Vergessene Vulnerabilität - Anthropologie der Verletzbarkeit

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Vergessene Vulnerabilität - Anthropologie der Verletzbarkeit
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Konrad Bundschuh

Vergessene Vulnerabilität
– Anthropologie der Verletzbarkeit

Die Coronapandemie rückt die Frage der Verletzbarkeit   nicht oder nicht mehr wahrnehmen wollten, gerade-
des Menschen in den Vordergrund täglichen Denkens,      zu verdrängten. Wir leben in einer Zeit der qualita-
Fühlens und Handelns. Ständig werden wir sowohl         tiven und quantitativen „Optimierungssucht“. In den
durch die Medien als auch durch persönliche Begeg-      Schlagworten „höher, schneller, weiter, besser“, drückt
nungen, durch digitale und sonstige Kommunikation       sich dies aus. Dabei gehen wir zweifellos mit einer ge-
mit dieser Problematik tangiert. Hatten wir auch im     wissen Wahrscheinlichkeit der Situation des Behindert
Zusammenhang mit einem Perfektions- und Mach-           Seins mit zunehmendem Alter entgegen. „Normalbio-
barkeitsdenken sowie einer häufig vorherrschenden       graphie“ kann sich auch angesichts der Coronapande-
Optimierungssucht Vulnerabilität verdrängt?             mie schnell aufgrund von Erfahrungen, Informationen
Vom pränatalen Stadium bis zum Tod erweist sich der     und eigener Betroffenheit in eine „Bruchbiographie“
Mensch als in unkalkulierbarem Maße bedroht, phy-       wandeln. Manchmal leben wir in der Gegenwart mit
sisch, mental und psychisch verletzbar. Das Streben     dem Gefühl, uns in einer Art „Drahtseilbiographie“ zu
des Menschen zielt zwar in immer stärkerem Maße         bewegen. Dies alles belastet uns Menschen. Wie ge-
nach Sicherheit, Strukturierung und auch Berechen-      hen wir damit um?
barkeit etwa in den Bereichen Gesundheit, Finanzen,     Etwa 35 % aller Menschen über 65 Jahren gelten als
Wohnen, Politik, Frieden, gleichzeitig werden aber      mittel bis schwer behindert, bedürfen permanenter
Unsicherheiten, Ängste bis zur Verzweiflung gerade in   Unterstützung, ja teilweise der Pflege.
der heutigen Zeit transparent wie selten zuvor.         Sowohl aus der Situation von einer Behinderung be-
Obgleich wir die Probleme an sich „im Griff“ zu ha-     troffener Kinder, Jugendlicher und Erwachsener als
ben scheinen, erweisen sich sowohl Fragen zu Aids,      auch aus der Erkenntnis der Vulnerabilität während
zu Krankheiten wie Krebs, Kreislauf- und Herzinsuffi-   der gesamten Lebensspanne betrachtet, bedarf die
zienzen, ja zu bestimmten Formen von Grippeerkran-      Problematik Krankheit und Bedroht-Sein von einer
kungen, Corona, die Beschäftigungssituation der Men-    Krankheit einer neuen Reflexion, Betrachtung und
schen, Armut, Ernährung der Weltbevölkerung, Orkane,    Bewertung.
Hochwasserkatastrophen bis hin zu den Finanzmärk-       Jeder Mensch ist in jeder Sekunde seines Lebens von
ten als auch die Fragen nach der Zukunft nicht nur      Krankheit, Behinderung, ja vom Tode bedroht. Erst
herausfordernd, sondern geradezu als bedrohlich. Im     recht wissen wir noch viel zu wenig über das wirkliche
Zusammenhang mit Vermehrung und Ernährung der           Leben, über die Lebenswirklichkeit und Lebensquali-
Weltbevölkerung, Weltproblemen, Umweltverschmut-        tät von Menschen mit einer – schweren – Erkrankung
zung, Bildungs- und Erziehungsfragen, Behinderun-       oder Behinderung, über deren subjektives Empfinden,
gen, Globalisierung, Atomindustrie und atomarer Be-     über ihre wirklichen geistigen, emotionalen und sozi-
waffnung fühlen wir uns fast schon ohnmächtig.          alen Prozesse, über die Art und Weise, wie sie ihr ei-
Das Streben nach Sicherheit und Funktionieren ist in    genes Leben empfinden, wahrnehmen und meistern.
der Vergangenheit so dominant geworden, dass die        Erst jetzt beginnen WissenschaftlerInnen mehr oder
meisten Menschen Vulnerabilität menschlichen Seins      weniger systematisch mit der Erforschung der subjek-
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tiven Befindlichkeit von Krankheit und Behinderung       Wegen, wenn Erziehungs- und Lernprozesse nicht in
betroffener Menschen.                                    Gang kommen, ins Stocken geraten oder vorzeitig ab-
Wir Menschen existieren und als solche sind wir viel-    brechen (vgl. Bundschuh 2010, 19–32).
seitig, ja in unkalkulierbarer Weise in mehr oder we-    Es geht primär um eine – neue – heilpädagogische
niger hohem Maße im körperlichen, geistigen, emo-        Sinnorientierung (Palfi-Springer 2019) von Kindern
tionalen und auch sozialen Bereich verletzbar oder       und Jugendlichen, die in vor-, außer- und nachschu-
vulnerabel. Diese Erkenntnis dürfen wir nicht aus        lischen Handlungsfeldern aufgrund von Behinderung,
unserem Bewusstsein verdrängen, vielmehr sollte sie      Erziehungsfehlern sowie institutionellem Zwang und
auch in den Wissenschaftsbereichen Medizin, Psycho-      Druck in eine Problemsituation geraten sind.
logie, Anthropologie, Theologie, Heilpädagogik etc.      Unter Berücksichtigung der Bedeutung und der Ge-
eine größere Rolle spielen.                              schichte des Begriffs Heilpädagogik geht es um ein
Im Zusammenhang mit Corona gibt es Anzeichen da-         behutsames erzieherisches Beeinflussen des Kindes
für, dass Vulnerabilität auch zu einem neuen Verste-     in seiner somatopsychischen Ganzheit mit all seinen
hen von Menschen führen, Impulse zu mehr Hilfsbe-        Schwierigkeiten auf der Basis guter zwischenmensch-
reitschaft, sozialer Fürsorge, gegenseitiger Achtung,    licher Beziehungen. Das Anbahnen, Entwickeln und
Respektierung des Soseins anderer, Achtung der           Vertiefen des erzieherischen Verhältnisses und sei-
Menschenwürde, speziell auch zu einem neuen Ver-         ne Realisierung in der dialogisch-helfenden Bezie-
stehen von Menschen mit einer Krankheit und einer        hungsgestaltung wird bedeutsam (vgl. Kobi 2010). Im
Behinderung freisetzen kann, weil wir uns über un-       Kontext Heilpädagogik handelt es sich um eine ver-
ser Bewusstsein, d. h. gedanklich in der heutigen Zeit   stehende Haltung und Erziehung, die auf der Basis
doch stärker mit dem Phänomen Vulnerabilität aus-        von Fachkompetenz etwas Zusätzliches in qualitativer,
einandersetzen und auch als möglichen Bestandteil,       teilweise auch in quantitativer Hinsicht bedeuten.
als wahrscheinliche Situation unseres eigenen Lebens     Darüber hinaus zeichnet Heilpädagogen und Heilpäd-
betrachten müssen. Vulnerabilität gehört im Zusam-       agoginnen eine innere Haltung aus, die das Tun und
menhang mit der Erkenntnis der Verletzbarkeit des        Denken trägt, gerade dann, wenn sich nicht gleich
Menschen und der prinzipiellen Bedrohung zu einem        Lösungen finden oder Erfolge einstellen. Der Begriff
immanenten Bestandteil unseres Lebens. Dies mag          Heilpädagogik wird hier auch verwendet im Sinne von
zunächst zur existentiellen Verunsicherung führen,       ,,kinderorientierter Pädagogik”. Dazu gehört ein Men-
kommt aber der Wahrheit näher als das Denken in          schenbild, das jedes Kind in seiner Eigenart und Ein-
vermeintlichen Sicherheiten, wie sie die Werbung und     zigartigkeit akzeptiert, achtet und ernst nimmt, eine
der Perfektionsgedanke suggerieren. In diesem Kon-       pädagogisch-philosophische Orientierung, die, aus-
text ist Leben im Sinne von Hineinfinden in die eigene   gehend von den jeweils individuellen Möglichkeiten
Menschlichkeit und des Erlebens und Erfahrens von        sowie konkreten Lebensbedingungen des Kindes, vor
Grenzen, die freilich auch teilweise überwunden und      allem auch die ureigenen Möglichkeiten wie Emotio-
erweitert werden können, notwendig.                      nen, Ressourcen, Kompetenzen unterstützt sowie för-
Das Heil im Hedonismus und auch im Pluralismus zu        dert und nicht – nur – Anpassungsverhalten. Es geht
suchen, wäre fatal und gefährlich. Dies könnte alles     dabei keinesfalls um die Erziehung nach einem Men-
und nichts bedeuten, also brauchen wir neue Zielvor-     schenbild, wie es z. B. Religionen, staatliche Systeme,
stellungen darüber, wie wir als mögliche und tatsäch-    vielleicht auch manche LehrerInnen an Gymnasien
lich Betroffene mit der Vorstellung und Erfahrung von    vermitteln. Es gibt für die Einzigartigkeit eines Kin-
Krankheiten sowie Behinderungen und Bedrohungen          des kein Vorbild oder gar Muster. Eine Erzieherin bzw.
an sich umgehen, vielleicht auch diese Situationen       ein Erzieher, die/der ein Kind nach einem bestimm-
und Wahrnehmungen erträglicher machen. Vor allem         ten Menschenbild erzieht, missbraucht an sich ihre/
Menschen im Krankheitszustand, aber auch die Ge-         seine „Vollmacht“ zu erziehen (vgl. Möckel 2019, 101).
sunden dürfen wir nicht ausschließen und wegsper-        Urs Haeberlin hebt die „Gefahren von nicht-bewuss-
ren bzw. fast schon total isolieren, vielmehr müssen     ten Menschenbildern“ (1994, 18ff.) hervor und skizziert
wir ihnen auch durch Verstehen, Kommunikation und        diese anhand von Beispielen im Kontext „Alltagsthe-
Handeln die Gewissheit geben, dass sie nicht verges-     orien“.
sen werden. Wir müssen psychisches und physisches        Kein Zweifel, wir machen uns ein Bild von Menschen
Unwohlsein, Ängste und Probleme von Menschen sehr        und von Menschengruppen, aber wir müssen uns
ernst nehmen.                                            immer wieder die Frage stellen, welches allgemeine
                                                         Menschenbild habe ich und welches Bild von diesem
Heilpädagogik als dialogisch-helfende                    oder jenem Kind mit Lern- und Verhaltensproblemen.
Beziehungsgestaltung                                     Ein Menschenbild bildet auch die Grundlage unseres
                                                         Tuns und Erkennens, aber wir müssen sehen, dass
Im Mittelpunkt der Geschichte der Heilpädagogik          im Alltag ein Bild von einem Kind mit einer Behinde-
stehen Scheitern und Neuanfang in der Erziehung.         rung, einer Lernproblematik, ein Kind, das vielleicht
Heilpädagogik begibt sich auf die Suche nach neuen       unter behindernden sozialen und materialen Bedin-
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gungen aufgewachsen ist und von seinen LehrerInnen         emotionaler und motorischer Art – trotz möglicher
als „lerngestört“ oder „verhaltensgestört“ bezeichnet      Behinderungen und behindernder Bedingungen – in
wird, viele Aspekte von Vorurteilen aufweisen kann.        den Vordergrund der Wahrnehmung eines/einer Kli-
Auch die im Arbeitsfeld Heilpädagogik tätigen Perso-       enten/Klientin zu stellen.
nen unterliegen der Gefahr, dass sie durch Theorien        Welche Assoziationen sind mit dem Begriff Verstehen
oder durch Meinungen anderer Personen, etwa eine           verbunden? Die moderne, rational orientierte Wissen-
rein traditionell medizinische Sichtweise (vgl. Bund-      schaft lehnt häufig mit scheinbar einsichtigen Begrün-
schuh 2019a, 47–51), auch durch Geschriebenes wie z.       den unsichere Begriffe wie beispielsweise ‚pädagogi-
B. Schülerakte und Gutachten, zu Meinungen kom-            scher Bezug‘, ‚heilpädagogische Beziehung‘ und auch
men, die anthropologisch betrachtet nicht haltbar          ‚Verstehen‘ ab. Mit Wahrnehmen und dem Versuch, zu
sind. Ein kritisches und gut reflektiertes, gleichzeitig   verstehen, entwickelt sich allmählich ein Bild vom Ge-
offenes Menschenbild ist notwendig.                        genüber, vom Du (Buber 2006). Einen Menschen ver-
                                                           stehen heißt, seinen bisherigen Weg gedanklich und
Wahrnehmen, Verstehen und Handeln                          empathisch nachvollziehen und ihn in seinem So-Sein
                                                           annehmen – ihn also in seinem Werden und in den
Heilpädagogik steht gleichermaßen im Dienste der           Bedingungen des Werdens verstehen (vgl. Bundschuh
Kinder und Eltern, die im Rahmen von Erziehung und         2008, 71ff., 2010, 126–130). Es geht auch um eine Ein-
auch Unterricht traditioneller Art in eine Problemsi-      stellung, die das Verhalten des Anderen und sein So-
tuation geraten sind. Es geht der Heilpädagogik vor        Sein achtet und akzeptiert, die unter Beachtung seiner
allem um ein Wahrnehmen und Verstehen dieser Pro-          Subjektivität versucht, ihn immer besser und vertiefter
blemsituation und um adäquates Handeln. Reichtum           zu verstehen. Die sich dabei aufbauende Intersubjek-
einerseits und alarmierende Zahlen über die Zunah-         tivität impliziert, dass Heilpädagogen und Heilpäda-
me realer Armutserfahrungen von Kindern, Jugendli-         goginnen die Welt des Anderen in seiner individuellen
chen, alleinerziehenden Müttern und ausländischen          Lebenssituation begreifen oder zumindest bereit sind,
Familien andererseits – gesellschaftliche Ausgrenzun-      in einen Prozess des Verstehenwollens und –lernens
gen, der Kampf um elementare Menschenrechte und            einzutreten. Vom Anderen her gesehen erweist sich
Kontroversen hinsichtlich der Würde des Menschen –,        jede Handlung, jede Art von Verhalten als sinn-voll.
diese beispielhaften Veränderungen und Differenzen         Insofern heißt Verstehen auch Achtung vor der Uner-
bilden einen wichtigen Ausgangspunkt des Nachden-          schließbarkeit und Unverfügbarkeit des Anderen (vgl.
kens über Lebensbedingungen von Kindern und Ju-            Bundschuh 2019a, 91-96). Heilpädagogisches Denken
gendlichen mit Behinderung, Lernstörungen und Ver-         erfordert Flexibilität, Offenheit und Offensein für alle
haltensproblemen, die häufig auch zusätzlich unter         Möglichkeiten einer Lebensgeschichte, bereit sein, den
behindernden Bedingungen leben. Diese komplexen            von uns persönlich bevorzugten Standpunkt in Frage
Herausforderungen generieren die Impulse zukünfti-         zu stellen. Für Heilpädagoginnen und -pädagogen ist
ger heilpädagogischer Theorie- und Praxisentwicklun-       dieses „Auf-dem-Wege-Sein“ (Moor 1974) wichtiger
gen.                                                       als das Wissen um das Ziel. Es lässt sich fast ein trivia-
Einerseits bedeutet Wahrnehmen die Aufmerksamkeit          les, allgemeines Ziel ableiten: die besondere Situation
auf das So-Sein eines Menschen zu richten, ihn zu be-      eines Klienten/einer Klientin in einer Problemsituation
achten, sein Leben in seiner speziellen Situation zu       fordert immer wieder aufs Neue zum Handeln auf.
betrachten und zu analysieren, seine Lebenssituation       Eine Handlung ist eine Einheit, bestehend aus ei-
mit Blick auf Verstehen und Unterstützen zu reflektie-     ner äußeren manifesten Aktivität und einem inneren
ren.                                                       kognitiv-emotionalen Anteil. Handeln ist oft soziales
Andererseits steht der Begriff ‚Wahrnehmung‘ für die       Handeln, insofern spielt der soziokulturelle Kontext
Aktivitäten des Gehirns. Wahrnehmen ist ein Prozess,       eine wichtige Rolle. Der Heilpädagogik geht es um
durch den sich der Mensch in Form von Informations-        Handeln und um die Handlungsfähigkeit im Rahmen
aufnahme über die Sinnesorgane und Reizverarbei-           emotionaler, sozialer und geistiger Entwicklungen
tung im Gehirn Welt konstruiert und aneignet, wo-          im Kontext ganzheitlicher Prozesse des Kindes und
bei die eigene Aktivität der wahrnehmenden Person          Jugendlichen, vor allem um Erweiterung der Hand-
im Vordergrund dieses Vorganges steht (Bundschuh           lungsfähigkeit, Lebensgestaltung, Lebensqualität und
2019b, 308–313). Das Informationsmaterial wird dabei       Autonomie. Der Mensch entwickelt und gestaltet sei-
so verarbeitet, dass für das Individuum auf der Basis      ne Persönlichkeit in der erlebenden und handelnden
emotionaler Prozesse immer wieder neu Bedeutung            Begegnung mit der konkreten, in bestimmter Weise
entsteht (ebd. 2003, 111ff., 147–152).                     strukturierten und sich dynamisch verändernden Welt,
Wahrnehmung bildet somit die Grundlage für die Be-         die wir als Alltagswirklichkeit bezeichnen. In diesem
gegnung mit der Person- und Sachumwelt sowie dem           prozesshaften Geschehen liegt die Herausforderung
eigenen Selbst auf der Basis nahezu ständiger Bewer-       der Heilpädagogik. Sie trägt eine große Verantwortung
tungen. Neuwahrnehmung heißt hier Möglichkeiten,           und spielt eine wichtige Rolle im Rahmen der Bildung,
Fähigkeiten und Kompetenzen kognitiver, sozialer,          Ausbildung sowie Sinnfindung von Kindern und Ju-
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gendlichen. Die sozialen und anregenden, aber auch          welt ergibt sich nicht aus der bloßen Abbildung der
die objektiven und physikalischen Gegebenheiten be-         Umwelt, sondern sie muss erst vom Gehirn konstruiert
sitzen vor allem in ihrer subjektiven Bedeutung für die     werden. Jede Sekunde unseres Lebens impliziert die
handelnde Person hohe Relevanz. Es ist eine große           Möglichkeit einer Veränderung und eines Neuanfangs,
Herausforderung für die Heilpädagogik, die häufig be-       d. h. wir werden die Vulnerabilität menschlichen Seins
stehende Kluft zwischen Wahrnehmen, Verstehen und           nicht besiegen, aber wir können lernen, besser und
Handeln im Sinne der ihr anvertrauten Personen zu           ehrlicher damit umzugehen. Dabei dürfen wir auch
schließen, zumindest zu verringern.                         die Hoffnung auf eine Geborgenheit spendende und
                                                            verstehende Gesellschaft bzw. Gemeinschaft – auch
Heilpädagogik im Dienste                                    außerhalb der Heilpädagogik – nicht aufgeben. Es
von Kindern und Eltern                                      ist wichtig, dass es bei aller Unberechenbarkeit un-
                                                            serer Zeit noch einige, besser viele Haltepunkte gibt,
Gerade die Heilpädagogik muss Unwohlsein, insbe-            die wir als „sicher“, „wahr“, „echt“ und „natürlich“
sondere Ängste und Probleme von Kindern und Ju-             – im Gegensatz zu fassadenhaft und äußerlich – be-
gendlichen in der heutigen Zeit wahrnehmen und              zeichnen können. Ich denke, hoffe und wünsche, dass
sehr ernst nehmen. Die entscheidenden Erkenntnisse          wir Menschen es uns „leisten“ können, echt zu sein.
der Pädagogik und vor allem der Heilpädagogik sind          Denken und Handeln bilden auf der Basis eines wer-
aus Krisen der Systeme, speziell des Schulsystems und       torientierten Menschenbildes die Grundlage für posi-
mancher Heime im Hinblick auf Nichtbeachtung und            tive Entwicklungen und für eine gute Lebensqualität.
Vernachlässigung der Probleme betroffenen Kinder            Vulnerabilität, Krisen und Scheitern geben aus heilpä-
und deren Eltern, hervorgegangen.                           dagogischer Sicht und aus der Analyse behindernder
Krisen können auch zu entscheidenden Neuorientie-           Bedingungen Impulse zu einem neuen Wahrnehmen,
rungen führen. Gerade in der Gegenwart erweisen             Verstehen und Handeln.
sich Frühe Hilfen, d. h. Erkennen und Diagnose von
– häufig system- und umfeldbedingten – Problemen
und prophylaktische Aufarbeitung durch Gespräche als         Konrad Bundschuh
dringend notwendig.                                          Konrad Bundschuh, Univ.-Prof. em. Ordinarius Dr.
Die häufig so gepriesene pluralistische Gesellschaft         phil. habil.,
geht einher mit den Erscheinungen Hedonismus, Wer-           Diplom-Psychologe, Allgemeinpädagoge und Son-
teverfall sowie Bindungslosigkeit und impliziert für die     derpädagoge
soziale und emotionale sowie für die geistige Entwick-       Ludwig-Maximilians-Universität München
lung vor allem von Kindern und Jugendlichen, aber            Fakultät für Psychologie und Pädagogik,
auch von Erwachsenen, leider auch Bedrohungen und            Lehrstuhl für Verhaltensgestörten- und Geistigbe-
Verletzungen unbekannten Ausmaßes. Insofern müs-             hindertenpädagogik.
sen Grundfragen im Hinblick auf diese Herausforde-           Kontakt: k.u.p.bundschuh@t-online.de
rungen und Verletzbarkeiten der Gegenwart und Zu-
kunft neu aufgegriffen, reflektiert und beantwortet
werden. Dies geschieht auch durch Neuorientierung           Literatur
hin zu einer verstehenden Einstellung und Haltung
Menschen gegenüber, die zu einer besseren Lebens-           Buber, M. (2006): Das dialogische Prinzip (10. Aufl.).
bewältigung und damit mehr Lebensqualität führen            Heidelberg: Schneider.
kann.                                                       Bundschuh, K. (2000): Wahrnehmen – Verstehen –
Die Aufgabe der Zukunft liegt auch darin, die Komple-       Handeln. Perspektiven für die Sonder- und Heilpäd-
xität und Vielfalt der Möglichkeiten und Reize unserer      agogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Zeit auf ein für alle und für jeden einzelnen Menschen      Bundschuh, K. (2003): Emotionalität, Lernen und Ver-
verträgliches und erträgliches Maß zu reduzieren.           halten. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Manchmal kann weniger mehr sein!                            Bundschuh, K. (2008): Heilpädagogische Psychologie
                                                            (4. Aufl.). München: Reinhardt.
Ziele könnten darin liegen, unsere Möglichkeiten in         Bundschuh, K. (2010): Allgemeine Heilpädagogik.
Richtung Gesundheit, Bewahrung und Neuwahrneh-              Stuttgart: Kohlhammer.
mung der Natur, gegenseitigem Verstehen und Res-            Bundschuh, K. (2019a): Förderdiagnostik konkret.
pektieren zu erweitern, Neugierde und Freude selbst         Theorie und Praxis für die Förderschwerpunkte Ler-
wieder und neu wahrzunehmen bzw. zu entdecken,              nen, geistige, soziale und emotionale Entwicklung (2.
mehr auf die Pflege von Emotionen zu achten und Per-        Aufl.). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
spektiven zu entwickeln. Vertreter des Konstruktivis-       Bundschuh, K./Winkler, C. (2019b): Einführung in die
mus gehen davon aus, dass jeder Mensch ein autopoi-         sonderpädagogische Diagnostik (9. Aufl.). München:
etisches selbstreferentielles System, also – absoluter      Reinhardt.
– Gestalter seiner Welt sei. Die Vielfalt der Erfahrungs-
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Haeberlin, U. (1994): Das Menschenbild für die Heilpä-
dagogik. Haupt, 3. Aufl.
Kobi, E. E. (2003): Diagnostik in der heilpädagogischen
Arbeit (5. vollst. überarb. Edition). Luzern: Verlag der
Schweizerischen Zentralstelle für Sonderpädagogik.
Kobi, E. E. (2010): Personale Heilpädagogik. Kulturan-
thropologische Perspektiven. Berlin: BHP Verlag.
Möckel, A. (2019): Das Paradigma der Heilpädagogik.
Würzburg: Bentheim.
Moor, P. (1974): Heilpädagogik. Ein Pädagogisches
Lehrbuch (3. Aufl.). Bern: Huber.
Palfi-Springer, Sandra (2019): Paul Moor – Impulsge-
ber einer Sinnorientierten Heilpädagogik. Berlin: BHP
Verlag.
Prof. Dr. phil. habil. Konrad Bundschuh
Allgemein- und Sonderpädagoge; Dipl.-Psych.
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