Tom Levold (Deutschland): Elternkompetenzen zwischen Anspruch und Überforderung (Parents competences between requirement and excessive demand)

 
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Tom Levold (Deutschland):

Elternkompetenzen zwischen Anspruch und Überforderung
(Parents competences between requirement and excessive demand)

Tom Levold ist Sozialwissenschaftler und hauptberuflicher Psychotherapeut. Nach langjähriger Leitung des
Kinderschutz-Zentrums Köln ist er seit 1989 in freier Praxis als Therapeut, Supervisor und
Organisationsberater tätig. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zu systemischer Therapie, Familiengewalt
und Affektdynamik verfasst. War Schriftleiter und Herausgeber der Zeitschrift „System Familie“ und ist
Mitglied des Editorial Boards der Zeitschriften „Familiendynamik“, „Zeitschrift für Systemische Therapie“
und „Systeme“.

Am Morgen des Tages, als ich das Manuskript für diesen Vortrag zu Ende schrieb, – so etwa zwischen
viertel nach sieben und halb acht Uhr, meine Frau hatte das Haus gerade verlassen –, versuchte ich ungefähr
folgende Sachen gleichzeitig zu machen: Einen Lehrerbrief zu lesen und abzuzeichnen, den meine
zwölfjährige Tochter am Vortag vergessen hatte und mir nun auf den Tisch legte, einen Streit zwischen ihr
und dem zehnjährigen Bruder zu schlichten, wer mit Tischabräumen dran sei, die vierjährige Tochter gegen
ihren Willen für den Kindergarten anzuziehen, den zweijährigen Sohn erfolglos daran zu hindern, seiner
nächst älteren Schwester ein Holzauto auf den Kopf zu hauen, den Anruf der Kinderfrau entgegenzunehmen,
die im Stau steckengeblieben war, die Küche aufzuräumen, fünf ausgedruckte Rechnungen zu kuvertieren,
meine Unterlagen für den Tag zusammenzusuchen und vor allem – gute Laune zu verbreiten, was sich leider
nicht mehr realisieren ließ. In diesen Minuten war ich einfach mit meinen elterlichen Kompetenzen nicht
optimal in Kontakt. Ich glaube, ich habe ziemlich herumgebrüllt, meine Tochter Paula steckte ich dann trotz
ihres Widerstandes in ihre Kleidungsstücke und meinem Jüngsten musste ich auch das Holzauto mit Gewalt
entwinden. Als die älteren Kinder aus dem Haus waren, die Kinderfrau den Kleinen übernahm und ich die
mittlere Tochter zum Kindergarten gebracht hatte, genoss ich es, alleine im Auto zu sein und tief durchatmen
zu können. Gleichzeitig schämte ich mich auch ein wenig dafür, nicht ganz für jedes meiner Kinder da
gewesen zu sein, nicht immer pädagogisch wertvoll gehandelt zu haben, mehr die Effizienz des
morgendlichen Ablaufes als die Gefühle der Beteiligten in den Vordergrund gestellt zu haben und nahm mir
vor, mir am Abend ganz besonders viel Zeit für die Kinder zu lassen; am besten so , als hätten wir nur ein
Kind – eine durchaus unrealistische Idee, wo doch meist sofort ein Kampf zwischen den Kindern entbrennt,
wer denn als erster und wer am meisten bekommt usw. In solchen Situationen frage ich mich oft – meist
ganz zuversichtlich, manchmal aber auch bange, wie meine Kinder einmal über ihr Elternhaus reden werden,
wenn sie groß sind. Wie man sieht, versuche ich, nicht nur (m)eine Position als Experte in den Diskurs über
Elternkompetenzen einzubringen, sondern auch meine Erfahrungen als Elternteil. Damit möchte ich auch die
Leser, soweit das möglich ist, nicht nur als Experten, sondern auch als Eltern ansprechen oder aber
zumindest einladen, sich vorübergehend während der Lektüre dieses Textes einmal in diese Rolle
hineinzuversetzen.
Wir sind uns wohl alle darüber im Klaren, dass Kinder ausreichende Entfaltungsmöglichkeiten brauchen, um
sich zu motivierten, kompetenten, erfolgreichen und zufriedenen Erwachsenen entwickeln zu können.
Gleichzeitig sickert in das allgemeine Bewusstsein ein, dass dies kein naturwüchsiger Prozess ist, bei dem
man nur zuzuschauen braucht, ohne selbst etwas aktiv dazu beizusteuern. Eine gelungene Kindheit, so das
allgemein propagierte und in den Medien verbreitete Bild, ist nicht nur an die Abwesenheit von Gewalt,
Unterdrückung und Missachtung im familiären Milieu geknüpft, sondern auch an die Übernahme einer
aktiven, kompetenten und verantwortlichen Erziehungsrolle durch die Eltern.
Wie man Eltern darin unterstützen kann, eine solche Rolle einzunehmen, davon handelt u.a. diese Konferenz
und das Daphne-Projekt. Im Laufe dieser Tage werden wahrscheinlich viele praktische und detaillierte
Vorgehensweisen präsentiert und erörtert werden, wie man diesem Ziel näher kommen kann. Ich möchte
daher die Gelegenheit nutzen, einige allgemeinere Bemerkungen zu machen, die vielleicht die
Vielschichtigkeit wie auch die Problematik dieser Aufgabenstellung verdeutlichen können.
Dass Eltern bestimmte Kompetenzen im Umgang mit ihren Kindern haben sollten, erscheint uns heute
selbstverständlich. Deshalb machen wir uns in der Regel nicht mehr deutlich, dass die Auffassung von
Eltern-Kind-Beziehungen, die dieser Vorstellung zugrunde liegt, sich erst in den letzten Jahrzehnten auf
breiter Ebene durchgesetzt hat. In der Tat versuche ich, die oben skizzierte morgendliche Familienszene
nicht nur ganz anders zu bewältigen, sondern auch anders zu reflektieren, als dies z.B. meine Eltern in den
50er und 60er Jahren getan haben – wobei sie sich nicht nur mitten im damals vorherrschenden
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Erziehungsuniversum befanden, sondern sich zudem auch auf eine langwährende historische Kontinuität
stützen konnten.
Jahrhunderte lang war Elternschaft das zentrale Element der natürlichen Ordnung in der Generationenfolge –
in sich selbst begründet, nicht viel mehr und nicht viel weniger. Man zog Kinder heran, indem man mit ihnen
zusammenlebte. Eltern hatten dafür zu sorgen, dass die Kinder Gottesfurcht zeigten sowie den Eltern
Ehrerbietung und Gehorsam entgegenbrachten, dass sie ihnen also keine Schande machten; und sie hatten
dort zu strafen, wo sich das gewünschte Verhalten beim Kinde nicht einstellte.
Die Zukunft der Kinder war nicht – wie heutzutage – unabhängig von den Eltern (etwa als
Individuationsprozess) zu denken. Vielmehr konnte man an der jeweils aktuellen materiellen und
gesellschaftlichen Existenz der Eltern und ihrer standes- bzw. klassenbezogenen Position die Zukunft der
Kinder relativ genau ablesen. Im Zentrum des Familienlebens standen also immer und unbedingt die Eltern.
Elternsein stellte keine Rolle im heutigen Verständnis des Wortes dar und wurde deshalb auch nicht wie
anderes Rollenhandeln systematisch reflektiert und problematisiert. Eine gezielte Förderung, Bildung und
Erziehung der Kinder lag seit der Antike eher bei den Priestern, Lehrern, Pädagogen, Soldaten und den ihnen
entsprechenden gesellschaftlichen Funktionssystemen als bei den Eltern.
Elternsein nicht als Rolle oder Aufgabe, sondern als einen natürlichen existenziellen Lebensaspekt zu
verstehen, der keine besonderen Anforderungen an elterliches Handeln stellt, immunisiert Elternschaft zwar
weitgehend gegen Kritik und Reflektion, wie wir heute kritisch bemerken, kann andererseits aber auch mit
einer größeren Unmittelbarkeit in der Beziehung zum Kind einhergehen: denn die pädagogische Rolle und
das Nachdenken über Erziehung stehen nicht zwischen Eltern und Kindern. Dies erscheint uns heute zwar
eher nicht erstrebenswert, weil unser Elternbild von der Vorstellung geprägt ist, dass Eltern für ihre
Erziehung Rechenschaft ablegen müssen, aber Unmittelbarkeit der Beziehung muss nicht nur negative,
sondern kann auch durchaus positive Auswirkungen haben. Darauf werde ich später noch zurückkommen.
Die Eltern- bzw. Erwachsenenzentriertheit im Verhältnis zu Kindern ist in den vergangenen Jahrzehnten von
einer starken Zentrierung auf die Bedürfnisse und das Wohl der Kinder abgelöst worden. Dies gilt nicht nur
für die Mehrheit aller Familien, sondern ganz besonders für die relevanten gesellschaftlich Diskurse der
Pädagogik, Psychologie und Sozialarbeit, zunehmend auch für die Politik, ganz vorrangig aber für die
modernen Massenmedien. Damit einhergehend ist das Kindeswohl nicht mehr quasi naturwüchsig und
schicksalhaft von der Existenz oder der Abwesenheit wohlwollender und ehrbarer Eltern und der mehr oder
weniger ausreichenden Versorgung durch sie abhängig. Stattdessen wird die Herstellung des Kindeswohls zu
einer Aufgabe, einer Aufgabe der Familie einerseits, der Gesellschaft andererseits. Die gegenwärtige Familie
(und hier muss man in historischer Betrachtungsweise betonen, dass es die Familie in der heute bekannten –
und sich bereits wieder als Normalformat auflösenden – Form noch gar nicht lange gibt), die gegenwärtige
Familie bezieht ihren Wert ja aus der erfolgreichen Umsetzung historisch gänzlich neuartiger Themen:
nämlich der Schaffung einer sicheren Bindung und intimen emotionalen Basis zwischen Liebespartnern
sowie Eltern und Kindern, der Vermittlung von positiven Selbstwertgefühlen bei allen Beteiligten, der
Förderung der Leistungsmotivation und der Unterstützung bei der Bewältigung sozialer Anforderungen, um
nur einige von zahlreichen aktuellen Erwartungen an Familienleben zu nennen.
Dieses neue Verständnis von emotional nahen Beziehungen im Allgemeinen, von Eltern-Kind-Beziehungen
im Besonderen, ist auch der Hintergrund, vor dem überhaupt erst Gewalt gegen Kinder als Problem gesehen
werden kann. Erst wenn sich die Liebe, das Glück und die Intimität in Beziehungen von glückhaften
Fügungen zu Ansprüchen wandeln und an die Stelle von Gehorsam, Ehrerbietung und Verpflichtung treten,
verliert Gewalt ihre Berechtigung. Körperliche Strafen waren ja bis in die 60er Jahre des abgelaufenen
Jahrhunderts ausdrücklich Mittel der Wahl, und zwar nicht nur als Erziehungsmittel für die Eltern, sondern
auch für die professionellen Pädagogen. Erst in der 60er Jahren wurde in Deutschland (übrigens gegen den
Widerstand aller Berufsverbände) die Prügelstrafe in Schulen und anderen Institutionen abgeschafft. Die seit
der Antike gepflegte und Jahrhunderte lang gültige Vorstellung, dass Eltern – und Erzieher – Gewalt gegen
Kinder einsetzen müssen, um aus ihnen rechtschaffene Menschen zu machen, bietet heutzutage jedenfalls
keine gesellschaftlich akzeptierten Rechtfertigungsmöglichkeiten mehr.
Dies verdankt sich mindestens zweier Entwicklungslinien der Moderne, die im Grunde sehr eng miteinander
verbunden sind, nämlich der Universalisierung der Menschenrechte einerseits und der ökonomischen
Veränderungen der modernen Gesellschaft andererseits.
Die Idee unteilbarer und allgemeiner Menschenrechte ist ein Produkt der Aufklärung und Ergebnis der
Befreiung der Menschen von einer ständischen Ordnung, in der sich die Frage der Menschenrechte gar nicht
stellte. Auch wenn zunächst bezeichnenderweise nur männliche Bürger als Subjekte der
Menschenrechtsdiskussion auftraten und in Frage kamen, machte dieser Diskurs aufgrund seiner
Eigendynamik weder vor der Geschlechtergrenze noch der Generationengrenze Halt. Die gegenwärtige

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Betonung von Kinderrechten ist also Ergebnis einer zwangsläufigen Entwicklung, auch wenn ihre
Umsetzung erhebliche praktische und rechtliche Probleme mit sich bringt, wie sich an der Praxisferne der
Kinderrechtsdebatte zeigen lässt. Jedenfalls lässt sich festhalten, dass die Vorstellung, ein Kind sei genauso
Träger von Persönlichkeitsrechten wie seine Eltern, ein neuer und radikal moderner Gedanke ist!
Gewalt gegen Kinder ist aber aus heutiger Sicht nicht nur mit den Menschenrechten auf Würde und
Unverletzbarkeit der Person moralisch und ethisch unvereinbar, sondern wird auch zusehends dysfunktional,
weil sie Entwicklungsprozesse bei Kindern gefährdet, auf die die postindustrielle Gesellschaft immer stärker
angewiesen ist.
Es wird immer deutlicher, dass die Qualifikationen für eine erfolgreiche Teilnahme am gesellschaftlichen
Leben heute völlig andere sind als noch vor einem halben Jahrhundert. Unsere gegenwärtige Gesellschaft ist
in einem Höchstmaße zukunftsorientiert, wobei gleichzeitig die zukünftige Entwicklung zum gegenwärtigen
Zeitpunkt nicht mehr vorhersagbar erscheint. Unsere Kinder können also nicht mehr ohne Weiteres ihre
Eltern als Entwicklungsvorbilder nehmen, sie müssen radikal eigene Wege gehen. Zweitens leben wir in
einer bereits weitgehend individualisierten Gesellschaft. Für den individuellen Erfolg wie für das
individuelle Wohlergehen ist die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen oder die Übereinstimmung
mit ihnen immer weniger wichtig, das individuelle Persönlichkeits-, Fähigkeits-, Mobilitäts-,
Kommunikations- und Selbstbehauptungsprofil dagegen immer ausschlaggebender.
Kinder müssen sich also heutzutage eine unglaubliche Vielzahl von wissens- und handlungsbezogenen, von
emotionalen, geistigen und sozialen Kompetenzen im Laufe ihrer Entwicklung aneignen, um sich in einer
immer schneller verändernden Umwelt überhaupt orientieren und positionieren zu können. Die (gewaltsame)
Zurichtung von Kindern verhindert bzw. beeinträchtigt nach allen vorliegenden Erkenntnissen die
Entwicklung zu einer solchen individuierten Persönlichkeit. Von Eltern wird also konsequenterweise
einerseits die Förderung solcher Fähigkeiten beim Kinde, andererseits die Unterlassung von potentiell
schädigenden oder beeinträchtigenden Maßnahmen verlangt.
Gleichzeitig ist aber auch klar, dass wir von der Abwesenheit körperlicher Gewalt in Eltern-Kind-
Beziehungen noch weit entfernt sind. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft also eine beträchtliche
Lücke. In diese Lücke stoßen Initiativen zur Prävention von Gewalt und Vernachlässigung in der Familie. Es
dürfte aber schon klar sein, dass die Abwesenheit von Gewalt alleine nicht ausreicht, um eine gute Erziehung
von Kindern und eine positive Beziehung zwischen Kindern und Eltern zu erreichen.
An dieser Stelle sind Eltern auf eine besondere Art und Weise gefordert, wahrscheinlich auch strukturell eher
überfordert. Eltern sollen Erziehung von und Beziehung mit Kindern kompetent gestalten. Dies ist nicht nur
die gesellschaftliche Anforderung, die durch Politik, professionelle Pädagogen, Lehrer, Therapeuten,
Massenmedien usw. an die Eltern gerichtet werden, sondern längst schon Anspruch der meisten Eltern selbst.
Was sollen Eltern heute können? Die Antworten auf diese Frage sind in der Regel aus gutem Grund wenig
konkret. Es geht also eher um generalisierte Fähigkeiten als um spezifische Fähigkeiten wie etwa Kochen,
Kartenspielen oder Demonstrationen mathematischer Kenntnisse. Elterliche Kompetenzen lassen sich in
verschiedene Bereiche differenzieren, wie beispielsweise in nachfolgender Aufzählung (in Anlehnung an
Theunissen u. Garlipp 1999):
        • Alltagskompetenz als Fähigkeit, mit alltäglichen häuslichen und Umweltanforderungen
        (Geldverwaltung, Einkauf, Ernährung, Hygiene, Wohnen usw.) flexibel und effektiv umzugehen;
        • Pädagogische Kompetenz als Verfügung über Möglichkeiten, sich kommunikativ und erzieherisch
        auf die Interessen und Entwicklungschancen des Kindes einzustellen und seinen
        Entwicklungsprozess positiv zu beeinflussen. Kommunikativ bedeutet in diesem Zusammenhang vor
        allem, mit dem Kind zu reden, ihm die Grundzüge eigenen Handelns zu vermitteln und zu erklären,
        dem Kind zuzuhören und seine Sicht der Dinge in eigenes, elterliches Handeln einzubeziehen;
        • Soziale Kompetenz als Befähigung, soziale Kontakte knüpfen, aufrechterhalten und positiv
        gestalten zu können, um nicht in Isolation zu geraten, um die eigenen Interessen vertreten und sich
        Unterstützung holen zu können. Dies betrifft natürlich in erster Linie Kontakte zu anderen Eltern und
        Kindern, aber auch die Beziehungen zu pädagogischen und anderen Fachkräften;
        • Kognitive und fachliche Kompetenz als Bereitschaft zur intellektuellen Weiterentwicklung und als
        Fähigkeit, Erfahrungen und Wissen zu sammeln und auf neue Situationen anwenden zu können, um
        so den Wissenserwerb der Kinder optimal zu unterstützen;
        • Bewältigungskompetenz im gelingenden Umgang mit kritischen Lebenssituationen,
        Beeinträchtigungen, Verlusten und Begrenzungen, ohne in Resignation oder Depression zu fallen
        und schließlich
        • Bewertungs- und Veränderungskompetenz, die sich in der Wahrnehmungsfähigkeit und
        Urteilssicherheit zeigt, verbunden mit der subjektiven Kontrolle über das eigene Verhalten und der

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Überzeugung von der eigenen Wirksamkeit als Voraussetzung dafür, dass man sich überhaupt selbst
         als Ursache für Entwicklungen im sozialen Nahraum erleben kann. Darüber hinaus geht es hier auch
         um den Aufbau und die Erhaltung bzw. Modifizierung eines adäquaten Selbstbildes sowie um die
         Entwicklung und Aufrechterhaltung einer realistischen Lebensperspektive.
Dieser Liste wird wohl niemand widersprechen, wir alle werden ihr wahrscheinlich zustimmen können als
einem Kompetenzprofil, das wir nicht nur anderen, sondern auch uns selbst nur wünschen können. Sie ließe
sich sicher auch noch ausdehnen und detaillierter operationalisieren, ich meine aber, dass sie in ihrem
Überblickscharakter etwas Typisches aufweist und daher für unsere Zwecke ausreicht.
Der Diskurs über elterliche Kompetenzen, ihre Bewertung und natürlich auch ihre Förderung ist nämlich
nicht so unproblematisch, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Ich will daher einige Punkte nennen, die
wir berücksichtigen sollten, wenn wir über die Stärkung elterlicher Kompetenzen nachdenken.
Erstens sind elterliche Kompetenzen keine feststehenden Sachverhalte, sondern grundsätzlich und immer
soziale Konstruktionen: Wenn wir Kompetenzen benennen – oder sie jemandem absprechen, nehmen wir
also sehr konkrete soziale Zuschreibungen vor und schaffen dadurch eine soziale Realität, die von unserer
Beobachterperspektive abhängig ist. So kann die frühe und pflichtmäßige Beteiligung von Kindern an der
Versorgung der jüngeren Geschwister einerseits als Unterstützung sozialer Kompetenzen beim Kind
beschrieben, andererseits aber vielleicht auch als nicht kindgerechte Überforderungssituation konstruiert
werden. Die strenge Handhabung von Regeln und das Verhängen von Strafen bei Überschreitung dieser
Regeln kann uns als ungerechtfertigte Härte Kindern gegenüber erscheinen, das gleiche Verhalten kann aber
auch als Übernahme von Verantwortung für die geistig-moralische Entwicklung des Nachwuchses
beschrieben werden. Ob das Verhalten von Eltern kompetent ist oder eher ein Versagen darstellt, lässt sich
also nicht ohne die Einbeziehung des jeweils gegebenen gesellschaftlichen Rahmens beurteilen. Gerade in
der gesellschaftlichen Umbruchsituation, die wir in den 60er und 70er Jahren erlebt haben, und in der heute
aktuelle pädagogische Forderungen erstmals auf breiter Basis ausformuliert wurden, standen sehr
unterschiedliche normative Konstruktionen elterlicher Kompetenzen nebeneinander, die durchaus um die
dominante Position in der Gesellschaft gekämpft haben. Die gegenwärtig als einmütig anmutende Sicht auf
elterliche Kompetenzen kann also keineswegs einen „objektiven“ Status beanspruchen.
Zweitens können sich Kompetenzen immer nur in einem konkreten sozialen Kontext entfalten. Wenn wir
Kompetenzen nur als personengebunden ansehen, gerät diese Dimension vollständig aus dem Blick. Wir
machen uns oft nicht klar, wie stark eine einfühlsame, großzügige, geduldige und reflektierte Haltung in der
Erziehung durch den Mangel an ökonomischen, sozialen und gesundheitlichen Ressourcen beeinträchtigt
oder sogar verhindert wird. Insofern ist gelungene Elternschaft in mancherlei Hinsicht immer noch eine
Klassenfrage. Je mehr Zeit Eltern zur Verfügung haben, je mehr Geld sie ausgeben können, desto mehr
können sie auf die Bedürfnisse und Wünsche ihrer Kinder eingehen und in ihre Ernährung, Gesundheit und
Bildung investieren. Je mehr Zimmer die Wohnung hat, in der die Familie lebt, desto eher können
eskalierende Konflikte unterbrochen werden. Je mehr soziale Unterstützung durch die erweiterte Familie,
durch Nachbarschaft oder andere soziale Netzwerke vorhanden ist, desto eher kann ein bereicherndes
Umfeld für Kinder geschaffen und Hilfe in der Not organisiert werden. Nicht zuletzt steht die Verfügbarkeit
von Ressourcen auch in einem engen Wechselwirkungsverhältnis mit der elterlichen Selbstwertregulation. Je
weniger wir unseren Kindern in jeder dieser Hinsichten bieten können, desto schwieriger wird es für uns, uns
als gute, kompetente und großzügige Eltern konzeptualisieren zu können, insbesondere in einer Welt, in der
der materielle Konsum persönlichkeitsstiftend geworden ist und bereits Kinder eine Identität als Kunde
entwickeln.
Elterliche Kompetenzen können drittens immer nur in einer konkreten Beziehung zur Geltung kommen und
sind daher abhängig von der Qualität und der Geschichte dieser Beziehung. Es erscheint daher nicht sinnvoll,
sie als „Ein-Personen-Merkmale“ zu denken, etwa im Sinne eines Kataloges von Fähigkeiten und
Kenntnissen, die Eltern jederzeit und beziehungsunabhängig zur Verfügung stünden. Jede Kompetenz
realisiert und aktualisiert sich immer in einer ganz konkreten und einmaligen Interaktionsgeschichte. So
erleben wir, dass Eltern ein Kind geduldig und liebevoll bei seinen Entwicklungsschritten begleiten können,
ein Geschwisterkind jedoch nicht. Elterliche Fähigkeiten können sich im Beisein Dritter zeigen und wieder
verschwinden, wenn man sich wieder alleine mit der Erziehungssituation konfrontiert sieht, manche Eltern
können besser mit fremden Kindern als mit den eigenen umgehen usw. Erziehungs- und
Beziehungskompetenz sind also Merkmale von Beziehungen selbst.
Viertens scheint es, wie unsere Liste schon gezeigt hat, nötig zu sein, den Begriff elterlicher Kompetenzen
ausreichend abstrakt zu halten. Nur so können wir der Vielzahl individueller Situationen gerecht werden, in
denen sich Kompetenzen entfalten können und vermeiden, elterliches Verhalten auf konkrete, starr gelernte
Reaktionsschemata zu verkürzen. In gewissem Sinne handelt es sich beim Kompetenzbegriff um ein leeres

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Konzept, das seiner jeweiligen – metaphorischen – Füllung immer wieder neu bedarf. Der Begriff hat also
eine gewisse Unschärfe. Dies scheint mir aber kein Manko zu sein, sondern gerade seine Stärke. Unschärfe
ermöglicht Anschlussfähigkeit. Gerade weil der Begriff sich einer allzu konkreten Festlegung entzieht, kann
niemand ohne weiteres das letzte Wort für sich beanspruchen und den Diskurs damit ein für alle mal
beenden. Gleichzeitig sollte aber deutlich geworden sein, dass die Schwierigkeiten erst beginnen, wenn
konkrete elterliche Alltags- und Erziehungssituationen untersucht werden, deren Bedeutung nicht allgemein
geteilt wird oder geteilt werden kann.
Das Konzept der Kompetenz impliziert fünftens Lern- und Lehrbarkeit. Dies gilt jedenfalls für eine
Gesellschaft, die der Wissenschaft und dem Bildungssystem wesentliche Steuerungsfunktionen einräumt,
und die Idee der Lern- und Lehrbarkeit ist ja auch die Grundlage der DAPHNE-Tagung zur Prävention von
Gewalt gegen Kinder, für die dieser Text geschrieben wurde. Wie können aber elterliche Kompetenzen
gelernt und vermittelt werden?
Wir sehen uns heute mit einem Berg an Wissen über Elternschaft konfrontiert. Möglicherweise ist in den
letzten zehn Jahren mehr dazu veröffentlicht worden als in der gesamten Menschengeschichte zuvor.
Allerdings kann dieses Wissen wahrscheinlich nur zu einem kleineren Teil erfassen, was elterliche
Kompetenzen in ihrem jeweiligen Lebenszusammenhang wirklich ausmacht. Das hat auch mit den Grenzen
zu tun, die durch die sprachliche Form von Wissensdarstellung gegeben sind.
Der größere Teil elterlicher Kompetenz besteht wohl in einer Art von implizitem Wissen (im Sinne
Polanyis), welches nur schwer in explizites, also verbales Wissen übersetzt werden kann. Implizit meint hier,
bestimmte Dinge zu wissen und zu praktizieren, ohne sie notwendigerweise angemessen beschreiben oder
reflektieren zu können. Dieses Wissen und diese Praktiken sind eher verkörperlicht als bewusst, eher im
Körpergedächtnis als mental repräsentiert. Eine solche verkörperlichte, wenig bewusste, routinierte
Alltagspraxis nennt Pierre Bourdieu, der kürzlich verstorbene französische Soziologe „Habitus“. Auch die
biologischen Grundmuster elterlichen Verhaltens spielen hier mit hinein. Vieles an elterlichem Verhalten ist
also habituell und habitualisiert und daher nicht einfach ohne weiteres durch Wissensvermittlung zu ändern.
Entscheidend für elterliches Lernen ist vielmehr die Möglichkeit, unmittelbare, d.h. existentielle Erfahrungen
als Eltern im Erziehungskontext machen zu können. Elterliche Kompetenz in diesem Sinne ist also weniger
Ergebnis didaktischer Vermittlung als die Entwicklung eines unmittelbar praktischen „Eltern-Seins“, oder
auch: „Eltern-Sinnes“. Darauf muss sich Didaktik dann einstellen.
Last but not least ist Kompetenz sechstens nicht nur an das Vorhandensein von Fähigkeiten gebunden,
sondern auch an die Motivation, sie einzusetzen. Dies gilt ganz besonders für Familienbeziehungen. Auf der
einen Seite gehören emotional bedeutsame Beziehungen zu den wichtigsten Motivationsquellen überhaupt,
was den Erwerb und den Einsatz eigener Kompetenzen betrifft. Eltern, die ihre Kinder lieben und fördern
wollen, werden auch die Bereitschaft haben oder sich zumindest darum bemühen, ihre Kinder zu
unterstützen und ihr eigenen Verhalten darauf einzustellen. Sind die Beziehungen zu den Kindern aber
ambivalent oder konflikthaft, sieht das schon ganz anders aus. Unter Motivationsgesichtspunkten geht es in
Problemfamilien eben nicht nur um mangelnde Kompetenzen. Feindseligkeit und Konflikte sind gewichtige
Gründe, vorhandene Fähigkeiten dem Kind oder dem Partner vorzuenthalten. Ich habe im Laufe meiner
Kinderschutz-Praxis nicht selten erlebt, dass Eltern aufgrund einer feindseligen Einstellung zum Kind
und/oder einer mangelnden Bereitschaft, eigene Anstrengungen im Interesse des Kindes auf sich zu nehmen,
unterstützende Angebote nicht annehmen konnten, obwohl sie selbst als Eltern davon hätten profitieren
können.
Für professionelle Helfer scheint mir wesentlich zu sein, motivationsbedingte Schwierigkeiten elterlichen
Handelns genau von solchen Problemen unterscheiden zu können, die sich aufgrund mangelnder
Kompetenzen oder mangelnder Ressourcen einstellen. Liegt ein eher geringes Kompetenzniveau bei
gleichzeitig hoher Elternmotivation vor, lassen sich allemal günstigere Entwicklungsverläufe erwarten als
wenn umgekehrt hohe elterliche Kompetenzen vorhanden sind, es aber an Motivation zum Kind fehlt.
Diese genannten Aspekte sollten wir nicht außer Acht lassen, wenn wir als professionelle Helfer Eltern beim
Erwerb von Kompetenzen unterstützen wollen. Denn dafür brauchen wir eine gute Balance von Engagement
und kritischer Distanz, einen optimalen Arbeitsabstand – nicht nur zu den Eltern, sondern auch zu uns selbst.
Dazu gehört für mich aber noch ein weiterer Aspekt, auf den ich in diesem Zusammenhang aufmerksam
machen möchte.
Wie ich bereits gesagt habe, schärft die Fokussierung auf elterliche Kompetenzen nicht nur das
Reflexionsvermögen in Bezug auf Beziehungshandeln, sondern kann auch mit einem Verlust an
Unmittelbarkeit in der Beziehung verbunden sein. In gewisser Weise führt eine eindimensionale
Thematisierung von Elternkompetenzen schnell zu einer impliziten Professionalisierung der Elternfigur.
Dieser Prozess ist allenfalls halbbewusst. Er spiegelt sich im Gebrauch der Ausbildungsmetaphern wieder,

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die im öffentlichen Elterndiskurs benutzt werden. So taucht immer wieder das Bild auf, dass sich Eltern als
Eltern qualifizieren müssen, am besten sogar schon vor ihrer elterlichen Praxis; dabei ist manchmal die Rede
von einem so genannten Elternführerschein usw. Dem entspricht auch das Recht von Eltern auf
professionelle Beratung, das sich in bestimmten Situationen auch zur Pflicht wenden kann, kurzum,
kompetente Elternschaft erfordert in diesem Sinne Ausbildung, Training und Supervision. Dass dies
keinesfalls nur von außen an Eltern herangetragen wird, sondern offenkundig auch als Bedarf von diesen
selbst erkannt wird, lässt sich nicht nur an der Titel- und Auflagenzahl elterlicher Ratgeber in Zeitschriften-
und Buchform ablesen, sondern spiegelt sich auch in der Nachfrage von öffentlichen Beratungsangeboten
wider. Gleichzeitig ist die pädagogische und therapeutische Unterstützung durch professionalisierte
Fachdienste aber nicht nur Angebot, sondern – wie das Bildungswesen – auch gesellschaftliche (Selbst-
)Verpflichtung.
Mit dieser „Professionalisierung“ der Elternfunktion hält aber nicht nur Wissenschafts- und
Professionswissen Einzug in die Kinderstube, sondern ändern sich auch strukturell die Eltern-Kind-
Beziehungen. Das liegt daran, dass sich Familiensysteme und Systeme professioneller Beziehungsarbeit
grundlegend unterscheiden. Während die Menschen sich in der Familie als ganze Personen verhalten und
erleben und in ihrer Kommunikation als Personen ansprechen, ist professionelle Beziehungsarbeit in erster
Linie Rollenhandeln, die Person des Professionellen als solche ist nicht Bestandteil des Systems.
Entsprechend müssen Professionelle begründen, wenn sie eigene Themen über die Berufsrolle hinweg in
eine Arbeitsbeziehung einbringen, während Familienmitglieder sich umgekehrt prinzipiell dann rechtfertigen
müssen, wenn sie sich weigern, über persönliche Dinge zu reden. In der Familie als affektiver Nahraum ist
sozusagen Distanz begründungspflichtig, im professionellen Kontext Nähe. Die Unmittelbarkeit der
familialen Kommunikation, die nicht nur unter Partnern gilt, sondern auch zwischen Eltern und Kindern,
kann sich schon aus Entwicklungsnotwendigkeiten nicht auf die Kinder beschränken, wenngleich den Eltern
die Sozialisierung, also auch Mäßigung dieser Unmittelbarkeit als erzieherische Aufgabe zufällt. Mit anderen
Worten: für Kinder müssen die Eltern als Personen sichtbar sein, als liebende, wütende, aufmerksame,
traurige, ungeduldige, kranke, zärtliche Personen, um nur einige mögliche Attribute zu nennen. Kinder, die
keine Erfahrung mit echtem Ärger bei ihren Eltern machen können, weil dieser von einer pädagogischen
Attitüde maskiert wird, können auch kein Gefühl dafür entwickeln, ob die Liebe der Eltern echt ist oder
ebenfalls nur Ausdruck einer pädagogischen Haltung. Das meine ich mit Verlust an Unmittelbarkeit.
Verstecken sich Eltern hinter einer pädagogischen oder gar therapeutischen Haltung, enthalten sie sich ihren
Kindern – vielleicht ohne es zu bemerken – als Person vor. Dies ist – aus meiner Erfahrung als Supervisor
von kinder- und jugendpsychiatrischen sowie Erziehungsberatungseinrichtungen heraus betrachtet – ein
zunehmend zu beobachtender Hintergrund von massiven Entwicklungsstörungen bei Kindern, denen sich
dann pädagogisch verunsicherte Eltern machtlos gegenübersehen.
Professionelle Arbeit mit Eltern sollte also nicht mit einer Pädagogisierung oder Therapeutisierung von
Eltern-Kind-Beziehungen einhergehen, sondern vielmehr Eltern ermuntern, ihren persönlichen
Überzeugungen und Ansichten, ihren Werten und Gefühlen Platz zu verschaffen, weil sie nur als ganze
Personen kompetente Eltern sein können. Im Vordergrund sollte also die Beziehung zum Kind stehen und
nicht die pädagogische Handlung. Auch in der Prävention von Gewalt darf man nicht aus dem Auge
verlieren, dass es ja in der Regel nicht um Gewalt als spezifische Tat geht, sondern um Gewalt als entgleistes
Beziehungsmuster.
Nicht selten gerät bei einer professionell-pädagogischen Reflexion auch aus dem Blick, dass viele
Verhaltensstrategien, die von Pädagogen und Therapeuten empfohlen werden, nur deshalb funktionieren,
weil sie nur eine begrenzte Zeit am Tage oder in der Woche von den betreffenden Personen angewandt
werden, dazu in einem professionellen Kontext und unter professionell distanzierten Bedingungen. Diese
Übertragung auf das System Familie kann aber unter Umständen Insuffizienzgefühle bei den Klienten noch
verstärken, denen es nicht gelingt, gute Vorsätze auch 24 Stunden am Tage und 7 Tage in der Woche
umzusetzen.
So wie Professionelle mit Burnout-Problemen zu tun haben, sind Eltern, die die vielfältigen Anforderungen
an Familie und Erziehung zu ihren eigenen machen oder sie als realen Außendruck empfinden, mit hohem
Stress belastet. Besonders betroffen sind Eltern, die selbst professionelle Pädagogen oder Therapeuten sind
oder hohe Erwartungen an die eigene Kompetenz hegen, und für die die Erfahrung eigener elterlicher
Unzulänglichkeit oft tiefe Beschämung auslöst.
Stressmanagement und affektive Selbstregulation sind aus dieser Perspektive ganz wesentliche
Kompetenzen, die es im Umgang mit Anforderungen und Überforderungen aufzubauen gilt, aber auch
Widerstandsfähigkeit gegen eine Umwelt, in der Familien – zumal solche mit mehreren Kindern –
zunehmend in eine Minderheitenposition geraten.

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Insofern ist es besonders wichtig, sich als Professionelle, die Eltern stärken und in ihren Kompetenzen
fördern wollen, selbst auf den Prüfstand zu stellen. Die Förderung von Elternkompetenzen verstehe ich als
eine Form von Empowerment, nicht als eine einseitige Unterstützung oder Unterweisung. Empowerment
meint Ermächtigung, Ermächtigung von Eltern, ihren eigenen Weg unter Rückgriff auf ihre eigenen
Ressourcen wie auf die Unterstützung anderer zu finden. Dabei ist Respekt vor der Person der Eltern, ihrer
Biografie, die Konzentration auf gelungene Lösungen, die Wertschätzung alles Positiven wesentlich.
Kompetente Eltern sind stolze Eltern. Eltern, die sich für ihr elterliches Handeln schämen, ob offen oder im
Geheimen, haben eine zusätzliche Barriere zu überwinden.
Der Wechsel von der Eltern- zur Kindzentrierung im Familienleben ging mit einem – gesellschaftlich
tolerierten, wenn nicht sogar geförderten – massiven elterlichen Autoritäts- und Machtverlust einher. Die
Kinderrechtsdiskussion – und die negativen bis schrecklichen Autoritätserfahrungen, die manche von uns,
einschließlich meiner Person, in unseren Ursprungsfamilien und in der Gesellschaft gemacht haben – mögen
den Eindruck erwecken, als wäre dieser Verlust von Elternautorität wünschenswert. Ich teile diese
Auffassung nicht. Wer über Kinderrechte spricht, muss auch über Elternrechte reden. Die genannte
Entwicklung hat nicht selten dazu geführt, dass die Tyrannei der Eltern von einer Tyrannei der Kinder
abgelöst worden ist. Die Folgen dieses zunehmenden Macht- und Autoritätsverlustes werden in allen
gesellschaftlichen Bereichen zunehmend spürbar. Macht ist hier nicht mit Herrschaft oder Unterdrückung
gleichzusetzen, sondern besteht überall da, wo Menschen durch Handeln versuchen, Einfluss auf das
Handeln Anderer zu nehmen. Insofern ist und bleibt die Familie neben allen anderen Beziehungsaspekten
immer auch ein Machtverhältnis. Eltern müssen Macht haben, weil sie ohne Macht ihren Kindern weder
Orientierung anbieten noch einen sicheren Rahmen zur Verfügung stellen können. Diese Macht kann
heutzutage auch nicht mehr an gesellschaftliche Systeme abgetreten werden, abgesehen davon, dass diese sie
in der Regel auch nicht mehr haben wollen. Kinder brauchen also nicht nur feinfühlige, sondern auch
mächtige Eltern, wenn sie sich gut entwickeln sollen. Denn nur mächtige Eltern, die Kindern deutliche
Grenzen setzen können, sind auch in der Lage, ihre Kinder vor Gefahren (und vor sich selbst) zu beschützen.
Empowerment bedeutet vor diesem Hintergrund die Förderung der Bereitschaft und Befähigung von Eltern,
sich Autorität zu erwerben und Macht im Interesse der Kinder einzusetzen. Dies ist eine der wichtigsten
elterlichen Kompetenzen, auf die ich deshalb abschließend noch kurz eingehen möchte.
Autorität ist eine Ausdrucksform von Macht, sie kann nicht einfach reklamiert werden, sondern muss
Anerkennung derer finden, auf die der Machtanspruch zielt. Das sind die Kinder. Im Unterschied zu
Organisationen, in denen differenzierte Formen von Autorität, etwa u.a. Sachautorität oder Amtsautorität,
eine Rolle spielen, ist elterliche Autorität in erster Linie personale Autorität. Eltern müssen den Kindern
glaubwürdig verdeutlichen können, dass sie bereit sind, Macht zum Wohle der Kinder und der Familie
einzusetzen und dabei notfalls, oder besser formuliert: notwendigerweise, auch Fehler zu machen. Dazu
brauchen sie eine eigene, autonome Stimme, die sie den Kindern, und unter Umständen auch außen
stehenden Ratgebern entgegensetzen können (Omer, von Schlippe 2002).
Dabei sollten wir als professionelle Helfer die Eltern unterstützen. Wir sollten Kinder nach Möglichkeit nicht
gegen ihre Eltern schützen, sondern diese eher davor bewahren, etwas zu tun, was ihrem Selbstbild als Eltern
Schaden zufügt. Dabei können wir keine Lehrmeister sein, sondern allenfalls Begleiter auf einem Weg, der
Eltern in die Lage versetzt, stolz auf sich als Eltern zu sein und ihre Stärken und ihre Macht in einem
positiven Kontext einzusetzen. Wir sollten alles vermeiden, um Eltern zu beschämen, denn Scham über
eigenes Fehlverhalten oder die Nichterfüllung sozialer Erwartungen führt schnell dazu, Beziehungen
abzubrechen oder zumindest nicht mehr dafür zu nutzen, sich Hilfe zu holen.
Dies gilt nicht nur für sogenannte Problemfamilien, und damit komme ich zu der geschilderten
Eingangssituation zurück. Als Vater kann ich mittlerweile auf eine Menge Gespräche mit Lehrern,
Erzieherinnen, Sprachheiltherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen usw. Zurückblicken,
die sich in verschiedenen Kontexten um unsere Kinder gekümmert haben. Was mich immer wieder
beeindruckt ist die Tatsache, wie sehr sich die an uns gerichteten Empfehlungen und Erwartungen von
Pädagogen und Therapeuten an dem gesellschaftlichen Standardfall der Ein-Kind-Familie ausrichten. Vier
Kinder auf eine Weise individuell zu bespielen, zu den unterschiedlichsten Terminen und Aktivitäten
herumzufahren, schulmäßig und freizeitmäßig zu betreuen, als seien sie Einzelkinder, und zusätzlich auch
noch alle Elterngesprächs- und Aktivitätstermine wahrzunehmen, ist weder gleichzeitig noch nacheinander
wirklich zu leisten. Dennoch fühle ich mich in solchen Situationen nicht selten beschämt, weil ich doch, vom
Kind her betrachtet, die Erwartungen meines professionellen Gegenübers teile, ohne sie konsequent
umsetzen zu können.
Jeder guten Erziehung geht Selbsterziehung voraus. Dies gilt auch für uns als Professionelle. Deshalb greife
ich abschließend noch einmal meinen Vorschlag vom Beginn auf, unsere eigenen Erfahrungen als Eltern in

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unsere professionelle Praxis einfließen zu lassen oder zumindest immer wieder einen Perspektivenwechsel
vorzunehmen, um uns vor der Idee zu schützen, dass Elternschaft selbst eine quasi-professionelle Aufgabe
sei.
Dies gelingt am ehesten, wenn wir in unserer Praxis auch von Eltern lernen und die Vorstellung aufgeben,
dass professionelles Wissen einseitig kompetente Eltern hervorbringt. Die Praxis zeigt, dass es noch
wichtiger sein kann, Eltern voneinander lernen zu lassen und dafür geeignete Rahmen anzubieten.
Ich bin sicher, dass diese Konferenz viele Erfahrungen solcher wechselseitiger Lernprozesse vermitteln wird
und wünsche uns spannende Tage in Wien.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
e-mail: levold@netcologne.de

       Fragen und Kommentare

       F & K: Ich bin Familienhebamme. Wir bereiten die Frauen nach Möglichkeit nicht nur körperlich
       sondern auch seelisch auf die neue Familiensituation vor, und ich habe immer wieder erlebt, dass die
       Frauen sehr interessiert daran sind, neue Ideen über Mutter-Sein und „Wie mit dem Kind umgehen?“
       präsentiert zu bekommen. Umgekehrt ist es auch so, dass es, denke ich, wichtig ist, dass man den
       Müttern auch mitgibt, dass das Perfekte-Eltern-Sein gar nicht möglich ist und eigentlich für die
       Kinder katastrophal wäre, weil sie ja am Beispiel der Eltern auch lernen müssen, wie man mit
       Situationen umgeht, die man verpatzt hat und dass davon die Welt nicht untergeht, wenn man einen
       Fehler gemacht hat und den wieder gut macht, dass es von den Müttern her auch Impulse geben
       sollte, dass man sich einmal beim Kind entschuldigt. Da verlier ich nichts dabei. Und das versuchen
       wir also zu vermitteln. Und ich sehe auch, dass die Mütter dann in vielen Dingen sehr nachdenklich
       sind. Es sind auch Mütter drunter, die schon Mütter sind, die also das zweite oder seltener, immer
       seltener das dritte Kind bekommen, und die mir auch einmal die Rückmeldung gegeben haben: Das
       hat mir viel gegeben, diese, dieser neue Denkansatz, oder einfach auch zu sehen, dass es ganz normal
       ist, dass man manchmal vor Situationen steht, mit denen man eigentlich nicht umgehen kann, für die
       man noch keine Leitlinie hat. Wenn man aus Familien kommt, wo es sehr autoritär zugegangen ist,
       hat man für die neue Situation noch kein Muster, an dem man sich orientieren könnte. Ich glaube, die
       Generation, die jetzt Kinder aufzieht, tut sich von allen am schwersten. Ich sehe das auch an meiner
       Situation, nicht, dass bei uns Gewalt in der Familie das Übliche war, aber eine Ohrfeige hin und
       wieder war durchaus drin. Und ich hab ja auch erlebt, wie hilflos meine Mutter war, wenn ich ihr so
       richtig, wie man in Wien sagt, „a Gosch’n ang’hängt“ hab, und dass sie dann irgendwie diese Lösung
       gewählt hat, und wie hilflos ich manchmal bin, weil ich jetzt eine heftig pubertierende Tochter hab
       und mir denk, das ist keine Lösung. Aber wie lös ich es jetzt? Und ich könnte mir vorstellen, dass die
       Vorbereitung auf solche Situationen hilfreich ist.

       F & K: Ich bin in Wien im Rahmen des Amtes für Jugend und Familie für die institutionelle
       Fremdunterbringung, also volle Erziehung im Rahmen des Amtes für Jugend und Familie zuständig,
       also Heimerziehung. Und was Sie erzählt haben, das hat mir doch auch ein bisschen zu denken
       gegeben, weil wir uns ja in Wien auch in einer großen Heimreform befinden, zur Zeit im vierten
       Jahr, und versuchen, kleinere Gruppen zu schaffen, Wohngemeinschaften. Und unser Anliegen in
       den letzten Jahren war, die Kompetenz der Eltern wieder zu stärken und damit die sehr frühe
       Herausnahme des Kindes aus der Familie zu vermeiden. Und trotzdem erleben wir, dass Eltern in
       ihrer Hilflosigkeit, diese Kompetenz oft nicht mehr übernehmen können, und sich beschämt fühlen.
       Und ich denk, der Weg müsste sein, diese Beschämung durch die Institution zu reduzieren, und mit
       den Eltern Pläne zu entwickeln, wie eine Krise in der Familie auch wieder gelöst werden, und die
       Eltern ihre Kompetenz wieder erlangen. Ich glaub, das ist ein ganz wichtiger Hinweis, was Sie
       gesagt haben. Dankeschön.

       F & K: Die Strategien können wir benutzen, wenn wir über Elternkompetenzen und Eltern sprechen.
       Vielleicht ist das nur in Großbritannien der Fall, aber vielleicht könnten Sie hier kurz darauf
       eingehen. Wenn wir von Elternkompetenzen sprechen, dann sieht das in der Praxis doch so aus, dass
       wir oft nur mit Müttern arbeiten und dass wir die Väter nicht miteinbeziehen in diesen Prozess, das
       heißt, wie können wir hier die Väter besser einbeziehen?

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Levold: Ich freue mich, dass Fragen dazu kommen, weil ich das gerne noch in meinem Vortrag
untergebracht hätte und dann aus Platzgründen darauf verzichtet habe; es gibt nämlich interessante
Studien, die deutlich machen, dass 70 bis 80 Prozent aller negativen Interaktionsepisoden zwischen
Kindern und Eltern Episoden zwischen Kindern und Müttern sind, weil die Väter einfach nicht da
sind. Es geht also auch darum, die Väter sozusagen stärker in die aktuelle elterliche Situation mit
hineinzuholen, und auch mit Vätern daran zu arbeiten, wie sie solche negativen Konfliktsituationen
gut regulieren können, anstatt diese Spaltung innerhalb der Familie auch noch aufzurichten. Denn
auch da zeigt sich, wer den größten Anteil negativer Aufgaben zu bewältigen hat, ist am schnellsten
in der beschämten Position, und die Väter können sich dann sozusagen auf das Spiel am Abend oder
am Wochenende stürzen, was aber die elterliche Kooperation oder die elterliche Solidarität
schwächen kann. Das halte ich für einen ganz entscheidenden Punkt.

Im Zusammenhang damit, was vorher angesprochen wurde, glaube ich, dass es in erster Linie darum
geht, einen dialogischen Prozess aufzubauen; es geht nicht so sehr darum, ein Elternschema durch
ein anderes Elternschema zu ersetzen, was dann wieder mit normativen Vorgaben durchtränkt wäre.
Ich bin der Meinung, dass es überhaupt wichtig ist, über die Elternrolle nachzudenken, für Eltern
selbst, für Eltern in ihrem sozialen Kontext, aber auch mit professionellen Helfern, und dass unsere
Aufgabe vielleicht darin bestehen kann, diesen Dialograum offen zu halten und nicht vorzeitig zu
schließen, weder durch zu einfache Lösungen noch durch normative Orientierung. Und
Anschlussfähigkeit darüber herzustellen, dass ein solcher Dialog fortgesetzt werden kann, weil auch
die elterliche Situation immer wieder fortgesetzt werden muss. Und Scham ist für mich dabei ein
wirklich ganz zentrales Konzept. Ich denke auch, dass viele Prozesse zwischen Familien und
professionellen Institutionen einer Schamkonfliktdynamik unterliegen, die den Beteiligten überhaupt
nicht bewusst ist. Und das Problem ist, wenn es in einer Konflikt- oder Spannungssituation
vorkommt, dass man sich beschämt fühlt oder beschämt wird, dass dann eine Möglichkeit damit
umzugehen diejenige ist, zu versuchen, den anderen zu beschämen. Und gerade in Konflikten
zwischen Heimen und Familien, in denen mehr oder weniger durch Beschluss eine
Fremdunterbringung vorgenommen worden ist, kann man eine solche Beschämungsspirale erleben.
Die einzige Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, besteht dann wiederum darin, zu versuchen, den
anderen in die beschämte Position zu bringen. Das ist eine Sackgasse, aus der man nicht
herauskommt. Das finde ich sehr wichtig, dass man sich diese Affektdynamik als Helfer aber eben
auch als Institution vom eigenen Selbstverständnis her gründlich durchdenkt. Da finde ich eben auch
wichtig, die Väter da stärker mit hereinzuholen, weil die Beschämte eben oft die Mutter ist, die
alleine dann zu Hause die Situation schmeißen soll.

F & K: Mein Name ist Jacqui Pepper. Ich komme von der Edinburger Stadtverwaltung. Sie haben
sehr viel über die Professionalität im Umgang mit den Eltern und den Familien gesprochen, aber wir
haben hier eine Strategie, die nennt sich Re-Start, wo es darum geht, dass auch andere Eltern in der
Gemeinschaft sehr viel Hilfe und Unterstützung für Eltern bringen können. Es gibt hier eine britische
Organisation, die nennt sich Parent network, also Elternnetzwerk, die verschiedene Programme für
Eltern durchführt, und um hier ein Multiplikator zu werden, muss man ebenfalls Elternteil sein. Das
heißt, um andere Eltern zu unterstützen und ihnen zu helfen, muss man selbst Elternteil sein.

Levold: Ich habe in Köln von 1981 bis 1989 das Kinderschutzzentrum mitaufgebaut und dann lange
als Leiter dort gearbeitet und habe mich sehr aktiv in der Kinderschutzbewegung engagiert, ohne zu
dem Zeitpunkt Vater zu sein. Für mich war es eine wesentliche Erfahrung auf dem Hintergrund
meiner eigenen Vaterschaft in der Familie selber viele Prozesse noch einmal neu zu reflektieren und
zu überdenken, die ich in der damaligen Zeit gemacht habe. Ich würde sagen, für mich ist es eine
enorme Ressource in der Arbeit mit Familien aber auch in der Arbeit mit Institutionen, diese
Perspektive mit einzubringen, wobei ich nicht sagen würde, man muss selber Eltern sein, um Eltern
helfen zu können. Aber ich finde es wichtig, dass man die Frage eigener Elternschaft oder
Nichtelternschaft selber zum Ausgangspunkt macht, um die Frage beantworten zu können, wie kann
ich überhaupt helfen. Diese Netzwerkidee ist mir sehr wichtig. Ich glaube, dass das ein ganz
wichtiger Ansatz ist, weil ich eben viel Erfahrung in der Arbeit mit Familien gemacht habe, die sich
sicher nicht hätten vorstellen können, dass sie davon profitieren, mit anderen Eltern über ihre
Situation zu reden. Ich glaube, es braucht noch so etwas wie ein Medium oder einen Zwischenschritt,
einen Rahmen, der diese Idee nicht nur denkbar macht, sondern es auch möglich macht, sich

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praktisch darauf einzulassen, weil auch da natürlich die Frage der Selbstöffnung und der
Entwicklung von Stolz, aber auch der Angst vor Beschämung eine ziemliche Rolle spielt. Das wäre
mein Interesse, auch davon vielleicht mehr zu erfahren, welche praktischen Erfahrungen hier im
Laufe der Tagung berichtet werden.

F & K: Mein Name ist Ingrid Pilz. Ich bin verantwortlich in Wien für die Gesundheitsvorsorge für
Mutter und Kind. Ich glaube, es gibt noch ein Problem, vielleicht sollte man es auch ansprechen, es
geht um die soziale Entwicklung. Die soziale Entwicklung ist sehr abhängig von der Interaktion
zwischen dem Kind und einer Bezugsperson. Und ich glaub, in früheren Zeiten, wo die Familien
größer waren, war immer eine Bezugsperson da. Das ist leider zum großen Teil verloren gegangen,
da es ja fast nur mehr oder sehr viele Ein-Kind-Familien gibt und Kinder auch in Institutionen
aufwachsen, und ich glaube, es ist ganz wichtig diese Funktion der Interaktion nicht zu vergessen.
Wenn Netzwerke von Familien entstehen, die einander helfen, ist es vielleicht ähnlich wie bei einer
größeren Familie, aber wie Sie schon gesagt haben, ich glaube auch, dass eine Supervision oder eine
Begleitung, eine professionelle, ist wichtig, damit das Netzwerk nicht abgleitet.

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