Trendletter - Mensch im Mittelpunkt 1/2013 - Prognos AG

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Trendletter - Mensch im Mittelpunkt 1/2013 - Prognos AG
Basel · Berlin · Bremen · Brüssel
                                                               Düsseldorf · München · Stuttgart

1/2013
ISSN 1023-8158, 24. Jahrgang   trendletter

Mensch im Mittelpunkt
                               Impulse für Bildung, Integration & Partizipation
Trendletter - Mensch im Mittelpunkt 1/2013 - Prognos AG
www.prognos.com
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Verfügung gestellt haben, verwenden wir ausschließlich zur Bearbei-
tung Ihrer
     2 Anfrage. Eine Weitergabe an Dritte findet nicht statt.         PLZ, Stadt                 Datum, Unterschrift   Prognos trendletter 1 / 2013
Trendletter - Mensch im Mittelpunkt 1/2013 - Prognos AG
Editorial

                                              Mensch im Mittelpunkt
                                                                                                  Die Erschließung von Potenzialen setzt
                                                                                              aber auch Investitionen voraus. Dies wird
Schwerpunkt                                                                                   am Beispiel der Ganztagsschulen deutlich
                                                                                              (S. 8–9). Ein qualitativ hochwertiges Ganz-
Arbeitslandschaft 2035                  4–5                                                   tagsangebot verbessert das Bildungsniveau
                                                                                              und die Teilhabechancen von jungen Er-
Mütter mit Migrationshintergrund –                                                            wachsenen. Am Beispiel von Nordrhein-
Erwerbsintegration sichern                6                                                   Westfalen wird die Kosten-Nutzen-Relation
                                                                                              in einer Gesamtperspektive aufgefächert.
Mehr Selbstbestimmung                                                                         Der potenzialorientierte Blick bringt auch
in der Eingliederungshilfe                7                                                   für die Forschung selbst neue Erkenntnis-
                                                                                              möglichkeiten. Die Studienserie Juvenir ist
Ausbau der Ganztagsschule: Wer hat                                                            eine Forschung im Dialog mit der Jugend
den Nutzen, wer trägt die Kosten?  8–9                                                        – mit durchaus unerwarteten Ergebnissen
                                                                                              (S. 10–11): Dank der Neuen Medien kön-
Studienserie Juvenir – Forschung                                                              nen die Jugendlichen direkt in die sie
im Dialog mit der Jugend              10–11                                                   betreffenden Fragen einbezogen werden,
                                                                                              was ihrer Perspektive im gesellschaftlichen
                                                                                              Diskurs zugleich Gehör verschafft.
                                              Ein lebendiges und vor allem zukunftsfä-            Neben dem Schwerpunkt Mensch im
Wirtschaftspolitik                            higes Gemeinwesen lebt von Teilhabe. Auf-       Mittelpunkt – Impulse für Bildung, Inte-
Innovative Finanzierungsinstrumente           gabe der Politik ist es, dort Hindernisse aus   gration & Partizipation finden Sie natürlich
für die Kultur- und Kreativwirtschaft    12   dem Weg zu räumen, wo sie die Menschen          auch in diesem trendletter wieder weitere
                                              an einer aktiven Gestaltung ihres Leben-        interessante Beiträge. Zum Beispiel zu den
Innovationspolitik                            sumfeldes hindern. Im Mittelpunkt dieses        Themen Wirtschaft, Innovation und Ver-
Technik ist nicht gleich Technik –            trendletters stehen daher wichtige Ansatz-      kehr sowie zur Energie- und Umweltpolitik.
Deutschland zeigt sich skeptisch         13   punkte für mehr Partizipation: Bildung und          Zusätzlich möchten wir Ihnen unsere
                                              Ausbildung, Arbeit, Integration und gesell-     neue Rubrik „Standpunkt“ (S. 19) vorstel-
Umweltpolitik                                 schaftliche Teilhabe.                           len. Dr. Michael Böhmer, verantwortlich für
Ist Ihr Unternehmen fit                           Die Daten zum Arbeitsmarkt verdeutli-       den Bereich Wirtschaftspolitik & Globali-
für den Klimawandel?                     14   chen die Herausforderungen für die näch-        sierung, kommentiert hier das Thema „Min-
                                              sten Jahre (S. 4–5). Wenn keine geeigneten      destlohn und Armutsvermeidung: einfache
Energiepolitik                                Gegenmaßnahmen eingeleitet werden,              Instrumente, einfache Zielgrößen?“.
Stromversorgung der Schweiz: Inte-            droht Deutschland im Jahr 2035 ein Ar-              Richten wir also gemeinsam den Blick
gration fluktuierender Erneuerbarer      15   beitskräftemangel von 4 Mio. Personen.          auf die Bedingungen, die notwendig sind,
                                              Dabei rücken Menschen mit einer Lehre           um die vorhandenen Potenziale der Men-
Verkehrspolitik                               bzw. einer Meister-/Technikerausbildung         schen nicht zu verschenken.
Veloverkehr in der Schweiz –                  stärker in den Fokus. Für die Zukunft gilt
Zählungen, Nutzen, Potenziale            16   es, die berufliche Ausbildung zu stärken.       In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine
                                              Eine arbeitsmarktrelevante Gruppe sind          spannende Lektüre und freue mich auf eine
Thüringen – die Chancen                       die in Deutschland lebenden Menschen mit        anregende Diskussion.
der besseren Erreichbarkeit nutzen       17   Migrationshintergrund und unter ihnen
                                              insbesondere Mütter (S. 6). Die Erwerbs-
Ressourcenpolitik                             potenziale dieser Gruppe zu erschließen
Nachhaltiges Gesamtkonzept                    ist nicht nur unter arbeitsmarktpolitischen
der Abfallentsorgung in München          18   Gesichtspunkten wichtig, sondern es geht
                                              auch um Teilhabe und Integration der                                           Christian Böllhoff
Standpunkt                                    Frauen und ihrer Kinder.                                       christian.boellhoff@prognos.com
Mindestlohn und Armutsvermeidung:                 Das Persönliche Budget für Menschen
einfache Instrumente, einfache                mit Behinderungen ermöglicht es den Nut-
Zielgrößen?                              19   zerinnen und Nutzern, Unterstützungsleis-
                                              tungen entsprechend den eigenen Parti-
Meldungen / Impressum                    20   zipationszielen auszuwählen (S. 7). Es ist
                                              ein wichtiges Instrument zur Stärkung von
                                              Selbstbestimmung und Eigenverantwor-
                                              tung. Bei steigender Inanspruchnahme bie-
                                              tet es die Chance, die Eingliederungshilfe
                                              im Sinne des SGB IX und der UN-Behinder-
                                              tenrechtskonvention weiterzuentwickeln.

Prognos trendletter 1 / 2013                                                                                                                 3
Trendletter - Mensch im Mittelpunkt 1/2013 - Prognos AG
Arbeitslandschaft 2035
                                                      Die neue Prognose zeigt, dass der deutsche Arbeitsmarkt auf zukünftige
                                                      Anforderungen reagieren kann. Es ist bereits viel erreicht worden. Mit einem
                                                      stärkeren Fokus auf der beruflichen Ausbildung gilt es, weiter aktiv zu bleiben.

A    rbeitsmarktstudien behalten ihre Relevanz nur dadurch, dass
     man sie in regelmäßigen Abständen hinsichtlich der Daten,
der qualitativen Einschätzungen und des verwendeten Instrumen-
                                                                    schnittlichen Produktivitätszuwächse, sodass der Beschäftigungs-
                                                                    aufbau allein hier stattfindet.

tariums aktualisiert. Die zentralen Ergebnisse der neuen Arbeits-   Wer wird zukünftig produzieren? Der wirtschaftliche Struktur-
landschaft 2035 – eine Studie, die Prognos bereits zum dritten      wandel beeinflusst im Wesentlichen, was künftig produziert wird,
Mal im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V.     und prägt damit neben der Produktionsstruktur die Nachfrage nach
(vbw) erstellt hat – unterscheiden sich zum Teil deutlich von den   Arbeitskräften. Zugleich ändert sich aber auch das Angebot an
Ergebnissen der vorherigen Arbeitslandschaften. Dies ist einerseits Arbeitskräften im Zeitablauf. Die Verfügbarkeit und die Zusam-
der aktuelleren statistischen Grundlage geschuldet, andererseits    mensetzung des Arbeitskräfteangebots haben einen maßgeblichen
aber auch ein Zeichen dafür, dass im Kampf gegen den drohenden      Einfluss auf die Produktion der Zukunft.
Arbeitskräftemangel bereits einiges erreicht worden ist. Kurz- und     Infolge des demografischen Wandels verringert sich die Zahl
mittelfristig wirkt zudem die notwendige Konsolidierung der Staats- der Einwohner Deutschlands zwischen den Jahren 2011 und 2035
finanzen in vielen Industrieländern mit entsprechend geringerem     um rund 3,4 Mio. Bei der für den Arbeitsmarkt entscheidenden
weltwirtschaftlichem Wachstum dämpfend auf die Arbeitskräf-         Altersgruppe (zwischen 20 und 65 Jahren) beträgt der Rückgang
telücke in Deutschland. Aufgrund der deutschen Wirtschaftsstruk-    sogar 8,6 Mio. Personen. Die Veränderungen im Altersaufbau der
tur und der demografischen Entwicklung in
unserem Land wird der Fachkräftebedarf
aber langfristig bestehen bleiben.              Tätigkeitsstruktur 2011 bis 2035
                                                       100%
Was wird produziert? Grundsätzlich füh-           90%      20.9%             21.5%          22.1%          22.6%            23.3%            23.7%
ren die Globalisierung und der mit ihr ver-
                                                  80%
bundene strukturelle Wandel dazu, dass
                                                  70%      22.7%            22.8%           22.7%          22.7%            22.7%
sich die Nachfrage nach Arbeitskräften in                                                                                                    22.8%
                                                  60%
Deutschland bis zum Jahr 2035 verändern
                                                  50%
wird. Anteilsmäßig gewinnt der Dienstleis-
                                                  40%      35.6%             35.6%          35.6%
tungssektor, während die Industrie zwar                                                                    35.5%            35.4%            35.3%
Anteile an der gesamtwirtschaftlichen             30%

Bruttowertschöpfung verliert, absolut je-         20%
doch weiterhin Wertschöpfungszuwächse             10%      20.9%             20.1%          19.6%          19.1%            18.6%             18.1%
verzeichnen wird.                                  0%
                                                            2011                                                             2030              2035
                                                                              2015          2020            2025
   Kurz- und mittelfristig wird die Ver-
schärfung der Staatsschuldenkrise die                    Wissensbasierte Tätigkeiten              Verwaltende und organisatorische Tätigkeiten
Wirtschaftsentwicklung stark beeinflus-                  Primäre Dienstleistungstätigkeiten       Produktionsnahe Tätigkeiten
                                                                                                                                             © Prognos AG 2012
sen. Der Konsolidierungszwang hemmt das
Wirtschaftswachstum der Industrieländer
und schränkt zudem ihre finanz- und wirtschaftspolitischen Spiel-          Bevölkerung haben weitere Konsequenzen: Während im Jahr 2011
räume merklich ein. Entsprechend trifft der aktuelle Nachfrage-            noch 61,1 % der Bevölkerung zwischen 20 und 65 Jahren waren,
rückgang aus den Industrieländern Deutschland als exportstarke             so werden es im Jahr 2035 nur noch 53,8 % sein. Die Bevölke-
Volkswirtschaft deutlich und hat zur Folge, dass das deutsche Wirt-        rungsentwicklung fungiert als natürliche Grenze und führt dazu,
schaftswachstum in den kommenden Jahren zunächst spürbar zu-               dass das Angebot an Arbeitskräften über alle Fachrichtungen und
rückgeht.                                                                  Tätigkeitsbereiche hinweg zurückgeht. Zumindest dann, wenn man
   Von der anschließenden Erholung profitiert Deutschland jedoch           annimmt, dass sich die strukturellen Bestimmungsfaktoren auf
in besonderem Maße, sodass die langfristige wirtschaftliche Ent-           dem Arbeitsmarkt nur sehr langsam verändern. Dazu zählen bei-
wicklung deutlich positiver verläuft, als in der kurzen Frist ange-        spielsweise das Bildungsverhalten, die Erwerbsbeteiligung oder die
nommen. Im Zeitraum bis 2035 wird die deutsche Wirtschaft um               Flexibilität der Erwerbstätigen.
durchschnittlich 1,1 % pro Jahr wachsen. Der Außenbeitrag bleibt
mit durchschnittlich 33 % weiterhin eine wichtige Stütze des deut-         Wie wird zukünftig produziert? Die spezifischen Bedarfe an Ar-
schen Wachstums. Die deutsche Industrie kann ihr Exportvolumen             beitsleistungen werden von den Unternehmen und den Betrieben
bis zum Jahr 2035 mehr als verdoppeln.                                     selbst festgelegt und können branchen- oder gar betriebsspezifisch
   Trotz des – auch im internationalen Vergleich – überdurch-              ganz unterschiedlich ausfallen. Erst auf dieser dezentralen Ebene
schnittlich starken sekundären Sektors entsteht das Gros der deut-         wird es möglich, die Arbeitskräftenachfrage zu spezifizieren und in
schen Bruttowertschöpfung im Dienstleistungssektor. Hier entwi-            ihrer Struktur nach räumlichen, fachlichen und qualifikatorischen
ckeln sich der Handel, die unternehmensnahen Dienstleistungen              Gesichtspunkten fassbar zu machen. In der Summe der betrieb-
und das Gesundheitswesen besonders dynamisch. Beschäftigungs-              lichen Entscheidungen entsteht dann eine gesamtwirtschaftliche
fördernd wirken im Dienstleistungssektor zudem die unterdurch-             Tätigkeitsstruktur: Zwar werden auch im Jahr 2035 noch mehr
                                                                           als die Hälfte aller Erwerbstätigen direkt mit der Produktion von

4                                                                                                                                Prognos trendletter 1 / 2013
Trendletter - Mensch im Mittelpunkt 1/2013 - Prognos AG
Schwerpunkt

Gütern und Dienstleistungen befasst sein, der Anteil an produk-           Differenziert nach Fachrichtungen könnten bereits 2020 fast
tionsnahen Tätigkeiten sinkt jedoch auf deutlich unter 20 %. Die       9 % der insgesamt angebotenen Stellen für Ärzte und fast 6 %
wesentlichen Ursachen hierfür sind die Automatisierung der Leis-       derjenigen für Lehrer und Erzieher nicht besetzt werden. Bis 2035
tungserstellung, die immer stärker auch den Dienstleistungssektor      verschärft sich der Mangel zudem bei den Ingenieuren, Natur-
erfasst, demografische Veränderungen, wohlstandsbedingt gestie-        wissenschaftlern und Mathematikern. Erhebliche Probleme treten
gene Ausstattungsgrade und Veränderungen in der internationalen        – unter den gegebenen Bedingungen – auch bei der Besetzung von
Arbeitsteilung.                                                        Stellen für Nichtakademiker auf. Schon 2025 können mehr als 10 %
   Demgegenüber wächst das Gewicht von Tätigkeiten, deren wich-        der Stellen in der Krankenpflege, den medizinischen Diensten und
tigste Aufgabe einerseits die Gewährleistung möglichst verläss-        im Bereich von Sprachen, Kultur und Sport nicht besetzt werden.
licher und sicherer Abläufe sowie andererseits die Schaffung und       Bis 2035 spitzt sich die Situation auch im sonstigen Gesundheits-
Verbreitung von Informationen und Wissen ist. Der Anteil der mit       wesen, bei den mathematischen und naturwissenschaftlichen Aus-
diesen Aufgaben befassten Arbeitskräfte wird bis 2035 auf knapp        bildungen sowie dem Friseurgewerbe und der Schönheitspflege zu.
47 % steigen. Hier schlägt sich nieder, dass Produktivitätsstei-
gerungen und der Erhalt der Funktionsfähigkeit einer komplexer         Handlungsoptionen. Im Vergleich zur vorherigen Arbeitslandschaft
werdenden Gesellschaft den Einsatz zunehmender ökonomischer            2030 ergibt sich damit in der aktuellen Arbeitslandschaft 2035
                                                                                                  eine geringere Arbeitskräftelücke. Ne-
                                                                                                  ben dem zahlenmäßigen Rückgang
  Arbeitskräftemangel nach Qualifikationen, 2011 bis 2035, in 1.000 Personen                      zeigen sich auch strukturelle Verän-
            2011             2015       2020         2025         2030           2035             derungen der Arbeitskräftelücke. So
      0
                                                                                                  konnte der drohende Mangel unter den
   -500
                                                                                                  Personen ohne berufliche Bildung voll-
 -1.000                                                                                           ständig abgebaut werden, während sich der
 -1.500                                                                                           Mangel unter den beruflichen Abschlüssen
 -2.000                                                                                           spürbar verschärft hat.
 -2.500                                                                                                Die neue Arbeitslandschaft 2035 zeigt
 -3.000                                                                                           damit, dass sich der Arbeitsmarkt bewegt
 -3.500                                                                                           und bereits einiges geschehen ist. Durch
             Ohne beruflichen Abschluss
 -4.000                                                                                           die vier Handlungsfelder Weiterbildung,
             Mit Berufsabschluss                                                                  Verlängerung der Arbeitszeit, Erhöhung
 -4.500
             Mit Hochschulabschluss                                                               der Erwerbsbeteiligung und Steigerung der
 -5.000
                                                                                © Prognos AG 2012
                                                                                                  Bildungsbeteiligung kann die Entstehung
                                                                                                  einer Arbeitskräftelücke vermieden wer-
Ressourcen erfordern. In der Gewichtsverlagerung von Output-           den. In der Vergangenheit ist bereits viel bei der Erwerbsintegration
nahen zu den Output-fernen Tätigkeiten zeigt sich damit deutlich       von Personen ohne berufliche Bildung (Agenda 2010) erreicht wor-
die Tendenz zur „Wissensgesellschaft“. Hinzu kommt, dass in allen      den und auch die Bildungsanstrengungen der vergangenen Jahre
Tätigkeitsbereichen die Anforderungen an das Fachwissen sowie          zeigen Wirkung. Der Anteil der Hochschulabsolventen ist deutlich
an die persönliche und soziale Lernkompetenz zunehmen. Für             gestiegen, sodass die zukünftige Lücke kleiner ausfallen dürfte, als
wissensintensive Tätigkeiten werden künftig gut qualifizierte Mit-     ursprünglich angenommen. Somit rücken die Personen mit einer
arbeiter gesucht – mit Berufs- wie auch Hochschulabschluss.            Lehre bzw. Meister-/Technikerausbildung stärker in den Fokus der
                                                                       zukünftigen Bemühungen. Es gilt also insbesondere, die berufliche
Das Ungleichgewicht auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Stellt man         Ausbildung auszubauen und zu stärken.
die Nachfrage und das Angebot an Arbeitskräften einander gegen-           Gleichwohl sind nach wie vor Veränderungen in allen vier Hand-
über, dann zeigen sich einerseits Arbeitsplätze, die nicht besetzt     lungsfeldern erforderlich. Die neue Arbeitslandschaft zeigt, dass
werden können, und andererseits Arbeitskräfte, denen kein adä-         der deutsche Arbeitsmarkt durchaus auf die zukünftigen Anfor-
quater Arbeitsplatz angeboten werden kann. Aus den Ergebnissen         derungen reagieren kann. Deutschland befindet sich auf dem rich-
wird ersichtlich, in welchen Teilarbeitsmärkten und bei welchen        tigen Weg – wichtig ist jedoch, dass man sich auf dem Erreichten
Qualifikationen (Fachrichtungen) und Tätigkeiten besonders große       nicht ausruht, sondern mit einem leicht veränderten Fokus auf die
Spannungen zu erwarten sind.                                           berufliche Ausbildung weiter aktiv bleibt.
    Wenn keine geeigneten Gegenmaßnahmen eingeleitet werden,
droht Deutschland im Jahr 2035 insgesamt ein Arbeitskräftemangel
von 4 Mio. Personen, bereits 2020 dürften 1,7 Mio. Personen fehlen.
Der Gesamtmangel setzt sich aus einem Mangel an Arbeitskräften
mit mittlerem (2,2 Mio.) und hohem (1,8 Mio.) Qualifikationsniveau
zusammen, während bei den Personen ohne berufliche Ausbildung
langfristig in der Tendenz ein Überschuss an Arbeitskräften beste-                                          Dr. Anna-Marleen Plume
hen wird, also Arbeitslosigkeit droht.                                                            anna-marleen.plume@prognos.com

Prognos trendletter 1 / 2013                                                                                                              5
Trendletter - Mensch im Mittelpunkt 1/2013 - Prognos AG
Schwerpunkt

                                               Mütter mit Migrationshintergrund –
                                               Erwerbsintegration sichern
                                               Mütter mit Migrationshintergrund stehen vor spezifischen Herausforderungen,
                                               wenn sie (wieder) in den Arbeitsmarkt einsteigen wollen. Von einer erfolgreichen
                                               Integration der Mütter profitieren auch die Töchter.

M    ütter mit Migrationshintergrund sind eine heterogene Grup-
     pe. Sie unterscheiden sich zum Beispiel nach Herkunftsland,
nach Familienform und nach Kinderzahl.
                                                                      bestehen erhebliche zeitliche Lücken zwischen dem Abschluss ei-
                                                                      ner vorbereitenden und einer weiterqualifizierenden Maßnahme.

                                                                      Beispiel Kanada. Die Erfahrungen aus Kanada zeigen, dass sich
Schulische und berufliche Bildung der Mütter. Große Unter-            die Unterstützung von Einwandererfamilien – und auch deren
schiede gibt es auch im Bereich der schulischen und beruflichen       Töchter und Söhne der sogenannten zweiten Generation – mit
Bildung. Fast ein Drittel der Mütter mit Migrationshintergrund        Hilfe einer möglichst lückenlosen Maßnahmenkette auszahlt. So
verfügt über ein (Fach-)Abitur und weitere 25 % über einen Re-        beginnen bereits vor Einreise Orientierungs- und Informations-
alschulabschluss und damit über eine bessere Bildung als oftmals      programme, die u. a. eine individuelle Beratung enthalten, im
angenommen. Dagegen besitzen 11 % der Mütter mit Migrations-          Rahmen derer ein „Integrationsplan“ aufgestellt, die vielfältigen
hintergrund keinerlei Schulabschluss (Mikrozensus 2009).              Unterstützungsbausteine vorgestellt und eine zielgerichtete Nut-
   Auch die Daten zur beruflichen Bildung verdeutlichen das           zung besprochen werden. Bei Ankunft in Kanada folgen Orien-
vorhandene Erwerbspotenzial der Mütter mit Migrationshinter-          tierungsprogramme zur Starthilfe, Mentoring-Programme (zum
grund: Fast zwei Drittel haben eine berufliche Ausbildung abge-       beruflichen und sozialen Austausch), Bridging-Programme, um
schlossen, einen Abschluss als Meisterin/Technikerin oder sogar       Sprach- und Kompetenzlücken zu schließen, sowie Programme,
einen (Fach-)Hochschulabschluss. Dagegen steht ein gutes Drittel      die Praktika vermitteln. Flankiert werden die Maßnahmen durch
Mütter mit Migrationshintergrund ohne einen anerkannten Be-           verschiedene (teilweise IT-gestützte) Sprach- und Weiterbil-
rufsabschluss (Mikrozensus 2009).                                     dungsmöglichkeiten für Erwachsene und Kinder. Schulen mit
                                                                      hohem Migrantenanteil beschäftigen spezielle Integrationsma-
Ihre Zugangschancen zum Arbeitsmarkt. Obwohl Mütter mit Mi-           nager. In Stadtteilen, in denen viele Migrantenfamilien leben,
grationshintergrund also häufig gut qualifiziert sind, gibt es – im   gibt es zudem Familienzentren, die die Integration der Familien
Vergleich zu Müttern ohne Migrationshintergrund – große Unter-        unterstützen und mit Rat und Tat zur Seite stehen. Zu beobachten
schiede im Hinblick auf die Zugangschancen zum Arbeitsmarkt.          ist insgesamt eine außergewöhnlich hohe Bildungsdurchlässig-
Komplexe Problemlagen kommen hier zum Tragen. Einerseits              keit, die sich in hohen Qualifikationen besonders von Töchtern
stehen Mütter mit Migrationshintergrund vor den „üblichen“ fa-        aus Zuwandererfamilien niederschlägt – auch bei niedriger Qua-
milienbezogenen Problemen, oftmals aber in einem noch stär-           lifikation der Eltern.
keren Maße als Mütter ohne Migrationshintergrund. Dies betrifft
zum Beispiel einen schlechteren Zugang zu Kinderbetreuung,            Bildungsaufstieg der Töchter. Aktuelle Daten des OECD-Berichts
fehlende soziale Netze oder die innerfamiliäre Rollen- und Auf-       „Education at a Glance 2012 – OECD Indicators“ zeigen, dass
gabenteilung. Andererseits haben Mütter mit Migrationshinter-         sowohl in Deutschland als auch in Kanada im Inland gebore-
grund spezifische arbeitsmarktbezogene Herausforderungen zu           ne Töchter aus Zuwandererfamilien mit größerer Wahrschein-
bewältigen. So besteht vielfach Qualifikationsbedarf, zum Bei-        lichkeit ein hohes Bildungsniveau aufweisen. Die Unterschiede
spiel mit Blick auf die fachlichen Spezifika des deutschen Arbeits-   des Bildungsaufstiegs sind jedoch enorm: In Kanada ist mit über
markts oder auch in (fach-)sprachlicher Hinsicht. Auch haben          70 % ein um ein Vielfaches größerer Anteil der im Inland gebore-
viele Mütter Probleme, im „deutschen bürokratischen System“           nen Töchter aus Zuwandererfamilien mit einem hohen Bildungs-
(Anträge, Ämter, Jobcenter, Kinderbetreuung, Konventionen und         niveau zu beobachten als in Deutschland mit ca. 10 %.
Verhaltenscodes im Arbeitsleben etc.) zurechtzukommen. Aus               Um die arbeitsmarktbezogenen Potenziale der Mütter mit Mi-
arbeitsmarktpolitischer Sicht sind insbesondere die gut quali-        grationshintergrund – wie auch deren Töchter – zu erschließen,
fizierten Mütter mit Migrationshintergrund von Interesse. Sie         gilt es, zielgenaue, ineinander greifende und aufeinander auf-
haben häufig in ihrem Herkunftsland einen Abschluss erworben,         bauende Maßnahmen zu implementieren, die auch die gesamten
dessen Anerkennung sich in Deutschland schwierig gestaltet. Mit       Lebenszusammenhänge der Mütter mit Migrationshintergrund
dem neuen Anerkennungsgesetz ist ein wichtiger Schritt zur Ver-       einbeziehen.
einfachung der Bewertung ausländischer Berufsqualifikationen
getan. Damit haben sich zugleich die Möglichkeiten verbessert,
das Potenzial der gut qualifizierten Mütter mit Migrationshin-
tergrund zu heben.

Unterstützung ist auf mehreren Ebenen erforderlich. Ein erheb-
licher Unterstützungsbedarf besteht aber weiterhin in der beruf-
lichen Orientierungsphase wie auch bei der Gestaltung von Über-
gängen zwischen einzelnen Orientierungs-, Weiterbildungs-/
Qualifizierungsangeboten und schließlich der Organisation der                                     Dr. Heidrun Czock
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Eine zentrale Herausforde-                        heidrun.czock@prognos.com
rung ist es, die Anschlussfähigkeit der vorhandenen Maßnahmen                                  Hanna Steidle-Glaßer
zur Unterstützung der Erwerbsintegration sicherzustellen. Zu oft                hanna.steidle-glasser@prognos.com

6                                                                                                                     Prognos trendletter 1 / 2013
Trendletter - Mensch im Mittelpunkt 1/2013 - Prognos AG
Schwerpunkt

                                                             Mehr Selbstbestimmung
                                                             in der Eingliederungshilfe
                                                             Das Persönliche Budget für Menschen mit Behinderungen eröffnet die Chance,
                                                             das System der Behindertenhilfe als Ganzes weiterzuentwickeln.

Ü    ber lange Jahre wurden Menschen mit Behinderungen vor
     allem als Hilfsbedürftige betrachtet, deren Versorgung sicher-
zustellen ist. Spätestens seit Einführung des Neunten Buches So-
                                                                                         einträchtigungsarten und in unterschiedlichen Lebenssituationen
                                                                                         setzen ihre Persönlichen Budgets vor allem dafür ein, um flexible
                                                                                         persönliche Unterstützungsleistungen im Alltag zu finanzieren.
zialgesetzbuch (SGB IX) im Jahr 2001 rücken dagegen zunehmend
Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe in den Fokus.                            Vom Versorgten zum Kunden. Allerdings ist der Weg zu einem
Dies bedeutet, dass bei der Gestaltung von Hilfen die Fähigkeiten,                       Budget oft voller Hürden, da diese Leistungsform auf einer völlig
Bedürfnisse und Wünsche der einzelnen Menschen in den Blick zu                           anderen Philosophie als die Bewilligung von Sachleistungen be-
nehmen und individuelle Teilhabeziele anzustreben sind.                                  ruht. Der Anspruch auf ein Persönliches Budget trifft dabei auf
                                                                                         ein System, das noch stark durch ein Denken in Maßnahmen und
Unterstützung individuell denken. Als ein zentrales Instrument                           Leistungspaketen geprägt ist.
zur Stärkung flexibler Unterstützungsformen, Selbstbestimmung                               Menschen mit Behinderungen, die ein Budget beantragen
und Eigenverantwortung wurde Anfang 2008 der Rechtsanspruch                              könnten, fehlt zum Teil das notwendige Wissen über die damit
auf ein Persönliches Budget eingeführt (§ 17 SGB IX). Damit haben                        verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten. Viele fürchten eine Über-
Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit, anstelle der klas-                           forderung (etwa durch den Antrags- und Verwaltungsaufwand),
sischen Sachleistung eine Geldleistung zu erhalten. Mit diesem                           haben Vorbehalte gegenüber Neuem oder ihnen fehlt das Vertrau-
Geld können sie ihren Vorstellungen und Wünschen entsprechend                            en in die eigenen Fähigkeiten. Zudem zeigt die Nutzerbefragung,
Unterstützungsleistungen selbst aussuchen und finanzieren. Als                           dass sowohl im Vorfeld der Antragstellung als auch während der
Orientierung dienen dabei die gemeinsam mit dem Leistungsträger                          Budgetnutzung ein spezifischer Beratungs- und Begleitungsbedarf
in der Zielvereinbarung festgelegten Teilhabeziele.                                      besteht.

Trotz Zuwachs eine Randerscheinung. Die Prognos AG hat im                                Neue Prozesse und Konzepte. Leistungsträger und Leistungsanbie-
Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vali-                             ter haben oft noch wenig Erfahrung und Routine im Umgang mit
de Aussagen zur tatsächlichen Verbreitung Persönlicher Budgets                           dem Persönlichen Budget. Das Budget stellt sie vor die Herausfor-
über alle Leistungsträger hinweg erhoben. Seit Einführung des                            derung, die Bewilligung, Planung und Gestaltung von Unterstüt-
Rechtsanspruchs hat die Zahl der Budgets stark zugenommen.                               zungsleistungen neu zu denken.
Mit rund 14.200 im Jahr 2010 (ohne gesetzliche Krankenversi-                                Für die Leistungsträger stellt sich vor allem die Frage, wie Un-
cherung/GKV) sind die Persönlichen Budgets jedoch gemessen                               terstützungsbedarfe individuell ermittelt und in bedarfsgerechte
am gesamten Leistungsgeschehen noch immer wenig verbreitet.                              Budgets übersetzt werden können. Zudem sind neue Prinzipien der
Zudem gibt es starke Unterschiede je nach Trägerart: Am meisten                          Steuerung und Qualitätssicherung in einem System zu etablieren,
Persönliche Budgets haben bislang die Sozialhilfeträger sowie die                        das sich zunehmend individualisiert und Teilhabeziele in den Vor-
gesetzliche Unfallversicherung (GUV) bewilligt. Bei der Bundes-                          dergrund rückt.
agentur für Arbeit (BA) und der Rentenversicherung (GRV) gibt                               Die Leistungsanbieter stehen vor der Herausforderung, ihre auf
es noch wenige Budgetfälle.                                                              pauschalen Leistungsentgelten beruhenden Gesamtpakete in at-
                                                                                         traktive, auf ihre Kunden zugeschnittene Einzelmodule umzuwan-
Nutzerinnen und Nutzer sind zufrieden. Die meisten Personen, die                         deln. Damit gehen Veränderungen sowohl auf betriebswirtschaft-
ein Persönliches Budget nutzen, sind damit sehr zufrieden und neh-                       licher und organisatorischer als auch auf fachlicher Ebene einher.
men einen deutlichen Zugewinn an Selbstständigkeit und Selbst-
bestimmung wahr. Dies hat die von der Prognos AG durchgeführte                           Individualisierung und Modularisierung. Das Persönliche Budget
Nutzerbefragung ergeben. Menschen mit sehr verschiedenen Be-                             befeuert die Weiterentwicklung des Unterstützungssystems für
                                                                                         Menschen mit Behinderungen im Sinne des SGB IX und der UN-
                                                                                         Behindertenrechtskonvention. Hierauf müssen sich alle Leistungs-
 Anzahl neu bewilligter und laufender Persönlicher Budgets                               träger und -anbieter einstellen – unabhängig von der Leistungs-
 über alle Leistungsträger (ohne GVK), 2008 – 2010                                       form.
           Weitere (Integrationsämter, Jugendhilfe, Land. Sozialv.)                         Die Prognos AG kann Träger und Anbieter der Behindertenhilfe
           GRV     BA*     DGUV     Sozialhilfe                                          bei diesen Veränderungsprozessen fachlich und organisatorisch
 16.000                                                                                  begleiten. Dabei geht es insbesondere darum, in einem moderierten
                                                                14.193
                                                                                         Dialog zwischen Leistungsträgern, -anbietern und -nutzern zu-
 12.000
                                           9.943                                         kunftsweisende Gestaltungs- und Finanzierungskonzepte zu ent-
  8.000
                                                                                         wickeln, sie fachlich und betriebswirtschaftlich zu bewerten und
                      6.243                                                              schließlich die Wirkungen umgesetzter Maßnahmen zu erfassen.
  4.000

       0
                      2008                  2009                 2010
  * Nur neu bewilligte Budgets bei der Bundesagentur für Arbeit (BA).
  Ohne Zahlen der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungen und                                                               Melanie Henkel
  ohne Arbeitsassistenzen der Integrationsämter.                     © Prognos AG 2013
                                                                                                                     melanie.henkel@prognos.com

Prognos trendletter 1 / 2013                                                                                                                                  7
Trendletter - Mensch im Mittelpunkt 1/2013 - Prognos AG
Ausbau der Ganztagsschule: Wer hat
                                               den Nutzen, wer trägt die Kosten?
                                               Ein Vergleich des notwendigen Ressourceneinsatzes und der erwarteten fiska-
                                               lischen Wirkungen ist maßgeblich für eine bessere Planbarkeit des Ganztagsaus-
                                               baus.

G   anztagsschulen sind heute ein fester Bestandteil der deut-
    schen Bildungslandschaft. Der Anteil der Schüler/-innen in
Ganztagsschulen ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Nach
                                                                       • mittel- bis langfristig: eine höhere Bildungsrendite der am
                                                                          Ganztag teilnehmenden Kinder und Jugendlichen,
                                                                       • die Einstellung zusätzlichen Personals für die Ganztagsbe-
Angaben des aktuellen Bildungsberichts belief sich der Ganztags-          treuung.
anteil an allen Schüler/-innen im Jahr 2010 auf 28 % – 2004 be-        Außerdem sinken die Transferleistungen:
trug der Anteil noch 12,5 %. Für einen Ausbau der Ganztagsschu-        • an finanzschwache Familien und insbesondere Frauen, da diese
le werden im Wesentlichen zwei Argumente angeführt: größere               aufgrund der verbesserten Betreuungssituation verstärkt er-
Bildungschancen für Kinder und eine leichtere Vereinbarkeit von           werbstätig sein können,
Familie und Beruf für Eltern.                                          • an Kinder, da sich die Bildungsförderung verbessert und damit
                                                                          zugleich auch die Aussicht auf ein finanziell abgesichertes
Bessere Bildungschancen. Ganztagsschulen bieten durch ihre um-            Leben.
fassende Betreuungsleistung eine wichtige Voraussetzung für die        Die beschriebenen Einnahmeeffekte verteilen sich auf verschiedene
individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen. Dadurch           Körperschaften. So fließen von den Einkommensteuereinnahmen
verbessern sich die Bildungschancen, insbesondere von benachtei-       jeweils 42,5 % an Bund und Länder und 15 % an die Kommunen.
ligten Kindern, was sich auf die späteren beruflichen Möglichkeiten    Die Sozialversicherungseinnahmen verbleiben bei den Sozialversi-
sowie die gesellschaftliche Integration der Kinder positiv auswirken   cherungsträgern. Einspareffekte aufgrund verminderter Transfer-
kann. Erste Evaluationen zu Ganztagsschulen (vgl. StEG, 2010) er-      zahlungen verteilen sich ebenfalls gemäß den Zuständigkeiten auf
gaben, dass positive Effekte bezüglich Motivation, Sozialverhalten     die einzelnen Körperschaften. Im Zusammenhang mit der Wirkung
und Schulerfolg zu erwarten sind, wenn                                 der Ganztagsbetreuung auf die Bildungsrenditen der Kinder und
• die Teilnahme an der Ganztagsschule dauerhaft und regelmäßig         Jugendlichen ist außerdem zu berücksichtigen, dass die Kosten der
   erfolgt und                                                         Beschulung und der Nutzen durch höhere Einkommen auch zeitlich
• die Qualität des Angebots ausreichend hoch ist.                      auseinander fallen.
                                                                          Auf der Ausgabenseite steigen durch den Ausbau der Ganz-
Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Immer mehr          tagsschule die Personal- und Sachkosten. Das Land trägt die Kos-
Eltern möchten Familie und Beruf miteinander vereinbaren. Durch        ten für pädagogisches Personal, bezahlt die Zuschüsse für den
mehr Ganztagsangebote können insbesondere Mütter ihre Erwerbs-         Einsatz, die Koordinierung und Fortbildung außerschulischer
wünsche besser realisieren. Die Erwerbstätigenquote von Müttern        Träger und übernimmt die sonstigen steigenden Schulausgaben.
in Deutschland liegt gegenwärtig bei 65 % (Stand 2010), davon ar-      Die Kommunen stellen die Räumlichkeiten zur Verfügung und
beiten 71 % bis 32 Stunden pro Woche. Sowohl die Erwerbsbeteili-       tragen die laufenden Sachkosten sowie die Verpflegungs- und
gung als auch der Erwerbsumfang stehen in engem Zusammenhang           Verwaltungskosten.
mit dem Alter des jüngsten Kindes. Mit dem Ausbau der Betreuung
für Kinder im Alter von ein bis drei Jahren realisieren viele Mütter   Fiskalische Wirkungen des Ganztagsausbaus in NRW bis 2026. Für
ihre Erwerbswünsche. Mit dem Übergang in die Schule nimmt die          das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) hat die Prognos AG Kosten
Betreuungsintensität der Kinder aber wieder zu und der Erwerbs-        und Nutzen eines Ganztagsausbaus auf Länderebene sowie (bei-
umfang steigt nur noch langsam an. Diese Situation ist sowohl aus      spielhaft) auf kommunaler Ebene berechnet. Ausgehend von einem
Sicht der Mütter, die ihre Erwerbswünsche nicht in vollem Umfang       bestehenden Ganztagsangebot für 31 % der Schüler/-innen im
realisieren (können), als auch der Unternehmen, die qualifizierte      Jahr 2011 wurde ein Szenario berechnet, das einen jahrgangswei-
Fachkräfte suchen, unbefriedigend.                                     sen flächendeckenden Ausbau des Ganztagsangebotes bis zum Jahr
                                                                       2026 annimmt. Das Szenario dokumentiert, was geschieht, wenn
Die Kosten und die Vorteile kommunizieren. Ein quantitativer und       bis zum Jahr 2020 100 % der Schüler/-innen der Primarstufe im
qualitativer Auf- und Ausbau ist mit ökonomischen Vorteilen so-
wohl auf der individuellen als auch der gesamtgesellschaftlichen
Ebene verbunden. Zugleich erfordert er Investitionen und führt zu                Anteil der Schüler/-innen in Ganztagsschulen in NRW –
laufenden Kosten. Die Gegenüberstellung des notwendigen Res-                     Historische Entwicklung und Szenario-Gestaltung
sourceneinsatzes und der erwarteten ökonomischen Vorteile eines                                                    historische Entwicklung   Ausbauszenario       100%
Ganztagsausbaus ist daher maßgeblich für eine bessere Planbarkeit
                                                                        Anteil Schüler/-innen im Ganztag

                                                                                                           100%
und unterstützt die politische Vermittlung der Nutzeneffekte.                                               90%
                                                                                                            80%                               75%
                                                                                                            70%
Kosten und Nutzen eines Ganztagausbaus fallen institutionell und
                                                                                                            60%
zeitlich auseinander. Mit dem Auf- und Ausbau des Ganztags sind                                             50%
                                                                                                                                       50%
Folgewirkungen auf den öffentlichen Haushalt verbunden. Auf der                                             40%
Einnahmeseite sind das zusätzliche Steuereinnahmen sowie Ein-                                               30%             25% 31%
                                                                                                                16% 20%
nahmen aus Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung durch:                                                  20%
• das aufgrund des Ganztagsangebots veränderte Erwerbsverhal-                                               10%
                                                                                                             0%
   ten der Mütter,                                                                                              2004 2006 2008 2010 2014 2016 2018 2020 2022 2024 2026
                                                                                                               Quelle: Bildungsbericht 2012 (Bund), eigene Darstellung                  © Prognos AG 2012

8                                                                                                                                                                        Prognos trendletter 1 / 2013
Trendletter - Mensch im Mittelpunkt 1/2013 - Prognos AG
Schwerpunkt

Ganztag wären sowie bis zum Jahr 2026 auch alle Schüler/-innen                                         Bereits die Investitionskosten unterscheiden sich stark, abhängig
der Sekundarstufe I.                                                                                vom erreichten Stand des Ganztagsausbaus der Kommunen, der
                                                                                                    Entwicklung der Schülerzahlen sowie dem jeweiligen lokalen päda-
Auswirkungen auf Landesebene. Bei dem angenommenen 100 %-                                           gogischen Konzept und Ausstattungsniveau. Sie reichen von rund
Ausbauszenario entstehen im Jahr 2026 zusätzliche Einnahmen                                         1,5 Mio. Euro in Kevelaer für die Schaffung von etwa 600 neuen
in Höhe von 1,3 Mrd. Euro im Vergleich zu 2011. Diese setzen sich                                   Ganztagsplätzen bis zu 110 Mio. Euro in Essen für etwa 24.000 neue
zusammen aus Einnahmeeffekten aufgrund der Aufnahme oder                                            Plätze bis 2026.
Ausweitung der Erwerbstätigkeit von Müttern, durch die Beschäfti-                                      Bei den Modellkommunen liegen die geschätzten zusätzlichen
gung zusätzlichen Personals in den Ganztagsschulen sowie zusätz-                                    jährlichen Einnahmen im Jahr 2026 (Ausbauniveau 100 %) zwi-
lichen Einnahmen durch höhere Bildungsabschlüsse und daraus                                         schen 131.000 Euro (Kevelaer) und 1,8 Mio. Euro (Essen). Den Ein-
resultierenden zukünftigen höheren Einkommen der Kinder und                                         nahmen steht ein zusätzlicher jährlicher Aufwand für den flä-
Jugendlichen, die am Ganztag teilnehmen. Dem Land NRW fließen                                       chendeckenden Ganztagsbetrieb zwischen 640 .000 Euro (Kevelaer)
davon rund 192 Mio. Euro zu, den Kommunen insgesamt 67,9 Mio.                                       und 16 Mio. Euro (Bonn) gegenüber. Ohne Berücksichtigung der
Euro. Der Rest der Einnahmeeffekte verbleibt beim Bund und den                                      Investitionen erhalten die Kommunen in der jährlichen Haushalts-
Sozialversicherungsträgern.                                                                         rechnung für jeden Euro, der für den Ganztag ausgegeben wird, mit
                                                                                                    Erreichen des maximalen Ausbaus im Jahr 2026 zwischen 10 Cent
                                                                                                    (Bonn) und 20 Cent (Kevelaer) zurück. Auf der Nutzenseite kann
  Verteilung der Nutzeneffekte auf Land und Kommunen                                                in den vorliegenden Berechnungen also nur ein Teil der laufenden
  (Ausbaustufe 100 % im Jahr 2026)                                                                  Ausbaukosten durch fiskalische Effekte gegenfinanziert werden.
                   Mütter       Betreuungspersonal     Kinder                                       Allerdings ist hier zu beachten, dass sowohl die Beschäftigungsef-
         1.400                                                                                      fekte eher defensiv kalkuliert (z. B. ohne geschaffene Lehrerstellen
                            1.304
         1.200                                                                                      und unter Einbeziehung eines Dämpfungsfaktors) als auch zum
         1.000                                                                                      Beispiel plausibel erscheinende Einspareffekte an dritter Stelle im
 Mio. Euro

                                                                                                    Haushalt nicht einbezogen wurden.
             800

             600

             400                                                                                       Kosten und Nutzen des Ganztagsausbaus auf Landesebene
             200                                 192                                                   (Ausbaustufe 100 % im Jahr 2026)
                                                                              68                                        Betreuungspersonal      Ausbaukosten    Kosten längere Bildung
               0                                                                                                        Mütter     Kinder
                        Gesamt              davon Land NRW       davon Kommunen NRW
                                                             © Prognos AG 2012, eigene Berechnung                500
                                                                                                                                    192
                                                                                                                   0
                                                                                                     Mio. Euro

   Die Kosten des Landes NRW für Personal sowie für verschiedene                                                 -500
Förderprogramme für den Ganztagausbau belaufen sich bei Errei-                                               -1.000
                                                                                                                                Saldo: -1.797
chen eines flächendeckenden Ganztagangebots im Jahr 2026 auf                                                 -1.500
zusätzlich rund 1,99 Mrd. Euro im Vergleich zu 2011. Darin ent-                                             -2.000
halten sind auch Kosten, die für die längere Beschulung der Kinder                                                                                                    -1.990
                                                                                                            -2.500
als Folge besserer Schulabschlüsse entstehen.                                                                                 Nutzen Land NRW                  Kosten Land NRW
   Der Saldo aus zusätzlichen Einnahmen und Ausgaben beläuft                                                                                                   © Prognos AG 2012, eigene Berechnung

sich im Jahr 2026 auf –1,8 Mrd. Euro. Positive Renditen durch die
angenommenen höheren Bildungsabschlüsse bei Kindern, die am                                         Fazit. Insgesamt ergibt die Studie, dass Kosten und Nutzen für den
Ganztag teilnehmen, ergeben sich erst außerhalb des Betrach-                                        Ausbau des Ganztags ungleich verteilt sind. Während die Kosten
tungszeitraums bis 2026. Kurzfristig entstehen zunächst Einnah-                                     zunächst vorwiegend vom Land und seinen Kommunen getragen
meausfälle sowie direkte Kosten durch längere Beschulungszeiten.                                    werden, profitieren vorrangig der Bund und die Sozialversiche-
Der negative Saldo auf Landesebene ergibt sich primär dadurch,                                      rungsträger von Mehreinnahmen durch Einkommensteuer und So-
dass von den realisierten Einnahmen nur ein Teil dem Land zufließt.                                 zialversicherungsbeiträge. Langfristig übersteigt der Nutzen des
                                                                                                    Ausbaus des Ganztags die Kosten, jedoch reicht der hier gewählte
Ergebnisse für vier Beispielkommunen. Beim Ausbau des Ganz-                                         Betrachtungszeitraum bis 2026 nicht aus, um diese Entwicklung
tags tragen Kommunen eine große Verantwortung. Angesichts der                                       abzubilden. Aus gesellschaftlicher Perspektive birgt der Ausbau
heterogenen Ausgangslage in den Regionen ist zu prüfen, welche                                      eines qualitativ hochwertigen schulischen Ganztagsangebotes je-
Konsequenzen bei einem Ganztagsausbau für die Kommunen ent-                                         doch schon heute die Chance, eine Verbesserung des Bildungsni-
stehen. Anhand von Fallstudien wurden in der Studie Kosten und                                      veaus und der Teilhabechancen von jungen Erwachsenen zu errei-
Nutzen des Ganztagsausbaus für vier Kommunen ermittelt: Berg-                                       chen und damit zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung positiv
kamen, Bonn, Essen und Kevelaer. Die ausgewählten Kommunen                                          beizutragen.
unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Sozialstruktur sowie der be-
reits realisierten Ausbausituation des Ganztags.                                                                         Lisa Krämer
                                                                                                          lisa.kraemer@prognos.com
   Bei den fiskalischen Effekten auf kommunaler Ebene ist zu un-
                                                                                                                      Claudia Münch
terscheiden zwischen einmaligen Investitionskosten, die erforder-                                     claudia.muench@prognos.com
lich sind, um Räume und Infrastruktur für den Ganztagsbetrieb zu                                                    Marcel Hölterhoff
schaffen, sowie den laufenden jährlichen Personal- und Betriebs-                                    marcel.hoelterhoff@prognos.com
kosten. Demgegenüber stehen auf der Einnahmeseite der Haushalte
Investitionskostenzuschüsse, Gebühren und Beiträge im laufenden
                                                                                                       Kosten-Nutzen-Analysen dienen als wirtschaftliche und politische
Betrieb sowie laufende Zuschüsse und fiskalische Effekte durch                                         Entscheidungsgrundlage für die Durchführung von Maßnahmen oder
Beschäftigung und eingesparte Transferzahlungen.                                                       Projekten. Gerne unterstützen wir Sie auch in Ihrem Vorhaben.

Prognos trendletter 1 / 2013                                                                                                                                                                      9
Trendletter - Mensch im Mittelpunkt 1/2013 - Prognos AG
Studienserie Juvenir – Forschung
                                                im Dialog mit der Jugend
                                                Bei der dialogbasierten Jugendstudienserie Juvenir werden die interaktiven
                                                Potenziale der Neuen Medien konsequent eingesetzt. Thema der ersten Studie
                                                war die Nutzung des öffentlichen Raums durch Jugendliche.

D   er Anspruch der von der Prognos AG im Auftrag der Jacobs
    Foundation Zürich konzipierten und durchgeführten Stu-
dienserie Juvenir geht über traditionelle Repräsentativstudien zu
                                                                        Der Dialog mit der Jugend

Jugendlichen in der Schweiz hinaus: Die jeweils gesellschaftlich                                               Identifikation
relevanten Einzelthemen gewidmeten Studien, die über mehrere                                                   der Juvenir-Themen
                                                                                                               Die Jugendlichen selbst stimmen
Jahre sukzessiv erstellt und publiziert werden, sollen sich zuvor-                                             im Rahmen eines Facebook-Votings
derst und unmittelbar an der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen                                               über das jeweilige Juvenir-Thema
orientieren. Auf Grundlage der Ergebnisse soll zugleich der hetero-                                            ab. Zugleich besteht die Möglich-
                                                                                                               keit eigene Themen in das Voting
genen Perspektive der Jugend im gesellschaftlichen Diskurs Gehör                                               einzubringen.
verschafft werden.

Ein innovativer Studienansatz auf Web-2.0-Basis. Um diesem An-          Online-Chat
spruch gerecht zu werden, wurde ein innovatives Studiendesign           Ca. 10 – 15 Jugendliche diskutieren
unter Nutzung der Möglichkeiten des Web 2.0 entwickelt, bei dem         das aktuelle Juvenir Thema und
                                                                        konkretisieren es aus ihrer eigenen
Jugendliche am gesamten Prozess der Studiendurchführung betei-          Perspektive. Die Ergebnisse dienen
ligt werden. Gleichermaßen werden die wissenschaftlichen Stan-          als Grundlage für die Erstellung des
dards einer Repräsentativstudie gewahrt.                                standardisierten Fragebogens.
   Damit sich die Jugendlichen jederzeit möglichst unkompliziert
an der Studie beteiligen können, werden sämtliche Arbeitsschritte
auf jugendspezifischen Plattformen im Internet durchgeführt.                                                   Online-Befragung
                                                                                                               Online-Befragung anhand eines
Bereits die Auswahl und Ausgestaltung der Themen erfolgt im                                                    standardisierten Fragebogens
Rahmen von Online-Chats und Abstimmungen auf Facebook. Die                                                     durch ein professionelles Befra-
Repräsentativerhebung findet ebenfalls online statt. Zur Interpre-                                             gungsinstitut in den drei großen
                                                                                                               Sprachregionen der Schweiz.
tation und Einordnung werden die Befragungsergebnisse wiederum
auf einer eigens eingerichteten Facebook-Plattform zur Diskussion
gestellt, die im Vorfeld gezielt beworben wurde. Darüber hinaus
                                                                        Expertengruppe
greift der in der Schweiz führende Online-Jugendsender joiz.ch die      Die Befragungsergebnisse werden
Ergebnisse in interaktiven Diskussionssendungen auf.                    einem ausgewählten Kreis an
   Dieser Ansatz erwies sich bereits bei der ersten Studie der Juve-    Expertinnen und Experten aus
                                                                        Wissenschaft und Praxis (Experten-
nir-Reihe zum Thema „Nutzung öffentlicher Räume durch Jugend-           gruppe) zur Diskussion gestellt.
liche“, die im vergangenen Oktober veröffentlicht wurde, als sehr
erfolgreich. Durch die konsequente Einbindung von Jugendlichen
von Beginn an fiel die Wahl auf ein Thema, dessen Relevanz in                                                  Veröffentlichung
der Zeit der Studienerstellung stetig zugenommen hat. Im Sommer                                                Im Rahmen des „Juvenir-Dialogs“
2012 verging kaum eine Woche, in der in den Schweizer Medien                                                   wird die Studie öffentlich vorge-
                                                                                                               stellt.
nicht über Konflikte zwischen Jugendlichen und Erwachsenen im
öffentlichen Raum berichtet wurde. Kulminationspunkt war eine
Tanz-Demonstration am 2. Juni 2012 in Bern, bei der über 10.000
Jugendliche einem Aufruf zum Protest für mehr Freiräume gefolgt
waren.                                                                  Online-Diskurs
                                                                        Jugendliche aus der ganzen
                                                                        Schweiz haben die Gelegenheit die
Mit teils unerwarteten Ergebnissen. Dem durch gegenseitige Zu-          Ergebnisse der aktuellen Juvenir-
schreibungen von Jugendlichen und Erwachsenen geprägten öf-             Studie zu bewerten und sich von
fentlichen und politischen Diskurs und der häufig skandalisie-          Mehrheitsmeinungen abzugrenzen.
                                                                        Im Online-Diskurs können alle
renden medialen Berichterstattung konnte mit der Juvenir-Studie         Interessierten ihre Standpunkte
eine differenzierte Facette hinzugefügt werden. Hierbei zahlte sich     austauschen und diskutieren.
wiederum aus, dass die – durchaus selbstkritische – Perspektive
der Jugendlichen berücksichtigt wurde. Die überraschenden Er-
gebnisse zeichnen das Bild einer Schweizer Jugend, für die die                                                 Auswertung des Online-Diskurs
Rücksichtnahme auf andere Nutzergruppen und Platzanwohner ei-                                                  Die Diskussion soll Gemeinsam-
ne Selbstverständlichkeit darstellt; auch sie wollen die öffentlichen                                          keiten, aber auch Unterschiede
                                                                                                               des jeweiligen Juvenir-Themas
Plätze möglichst ohne Konflikte nutzen. Die Jugendlichen sehen                                                 verdeutlichen. Der Online-Diskurs
sich mehrheitlich selbst in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass nicht                                           wird ebenfalls anhand qualitativer
so viel Müll in der Gegend herumliegt und dass die Lärmbelästi-                                                Verfahren ausgewertet und öffent-
                                                                                                               lich gemacht.
gung gering bleibt. Selbst Sicherheitsdienste werden nicht pauschal
                                                                                                                          Quelle: Prognos AG/Feinheit GmbH 2012

10                                                                                                                      Prognos trendletter 1 / 2013
Schwerpunkt

                                                                                                                                           Bildquelle: joiz.ch
Juvenir-Diskussion bei joiz.ch, joiZone Social vom 30. Oktober 2012 und 12. November 2012

abgelehnt, sondern es wird anerkannt, dass sie bei der Einhaltung               Dabei spielen öffentliche Räume für Jugendliche eine wichtige
eines Regelrahmens helfen können.                                            Rolle, insbesondere als Lern- und Erfahrungsräume. Sie dienen als
   Jugendliche in der Schweiz nutzen öffentliche Räume prag-                 Bühne für die Selbstpräsentation, hier werden Selbstwirksamkeit
matisch, um Freunde und Bekannte zu treffen oder rumzuhängen                 und Fremdwahrnehmung getestet. Sie sind Orte, an denen die ty-
und zu beobachten. Das ist kein politisches Statement. Es zeigt              pischen und – aus sozialpsychologischer Sicht – für die Jugendpha-
sich vielmehr, dass sich Jugendliche den öffentlichen Raum ohne              se konstitutiven Entwicklungsaufgaben vollzogen werden können,
rebellische Attitüde aneignen. Auch sie wollen in erster Linie eine          die zugleich die Voraussetzung für gesellschaftliche Partizipation
einvernehmliche Lösung von Konflikten mit Anwohnern – die                    und aktives Mitwirken darstellen. Den Jugendlichen diesen Lern-
allerdings keineswegs die typische Erfahrung bei der Nutzung von             raum zu verweigern, heißt letztlich, das Demokratieverständnis in
öffentlichen Plätzen sind. In dieses Bild passt, dass nur eine Min-          Frage zu stellen.
derheit der Jugendlichen öffentliche Plätze als geeignete Orte für              Gerade die Konfliktlagen oder vielmehr die Prozesse der Kon-
Partys oder Alkohol- und Drogenkonsum betrachtet. Als beliebteste            fliktbeilegung bieten die Möglichkeit die Jugendlichen frühzeitig
Aktivitäten im öffentlichen Raum werden vielmehr – eher unspe-               in den politischen Reproduktionsprozess einer demokratischen Ge-
zifisch – das Miteinander-Zeit-Verbringen und der Austausch mit              sellschaft einzubinden, indem sie gesellschaftliche Partizipations-
Freunden genannt.                                                            rollen übernehmen. Die Nutzung öffentlicher Plätze kann als ein
                                                                             bewusster Schritt der Jugendlichen in die Öffentlichkeit betrachtet
Die Diskussion geht weiter. Die Veröffentlichung der Ergebnisse              werden, der mit dem Wunsch nach Interaktion bzw. Auseinander-
bildet keineswegs den Schlusspunkt der Juvenir-Studien. Sie stellt           setzung mit anderen gesellschaftlichen Gruppen verbunden ist.
vielmehr den Auftakt für einen weiterführenden Dialog mit und                Dieser – keineswegs selbstverständliche – Schritt sollte als gesell-
unter Jugendlichen auf der Juvenir-Facebook-Seite (www.face-                 schaftliche Chance begriffen und genutzt werden.
book.com/juvenir.ch) dar, der in den ersten zwei Monaten nach
Veröffentlichung intensiv betreut wird. Zudem wurden die Studi-              Ausblick. Die Juvenir-Studienserie soll in den kommenden Jahren
energebnisse in mehreren Sendungen des Online-Jugendsenders                  in gleicher Form weitergeführt werden. Aktuell läuft die zweite
joiz.ch vorgestellt und mit Akteuren aus Politik und Zivilgesell-            Juvenir-Studie zum Thema „Sicherheit und Zufriedenheit bei der
schaft diskutiert – ebenfalls unter direkter Beteiligung von Jugend-         Ausbildungswahl“, das im Rahmen der Abstimmung auf Facebook
lichen, die sich über das Internet mit eingeblendeten Kommentaren            favorisiert wurde. Weitere Informationen zu der Studienserie sind
und Fragen in die Gespräche einschalten können.                              unter www.juvenir.ch verfügbar.
   Die konsequente Nutzung jugendspezifischer Medien und Platt-
formen im Internet hat sich hierbei als praktikabler Weg für einen
offenen und reflektierten Austausch erwiesen. Ein solcher Dialog
erhöht nicht nur die Transparenz, er kann gerade bei kontroversen
gesellschaftlichen Themen auch den ersten Schritt zu konstruk-
tiven Lösungen bilden.

Generationsübergreifender Dialog als gesellschaftliche Chance.                                               Michael Steiner
Der Raumnutzung durch Jugendliche, die hergebrachten funkti-                                  michael.steiner@prognos.com
onalen Nutzungsarten widerspricht, begegnen Erwachsene häufig                                                Daniela Müller
mit Vorurteilen und Vorbehalten. Statt bei Konflikten direkt mit                              daniela.mueller@prognos.com
den Jugendlichen zu sprechen, werden oft Polizei oder Sicherheits-
dienste eingeschaltet, die zwar eine Kontrollfunktion ausüben und              Mit unserem Partner, der Agentur FEINHEIT GmbH in Zürich, nutzen wir
gesetzliche Regelungen durchsetzen, aber keinen wirklichen Inte-               die Neuen Medien für den Kunden und die Zielgruppe. Nicht zuletzt durch
ressensausgleich zwischen den Konfliktparteien herstellen können.              unsere Erfahrungen aus der Studienserie Juvenir verfügen wir über fun-
                                                                               diertes Wissen, wie Neue Medien sowohl in der wissenschaftlichen Arbeit
Die gegenseitige Akzeptanz wird auf diesem Weg nur schwerlich                  als auch in der politischen Kommunikation nachhaltig genutzt werden
gestärkt, eher das Gegenteil ist der Fall.                                     können. Gerne stellen wir Ihnen unser Konzept vor.

Prognos trendletter 1 / 2013                                                                                                                              11
Wirtschaftspolitik

                                                 Innovative Finanzierungsinstrumente
                                                 für die Kultur- und Kreativwirtschaft
                                                 Innovative Methoden, Denkmuster, Geschäftsideen prägen die Kultur- und Kreativ-
                                                 wirtschaft. Oftmals hemmt der fehlende Zugang zu Privatkapital die Umsetzung der
                                                 Innovation, daher sind neue Finanzierungsinstrumente gefragt.

D    ank ihrer hohen Problemlösungs-
     kompetenz und starken Innovations-
orientierung ist die Kultur- und Kreativ-
                                                   Zentrale Hemmnisse bei Innovationsvorhaben der Kultur- und Kreativwirtschaft
                                                              Potenzial KKW als Innovationstreiber
wirtschaft Wegbereiter von neuen Pro-                                                                          44,2%                      32,8%
                                                        für Branchen wird zu wenig wahrgenommen
dukten und Dienstleistungen sowie al-                                   Fehlende Förderprogramme
                                                                                                                    50,4%                  24,3%
ternativen Formen der Arbeitsgestaltung.                 für Innovationsvorhaben von Freiberuflern
2010 trug die Kultur- und Kreativwirt-                                    Konzepte/Prozessabläufe
                                                                                                             36,5%                29,7%
                                                              als Geschäftsmodell kaum förderfähig
schaft mit 63,7 Mrd. Euro zur Bruttowert-
schöpfung in Deutschland bei und zählt                                        Arbeitsweise wird als
                                                                                                            32,0%              29,1%
                                                                     zu unorthodox wahrgenommen
neben dem Automobilbau, dem Maschinen-

                                                                                                                                                         © Prognos AG 2012
                                                      Schwieriger Zugang zu privatwirtschaftlichem
bau und der IT-Wirtschaft zu den bedeu-                            Kapital für Innovationsvorhaben
                                                                                                             35,0%              25,1%
tendsten deutschen Wirtschaftsfeldern.             Entwicklungen von Inhalten ohne technologische
                                                                                                            31,9%              28,2%
    Kennzeichen der Querschnittsbranche                        Verfahren gelten als nicht innovativ
sind die Vielzahl an Freiberuflern und                trifft vollkommen zu     trifft eher zu         0%       20%          40%            60%         80%
Kleinstunternehmen sowie ihre Heteroge-
nität: Ihr gehören u. a. darstellende und bil-
dende Künstler, Musiker, Journalisten, aber      sentlichen Gründe, dass sich Banken bei der               Förderbank IFCIC branchenspezifisches
auch Werbefirmen, Designer sowie Herstel-        Kreditvergabe zurückhalten. Daher braucht                 Wissen Externer ein. Teilmarktspezifische
ler von Games und Software an.                   es alternative Finanzierungsformen für die                Expertengremien bewerten hier die Pro-
                                                 Kultur- und Kreativwirtschaft.                            jekte der Kreativen und geben eine Förder-
Innovationstreiber für andere Branchen.                                                                    empfehlung ab.
Aufgrund ihrer starken Innovationsori-           Mikrokredite. In den letzten Jahren eta-
entierung leistet die Kultur- und Kreativ-       blierten sich Mikrokredite (bis 5.000 Euro)               Fazit. Zwar gibt es bereits einige Finan-
wirtschaft einen wichtigen Beitrag zur           als unkomplizierte Finanzierungsart für                   zierungsansätze für Kreativunternehmen,
Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der          Gründer und kleine Unternehmen.                           dennoch besteht weiterhin der Bedarf, dass
Gesamtwirtschaft. Durch enge Koopera-                                                                      sich erfolgreiche Ansätze stärker etablie-
tionen mit Kreativunternehmen steigt die         Crowdfunding. Ebenfalls interessant für                   ren.
Innovationsfähigkeit der Firmen anderer          die Finanzierung kleinerer Projekte und als                  Es gilt, die oftmals vorhandene Aus-
Sektoren, vor allem mit Blick auf neue Pro-      Startfinanzierung ist die Suche nach Mi-                  sichtslosigkeit von Finanzierungsanfragen
duktkonzepte und Geschäftsmodelle.               kroinvestoren durch Crowdfunding. Hier                    der Kreativunternehmen zu beenden, bei
   Eine im Auftrag des Bundesministeri-          werden Unternehmensanteile an eine Viel-                  denen weder für Förderbanken noch für
ums für Wirtschaft und Technologie durch-        zahl von Investoren ausgegeben, um in der                 Geschäftsbanken eine tragfähige Projekt-
geführte Befragung zeigt, dass Kreative          Summe die notwendige Finanzierung zu                      und Finanzierungsbewertung möglich ist.
zugleich Vorreiter im Einsatz neuer Tech-        erzielen. Mittels sozialer Medien im Inter-               Dabei ist es zentral, dass sich Banken für
nologien und Prozesse sind: Sie übertragen       net werden in kurzer Zeit viele potenzielle               neue Bewertungsansätze öffnen.
beispielsweise künstlerisch-kreative An-         Geldgeber erreicht und zugleich im Netz ei-                  Zudem ist die Politik gefordert, eigene
sätze auf wirtschaftsnahe Dienstleistungen,      ne eigene Unterstützergemeinde aufgebaut.                 Programme aufzulegen, um bisher unge-
entwickeln neue Bezahlmodelle und führen         Der führende Crowdfunding-Anbieter in                     nutzte Wertschöpfungspotenziale zu he-
interaktive Formen der Kunden-Nutzer-            Deutschland, Seedmatch, hat bereits über                  ben. Die Stadt Berlin zeigt mit dem er-
Kommunikation ein.                               3 Mio. Euro Startkapital eingesammelt und                 folgreichen Kreativwirtschaftsfonds, wie
                                                 so die Finanzierung für rund 30 Kreativun-                ein zielgruppengerechtes und attraktives
Eingeschränkter Zugang zu Fremd- und             ternehmen erreicht.                                       Finanzierungsinstrument auf Landesebene
Risikokapital. Trotz dieser wichtigen Rolle                                                                aussehen kann.
für die Gesamtwirtschaft wurde in der Be-        Venture Capital und Bankbürgschaften.
fragung deutlich, dass für viele Kultur- und     Ein weiterer Weg zur Eigenkapitalfinan-
Kreativunternehmen der Zugang zu privat-         zierung führt über Venture-Capital-(VC)
wirtschaftlichem Kapital zur Realisierung        Geber. Hier existieren verschiedene öffent-
ihrer Innovationsvorhaben schwierig ist. Ei-     lich geförderte VC-Fonds (z. B. in Berlin und
nerseits fehlt es ihnen an Anlagevermögen        NRW). Sie teilen sich meist das Verlustrisi-                                               Kathleen Freitag
und Eigenkapital, andererseits ist es für Ka-    ko mit privaten VC-Gebern. VC ist vor allem                                 kathleen.freitag@prognos.com
pitalgeber vielfach schwierig, die Produkte      für Kreativunternehmen mit hohem Wachs-                                                     Florian Knetsch
und Dienstleistungen der Kreativen adäquat       tumspotenzial interessant und wird oft von                                   florian.knetsch@prognos.com
zu bewerten. Neuartige Geschäftsmodelle,         Unternehmen der Digitalwirtschaft genutzt.
ein hoher Anteil an immateriellen Gütern            Bei der Entscheidung zur Gewährung                      Die Studie „Die Kultur- und Kreativwirtschaft
                                                                                                            in der gesamtwirtschaftlichen Wertschöp-
und ein geringer Standardisierungsgrad der       einer Bankbürgschaft für Projekte von Kre-                 fungskette“ finden Sie unter:
Produkte und Dienstleistungen sind die we-       ativunternehmen bindet die französische                    www.prognos.com/kreativwirtschaft

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