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Gesundheitsförderung und Prävention | September 2020 News, Newsletter und Podcast | www.spectra-online.ch spectra 128 Kinder und Jugendliche 5 Wenn Kinder und Jugendliche Angehörige betreuen Eine Bevölkerungsbefragung zeigt, wie viele Kinder und Jugendliche sich in der Schweiz um kranke Grosseltern, Eltern oder Geschwister kümmern und wie es ihnen dabei geht. Die Studie macht deut- lich, dass eine Betreuungsaufgabe sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben kann und dass Unterstützung vor allem in Notfällen gefragt ist. 6 «Ärzte sollen mit ihrer Expertise auch zum Allgemeinwohl beitragen» Susanne Stronski Huwiler, Kinderärztin und Co-Leiterin des Gesundheitsdienstes der Stadt Bern, erklärt im Gespräch, wieso bei Adoleszenten konkrete Präventionsbotschaften besser funktionieren als abstrakte. Und wieso sich Kinder- und Hausärzte stärker gesundheitspolitisch einbringen sollten. 10 Mehr Wissen über Suizidversuche von LGBT-Jugendlichen In internationalen Studien ist gut belegt, dass queere Jugendliche im Vergleich zu heterosexuellen Teenagern ein stark erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten aufweisen. Doch wie sich der Prozess hin zum Suizidversuch gestaltet und welches etwa die genauen Hintergründe und Motive sind, liegt noch weitgehend im Dunkeln. Dabei sind qualitative Studien prinzipiell machbar, wie eine vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) finanzierte Vorstudie nun gezeigt hat.
Gesunde Kinder und Jugendliche: Die Startchancen angleichen Eine gesunde Kindheit und Jugend ist die Basis für ein bleiben will, fängt am besten früh Manifest gesundes Älterwerden. Daher investiert das BAG in das damit an. Gesundheit im Alter ist Neben dieser Strategie gibt es wei- oft geprägt von Gewohnheiten, tere wichtige Initiativen, welche körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden von Verhaltensweisen oder auch psy- die Gesundheit von Kindern und Kindern und Jugendlichen. Ein Blick auf die aktuellen chischen Belastungen in jungen Jugendlichen in den kommenden Herausforderungen und künftigen Schwerpunkte. Jahren. Solche Erfahrungen kön- Jahren fördern wollen, zum Bei- nen ein Leben lang Auswirkungen spiel das Manifest «Gesunde Kin- haben. der und Jugendliche», das von den In den vergangenen Monaten hat sum (z.B. Alkohol oder Cannabis), Daher hat der Bundesrat in drei Trägerinnen Public Health das neue Coronavirus (SARS- Bewegungsverhalten, Chemikalien «Gesundheit 2030» folgendes Ziel Schweiz, Swiss School of Public CoV-2) die Schweiz verändert. Fast (Schutz der Kinder im Haushalt) formuliert: «Ein gesunder Start ins Health und Departement für Ge- alles drehte und dreht sich um die über das Thema Impfen bis zu psy- Leben ist eine entscheidende Vor- sundheit der ZHAW erarbeitet gesundheitlichen Folgen der Pan- chischer Gesundheit und Young aussetzung für ein gesundes Er- wurde und von 43 Organisationen demie, andere gesundheitliche Carers. Die aktuelle Ausgabe von wachsenenleben. Bund, Kantone unterstützt wird. In diesem Mani- Themen rückten in den Hinter- spectra will aufzeigen, was das sowie alle Institutionen der Erzie- fest werden verschiedene Aspekte grund. Die Pandemie hatte ohne BAG unternimmt, um die Gesund- hung und Bildung von Kindern und im Bereich Kinder- und Jugendge- Zweifel auch Auswirkungen auf heit von Kindern und Jugendli- Jugendlichen sollen Massnahmen sundheit erörtert und Forderun- die körperliche und psychische Ge- chen zu schützen und zu fördern. entwickeln für eine Nutzung bisher gen gestellt. Das Manifest hält fest: sundheit von Kindern und Jugend- nicht ausgeschöpfter Potenziale in «In keinem Lebensabschnitt sind lichen (siehe Box). Das BAG ist da- Neue Gesamtstrategie der Schwangerschaft, der Früh- Gesundheitsförderung und Prä- ran, diese Auswirkungen zu Im Dezember 2019 hat der Bun- kindphase, im Kindergarten, in der vention so wirksam, nachhaltig analysieren und allenfalls auch desrat die neue gesundheitliche Schule und im Übergang zum Be- und wirtschaftlich ertragreich wie Massnahmen zu ergreifen. Nichts- Gesamtstrategie «Gesundheit ruf.» Ein zweiter Schwerpunkt ist in Kindheit und Jugend.» Das Ma- destotrotz ist es für das BAG wich- 2030» verabschiedet, welche die die Vorbeugung: Gesundheitsförde- nifest fokussiert auf alle Phasen tig, auch die bereits laufenden Entwicklung des schweizerischen rung und Prävention sollen mög- von der Geburt bis zum jungen Er- Strategien, Programme und Pro- Gesundheitssystems im kommen- lichst in jungen Jahren beginnen wachsenen und benennt mögliche jekte im Bereich Kinder- und Ju- den Jahrzehnt mitbestimmen und im Erwachsenenalter ergänzt Massnahmen, die auch dazu bei- gendgesundheit fortzuführen. Die wird. In der Gesamtstrategie ist werden. Durch ein günstiges Ge- tragen könnten, die Rollen und die Themen, an denen das BAG neben unter dem Ziel «Gesund älter wer- sundheitsverhalten in jungen Jah- Zusammenarbeit von Bund und Corona arbeitet, sind sehr vielfäl- den» auch die Gesundheit der Kin- ren, aber auch durch entsprechen- Kantonen zu schärfen und allen- tig, wie diese nicht abschliessende der und Jugendlichen erwähnt – de Massnahmen im Älterwerden, falls gemeinsame Rahmenbedin- Übersicht zeigt: Von Substanzkon- denn wer im Alter lange gesund lassen sich Krankheiten vorbeugen. gungen festzuhalten. Forum Mendrisio: Ein Blick auf gute Praxis in der Gemeinschaft «Standpunkte aufzuzeigen bedeutet unter − Das Projekt «Rete Infanzia Mendrisio – per una progettualità integrata anderem, das narrative Kapital aller gesell- e comunitaria» (Netzwerk Kindheit Mendrisio – für eine integrierte und schaftlichen Akteure zu mobilisieren, die in gemeinschaftliche Politik) hat sich zum Ziel gesetzt, formelle und infor- Problemlösungen vor Ort eingebunden melle Netzwerke zu konsolidieren, um Erleichterungen für Familien zu sind. Dieses Kapital besteht aus Erzäh- schaffen, die durch schwache Schutzfaktoren und hohe Risikofaktoren lungen, Geschichten, Schriften und My- gekennzeichnet sind. Die Anlaufstelle für Familien und Jugendliche then, Traditionen, die Zeugen von Idealen fungiert als Sponsor des Projekts und arbeitet mit 15 Partnern zusam- und Kulturen sind, die in Krisenzeiten und men, die auf diesem Gebiet aktiv sind. In gemeinsamer Arbeit werden Zeiten des Wandels so wichtig sind wie nie Präventions- und Fördermassnahmen aufgebaut. und welche die Qualität unserer Gegen- − Das Projekt «Parchi animati» (Belebte Pärke) sieht die Eröffnung von wart und die Möglichkeiten für unsere Gemeinschaftslaboratorien vor, um Bürgerinnen und Bürger, Eltern- Zukunft bestimmen.» (Bruni, 2018) vereine und andere im Quartier ansässige Partner einzubinden und zusammen Konzepte für Pärke als ideale Orte für das Zusammensein, Die kooperative Gestaltung unter Einbezug aller Stakeholder ist somit für Festivitäten und Freizeitaktivitäten von Kindern, Eltern und Gross nicht nur eine Technik zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme, eltern zu entwerfen. sondern vielmehr die Folge einer Sicht der Realität, in welcher die Bürgernahe Welfare bedeutet somit eine Erweiterung des Blickwinkels soziale Gemeinschaft nicht nur für ihre Probleme selbst verantwortlich auf das Stadtmanagement im weiteren Sinn und einen Einbezug von ist, sondern auch für die Suche nach Lösungswegen (Brunod, 2004). Zeitfenstern und Orten, Mobilität und verschiedenen Entwicklungs- Diesen Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit hat sich das Amt für formen. Die Reflexion zu diesem Thema steht bei uns für die Entwick- Sozialpolitik der Stadt Mendrisio zu eigen gemacht: In den letzten Jah- lung politischer Ansätze, welche die Bürgereigenschaften zum Tragen ren hat es neben der üblichen Sozialarbeit, welche auf die Bedürfnisse bringen. Derzeit geht es darum, der von der Stadtverwaltung entwi- der Einwohnerinnen und Einwohner eingeht, auch einen Ansatz für die ckelten Politik Kohärenz und Kontinuität zu verleihen und die Handlun- Arbeit in Gemeinschaften eingeführt. Die Sozialarbeit für die Gemein- gen der Bürgerinnen und Bürger in eine bürgernahe Welfare einzubin- schaft im Sinne von Welfare setzt in diesem Fall bei den Bedürfnissen den, kurz: Es geht darum, die Schlüssel zur gegenseitigen Stärkung an, sie baut gemeinschaftliche Hilfsbeziehungen auf, sie holt vulnerable und die gegenseitige Animierung zu finden. Personen dort ab, wo diese stehen, sie entwickelt informelle Bindungen und setzt Schwerpunkt bei der Inklusion und der Zusammenarbeit in den jeweiligen Umfeldern. Diese Ansätze haben sich zu Vorgaben für Tiziana Madella das Amt für Sozialarbeit von Mendrisio entwickelt. Dieser konzeptuelle Bereichsleiterin Sozialdienst und Anlaufstelle für Familien und Jugendliche Rahmen umfasst eine Reihe von Initiativen, die von der Stadt einge- Tiziana.madella@mendrisio.ch leitet wurden. Hier zwei Beispiele: 2 spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche
Aus erster Hand sonen. Entsprechend wichtig ist die changengerechte Förderung von gesunden Kindern und Ju- gendlichen. Denn wie erwähnt: In keinem Lebensabschnitt sind Ge- Jasmin Rüfenacht und Jovana Hrvacanin sundheitsförderung und Präven (beide Lehre als Kauffrau im BAG) tion so wirksam, nachhaltig und «Social Media wirtschaftlich ertragreich wie in dieser Lebensphase. haben grossen Einfluss» Grundlagen Homeschooling ist Chance wie auch Risiko. Die schulischen Fortschritte Das BAG stützt sich bei den Arbei- hängen davon ab, wie gut die Kinder zu Hause betreut werden können. ten auf verschiedene Grundlagen: − NCD-Strategie (Strategie zur «Gesundheit heisst für uns, dass es einem Prävention nicht übertragbarer körperlich und psychisch gut geht. Sie hat Das Bundesamt für Gesundheit liegen, verstanden werden und Krankheiten) für uns einen sehr hohen Stellenwert, sieht Potenzial in vielen in den im wirklich wirksame Massnahmen − Strategie Sucht wenn nicht sogar den höchsten! Zu einer Manifest aufgeführten Themen, et- definiert werden. Aktuell bestehen − Dialogbericht zu den Massnah- guten Gesundheit kann man selber etwas wa die Herausforderungen bei der zum Beispiel Datenlücken in Bezug men im Bereich der psychischen beitragen. Wir bewegen uns gerne und psychischen Gesundheit von Kin- auf bestimmte Altersgruppen Gesundheit achten auf eine ausgewogene Ernährung. dern und Jugendlichen. Viele psy- (0 bis 10 Jahre). − Motion Ingold (Suizid Beim Sport lassen sich verschiedene As- chische Störungen treten in jungen prävention) pekte kombinieren, die uns gut tun. Zum Jahren auf, werden aber leider oft Die Startchancen angleichen − Betäubungsmittelgesetz Beispiel beim Volleyball – der Austausch erst sehr viel später diagnostiziert. Ein weiteres Problem ist der un- − Strahlenschutzgesetz (Radon) mit dem Team motiviert und die Bewe- Bei den 8- bis 18-Jährigen ist jede gleiche Zugang von Kindern und − Förderprogramm betreuende gung macht fit und ausgeglichen. Fünfte, jeder Fünfte mindestens Jugendlichen zur Gesundheitsver- Angehörige (2017–2020) Gesundheit ist im Trend und es gibt so einmal psychisch auffällig und lei- sorgung. Das beginnt bei unglei- viele Informationen dazu. Gerade bei der det zum Beispiel unter Angst- oder chen Startchancen der Kinder, zum Ernährung bewegen sich viele auf einem Aufmerksamkeitsstörungen. Beispiel aufgrund ungenügender Kontakte: schmalen Grat zwischen bewusster Ernäh- Eine weitere Herausforderung Gesundheitskompetenz der Eltern – Dagmar Costantini, Sektion rung und gefährlichem Gesundheitswahn. besteht in der Suizidprävention bei oder bei ungleichen finanziellen Gesundheitsförderung und Die Social Media haben da einen grossen Jugendlichen in der Schweiz, denn Möglichkeiten, die Kinder sportlich Prävention, Einfluss auf viele junge Leute. Diese legen Suizide sind nach dem Unfalltod zu fördern (zum Beispiel Mitglie- dagmar.costantini@bag.admin.ch Wert auf einen schönen, schlanken Körper die zweithäufigste Todesursache. derbeiträge von Sportvereinen). – Lea Pucci-Meier, Sektion Natio- und vergleichen sich ständig mit anderen. Etwa 30 Jugendliche im Alter von Solche Defizite können sich auf die nale Gesundheitspolitik, Das braucht mega Disziplin. Ja, und 15 bis 18 Jahren nehmen sich in Kinder übertragen, sich über die lea.pucci@bag.admin.ch manchmal denkst du dann: ‹Hm, etwas der Schweiz jedes Jahr das Leben, Schulzeit hindurch fortbilden, kön- mehr Sport würde mir ja auch gut tun.› bei den 19- bis 24-Jährigen sind es nen zu Schwierigkeiten bei der Link: Dann geht es nur noch um das äussere etwa doppelt so viele. Die Zahl der Lehrstellensuche oder gar zu BAG-Dossier Gesundheit für Kinder Erscheinungsbild und nicht um Gesund- Suizidversuche ist etwa 10- bis 20- Schulabbruch führen – und enden und Jugendliche heit. Es kann ja nicht sein, dass ich ein mal höher. Gemäss einer Studie damit in langfristigen Auswirkun- https://tinyurl.com/y7n3kme7 schlechtes Gewissen bekomme, wenn ich des Schweizerischen Gesundheits- gen auf die Gesundheit dieser Per- ein Schoggi-Gipfeli esse, oder? observatoriums Obsan geben 10 Wir werden ständig konfrontiert mit Prozent der Jugendlichen und jun- unterschiedlichen Vorstellungen von Ge- gen Erwachsenen an, in den letz- sundheit. Da muss man sich abgrenzen ten zwei Wochen Suizidgedanken Einfluss des neuen Coronavirus auf die können. Was für die eine Person gut ist, ist gehabt zu haben. Gesundheit von Kindern und Jugendlichen für mich vielleicht nicht gleich gut. Die einen Dazu kommt eine in der gehen gerne ins Fitnesscenter, die anderen Schweiz ungenügende psychiatri- Noch ist es zu früh, um Aussagen darüber zu machen, welche Aus- bewegen sich lieber in der Natur. Es ist sche Versorgung von Kindern und wirkungen das neue Coronavirus auf die Gesundheit von Kindern wichtig, dass jeder für sich herausfindet, Jugendlichen, die mit einem Man- und Jugendlichen haben wird. Studien dazu sind am Laufen. Klar ist was für ihn stimmt. Das ist aus unserer gel an derartigen Therapieplätzen nur, dass es Auswirkungen gibt. Sicht die grösste Herausforderung. und Fachpersonen zusammen- Zwar gehören Kinder und Jugendliche nicht zur Risikogruppe, aber Sport und Ernährung sind aber nur ein hängt und zu langen Wartefristen von den Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie waren und sind Teil der Gesundheit. Für uns ist die men- führt. Für das BAG ist klar, dass die sie stark betroffen. Der Lockdown führte dazu, dass der soziale Aus- tale Gesundheit genauso wichtig. Wir psychische Gesundheit für alle Kin- tausch im Klassenverband, auf dem Pausenplatz unterbrochen wurde. denken, dass Inputs zur Gesundheitsförde- der und Jugendlichen Nachbesse- Zudem hingen die schulischen Fortschritte in dieser Zeit auch davon rung von Eltern oder Lehrpersonen hilf- rungen benötigt, von der Präven ab, wie gut die Kinder zu Hause betreut wurden. Damit stellt sich die reich sind, aber ab einem bestimmten Alter tion bis hin zur psychiatrischen Frage nach der Chancengerechtigkeit: Insbesondere für benachteiligte ist jeder für die eigene Gesundheit verant- Versorgung. Kinder besteht die Gefahr, dass sie durch Fernschule schulisch weiter wortlich. Freizeit mit anderen Menschen zu abgehängt wurden. Dies kann bei den Kindern Stress verursachen. verbringen, tut sicher gut. Man muss aber Mangel an Daten Eine Umfrage der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissen- auch mal Rücksicht auf sich selber nehmen Womit wir bei einer weiteren Her- schaften ZHAW bei Gymischülerinnen und Gymischülern im Kanton können. Und dann halt etwas absagen, ausforderung wären: dem Mangel Zürich ergab, dass die Jugendlichen mehr Zeit vor dem Bildschirm wenn man Ruhe und Zeit für sich braucht. an guten Daten. Das gilt nicht nur verbrachten: fünfeinhalb Stunden anstatt vier Stunden pro Tag. Aber Man muss lernen, gut auf sich zu hören. für die psychische Gesundheit, son- es gab auch überraschend positive Ergebnisse: So nahm der Drogen- Das ist nicht immer so einfach.» dern ganz generell im Bereich der konsum in dieser Zeit ab, es wurde fast gleich viel Sport getrieben wie Gesundheit von Kindern und Ju- zuvor und die Beziehung zu den Eltern verbesserte sich: Die inner gendlichen. Nur mit guten Daten familiären Beziehungen haben sich in der Zeit des Lockdown positiv können die komplexen Mechanis- entwickelt. men, die der Gesundheit zugrunde spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche 3
Wie gesund sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in der Schweiz? Neun von zehn Schulkindern stufen ihre eigene Gesundheit als gut bis ausgezeichnet ein. Doch etwa ein Fünftel der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist übergewichtig oder lebt mit einer chronischen Erkrankung wie Heuschnupfen, Neurodermitis oder Bluthochdruck. Für verlässliche Aussagen zur Gesundheit von Kindern (insbesondere unter zehn Jahren) muss die Datenlage verbessert werden. Auf die Frage «Wie würdest du dei- nen Gesundheitszustand beschrei- ben?» antwortet etwa die Hälfte der Schulkinder in der Schweiz mit «ausgezeichnet» – und knapp nochmals so viele der 11-Jährigen und ein Drittel der 15-Jährigen mit «gut». Die Resultate der internatio- nalen HBSC-Studie (die Abkürzung steht für Health Behaviour in School Children, siehe Kasten) stimmen auch mit der nationalen Gesundheitsbefragung überein: Kinder, Jugendliche und junge Er- wachsene in der Schweiz schätzen ihren Gesundheitszustand erfreu- lich positiv ein. Den Empfehlungen für Bewe- gung folgt die grosse Mehrheit der Kinder zwischen sechs und zehn Jahren, doch danach sinkt die kör- perliche Aktivität mit zunehmen- dem Alter. Bei den 11- bis 15-Jäh- rigen bewegen sich nur noch 17,5 % der Jungen und 10,6 % der Mädchen intensiv während min- destens einer Stunde pro Tag, ob- wohl die meisten von ihnen auch ausserhalb der Schule Sport betrei- Vor einem Schultag schlafen 14- bis 15-Jährige im Schnitt rund acht Stunden. Doch viele Jugendliche haben ben. Auch junge Erwachsene ge- Schlafstörungen. ben meistens an, körperlich aktiv zu sein, dazu liegen allerdings kei- ne verlässlichen Zahlen vor. Erwachsenen legt. Der Bericht Health-Problem sind, kann man- Vor einem Schultag schlafen 14- wurde am 27. August 2020 veröf- gels Daten nicht verifiziert werden. Kontakt: bis 15-Jährige im Schnitt rund acht fentlicht. Die vorläufigen Ergebnis- Zu den Empfehlungen des Berichts Claudio Peter, Schweizerisches Stunden. Doch viele Jugendliche se zeigen, dass schätzungsweise gehört denn auch, epidemiologi- Gesundheitsobservatorium, und junge Erwachsene haben ein Fünftel der Kinder und Ju- sche Daten für Kinder bis zum 10. claudio.peter@bfs.admin.ch Schlafstörungen. Seit 2002 steigt gendlichen entweder ein chroni- Altersjahr schweizweit einheitlich der Anteil der 11- bis 16-Jährigen sches Gesundheitsrisiko wie etwa zu sammeln – und so die Daten- Link: mit psychoaffektiven Beschwerden Übergewicht aufweist oder mit ei- grundlagen zu schaffen, um etwa HSBC-Studie wie etwa Müdigkeit und Einschlaf- ner chronischen Erkrankung oder Massnahmen der Gesundheitsför- https://tinyurl.com/yc5klg3j schwierigkeiten. Zeitlich korreliert Behinderung lebt. Zu den häufigs- derung evaluieren zu können. diese Entwicklung mit der zuneh- ten chronischen Krankheiten, an menden Nutzung von digitalen Me- denen bis zu 5 % der Kinder und dien. Heute beginnt die Nutzung im Jugendlichen leiden, zählen Stö- Vorschulalter mit Fernsehen, Hör- rungen des Immunsystems wie et- Health Behaviour in School-aged Children spielen und Tablets, spätestens ab wa Heuschnupfen, Asthma oder der Oberstufe überwiegt dann die Neurodermitis. Ungefähr gleich Im Rahmen der internationalen HBSC-Studie werden Schulkinder Nutzung des Internets und des ei- viele junge Menschen sind von er- alle vier Jahre in über 40 (mehrheitlich europäischen) Ländern über genen Smartphones. Der exzessive höhten kardiovaskulären Risiken ihr Gesundheitsverhalten befragt. In der Schweiz wird die Befra- Gebrauch von digitalen Medien wie Übergewicht und Bluthoch- gung seit 1986 durchgeführt, die aktuellsten Daten stammen aus kann zu Bewegungsmangel und druck betroffen. dem Jahr 2018, als 11 121 Schülerinnen und Schüler im Alter zwi- Übergewicht, aber auch zu Einsam- Für den Bericht sollten die Au- schen 11 und 15 Jahren freiwillig und anonym Auskunft gaben. Drei keit und Depression führen. Aus torinnen und Autoren national re- Viertel der befragten Jugendlichen haben ein normales Körperge- methodischen Gründen sind viele präsentative Datenquellen aufar- wicht, je etwa ein Achtel wiegt entweder zu wenig oder zu viel. Studienbefunde mit Vorsicht zu ge- beiten. Aber: Die Datenlage war oft Trotzdem war nur die Hälfte – die Jungen etwas mehr als die Mäd- niessen. mager. In der Schweiz werden zum chen – mit ihrem Körpergewicht zufrieden. Während sich Mädchen Das Schweizerische Gesund- Beispiel nicht alle Indikatoren er- öfters als zu dick sehen, finden Jungen eher, dass sie zu dünn heitsobservatorium (Obsan) erar- hoben, die von der europäischen seien. Weil in der Adoleszenz wichtige Weichen in der Identitätsfin- beitete unter Einbezug eines Ex- Geburtsstatistik empfohlen wer- dung gestellt würden, sei es wichtig, die Jugendlichen darin zu pertengremiums mit breitem den. Ob sich die international zu unterstützen, ein positives Bild ihres (sich fortlaufend entwickeln- Fach- und Praxiswissen die vierte beobachtende Zunahme der Kurz- den) Körpers zu gewinnen, schliesst der neu veröffentlichte HBSC- Ausgabe des Nationalen Gesund- sichtigkeit auch bei den Kindern Studienbericht aus der Schweiz. heitsberichts, der im Jahr 2020 und Jugendlichen hierzulande den Fokus auf die Gesundheit von spiegelt oder ob chronische Kindern, Jugendlichen und jungen Schmerzen ein relevantes Public- 4 spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche
Wenn Kinder und Jugendliche Angehörige betreuen Eine Bevölkerungsbefragung zeigt, wie viele Kinder und Jugendliche sich in der Schweiz um kranke Grosseltern, Eltern oder Geschwister kümmern und wie es ihnen dabei geht. Die Studie macht deutlich, dass eine Betreuungsaufgabe sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben kann und dass Unterstützung vor allem in Notfällen gefragt ist. Das Förderprogramm «Entlas- sie mit ihrer Selbstfindung beschäf- tungsangebote für betreuende tigt, andererseits lernen sie, soziale Angehörige 2017–2020» des BAG Verantwortung innerhalb und aus erforscht die Situation und die Be- serhalb der Familie zu überneh- dürfnisse von betreuenden Angehö- men. Eine zusätzliche Betreuungs- rigen, mit dem Ziel, Entlastungs aufgabe kann in diesen Fällen angebote (weiter) zu entwickeln. In anspruchsvoll und belastend sein. diesem Zusammenhang haben die Die Betreuung von Angehöri- Careum Hochschule Gesundheit gen kann sich aber auch positiv und gfs.bern eine für die Schweiz auswirken: Soziale und praktische repräsentative Bevölkerungsbefra- Fähigkeiten werden gestärkt und gung von betreuenden Angehörigen das Selbstwertgefühl steigt. 90 % durchgeführt. Über 2400 betreuen- der betreuenden Kinder und Ju- de Angehörige – davon 389 Kinder gendlichen schätzen ihre eigene und Jugendliche zwischen 9 und 15 Gesundheit als «gut» oder «sehr Jahren – haben sich freiwillig an gut» ein und viele betonen die neu- der Studie beteiligt. en Fähigkeiten, die sie durch ihre Tätigkeit erworben haben (siehe Auch Kinder und Jugendliche Abbildung). betreuen Angehörige Geschätzte 49 000 Kinder und Ju- Wünsche nach Unterstützung gendliche in der Schweiz nehmen Die Young Carers wünschen sich betreuende und pflegerische Auf- vor allem Hilfe, Informationen und gaben wahr. Das heisst, 9 % der Tipps im Umgang mit Notfällen. Geschätzte 49 000 Kinder und Jugendliche in der Schweiz nehmen betreuende und Personen zwischen 9 und 15 Jah- Besonders wichtig ist vielen auch, pflegerische Aufgaben wahr. Dazu gehört zum Beispiel: Gesellschaft leisten. ren sind sogenannte Young Carers. dass sie weiter ihren Hobbys nach- Meistens betreuen sie Verwandte gehen können und dass man sie Positive und negative Auswirkungen für betreuende Angehörige unter 16 Jahren (40 % Grosseltern, 32 % Eltern, nach ihrer Meinung fragt. 14 % Geschwister). Im Vordergrund Neue Fähigkeiten gelernt steht die emotionale Unterstüt- Ausblick zung, also den Angehörigen Gesell- Im letzten Jahr des Förderpro- Bin traurig und besorgt schaft zu leisten oder zum Rechten gramms «Entlastungsangebote für Weniger Freizeit zu schauen. Im Schnitt beginnt die betreuende Angehörige» erarbei- Schwierigkeiten in der Schule Unterstützung im Alter von 10 Jah- tet das BAG auf der Grundlage al- Weniger fit ren. Das Geschlechterverhältnis ist ler durchgeführten Forschungs- ziemlich ausgeglichen (Mädchen: mandate und der Modelle guter Stimmt sehr Stimmt ein wenig Stimmt eher nicht Stimmt nicht 52 %, Jungen: 48 %). Praxis einen Synthesebericht. Die- ser nimmt den Handlungsbedarf Betreuungsaufgabe auf meh- sowie datengestützte Empfehlun- rere Schultern verteilt gen der Forschenden auch in Be- Die grosse Mehrheit der Young Ca- zug auf Young Carers auf und wird rers kann bei der Betreuung auf die in der zweiten Jahreshälfte 2020 Bestehende Angebote Unterstützung einer weiteren Per- veröffentlicht. son zählen. Sehr häufig handelt es Unterstützungsangebote für de Kinder und Jugendliche und sich um ein Familienmitglied (82 %), Kontakt: Kinder und Jugendliche gibt es ermöglicht ihnen, sich auszutau- es kann auch eine Ärztin oder ein Facia Marta Gamez, Sektion viele: Onlineplattformen mit schen, Spass zu haben oder Arzt (27 %) oder jemand von der Nationale Gesundheitspolitik, Informationen, Beratung und Tipps und Ideen zu teilen. Spitex (20 %) sein. 5 % der Jugendli- Facia.MartaGamez@bag.admin.ch Austausch, Kurse, Feriencamps https://tinyurl.com/ybmspjda chen erhalten keine Unterstützung und Austauschtreffen. Einige in der Betreuung. Insgesamt 83 % Links: fokussieren auf ein bestimmtes 147 – Beratung und Hilfe der Young Carers finden die Unter- – Förderprogramm «Entlastung- Themenfeld, andere sind the- für Kinder und Jugendliche in stützung ausreichend, bei 16 % trifft sangebote für betreuende Angehö- matisch offen. der Schweiz dies manchmal zu. Gut 1% oder rige 2017–2020» Das kostenlose Angebot von hochgerechnet 700 Kindern fehlt https://tinyurl.com/y835kyfc Kinderseele Schweiz Pro Juventute unterstützt Kinder gemäss eigener Einschätzung die Das Institut Kinderseele Schweiz und Jugendliche, insbesondere nötige Unterstützung. Besonders oft – Schlussbericht Forschungsprojekt bietet Kindern von psychisch Young Carers, bei verschiedenen ist das der Fall, wenn keine Bezugs- «Bedürfnisse und Bedarf von erkrankten Eltern Informationen, Fragen via Telefon, Chat, SMS person innerhalb der Familie vor- betreuenden Angehörigen nach Beratung und Austausch und oder E-Mail. handen ist, mit der Young Carers Unterstützung und Entlastung – vermittelt ihnen konkrete Hilfe. www.147.ch ihre persönlichen Wünsche und Ge- eine Bevölkerungsbefragung» www.kinderseele.ch fühle besprechen können. https://tinyurl.com/yd52sneb Über die Onlinedatenbank des Young Carers Get Together – Förderprogramms «Entlastungs Positive und negative Austauschtreffen für Young angebot für betreuende Angehö- Auswirkungen Carers rige 2017 – 2020» finden Sie Die Young Carers befinden sich Dieses Angebot von Careum weitere Angebote. selbst oft in einer entscheidenden richtet sich speziell an betreuen- https://tinyurl.com/y6blrwxo Entwicklungsphase. Einerseits sind spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche 5
«Ärzte sollen mit ihrer Expertise auch zum Allgemeinwohl beitragen» Susanne Stronski Huwiler, Kinderärztin und Co-Leiterin des Gesundheitsdienstes der Stadt Bern, erklärt im Gespräch, wieso bei Adoleszenten konkrete Präventionsbotschaften besser funktionieren als abstrakte. Und wieso sich Kinder- und Hausärzte stärker gesundheitspolitisch einbringen sollten. Frau Stronski, im Vergleich mit Inwiefern? vor 20 Jahren konsumieren Gerade für die Substanzabhängig- Jugendliche heute weniger keit – insbesondere die Abhängig- Drogen, dafür verbringen sie keit von Nikotin – ist das jugend mehr Zeit vor dem Bildschirm. liche Gehirn deutlich vulnerabler Wie ungesund ist das? als das Erwachsener. Mit den Prä- Wir wissen ja seit Paracelsus, dass ventionsbotschaften sollten wir nichts per se gesund oder unge- weniger auf abstrakte und mehr sund ist, sondern: Es ist die Dosis, auf konkrete Inhalte abzielen – die das Gift macht. Bei den digita- und die Jugendlichen nicht nur len Medien liegt das Hauptproblem vor Raucherbeinen und Lungen- darin, dass bei einem exzessiven krebs warnen, also vor Risiken, Konsum die Zeit für anderes fehlt, denen sie erst viel später in ihrem etwa zum Lernen oder für Bewe- Leben ausgesetzt sind. Sondern gung an der frischen Luft. Hinzu kommt, dass das Blaulicht aus den Bildschirmen den Schlaf-Wach- «Mir fällt auf, dass die Rhythmus, der bei Jugendlichen Wahrnehmung für das ohnehin verschoben ist, noch wei- Hier und Jetzt immer ter destabilisiert. Die einseitige Er- mehr verloren zu gehen nährung und die vom Schlafman- gel beeinflusste fehlende Bewegung scheint: Man sitzt zwar gehören zu den Hauptgründen, im Bus, ist aber mental wieso heute ein knappes Viertel ganz woanders.» der Jugendlichen übergewichtig oder sogar adipös ist. Mir fällt auch auf, dass die Wahrnehmung für das wir sollten den Jugendlichen Hier und Jetzt immer mehr verlo- etwas, was sie direkt betrifft, vor ren zu gehen scheint: Man sitzt Augen führen, zum Beispiel den zwar im Bus, ist aber mental ganz finanziellen Aufwand. Wenn Ju- woanders. gendliche ausrechnen, welchen Anteil ihres Taschengelds sie für In einem kürzlich erschie- den Zigarettenkonsum aufwenden nenen Fachbeitrag (*) fordern müssten, wenn sie mit dem Rau- Sie, dass sich die Prävention chen beginnen würden, stellt sich an den Entwicklungsaufgaben oft ein Aha-Effekt ein. Zu einer gu- orientieren sollte, die Adoles- ten Prävention gehören aber nicht zente im Verlauf ihres Über- nur jugendgerechte Botschaften, gangs vom Kinder- ins Erwach- mindestens ebenso wichtig sind senenalter zu lösen haben. auch griffige staatliche Regelun- Was meinen Sie damit? gen, etwa ein umfassendes Werbe- Jugendliche durchleben eine Zeit verbot für Tabakprodukte. mit raschen körperlichen Entwick- lungsprozessen. Es entsteht ein se- In Ihrem Beitrag weisen Sie xueller Antrieb – und man stellt auf die Bedeutung der Schule sich mit neuer Dringlichkeit Fra- für die Gesundheit von Ju- gen wie «Wer bin ich?», «Wo ist gendlichen hin. mein Platz in der Welt?» und «Wo- Ja, zu den Entwicklungsaufgaben zu bin ich da?». In der Adoleszenz von Jugendlichen gehört auch, findet eine tief greifende Reorgani- dass sie sich neue Lebenswelten sation des Gehirns statt. Nicht ge- ausserhalb der Familie erschlies brauchte Synapsen werden abge- sen. Für viele spielt dabei die Schu- baut, der Anteil an grauer Substanz le eine herausragende Rolle. In den sinkt, dafür steigt der Anteil an drei obligatorischen Jahren der Se- weisser Substanz im Hirn. Die kundarstufe I besuchen Jugendli- Denkprozesse werden schneller che im Durchschnitt etwa 4000 und effizienter, jedoch nicht alle Lektionen. Dass dabei – gemäss zur gleichen Zeit: Zuerst reifen die dem Lehrplan 21 – vermehrt auch Strukturen des Belohnungssys- Lebens- und Gesundheitskompe- tems. Die Areale des präfrontalen tenzen vermittelt werden sollen, Kortex, wo unter anderem die Im- begrüsse ich. Zudem zeigen statis- pulskontrolle sitzt, reifen zuletzt. tische Auswertungen, dass der Bil- Solche Erkenntnisse sollten bei der dungserfolg einen massgeblichen Gestaltung von Präventionsmass- Einfluss auf die lebenslange Ge- nahmen berücksichtigt werden. sundheit hat, weil ein tiefer Bil- Es gibt einige jugendspezifische Gesundheitsprobleme: Beispielsweise machen sich dungsstatus öfter als ein hoher mit viele psychische Probleme in diesem Alter erstmals bemerkbar – und werden häufig erst einem ungünstigen Gesundheits- spät erkannt. 6 spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche
Dr. med. Susanne Stronski Huwiler Susanne Stronski Huwiler hat in Fribourg und Bern Medizin studiert – und dann den Facharzttitel Pädi- atrie in Luzern und Bern erworben. Anschliessend war sie als Oberärztin auf der Neonatologie des Frauenspitals Bern tätig, bevor sie für einen mehr- jährigen Forschungsaufenthalt an der University of Minnesota in die USA zog. Dort beschäftigte sie sich mit der «Adolescent Medicine» und schloss zudem einen Master in Public Health ab. Von 2001 verhalten und einer Akkumulation zifische gesundheitliche Probleme: bis 2015 leitete sie den schulärztlichen Dienst der von Risikofaktoren einhergeht. Da- In diesem Alter machen sich bei- Stadt Zürich. Aktuell arbeitet Stronski Huwiler als her betrifft die Prävention, die im spielsweise viele psychische Er- Co-Leiterin des Gesundheitsdienstes der Stadt Jugendalter ansetzt, auch die Ge- krankungen erstmals bemerkbar Bern und in Teilzeit als Oberärztin auf der Neuro- sundheit von Erwachsenen. Und – und werden häufig erst spät er- und Entwicklungspädiatrie der Kinderklinik in Bern. weil die heutigen Jugendlichen die kannt. Für viele Personen mit chro- Eltern von morgen sind, betrifft die nischen Krankheiten ist die Adoles- Prävention sogar auch die Gesund- zenz eine schwierige Zeit, weil die heit der folgenden Generationen. Erkrankungen in dieser Phase oft entgleisen. Einerseits, weil mit der men werden, mit Risiken zu ver- Ja, das neue TPG ist ein wichtiger In Ihrem Beitrag beklagen Sie, körperlichen Entwicklung vielfach gleichen, denen man sich gewollt Schritt in die richtige Richtung. Lei- dass das Präventionspotenzial auch das bisher gefundene Gleich- oder alltäglich aussetzt. Beim Bei- der sind im Gesetz immer noch nur der Gesundheitsberichterstat- gewicht verloren geht und etwa bei spiel mit den Transformatoren et- partielle Werbeeinschränkungen tung in der Schweiz nicht Diabetikern neu gefunden und ein- wa entsprach das Risiko durch ihre vorgesehen. So wird das Ziel, Kin- ausgeschöpft werde. gestellt werden muss. Aber ande- Strahlung ungefähr dem der kos- der und Jugendliche umfassend Wir sind mit unserem Gesund- rerseits, weil Jugendliche auch Re- mischen Strahlung, die auf einem vor dem Einstieg in den Tabakkon- heitssystem gut unterwegs, aber geln brechen und überschreiten Interkontinentalflug anfällt. sum zu schützen, noch nicht er- wir wissen sehr wenig darüber, wie wollen. Einem jungen Asthmatiker reicht. Ich hoffe, dass die Erfahrun- es funktioniert. Das gilt für die Er- ist es vielleicht wichtiger, mit sei- Warum möchten Sie, dass sich gen mit der Initiative «Kinder ohne wachsenenmedizin – und noch viel nen Kollegen in den Ausgang zu auch Haus- und Kinderärzte Tabak» viele Kolleginnen und Kol- mehr für die Medizin für Kinder gehen, als sich strikte an die An- vermehrt auf politischer Ebene legen motiviert, sich künftig ver- und Jugendliche. Im internationa- weisungen der Eltern oder der Ärz- einbringen? mehrt für strukturelle Veränderun- len Vergleich ist die Schweiz bezüg- tin zu halten. Das ist ein Stück weit Aus der Sicht von Medizinern gibt gen und eine gesundheitsförderliche lich Gesundheitsdaten eine regel- verständlich, weil es dem Jugendli- es so viele Sachen, die eigentlich Umgebung einzusetzen. Denn auf- rechte Datenwüste. Auf der chen auch um das Streben nach nicht verhandelbar sind. Aber grund ihrer Erfahrung und ihrer politischen Ebene wird das zuse- Autonomie geht. Hier könnte man wenn wir unsere Meinung nicht Glaubwürdigkeit sind Ärzte bes- hends anerkannt. Das zeigt sich laut kundtun, ändert sich nichts. tens für ein anwaltschaftliches En- zum Beispiel auch darin, dass im Ich war längere Zeit in den USA, gagement zugunsten einer positi- Nationalen Gesundheitsbericht «Im internationalen wo es selbstverständlicher ist, dass ven Entwicklung von Jugendlichen 2020 die Gesundheit von Kindern Vergleich ist die Schweiz die Ärzteschaft ihr Fachwissen geeignet. und Jugendlichen im Hauptfokus bezüglich Gesundheits- auch in gesundheitspolitische Dis- steht. Um das System steuern zu kussionen einbringt. Dieses gesell- Zum Schluss noch eine Frage können, brauchen wir Daten. Die daten eine regelrechte schaftliche Engagement fehlt mir zu einem anderen Thema: zum sind in der Schweiz zwar da, liegen Datenwüste. Auf der in der Schweiz ein Stück weit. Klar neuen Coronavirus. Welche aber meist ungenutzt etwa in Hun- politischen Ebene wird das sollten sich Ärzte in erster Linie um Auswirkungen hatte der Lock- derten verschiedener Arztpraxen. zusehends anerkannt.» das individuelle Wohl ihrer Patien- down auf die Gesundheit der Nur wenn wir diese Daten – in ano tinnen und Patienten kümmern, Jugendlichen? nymisierter Form – zusammenfüh- aber darüber hinaus sollten sie Zu einer gesunden Entwicklung ge- ren, können wir sie auch nutzen. ansetzen – und den Jugendlichen sich nicht scheuen, mit ihrer Ex- hört, dass Jugendliche eigene Le- in seinem Findungsprozess unter- pertise auch zum Allgemeinwohl benswelten ausserhalb der Familie Sind Jugendliche gut aufgeho- stützen, denn schliesslich ist er es, beizutragen. erschaffen. Stattdessen wurden sie ben im Schweizer Gesund- der lernen muss, wie er mit seiner im Lockdown auf die Ursprungsfa- heitssystem? Erkrankung leben will. Können Sie ein konkretes milie zurückgeworfen. Zudem Wie gesagt: Grundsätzlich haben Beispiel nennen? konnten einige Jugendliche mit wir hierzulande ein System, das im Welche Aufgaben nehmen Die US-amerikanische Fachgesell- psychiatrischen Symptomen ihren weltweiten Vergleich sehr gute Schulärzte wahr? schaft für Pädiatrie hat schon vor Arzt oder Psychologen nicht mehr Leistungen erbringt. So ist die Schulärzte nehmen mit ihren ju- Jahren eine Stellungnahme veröf- sehen. Bewegungsmangel zusam- Schwangerschaftsabbruchrate bei gendmedizinischen Vorsorgeunter- fentlicht, in der sie sich klar gegen men mit falscher Ernährung, even- Teenagern mit 3 von 1000 jungen suchungen die Prävention auf der das Aufstellen von Süssgetränk- tuell noch kombiniert mit Schlaf- Frauen eine der tiefsten weltweit. Ebene des Individuums wahr. Automaten in Schulgebäuden ge- mangel durch exzessiven Gebrauch Trotzdem sehe ich noch Verbesse- Gleichzeitig bringen sie ihre medi- äussert hat. Die Faktenlage zeigt von sozialen Medien können zu rungspotenzial: Es gibt in der zinische Expertise auch beratend eindeutig, dass das Fehlen solcher Übergewicht führen. Allerdings Schweiz keine jugendspezifische ein und wirken auf einer überge- Automaten zu einem relevanten können wir zum Ausmass noch Anlaufstelle in der Medizin, so wie ordneten Ebene als eine Art Be- Rückgang von Übergewichtigen keine Aussage machen, ebenso etwa in den USA, wo die sogenann- triebsarzt im System Schule. Oft führt. Doch hier in der Schweiz fehlen Zahlen zu den psychischen te «Adolescent Medicine» spezielle geht es darum, gesundheitliche Ri- traute man sich lange nicht, das so Erkrankungen. Gesundheitsversorgungsangebote siken einzuschätzen, also um Fra- zu sagen. Deswegen haben wir da- für die Altersgruppe von 12- bis gen wie: Kann der Sporttag bei die- mals im schulärztlichen Dienst von (*) Literaturhinweis: 25-Jährigen bereithält. sen Ozonwerten noch durchgeführt Zürich jahrelang für die Verban- Gesundheit und Prävention im werden? Oder wie gefährlich ist die nung der Süssgetränkeautomaten Jugendalter: Zusammenarbeit von Worum müsste sich die elektromagnetische Strahlung von aus den Schulgebäuden kämpfen Kinder- und Jugendärzten, «Adolescent Medicine» sonst Transformatoren, die gleich neben müssen. Schulärzten und der Schule, noch kümmern? dem Schulhaus stehen? Hier müs- Susanne Stronski Huwiler, Im Vergleich mit Pensionierten ge- sen Schulärzte oft Übersetzungsar- Bei der Diskussion um das Paediatrica, Dezember 2019 hören Jugendliche natürlich zum beiten leisten. Dazu gehört, auch neue Tabakproduktegesetz https://tinyurl.com/yc3pk9m5 gesunden Teil der Bevölkerung. Risiken, die von der Allgemeinheit (TPG) bringen sich die Kinder- Trotzdem gibt es auch jugendspe- mitunter überhöht wahrgenom- ärzte doch ein? spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche 7
Schwieriger Übergang von der Jugend- zur Erwachsenenpsychiatrie Für die psychiatrische Versorgung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen an der Schnittstelle zur Erwachsenen psychiatrie gibt es Handlungsbedarf. Dies zeigt der vom BAG in Auftrag gegebene Bericht, der bestehende Angebote untersucht und Handlungsempfehlungen formuliert. Der Übertritt in die Volljährigkeit wurde vom BAG eine Bestandes- geht für psychiatrische Patientin- aufnahme der Angebote der Transi- nen und Patienten oft mit einem tionspsychiatrie in Auftrag gege- einschneidenden Wechsel des ge- ben. Da sich der altersbedingte setzlichen und institutionellen Wechsel des Versorgungssystems Rahmens der Behandlung einher. insbesondere in der stationären Der Zuständigkeitswechsel von Psychiatrie zeigt, wurden im Be- der Kinder- und Jugendpsychiat- richt die stationären und die tages- rie (KJP) zur Erwachsenenpsychi- klinischen Angebote untersucht atrie (EP) führt häufig zu Unter- und von Expertinnen und Experten brüchen in der Behandlung, gesundheitspolitisch eingeschätzt. beispielsweise durch Wechsel der Die ambulante Versorgung war psychiatrischen Fachperson und nicht Teil der Fragestellung, da die der zuständigen Institution. Wieso Herausforderungen an der Schnitt- die sogenannte Transitionspsychi- stelle dort erfahrungsgemäss flexi- atrie an dieser Schnittstelle eine bler und durchlässiger angegangen zentrale Herausforderung für die werden. psychiatrische Versorgung ist, zeigt ein Bericht der Zürcher Wenige Angebote Hochschule für Angewandte Wis- Der Bericht zeigt, dass in der senschaften ZHAW (siehe Box). Schweiz nur einige stationäre und tagesklinische Angebote einen Adoleszenz – eine transitionspsychiatrischen Fokus vulnerable Zeit verfolgen. Obwohl es in den letzten Die Kontinuität einer psychiatri- Jahren vermehrt Angebote gab, Die Adoleszenz ist geprägt von vielen Entscheidungen und Veränderungen. Dies kann für die schen Behandlung ist gerade in die sich spezifisch an junge Er- Jugendlichen auch erhöhte Sensibilität und Verletzlichkeit bedeuten. der Adoleszenz sehr wichtig, denn wachsene und ihre Anforderungen Jugendliche, die sich in einer The- in der Adoleszenz richten, kann rapie befinden, benötigen diese man von einer Versorgungslücke Brückenangebote, Ausbildungs- meist auch über den 18. Geburts- sprechen. Diese Lücke umfasst ge- stätte, Berufsberatung, Jugend- Der Bericht in Kürze tag hinaus. Die Adoleszenz ist ge- mäss Experteneinschätzungen so- hilfe, Wohnheime, KESB, Ein- prägt von vielen Entscheidungen wohl das klinisch-institutionelle gliederungsprogramme, IV etc.). Die Bestandesaufnahme der stationären und und Veränderungen; sei es die Angebot wie auch fehlende Versor- tagesklinischen Angebote der psychiatrischen Wahl des Bildungsweges, die gungskonzepte (koordinierte Ver- In den Expertenrunden wurde Gesundheitsversorgung an der Schnittstelle des Identitätsfindung oder die Suche sorgung, Angebotsentwicklung). auch die Meinung entwickelt, dass Jugend- und Erwachsenenalters in der Schweiz nach Vorbildern ausserhalb der Schweizweit wurden sechs statio- wesentliche Ansätze zur Verbesse- wurde im Auftrag des BAG von der Zürcher Familie, insbesondere in der Peer- näre transitionspsychiatrische An- rung einer transitionspsychiatri- Hochschule für Angewandte Wissenschaften Gruppe. Diese Schritte können für gebote identifiziert, acht stationä- schen Versorgung mehr auf die (Departement für Angewandte Psychologie, die Adoleszenten auch erhöhte re Angebote für junge Erwachsene, Prozess- als auf die Strukturquali- Psychologisches Institut, Fachgruppe Klinische Sensibilität und Verletzlichkeit be- vier transitionspsychiatrische ta- tät zu richten sind. Diese wird Psychologie und Gesundheitspsychologie) unter deuten, welche mit Krisen und gesklinische Angebote und ein ta- durch eine integrierte Prozessge- Agnes von Wyl erhoben. Als Grundlage für die manchmal mit der Entstehung gesklinisches Angebot für junge staltung und eine Kultur der tran- Liste der stationären Angebote diente die Insti- psychischer Erkrankungen ein- Erwachsene. Unter den befragten sitionspsychiatrischen Behand- tutionenliste des Nationalen Vereins für Quali- hergehen können. So manifestie- Expertinnen und Experten war lungszusammenarbeit zwischen tätsentwicklung in Spitälern und Kliniken (Asso- ren sich 75 Prozent aller psychi- man sich einig, welche Aspekte ein KJP und EP gefördert. Eine Chance ciation nationale pour le développement de la schen Störungen bis Mitte optimales transitionspsychiatri- hierzu ist in der Tatsache zu sehen, qualité dans les hôpitaux et les cliniques, ANQ). zwanzig. sches Angebot berücksichtigen dass heutige Kliniken nach Fusio- Die Erhebung der tagesklinischen Angebote sollte. nen immer häufiger die KJP und basieren auf Internetrecherchen und auf der Bericht beleuchtet die die EP unter demselben Dach Angebotsliste der Schweizerischen Gesellschaft Schnittstelle Ein solches Angebot sollte: führen und sich ein gemeinsamer für Psychiatrische und Psychotherapeutische Die spezifischen Anforderungen an – die spezifischen Fachkompeten- Bereich Transitionspsychiatrie Tageskliniken (SGPPT). Die Erhebung erfolgte die Behandlung in der Übergangs- zen der Disziplinen KJP und EP (oder Adoleszentenpsychiatrie) weiter anhand eines Onlinefragebogens. In phase vom Jugendlichen zum Er- integrieren, strukturieren liesse. einem zweiten Schritt wurden die Ergebnisse in wachsenen können die KJP und die – als entwicklungsorientiertes zwei Expertenrunden diskutiert und gesund- EP alleine oft nicht abdecken. Dies, Konzept formuliert sein (Persön- Kontakt: heitspolitisch eingeschätzt. Die Rückmeldungen weil bei einem Wechsel von einem lichkeit, Sozialisation, Ausbil- Lea Pucci-Meier, Sektion Nationale aller Expertinnen und Experten zu wünschens- System in das andere nicht nur die dung), Gesundheitspolitik, werten Veränderungen in der transitions fachliche Zuständigkeit ändert und – interdisziplinär angelegt sein lea.pucci@bag.admin.ch psychiatrischen Versorgung und mögliche Um- zu einem Unterbruch in der Be- (Entwicklungspsychologie und setzungsschritte wurden in den Bericht handlungskontinuität führt, son- Sozialpädagogik), Link: eingearbeitet. dern oft auch mit einer Änderung – systematisch mit ambulanten Schlussbericht: «Stationäre und des Behandlungsangebots einher- transitionspsychiatrischen und tagesklinische Angebote der geht (aufgrund der oft kantonal un- sozialpädagogischen Angeboten psychiatrischen Gesundheitsversor- terschiedlichen Kostengutsprachen zusammenspielen im Sinne ei- gung an der Schnittstelle des in der KJP und der EP). Um die Ver- ner integrierten Versorgung, Jugend- und Erwachsenenalters in sorgungssituation in der Schweiz – mit den involvierten Institutio- der Schweiz», ZHAW, Januar 2020 zu erfassen und zu verbessern, nen vernetzt sein (Schulen, https://tinyurl.com/ycmqwd6h 8 spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche
Den Jugendschutz weiterentwickeln Aus Sicht des Jugendschutzes gilt es, sowohl einen unkontrollierten Schwarzmarkt bei illegalen Drogen zu vermeiden wie auch einen wenig regulierten Markt bei legalen Suchtmitteln wie Alkohol und Tabak. In einem Verwaltungsbericht für den Nationalrat hat das BAG Vorschläge skizziert, um die Jugend im Umgang mit Suchtmitteln besser zu schützen. Weil sich Jugendliche physisch und benskompetenzen von Kindern und Im Verwaltungsbericht «Ju- psychisch noch entwickeln, richten Jugendlichen zu fördern, sodass gendschutz im Bereich des Sucht- (*) Literaturhinweis: Alkohol, Tabak oder illegale Subs- möglichst viele lernen, mit Stress mittelkonsums» für den National- Bericht: Jugendschutz im Bereich tanzen eher Schaden an als bei Er- und Gruppendruck umzugehen. rat (*) betont das BAG, dass diese des Suchtmittelkonsums wachsenen. Auch die Wahrschein- Ein umfassender Jugendschutz Bereiche des Jugendschutzes gut https://tinyurl.com/ya8jx8xj lichkeit, eine Abhängigkeit von hält auch Hilfsangebote für Ju- aufeinander abzustimmen sind. diesen Substanzen zu entwickeln, gendliche mit einem risikohaften Für Cannabis und andere illegale ist umso höher, je früher mit dem oder gar problematischen Subs- Betäubungsmittel sei zu prüfen, ob Kontakt: Konsum begonnen wird. Kinder tanzkonsum bereit. Früherken- Jugendlichen geholfen werden Sophie Barras Duc, Sektion und Jugendliche sind deshalb be- nung und Frühintervention tragen kann, ohne sie zu kriminalisieren. Gesundheitsförderung und sonders schutzbedürftig. dazu bei, eine mögliche Gefähr- Der Konsum wäre zwar weiterhin Prävention Jugendschutz wird häufig dung der gesunden Entwicklung verboten, würde aber nicht mehr sophie.barras-duc@bag.admin.ch gleichgesetzt mit rechtlich veran- von Jugendlichen zu erkennen und strafrechtlich sanktioniert. Dafür kerten Vorschriften wie Werbe- und Hilfe in einer schwierigen Situation sei der Jugendschutz im Bereich Abgabeverbote. Doch neben dem anzubieten. Bei der Suchthilfe wer- Tabak und Alkohol auszubauen, gesetzlichen Jugendschutz, der den den Jugendliche meist ambulant zum Beispiel mit einer Steuer auf Zugang zu Suchtmitteln einschrän- beraten und therapiert, beispiels- E-Zigaretten und Tabakersatzpro- ken und verhindern soll, ist es weise bei Jugend-, Familien- oder dukten. wichtig, die Gesundheits- und Le- Suchtberatungsstellen. Mädchen vor weiblicher Genitalbeschneidung schützen Der Leitfaden «Weibliche Genitalbeschneidung und Kindesschutz» des Netzwerks gegen Mädchenbeschneidung Schweiz richtet sich in erster Linie an Fachpersonen: Er soll ihnen helfen, gefährdete Kinder zu erkennen – und adäquat zu reagieren. Das Netzwerk gegen Mädchenbe- vermitteln, dass FGM/C schwere die äusseren Geschlechtsorgane sie verübt wurde. Die Tat wird mit schneidung Schweiz hat anlässlich gesundheitliche Probleme zur Fol- teilweise oder vollständig entfernt Geldstrafen oder einem Freiheits- des Internationalen Tags gegen ge haben kann – und dass sie sich werden. FGM/C ist auch in der entzug bis zu zehn Jahren bestraft. weibliche Genitalverstümmelung Sorgen um das Mädchen macht. Schweiz eine Realität: Hier leben oder -beschneidung (kurz FGM/C Für solche Gespräche seien schätzungsweise 22 000 Mädchen Kontakt: aus dem Englischen «Female Ge- wann immer möglich Multiplikato- oder Frauen, die entweder bereits Sabina Hösli, Sektion Gesundheit- nital Mutilation/Cutting») am 6. rinnen beizuziehen. Diese geschul- beschnitten sind oder gefährdet liche Chancengleichheit, Februar 2020 einen neuen Leitfa- ten Frauen und Männer engagie- sind, beschnitten zu werden. Meist sabina.hoesli@bag.admin.ch den veröffentlicht. Er soll Fachper- ren sich in ihren Gemeinschaften kommen die Personen aus Län- sonen aufzeigen, wie sie eine mög- gegen weibliche Genitalbeschnei- dern wie Somalia, Eritrea, Äthiopi- Link: liche Gefährdung von Mädchen dung und haben Erfahrung in die- en, Sudan oder Ägypten, wo die Leitfaden Weibliche Genital erkennen und an wen sie sich für sem sensiblen Thema. Beschneidungsraten hoch sind. In beschneidung und Kindesschutz Beratungen wenden können. Zu- Unter FGM/C fasst die Weltge- der Schweiz stellen alle Formen https://tinyurl.com/ya6zfjaz dem werden Fachpersonen darauf sundheitsorganisation WHO alle von FGM/C eine Straftat dar – un- hingewiesen, unter welchen Um- Praktiken zusammen, bei welchen abhängig davon, in welchem Land ständen sie ihre Vorgesetzten, die Kindes- und Erwachsenenschutz- behörde (KESB) oder das Netz- werk gegen Mädchenbeschnei- dung einbeziehen sollen. Wenn es um die Erkennung und den Schutz von gefährdeten Mädchen geht, spielen Fachperso- nen aus dem Sozial- und Gesund- heitsbereich eine zentrale Rolle. Vielfach fehlt ihnen aber das Fach- wissen zu dieser spezifischen Form der Kindeswohlgefährdung. Der Leitfaden beschreibt, wie Fachpersonen bei einem Gefähr- dungsverdacht vorgehen sollten. Je nach Situation ist ein Gespräch mit dem Mädchen und den Eltern angezeigt: Im Gespräch hat die Fachperson die Gelegenheit, zu spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche 9
Mehr Wissen über Suizidversuche von LGBT-Jugendlichen In internationalen Studien ist gut belegt, dass queere Jugendliche im Vergleich zu heterosexuellen Teenagern ein stark erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten aufweisen. Doch wie sich der Prozess hin zum Suizidversuch gestaltet und welches etwa die genauen Hintergründe und Motive sind, liegt noch weitgehend im Dunkeln. Dabei sind qualitative Studien prinzipiell machbar, wie eine vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) finanzierte Vorstudie nun gezeigt hat. 2016 haben Bund und Kantone ge- suizidales Verhalten ist auch bei eine mündliche Befragung von Ju- gleitet und auch darin geschult, meinsam mit der Stiftung Gesund- schwulen und lesbischen Jugendli- gendlichen nach einem Suizidver- akut suizidgefährdete Personen zu heitsförderung Schweiz den chen keineswegs an der Tagesord- such überhaupt möglich ist, ohne erkennen. Ausserdem möchten die «Aktionsplan Suizidprävention» nung und betrifft zum Glück nur die Jugendlichen zu einem weite- Forschenden bei jedem Interview- erarbeitet. Das Ziel: Die Anzahl eine Minderheit innerhalb der ren Versuch zu verleiten. Beant- kontakt auch schriftlich die Kon- nicht assistierter Suizide während LGBT-Community.» Die erhöhte wortet haben die Forschenden mit taktdaten von regionalen und (oft vorübergehenden) Belastungs- Zahl an Suizidversuchen hänge ihrer Vorstudie auch folgende Fra- schweizweiten Notfallstellen abge- krisen bis ins Jahr 2030 um 25 nicht direkt mit der sexuellen Ori- gen: Wie kann eine solche Befra- ben und so einen raschen An- Prozent zu senken – das entspricht entierung zusammen, sondern gungssituation optimal gestaltet schluss an das Hilfesystem sicher- rund 300 frühzeitigen Todesfällen komme über indirekte Faktoren werden? Und lassen sich mit qua- stellen. pro Jahr. Dabei möchte das BAG wie etwa Homophobie, Schikanen litativen und problemzentrierten Das Team um Andreas Pfister neben der allgemeinen Suizidprä- in der Schule oder fehlende Akzep- Interviews tatsächlich auch Er- hat in der Vorstudie einen Inter- vention, die sich an die ganze Be- tanz in der Familie zustande. kenntnisse erzielen, welche die Su- view-Leitfaden entwickelt, den die völkerung richtet, gezielt auch spe- Pfister und sein Team haben im izidprävention verbessern und zur Forschenden in Gesprächen mit zifische Gruppen in den Fokus letzten Jahr mit der finanziellen besseren Beachtung allfälliger Hil- zwei Betroffenen bereits getestet nehmen, bei denen eine erhöhte Unterstützung des BAG im Rahmen ferufe beitragen können? haben. «Dabei hat sich gezeigt, Rate an suizidalen Handlungen zu der Umsetzung des nationalen Ak- dass die Prozesse, die zu einem Su- beobachten ist. tionsplans eine Vorstudie durchge- Sicherheit gewährleisten izidversuch führen, vielfältig und führt. Diese prüft, inwieweit eine Das sozialwissenschaftliche Team komplex sind», so Pfister. «Sie hän- Machbarkeitsstudie qualitative und multiperspektivi- um Andreas Pfister hat sich mit kli- gen je nach Person in sehr unter- So weisen etwa LGBT-Jugendliche sche Untersuchung der Hinter- nischen Expertinnen und Exper- schiedlichem Ausmass mit Belas- im Vergleich zu heterosexuellen gründe von Suizidversuchen von ten, mit Fachpersonen aus der Be- tungsfaktoren im Kontext der Teenagern ein deutlich höheres Ri- LGBT-Jugendlichen machbar ist. ratung und der Suizidprävention Geschlechtsidentität oder der sexu- siko für suizidales Verhalten auf Denn die genauen Prozesse und sowie mit Vertreterinnen und Ver- ellen Orientierung zusammen.» (LGBT sind die Anfangsbuchstaben Hintergründe, wie es bei diesen Ju- tretern verschiedener LGBT-Orga- Aus den bisher erhaltenen Antwor- der englischen Bezeichnungen gendlichen zu Suizidversuchen nisationen ausgetauscht. Dabei hat ten schliessen Pfister und sein «lesbian», «gay», «bisexual» und kommt, sind noch weitgehend un- das Team mehrere Massnahmen Team, dass sich solche Interviews «transgender»). «Das heisst jedoch erforscht. Auch international feh- entwickelt, um die Sicherheit der gut dazu eignen, mehr über die Su- nicht, dass diese Jugendlichen per len entsprechende Studien. Jugendlichen in der Studie zu ge- izidversuche und die Bedürfnisse se problembelastet und suizidge- Bei den Machbarkeitserwägun- währleisten. So werden die For- der Betroffenen zu erfahren. fährdet sind», sagt Andreas Pfister gen stand unter anderem die Ab- schenden kontinuierlich von einer Für die Studie, die nun auf die von der Hochschule Luzern. «Denn klärung im Vordergrund, inwieweit psychiatrischen Fachperson be- Vorstudie folgen soll, hat das For- schungsteam einen Beirat zusam- mengestellt, der das Vorhaben wohlwollend kritisch begleiten soll. Pfister hat für die Finanzie- rung der Studie ein Projektgesuch beim Schweizerischen National- fonds eingereicht – und Ende März bewilligt bekommen. Die Studie startet voraussichtlich im Oktober 2020. Kontakte: Esther Walter und Lea Pucci-Meier, Sektion Nationale Gesundheits politik, esther.walther@bag.admin.ch lea.pucci@bag.admin.ch Literaturhinweis: Pfister, Andreas & Mikolasek, Michael (2019). Suizidversuche von LGBT-Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Einschätzung der Machbarkeit einer qualitativen Untersuchung in der Schweiz Die erhöhte Zahl an Suizidversuchen bei LGBT-Jugendlichen hängt nicht direkt mit der sexuellen Orientierung zusammen, sondern mit indirekten Faktoren wie Homophobie und fehlender Akzeptanz. 10 spectra 128 | September 2020 | Kinder und Jugendliche
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