mit seiner                                              im Lockdown auf die Ursprungsfa-
heitssystem?                            Erkrankung leben will.                  Können Sie ein konkretes                milie zurückgeworfen. Zudem
Wie gesagt: Grundsätzlich haben                                                 Beispiel nennen?                        konnten einige Jugendliche mit
wir hierzulande ein System, das im      Welche Aufgaben nehmen                  Die US-amerikanische Fachgesell-        psychiatrischen Symptomen ihren
weltweiten Vergleich sehr gute          Schulärzte wahr?                        schaft für Pädiatrie hat schon vor      Arzt oder Psychologen nicht mehr
Leistungen erbringt. So ist die         Schulärzte nehmen mit ihren ju-         Jahren eine Stellungnahme veröf-        sehen. Bewegungsmangel zusam-
Schwangerschaftsabbruchrate bei         gendmedizinischen Vorsorgeunter-        fentlicht, in der sie sich klar gegen   men mit falscher Ernährung, even-
Teenagern mit 3 von 1000 jungen         suchungen die Prävention auf der        das Aufstellen von Süssgetränk-         tuell noch kombiniert mit Schlaf-
Frauen eine der tiefsten weltweit.      Ebene des Individuums wahr.             Automaten in Schulgebäuden ge-          mangel durch exzessiven Gebrauch
Trotzdem sehe ich noch Verbesse-        Gleichzeitig bringen sie ihre medi-     äussert hat. Die Faktenlage zeigt       von sozialen Medien können zu
rungspotenzial: Es gibt in der          zinische Expertise auch beratend        eindeutig, dass das Fehlen solcher      Übergewicht führen. Allerdings
Schweiz keine jugendspezifische         ein und wirken auf einer überge-        Automaten zu einem relevanten           können wir zum Ausmass noch
Anlaufstelle in der Medizin, so wie     ordneten Ebene als eine Art Be-         Rückgang von Übergewichtigen            keine Aussage machen, ebenso
etwa in den USA, wo die sogenann-       triebsarzt im System Schule. Oft        führt. Doch hier in der Schweiz         fehlen Zahlen zu den psychischen
te «Adolescent Medicine» spezielle      geht es darum, gesundheitliche Ri-      traute man sich lange nicht, das so     Erkrankungen.
Gesundheitsversorgungsangebote          siken einzuschätzen, also um Fra-       zu sagen. Deswegen haben wir da-
für die Altersgruppe von 12- bis        gen wie: Kann der Sporttag bei die-     mals im schulärztlichen Dienst von      (*) Literaturhinweis:
25-Jährigen bereithält.                 sen Ozonwerten noch durchgeführt        Zürich jahrelang für die Verban-        Gesundheit und Prävention im
                                        werden? Oder wie gefährlich ist die     nung der Süssgetränkeautomaten          Jugendalter: Zusammenarbeit von
Worum müsste sich die                   elektromagnetische Strahlung von        aus den Schulgebäuden kämpfen           Kinder- und Jugendärzten,
«Adolescent Medicine» sonst             Transformatoren, die gleich neben       müssen.                                 Schulärzten und der Schule,
noch kümmern?                           dem Schulhaus stehen? Hier müs-                                                 Susanne Stronski Huwiler,
Im Vergleich mit Pensionierten ge-      sen Schulärzte oft Übersetzungsar-      Bei der Diskussion um das               Paediatrica, Dezember 2019
hören Jugendliche natürlich zum         beiten leisten. Dazu gehört, auch       neue Tabakproduktegesetz                https://tinyurl.com/yc3pk9m5
gesunden Teil der Bevölkerung.          Risiken, die von der Allgemeinheit      (TPG) bringen sich die Kinder-
Trotzdem gibt es auch jugendspe-        mitunter überhöht wahrgenom-            ärzte doch ein?

                                                                                                                          spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche   7
Spectra - Spectra - Gesundheitsförderung und Prävention
Schwieriger Übergang von der Jugend-
zur Erwachsenenpsychiatrie
Für die psychiatrische Versorgung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen an der Schnittstelle zur Erwachsenen­
psychiatrie gibt es Handlungsbedarf. Dies zeigt der vom BAG in Auftrag gegebene Bericht, der bestehende Angebote
untersucht und Handlungsempfehlungen formuliert.

Der Übertritt in die Volljährigkeit       wurde vom BAG eine Bestandes-
geht für psychiatrische Patientin-        aufnahme der Angebote der Transi-
nen und Patienten oft mit einem           tionspsychiatrie in Auftrag gege-
einschneidenden Wechsel des ge-           ben. Da sich der altersbedingte
setzlichen und institutionellen           Wechsel des Versorgungssystems
Rahmens der Behandlung einher.            insbesondere in der stationären
Der Zuständigkeitswechsel von             Psychiatrie zeigt, wurden im Be-
der Kinder- und Jugendpsychiat-           richt die stationären und die tages-
rie (KJP) zur Erwachsenenpsychi-          klinischen Angebote untersucht
atrie (EP) führt häufig zu Unter-         und von Expertinnen und Experten
brüchen in der Behandlung,                gesundheitspolitisch eingeschätzt.
beispielsweise durch Wechsel der          Die ambulante Versorgung war
psychiatrischen Fachperson und            nicht Teil der Fragestellung, da die
der zuständigen Institution. Wieso        Herausforderungen an der Schnitt-
die sogenannte Transitionspsychi-         stelle dort erfahrungsgemäss flexi-
atrie an dieser Schnittstelle eine        bler und durchlässiger angegangen
zentrale Herausforderung für die          werden.
psychiatrische Versorgung ist,
zeigt ein Bericht der Zürcher             Wenige Angebote
Hochschule für Angewandte Wis-            Der Bericht zeigt, dass in der
senschaften ZHAW (siehe Box).             Schweiz nur einige stationäre und
                                          tagesklinische Angebote einen
Adoleszenz – eine                         transitionspsychiatrischen Fokus
vulnerable Zeit                           verfolgen. Obwohl es in den letzten
Die Kontinuität einer psychiatri-         Jahren vermehrt Angebote gab,          Die Adoleszenz ist geprägt von vielen Entscheidungen und Veränderungen. Dies kann für die
schen Behandlung ist gerade in            die sich spezifisch an junge Er-       Jugendlichen auch erhöhte Sensibilität und Verletzlichkeit bedeuten.
der Adoleszenz sehr wichtig, denn         wachsene und ihre Anforderungen
Jugendliche, die sich in einer The-       in der Adoleszenz richten, kann
rapie befinden, benötigen diese           man von einer Versorgungslücke           Brücken­angebote, Ausbildungs-
meist auch über den 18. Geburts-          sprechen. Diese Lücke umfasst ge-        stätte, Berufsberatung, Jugend-        Der Bericht in Kürze
tag hinaus. Die Adoleszenz ist ge-        mäss Experteneinschätzungen so-          hilfe, Wohnheime, KESB, Ein-
prägt von vielen Entscheidungen           wohl das klinisch-institutionelle        gliederungsprogramme, IV etc.).        Die Bestandesaufnahme der stationären und
und Veränderungen; sei es die             Angebot wie auch fehlende Versor-                                               tagesklinischen Angebote der psychiatrischen
Wahl des Bildungsweges, die               gungskonzepte (koordinierte Ver-       In den Expertenrunden wurde              Gesundheitsversorgung an der Schnittstelle des
Identitätsfindung oder die Suche          sorgung, Angebotsentwicklung).         auch die Meinung entwickelt, dass        Jugend- und Erwachsenenalters in der Schweiz
nach Vorbildern ausserhalb der            Schweizweit wurden sechs statio-       wesentliche Ansätze zur Verbesse-        wurde im Auftrag des BAG von der Zürcher
Familie, insbesondere in der Peer-        näre transitionspsychiatrische An-     rung einer transitionspsychiatri-        Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Gruppe. Diese Schritte können für         gebote identifiziert, acht stationä-   schen Versorgung mehr auf die            (Departement für Angewandte Psychologie,
die Adoleszenten auch erhöhte             re Angebote für junge Erwachsene,      Prozess- als auf die Strukturquali-      Psychologisches Institut, Fachgruppe Klinische
Sensibilität und Verletzlichkeit be-      vier transitionspsychiatrische ta-     tät zu richten sind. Diese wird          Psychologie und Gesundheitspsychologie) unter
deuten, welche mit Krisen und             gesklinische Angebote und ein ta-      durch eine integrierte Prozessge-        Agnes von Wyl erhoben. Als Grundlage für die
manchmal mit der Entstehung               gesklinisches Angebot für junge        staltung und eine Kultur der tran-       Liste der stationären Angebote diente die Insti-
psychischer Erkrankungen ein-             Erwachsene. Unter den befragten        sitionspsychiatrischen Behand-           tutionenliste des Nationalen Vereins für Quali-
hergehen können. So manifestie-           Expertinnen und Experten war           lungszusammenarbeit zwischen             tätsentwicklung in Spitälern und Kliniken (Asso-
ren sich 75 Prozent aller psychi-         man sich einig, welche Aspekte ein     KJP und EP gefördert. Eine Chance        ciation nationale pour le développement de la
schen Störungen bis Mitte                 optimales transitionspsychiatri-       hierzu ist in der Tatsache zu sehen,     qualité dans les hôpitaux et les cliniques, ANQ).
zwanzig.                                  sches Angebot berücksichtigen          dass heutige Kliniken nach Fusio-        Die Erhebung der tagesklinischen Angebote
                                          sollte.                                nen immer häufiger die KJP und           basieren auf Internetrecherchen und auf der
Bericht beleuchtet die                                                           die EP unter demselben Dach              Angebotsliste der Schweizerischen Gesellschaft
Schnittstelle                             Ein solches Angebot sollte:            führen und sich ein gemeinsamer         für Psychiatrische und Psychotherapeutische
Die spezifischen Anforderungen an         – die spezifischen Fachkompeten-       Bereich Transitionspsychiatrie           Tageskliniken (SGPPT). Die Erhebung erfolgte
die Behandlung in der Übergangs-            zen der Disziplinen KJP und EP       (oder Adoleszentenpsychiatrie)           weiter anhand eines Onlinefragebogens. In
phase vom Jugendlichen zum Er-              integrieren,                         strukturieren liesse.                    einem zweiten Schritt wurden die Ergebnisse in
wachsenen können die KJP und die          – als entwicklungsorientiertes                                                  zwei Expertenrunden diskutiert und gesund-
EP alleine oft nicht abdecken. Dies,        Konzept formuliert sein (Persön-     Kontakt:                                 heitspolitisch eingeschätzt. Die Rückmeldungen
weil bei einem Wechsel von einem            lichkeit, Sozialisation, Ausbil-     Lea Pucci-Meier, Sektion Nationale       aller Expertinnen und Experten zu wünschens-
System in das andere nicht nur die          dung),                               Gesundheitspolitik,                      werten Veränderungen in der transitions­
fachliche Zuständigkeit ändert und        – interdisziplinär angelegt sein       lea.pucci@bag.admin.ch                   psychiatrischen Versorgung und mögliche Um-
zu einem Unterbruch in der Be-              (Entwicklungspsychologie und                                                  setzungsschritte wurden in den Bericht
handlungskontinuität führt, son-            Sozialpädagogik),                    Link:                                    eingearbeitet.
dern oft auch mit einer Änderung          – systematisch mit ambulanten          Schlussbericht: «Stationäre und
des Behandlungsangebots einher-             transitionspsychiatrischen und       tagesklinische Angebote der
geht (aufgrund der oft kantonal un-         sozialpädagogischen Angeboten        psychiatrischen Gesundheitsversor-
terschiedlichen Kostengutsprachen           zusammenspielen im Sinne ei-         gung an der Schnittstelle des
in der KJP und der EP). Um die Ver-         ner integrierten Versorgung,         Jugend- und Erwachsenenalters in
sorgungssituation in der Schweiz          – mit den involvierten Institutio-     der Schweiz», ZHAW, Januar 2020
zu erfassen und zu verbessern,              nen vernetzt sein (Schulen,          https://tinyurl.com/ycmqwd6h

8   spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche
Spectra - Spectra - Gesundheitsförderung und Prävention
Den Jugendschutz weiterentwickeln
Aus Sicht des Jugendschutzes gilt es, sowohl einen unkontrollierten Schwarzmarkt bei illegalen Drogen zu vermeiden
wie auch einen wenig regulierten Markt bei legalen Suchtmitteln wie Alkohol und Tabak. In einem Verwaltungsbericht für
den Nationalrat hat das BAG Vorschläge skizziert, um die Jugend im Umgang mit Suchtmitteln besser zu schützen.

Weil sich Jugendliche physisch und     benskompetenzen von Kindern und            Im Verwaltungsbericht «Ju-
psychisch noch entwickeln, richten     Jugendlichen zu fördern, sodass        gendschutz im Bereich des Sucht-       (*) Literaturhinweis:
Alkohol, Tabak oder illegale Subs-     möglichst viele lernen, mit Stress     mittelkonsums» für den National-       Bericht: Jugendschutz im Bereich
tanzen eher Schaden an als bei Er-     und Gruppendruck umzugehen.            rat (*) betont das BAG, dass diese     des Suchtmittelkonsums
wachsenen. Auch die Wahrschein-            Ein umfassender Jugendschutz       Bereiche des Jugendschutzes gut        https://tinyurl.com/ya8jx8xj
lichkeit, eine Abhängigkeit von        hält auch Hilfsangebote für Ju-        aufeinander abzustimmen sind.
diesen Substanzen zu entwickeln,       gendliche mit einem risikohaften       Für Cannabis und andere illegale
ist umso höher, je früher mit dem      oder gar problematischen Subs-         Betäubungsmittel sei zu prüfen, ob     Kontakt:
Konsum begonnen wird. Kinder           tanzkonsum bereit. Früherken-          Jugendlichen geholfen werden           Sophie Barras Duc, Sektion
und Jugendliche sind deshalb be-       nung und Frühintervention tragen       kann, ohne sie zu kriminalisieren.     Gesundheitsförderung und
sonders schutzbedürftig.               dazu bei, eine mögliche Gefähr-        Der Konsum wäre zwar weiterhin         Prävention
    Jugendschutz wird häufig           dung der gesunden Entwicklung          verboten, würde aber nicht mehr        sophie.barras-duc@bag.admin.ch
gleichgesetzt mit rechtlich veran-     von Jugendlichen zu erkennen und       strafrechtlich sanktioniert. Dafür
kerten Vorschriften wie Werbe- und     Hilfe in einer schwierigen Situation   sei der Jugendschutz im Bereich
Abgabeverbote. Doch neben dem          anzubieten. Bei der Suchthilfe wer-    Tabak und Alkohol auszubauen,
gesetzlichen Jugendschutz, der den     den Jugendliche meist ambulant         zum Beispiel mit einer Steuer auf
Zugang zu Suchtmitteln einschrän-      beraten und therapiert, beispiels-     E-Zigaretten und Tabakersatzpro-
ken und verhindern soll, ist es        weise bei Jugend-, Familien- oder      dukten.
wichtig, die Gesundheits- und Le-      Suchtberatungsstellen.

Mädchen vor weiblicher
Genital­beschneidung schützen
Der Leitfaden «Weibliche Genitalbeschneidung und Kindesschutz» des Netzwerks gegen Mädchenbeschneidung
Schweiz richtet sich in erster Linie an Fachpersonen: Er soll ihnen helfen, gefährdete Kinder zu erkennen – und adäquat
zu reagieren.

Das Netzwerk gegen Mädchenbe-          vermitteln, dass FGM/C schwere         die äusseren Geschlechtsorgane         sie verübt wurde. Die Tat wird mit
schneidung Schweiz hat anlässlich      gesundheitliche Probleme zur Fol-      teilweise oder vollständig entfernt    Geldstrafen oder einem Freiheits-
des Internationalen Tags gegen         ge haben kann – und dass sie sich      werden. FGM/C ist auch in der          entzug bis zu zehn Jahren bestraft.
weibliche Genitalverstümmelung         Sorgen um das Mädchen macht.           Schweiz eine Realität: Hier leben
oder -beschneidung (kurz FGM/C             Für solche Gespräche seien         schätzungsweise 22 000 Mädchen         Kontakt:
aus dem Englischen «Female Ge-         wann immer möglich Multiplikato-       oder Frauen, die entweder bereits      Sabina Hösli, Sektion Gesundheit-
nital Mutilation/Cutting») am 6.       rinnen beizuziehen. Diese geschul-     beschnitten sind oder gefährdet        liche Chancengleichheit,
Februar 2020 einen neuen Leitfa-       ten Frauen und Männer engagie-         sind, beschnitten zu werden. Meist     sabina.hoesli@bag.admin.ch
den veröffentlicht. Er soll Fachper-   ren sich in ihren Gemeinschaften       kommen die Personen aus Län-
sonen aufzeigen, wie sie eine mög-     gegen weibliche Genitalbeschnei-       dern wie Somalia, Eritrea, Äthiopi-    Link:
liche Gefährdung von Mädchen           dung und haben Erfahrung in die-       en, Sudan oder Ägypten, wo die         Leitfaden Weibliche Genital­
erkennen und an wen sie sich für       sem sensiblen Thema.                   Beschneidungsraten hoch sind. In       beschneidung und Kindesschutz
Beratungen wenden können. Zu-              Unter FGM/C fasst die Weltge-      der Schweiz stellen alle Formen        https://tinyurl.com/ya6zfjaz
dem werden Fachpersonen darauf         sundheitsorganisation WHO alle         von FGM/C eine Straftat dar – un-
hingewiesen, unter welchen Um-         Praktiken zusammen, bei welchen        abhängig davon, in welchem Land
ständen sie ihre Vorgesetzten, die
Kindes- und Erwachsenenschutz-
behörde (KESB) oder das Netz-
werk gegen Mädchenbeschnei-
dung einbeziehen sollen.
    Wenn es um die Erkennung
und den Schutz von gefährdeten
Mädchen geht, spielen Fachperso-
nen aus dem Sozial- und Gesund-
heitsbereich eine zentrale Rolle.
Vielfach fehlt ihnen aber das Fach-
wissen zu dieser spezifischen
Form der Kindeswohlgefährdung.
Der Leitfaden beschreibt, wie
Fachpersonen bei einem Gefähr-
dungsverdacht vorgehen sollten.
Je nach Situation ist ein Gespräch
mit dem Mädchen und den Eltern
angezeigt: Im Gespräch hat die
Fachperson die Gelegenheit, zu

                                                                                                   spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche   9
Spectra - Spectra - Gesundheitsförderung und Prävention
Mehr Wissen über Suizidversuche
von LGBT-Jugendlichen
In internationalen Studien ist gut belegt, dass queere Jugendliche im Vergleich zu heterosexuellen Teenagern ein stark
erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten aufweisen. Doch wie sich der Prozess hin zum Suizidversuch gestaltet und
welches etwa die genauen Hintergründe und Motive sind, liegt noch weitgehend im Dunkeln. Dabei sind qualitative Studien
prinzipiell machbar, wie eine vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) finanzierte Vorstudie nun gezeigt hat.

2016 haben Bund und Kantone ge-          suizidales Verhalten ist auch bei     eine mündliche Befragung von Ju-       gleitet und auch darin geschult,
meinsam mit der Stiftung Gesund-         schwulen und lesbischen Jugendli-     gendlichen nach einem Suizidver-       akut suizidgefährdete Personen zu
heitsförderung Schweiz den               chen keineswegs an der Tagesord-      such überhaupt möglich ist, ohne       erkennen. Ausserdem möchten die
«Aktions­plan Suizidprävention»          nung und betrifft zum Glück nur       die Jugendlichen zu einem weite-       Forschenden bei jedem Interview-
erarbeitet. Das Ziel: Die Anzahl         eine Minderheit innerhalb der         ren Versuch zu verleiten. Beant-       kontakt auch schriftlich die Kon-
nicht assistierter Suizide während       LGBT-Community.» Die erhöhte          wortet haben die Forschenden mit       taktdaten von regionalen und
(oft vorübergehenden) Belastungs-        Zahl an Suizidversuchen hänge         ihrer Vorstudie auch folgende Fra-     schweizweiten Notfallstellen abge-
krisen bis ins Jahr 2030 um 25           nicht direkt mit der sexuellen Ori-   gen: Wie kann eine solche Befra-       ben und so einen raschen An-
Prozent zu senken – das entspricht       entierung zusammen, sondern           gungssituation optimal gestaltet       schluss an das Hilfesystem sicher-
rund 300 frühzeitigen Todesfällen        komme über indirekte Faktoren         werden? Und lassen sich mit qua-       stellen.
pro Jahr. Dabei möchte das BAG           wie etwa Homophobie, Schikanen        litativen und problemzentrierten           Das Team um Andreas Pfister
neben der allgemeinen Suizidprä-         in der Schule oder fehlende Akzep-    Interviews tatsächlich auch Er-        hat in der Vorstudie einen Inter-
vention, die sich an die ganze Be-       tanz in der Familie zustande.         kenntnisse erzielen, welche die Su-    view-Leitfaden entwickelt, den die
völkerung richtet, gezielt auch spe-         Pfister und sein Team haben im    izidprävention verbessern und zur      Forschenden in Gesprächen mit
zifische Gruppen in den Fokus            letzten Jahr mit der finanziellen     besseren Beachtung allfälliger Hil-    zwei Betroffenen bereits getestet
nehmen, bei denen eine erhöhte           Unterstützung des BAG im Rahmen       ferufe beitragen können?               haben. «Dabei hat sich gezeigt,
Rate an suizidalen Handlungen zu         der Umsetzung des nationalen Ak-                                             dass die Prozesse, die zu einem Su-
beobachten ist.                          tionsplans eine Vorstudie durchge-    Sicherheit gewährleisten               izidversuch führen, vielfältig und
                                         führt. Diese prüft, inwieweit eine    Das sozialwissenschaftliche Team       komplex sind», so Pfister. «Sie hän-
Machbarkeitsstudie                       qualitative und multiperspektivi-     um Andreas Pfister hat sich mit kli-   gen je nach Person in sehr unter-
So weisen etwa LGBT-Jugendliche          sche Untersuchung der Hinter-         nischen Expertinnen und Exper-         schiedlichem Ausmass mit Belas-
im Vergleich zu heterosexuellen          gründe von Suizidversuchen von        ten, mit Fachpersonen aus der Be-      tungsfaktoren im Kontext der
Teenagern ein deutlich höheres Ri-       LGBT-Jugendlichen machbar ist.        ratung und der Suizidprävention        Geschlechtsidentität oder der sexu-
siko für suizidales Verhalten auf        Denn die genauen Prozesse und         sowie mit Vertreterinnen und Ver-      ellen Orientierung zusammen.»
(LGBT sind die Anfangsbuchstaben         Hintergründe, wie es bei diesen Ju-   tretern verschiedener LGBT-Orga-       Aus den bisher erhaltenen Antwor-
der englischen Bezeichnungen             gendlichen zu Suizidversuchen         nisationen ausgetauscht. Dabei hat     ten schliessen Pfister und sein
«lesbian», «gay», «bisexual» und         kommt, sind noch weitgehend un-       das Team mehrere Massnahmen            Team, dass sich solche Interviews
«transgender»). «Das heisst jedoch       erforscht. Auch international feh-    entwickelt, um die Sicherheit der      gut dazu eignen, mehr über die Su-
nicht, dass diese Jugendlichen per       len entsprechende Studien.            Jugendlichen in der Studie zu ge-      izidversuche und die Bedürfnisse
se problembelastet und suizidge-             Bei den Machbarkeitserwägun-      währleisten. So werden die For-        der Betroffenen zu erfahren.
fährdet sind», sagt Andreas Pfister      gen stand unter anderem die Ab-       schenden kontinuierlich von einer          Für die Studie, die nun auf die
von der Hochschule Luzern. «Denn         klärung im Vordergrund, inwieweit     psychiatrischen Fachperson be-         Vorstudie folgen soll, hat das For-
                                                                                                                      schungsteam einen Beirat zusam-
                                                                                                                      mengestellt, der das Vorhaben
                                                                                                                      wohlwollend kritisch begleiten
                                                                                                                      soll. Pfister hat für die Finanzie-
                                                                                                                      rung der Studie ein Projektgesuch
                                                                                                                      beim Schweizerischen National-
                                                                                                                      fonds eingereicht – und Ende
                                                                                                                      März bewilligt bekommen. Die
                                                                                                                      Studie startet voraussichtlich im
                                                                                                                      Oktober 2020.

                                                                                                                      Kontakte:
                                                                                                                      Esther Walter und Lea Pucci-Meier,
                                                                                                                      Sektion Nationale Gesundheits­
                                                                                                                      politik,
                                                                                                                      esther.walther@bag.admin.ch
                                                                                                                      lea.pucci@bag.admin.ch

                                                                                                                      Literaturhinweis:
                                                                                                                      Pfister, Andreas & Mikolasek,
                                                                                                                      Michael (2019). Suizidversuche von
                                                                                                                      LGBT-Jugendlichen und jungen
                                                                                                                      Erwachsenen. Einschätzung der
                                                                                                                      Machbarkeit einer qualitativen
                                                                                                                      Untersuchung in der Schweiz

Die erhöhte Zahl an Suizidversuchen bei LGBT-Jugendlichen hängt nicht direkt mit der sexuellen Orientierung
zusammen, sondern mit indirekten Faktoren wie Homophobie und fehlender Akzeptanz.

10 spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche
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