Weitersehen 2014 Jahrbuch des DBSV Leben mit Sehverlust - Krise und Chance

 
WEITER LESEN
Weitersehen 2014 Jahrbuch des DBSV Leben mit Sehverlust - Krise und Chance
Weitersehen 2014

Jahrbuch des DBSV
Leben mit Sehverlust –
Krise und Chance
Weitersehen 2014 Jahrbuch des DBSV Leben mit Sehverlust - Krise und Chance
Weitersehen 2014 Jahrbuch des DBSV Leben mit Sehverlust - Krise und Chance
editorial

Leben mit Sehverlust –
krise und chance
 Neugeborene erblicken im wahrsten           Umgang mit der Angst vor dem
 Sinne des Wortes „das Licht der             Erblinden. In anderen Beiträgen
 Welt“. Sie lernen, Farben und Bilder        lesen wir von den Perspektiven, den
 zu erkennen und sich in der Umwelt          vielen verschiedenen Möglichkeiten,
 visuell zu orientieren. Was aber ist,       sich aufzurichten und neue Wege
 wenn das Sehen nachlässt oder               zu gehen. Oder – wie Eckhard
 gar der Verlust droht? Ich weiß,            Seltmann – alte Wege neu zu be­
 was das bedeutet. Der über Jahre            schreiten. Er hat nach der Erblindung
 schleichende Sehverlust hat mich            die Liebe zum Zeichnen wieder
 oft vor neue Herausforderungen              entdeckt. Und Susanne Siems
 gestellt und mir auch Grenzen               beschreibt aus ihrer Berufserfahrung,
 gesetzt. Mit Zuversicht und Optimis­        was Sehverlust für eine Bibliothe­
 mus habe ich Hürden überwunden              karin bedeutet. Wir lernen auch
 und einen Spruch aus der Kindheit           die 78­jährige Irma Fulte kennen,
 zum Lebensmotto gemacht:                    die seit 10 Jahren an AMD erkrankt
„Leben ist Kampf, sieh zu, dass du           ist und nach wie vor ihrer kämpfe­
 Sieger bleibst!“ Rückhalt und Unter­        rischen Lebenseinstellung folgt.
 stützung geben mir meine Familie,
 Freunde und Kollegen. Durch den             Ich wünsche Ihnen abwechslungs­
 persönlichen Gedankenaustausch              reiche Unterhaltung und vielleicht
 mit blinden Menschen fand ich               auch eine neue Sicht auf das Thema
 Zugang zur Blindenselbsthilfe,              Sehverlust. Wenn Sie das Jahrbuch
 erlernte die Blindenschrift und             ausgelesen haben, dann geben
 die Technik des Langstockes. Beides         Sie es bitte weiter! Denn je mehr
 hat mir das Tor zu Informationen            Menschen sich informieren, desto
 und Mobilität wieder weit geöffnet.         einfacher lassen sich Veränderungen
                                             erreichen. Ganz sicher wird das
Das Jahrbuch 2014 widmet sich                Jahrbuch Ihr Bewusstsein für einen
in persönlichen Beiträgen den vielen         nächsten Kontakt mit sehbehinder­
Chancen, die sich aus einer Krise            ten Menschen schärfen.
eröffnen können. Menschen berich­
ten vom Verlust des Sehens und
dem Abschied von liebgewonnenen              Ihre Renate Reymann
Dingen. Karin Klasen schildert ihren         Präsidentin des DBSV

                                         1
Weitersehen 2014 Jahrbuch des DBSV Leben mit Sehverlust - Krise und Chance
inhalt

             14

                  32

             56

                  66

             86
         2
Weitersehen 2014 Jahrbuch des DBSV Leben mit Sehverlust - Krise und Chance
DBSV Weitersehen 2014

Seite 4                                   Seite 60
Grußwort von Prof. Frank G. Holz         „Jeder Mensch ist ein Instrument,
                                          eine Stimme …“
Seite 6                                   Interview mit Giora Feidmann
Sehverlust und seine
möglichen Ursachen – Augen­              Seite 62
erkrankungen im Überblick                Irma Fulte: „Ich kann,
                                         was ich muss, weil ich will“
Seite 14
Offen mit der Erblindung umgehen!         Seite 66
Interview mit Gisela Hirschberger         Susanne Siems:
                                         „Ich kann das nicht lesen …“
Seite 20
Striche ins Nichts                       Seite 70
                                         See bad feel good
Seite 26
Wie wahr ist Ihre Wahrnehmung?           Seite 73
                                         Weiterlesen!
Seite 32                                 Buchtipps der Redaktion
Tastgewinn
                                         Seite 74
Seite 36                                 Mädchen mit rotem Barett
Von der Jannowitzbrücke zur
Weidendammer Brücke                      Seite 77
                                         Der Geschmack von Blau
Seite 43
Dominik Lehnen: „Was mir eher             Seite 82
zu schaffen machte, war die Trauer       „Warum soll ein blinder Mensch
der anderen“                              nicht reisen?“
                                         Teil II des Interviews mit
Seite 46                                  Gisela Hirschberger
Schwarz — Weiß
                                         Seite 86
Seite 48                                 Mein größter Schatz
Low Vision
Interview mit Sarah Smitkiewicz          Seite 89
und Karina Jendrischik                   Impressum und Autorenverzeichnis

Seite 56                                 Seite 90
Trotzkopf mit Klarinette                 Adressen und Informationen

                                     3
Weitersehen 2014 Jahrbuch des DBSV Leben mit Sehverlust - Krise und Chance
grusswort

Liebe Leserinnen
und Leser,
erst wenn die Augen nicht mehr              Dies setzt die Früherkennung voraus.
so können, wie sie sollen, erkennen         Erkrankungen wie der Grüne Star
wir, wie wertvoll das Augenlicht ist.       oder die altersabhängige Makula­
Das Schwerpunktthema des vor­               Degeneration können das Auge in
liegenden Jahrbuchs ist „Leben              Anfangsstadien bereits in Mitleiden­
mit Sehverlust“ – eine Erfahrung,           schaft ziehen, ohne dass Symptome
die aufgrund der demografischen             bemerkt werden. Hier kann der
Entwicklung immer mehr ältere               Augenarzt im Rahmen einer ein­
Menschen betreffen wird. In einer           gehenden Untersuchung und diag­
alternden Gesellschaft wird es mehr         nostischer Verfahren schon früh
Patienten mit altersabhängiger              Maßnahmen einleiten, um irrever­
Makula­Degeneration (AMD),                  sible Schädigungen zu vermeiden.
Grünem Star (Glaukom) und Gefäß­
erkrankungen der Netzhaut geben.            Von zentraler Bedeutung ist hierbei
Auch können sich Erkrankungen               die Aufklärung, wobei in Deutsch­
wie Diabetes oder Bluthochdruck             land noch Defizite bestehen.
am Auge bemerkbar machen.                   Für die altersabhängige Makula­
                                            Degeneration wurde z. B. ermittelt,
Erfreulicherweise gibt es aufgrund          dass weniger als 20 Prozent der
wissenschaftlicher Fortschritte             Bevölkerung hier etwas mit dem
mittlerweile viele wirksame Maß­            Begriff anfangen können. Dies ist
nahmen, um verschiedene Formen              in den USA oder Australien anders:
der Altersblindheit zu verhindern.          Dort liegt die „Awareness“ bei über
Dabei spielen nicht nur neue Thera­         80 Prozent, was auch deshalb
piemöglichkeiten eine wichtige Rolle,       so bedeutsam ist, weil das Wissen
sondern auch Präventions­ und               um Frühsymptome die rechtzeitige
Früherkennungsmaßnahmen. Für                Therapieeinleitung befördern kann.
praktisch alle Augenerkrankungen,
die zu einem schweren Sehverlust            Gerade der DBSV leistet hier in
führen können, gilt, dass Therapien         vielerlei Hinsicht wertvolle und
dann besonders gut greifen, wenn            vorbildliche Arbeit. Er initiiert und
sie frühzeitig zum Einsatz kommen.          unterstützt gezielte Aufklärungs­

                                        4
Weitersehen 2014 Jahrbuch des DBSV Leben mit Sehverlust - Krise und Chance
kampagnen und beschäftigt sich
intensiv mit der Überwindung von
Barrieren beim Zugang zu Präven­
tions­ und Therapiemaßnahmen.

Solche Barrieren werden am
Beispiel der AMD deutlich. Zwar
zeigen aktuelle Untersuchungen
eindrucksvoll, dass mit modernen
Therapieverfahren das Auftreten von
schwerer Sehbehinderung oder
Blindheit im Sinne des Gesetzes
signifikant reduziert werden konnte.
Dennoch bieten Verfahren wie
die wiederholte Eingabe von Medika­
menten in das Augeninnere im Alter
vielfältige Hürden und Herausfor­
derungen. Wir sind hier gemeinsam
mit der Selbsthilfe auch seitens
der Deutschen Ophthalmologischen
Gesellschaft (DOG), der Retinolo­
gischen Gesellschaft und des Berufs­
verbandes der Augenärzte Deutsch­
land permanent um Verbesserung
bemüht. Dabei ist die Zusammen­
arbeit von Medizin und Selbsthilfe
in Deutschland auf dem Gebiet
von Augenerkrankungen besonders
erfolgreich. Diese Zusammenarbeit
möchten wir gezielt zum Nutzen der
Patientinnen und Patienten weiter
ausbauen und intensivieren.

Ihr

Prof. Dr. Frank G. Holz
Direktor der
Universitäts­Augenklinik Bonn
und Präsidiumsmitglied der
Deutschen Ophthalmologischen
Gesellschaft (DOG)
Weitersehen 2014 Jahrbuch des DBSV Leben mit Sehverlust - Krise und Chance
S E H -
v e r -
l u s t
und seine möglichen Ursachen –
Augenerkrankungen im Überblick

von Sibylle Kölmel

In manchen Fällen sind Augen­
patienten durch Unfälle von
Sehverlust betroffen, doch die
mit Abstand häufigste Ursache
für fortschreitenden Sehverlust
im Laufe des Lebens sind
Augenerkrankungen. Unser
Überblick über die häufigsten
Augenerkrankungen in Deutsch­
land soll als erster Einstieg in
das Thema und als Hintergrund­
information für die nachfolgen­
den Interviews und persönlichen
Erfahrungsberichte dienen.
Er ersetzt selbstverständlich
nicht die fachliche Betreuung
durch Ophthalmologen und
Beratungsstellen.

                                   6
Weitersehen 2014 Jahrbuch des DBSV Leben mit Sehverlust - Krise und Chance
Altersabhängige
Makula-Degeneration (AMD)
Bei der altersabhängigen Makula­         ursache für eine Erblindung bei
Degeneration (AMD) kommt es zum          Menschen in diesem Alter. Weltweit
Verlust der zentralen Sehschärfe.        sind 25 bis 30 Millionen Menschen
Der lateinische Begriff „Makula“         erkrankt; circa 500.000 Neuerkran­
bezeichnet den zentralen Bereich         kungen kommen jährlich hinzu.
der Netzhaut, in deren Mitte die         In Deutschland leiden schätzungs­
Fovea, die Stelle des schärfsten         weise 4,2 Millionen Menschen an
Sehens, liegt. Hier befindet sich        einer Form der Makula­Degeneration.
die Mehrzahl der sogenannten
Fotorezeptoren, der empfindlich­         Unterschieden werden:
sten Sinneszellen des Auges.
Mit ihrer Hilfe kann der Mensch          Die trockene AMD (ungefähr
Farben und scharfe Bilder wahr­          85 Prozent der Erkrankungen):
nehmen. Die darunter liegenden           Diese Form verläuft in der Regel
Netzhautschichten sorgen für             langsam. Die ersten Anzeichen
die Ernährung der Fotorezeptoren,        werden häufig beim Lesen bemerkt.
aber auch für den Abtransport von        Neben einer Unschärfe nehmen die
Abbauprodukten des Stoffwechsels.        Betroffenen mitten im Schriftbild
Wenn dieser normale Stoffwechsel­        verschwommene Flecken oder
prozess mit zunehmendem Alter            graue Schatten wahr. Diese können
gestört ist, kommt es zu Ablage­         im weiteren Krankheitsverlauf
rungen – die altersabhängige             größer werden.
Makula­Degeneration kann eine
Folge sein.                              Die feuchte AMD (ungefähr
                                         15 Prozent der Erkrankungen):
Die AMD ist die häufigste Ursache        Sie schreitet meist schneller voran.
für eine schwere Sehbehinderung          Typisches Krankheitszeichen ist ein
bei Menschen über 50 Jahren und          verbogenes oder verzerrtes
in den Industriestaaten die Haupt­       Bild. Aus der trockenen Form

                                     7
Weitersehen 2014 Jahrbuch des DBSV Leben mit Sehverlust - Krise und Chance
kann sich die feuchte AMD            altersabhängige Makula­Degenera­
     entwickeln.                          tion durch den Augenarzt empfohlen.
                                          Nehmen Betroffene einer trockenen
Die altersabhängige Makula­               AMD gerade Linien als gekrümmt
Degeneration ist eine chronische          wahr oder sehen sie verzerrte
Erkrankung, für die es keine              Bilder, so können das die ersten
Heilungsmöglichkeit gibt.                 Anzeichen einer feuchten AMD
Bei der feuchten AMD kann jedoch          sein – diese muss sofort medika­
mit einer konsequenten Behand­            mentös behandelt werden.
lung im Idealfall eine langfristige       Neue Therapieformen haben
Stabilisierung erreicht werden.           dazu geführt, dass das Erblin­
Darum wird ab dem 55. Lebensjahr          dungsrisiko bei der feuchten AMD
eine regelmäßige Untersuchung auf         rückläufig ist. n

Diabetische
Netzhauterkrankungen
Die diabetische Netzhauterkrankung        Unterschieden werden:
(Retinopathie) ist eine Erkrankung
der Netzhaut, die in Folge der            Die sogenannte nicht prolifera-
sogenannten Zuckerkrankheit,              tive Retinopathie mit kleinen,
des Diabetes mellitus, auftritt.          herdförmig auftretenden Gefäß­
Dieser schädigt die Gefäßwände.           veränderungen, kleinen Blutungen
Diabetische Netzhauterkrankungen          in der Netzhaut sowie vermehrten
entwickeln sich in der Regel sehr         Ablagerungen von Fettsubstanzen
langsam und anfangs unbemerkt.
Sie können bei schwerwiegenden            Die fortgeschrittene (prolifera-
Verläufen aber zur Erblindung             tive) Retinopathie mit der Bildung
führen, vor allem dann, wenn sie          neuer Blutgefäße – diese wachsen
gar nicht oder erst sehr spät             in das Auge hinein und können
behandelt werden. Derzeitige Thera­       die Ursache für schwere Blutungen
pien können den weiteren Verlauf          des Augeninneren sein. Im schlimm­
der Erkrankung nur verzögern, im          sten Fall droht Erblindung. Zudem
besten Falle stoppen. Eine Heilung        kann es durch das Einwachsen
ist nicht möglich. Diabetesbedingte       von Gefäßen und Bindegewebe in
Netzhauterkrankungen sind in Euro­        den Glaskörper zu einer Ablösung
pa und Nordamerika die häufigste          der Netzhaut kommen. Diese
Erblindungsursache bei Menschen           kann das Sehvermögen ebenfalls
im Alter zwischen 20 und 65 Jahren.       beeinträchtigen.

                                      8
Wird durch den Diabetes die
Makula geschädigt, spricht man
von diabetischer Makulopathie.
So kann es durch die Schädigung
der Gefäße zu einer Ansammlung
von Flüssigkeit in der Netzhautmitte
kommen, dem diabetischen
Makulaödem.

Die beste Vorbeugung besteht
in einer optimalen Therapie des
Diabetes mellitus durch Arzt und
Patient. Der Blutdruck sowie
die Blutzucker­ und Blutfettwerte
sollten regelmäßig kontrolliert
werden. Wie bei anderen Augen­
krankheiten gilt auch hier: Je früher
die Netzhauterkrankung erkannt
wird, desto besser sind die Erfolgs­
aussichten der Behandlung. Darum
sollte regelmäßig eine augenärzt­
liche Kontrolle erfolgen, und zwar
einmal im Jahr, wenn noch keine
Schäden an der Netzhaut bestehen,
und alle drei bis sechs Monate,
wenn bereits Anzeichen einer
diabetischen
    ­          Netzhauterkrankung
erkennbar sind. Werden Verän­
derungen des Augenhintergrundes
festgestellt, kann die Sehverschlech­
terung in vielen Fällen durch eine
Laserbehandlung verlangsamt
oder zum Stillstand gebracht
werden. Bei der Lasertherapie wird
die Bildung weiterer Gefäßverän­
derungen unterdrückt – hierbei
treffen gezielte Lichtstrahlen auf die
Netzhaut und verhindern, dass
krankhafte Blutgefäße weiter wach­
sen. Beim diabetischen Makula­
ödem ist auch eine Spritzentherapie
möglich. n
Glaukom                                     — eine höhere Kurzsichtigkeit
                                              als minus 5 Dioptrien vorliegt

(Grüner Star)                               — eine überdurchschnittlich
                                              dünne Hornhaut vorliegt
                                            — ein niedriger oder ein stark
Das Glaukom bezeichnet eine                   schwankender Blutdruck vorliegt
Gruppe von Augenerkrankungen,               — Betroffene unter erhöhtem
bei denen nach und nach die                   Augeninnendruck leiden
Fasern des Sehnervs zugrunde
gehen. Das Gleichgewicht aus                Eine regelmäßige Vorsorge­
Augeninnendruck und Durchblutung            untersuchung beim Augenarzt sollte
im Auge gerät aus dem Lot, und der          ab dem 40. Lebensjahr erfolgen.
Sehnerv wird nicht mehr                     Wenn Glaukomerkrankungen in der
ausreichend versorgt.                       Familie vorkommen, ist es
                                            angeraten, schon früher zu
Die häufigste Form des Glaukoms             ärztlichen Kontrollen zu gehen.
ist das sogenannte Offenwinkel­             Denn: Die durch ein Glaukom
glaukom, das sich schleichend und           verlorene Sehkraft lässt sich nicht
anfangs unbemerkt entwickelt.               wiederherstellen. Ein weiteres
Erst im weiteren Verlauf, bei fort­         Fortschreiten der Krankheit kann
geschrittener Schädigung des                jedoch in vielen Fällen durch
Sehnervs, kommt es zu Ausfällen             Medikamenteneinnahme verhindert
im Gesichtsfeld. Seltener tritt das         werden. Auch Operationen und
Engwinkelglaukom auf, das zum               Laserbehandlungen können diesen
schmerzhaften Glaukomanfall                 Effekt bewirken. n
führen kann und bei dem unbehan­
delt akute Erblindungsgefahr droht.

Das Glaukom ist weltweit eine               Katarakt
der häufigsten Erblindungsursachen –
in Deutschland leiden geschätzt             (Grauer Star)
970.000 Menschen an diesem
Krankheitsbild. An einem Glaukom            Der Graue Star ist eine Trübung
kann prinzipiell jeder erkranken –          der ursprünglich klaren Augenlinse
ab dem 40. Lebensjahr jedoch                – eine verminderte Sehleistung ist
erhöht sich das Risiko.                     die Folge. Menschen, die am
                                            Grauen Star erkrankt sind, nehmen
Weitere Risikofaktoren liegen vor,          ihre Umgebung nur noch unscharf,
wenn:                                       matt oder verschleiert wahr.
                                            Die Farben verlieren an Leucht­
— ein Glaukom schon einmal                  kraft, und die Blendempfindlichkeit
  in der Familie aufgetreten ist            ist deutlich erhöht. Meistens ist

                                       10
Netzhaut-
                                              ablösung
                                              Bei der Netzhautablösung löst sich
                                              die lichtempfindliche Schicht der
                                              Netzhaut von ihrer ernährenden
                                              Schicht, der Aderhaut, ab. An der
                                              Stelle, an der sich die Schicht
                                              abhebt, werden die Sinneszellen
                                              nicht mehr mit Sauerstoff und
                                              Nährstoffen versorgt und sterben
                                              ab: Das Sehvermögen geht erheb­
                                              lich verloren – im schlimmsten Falle,
                                              bei Ausbleiben schneller Behand­
                                              lung, führt die Netzhautablösung
                                              zur Erblindung. Deutschlandweit
                                              erleiden alljährlich etwa 8.000
                                              Menschen eine Netzhautablösung.

                                              Erste Anzeichen sind Lichtblitze
                                              am Rand des Gesichtsfeldes –
                                              diese treten auch bei geschlossenen
                                              Augen auf. Im weiteren Verlauf
                                              sehen die Betroffenen „Ruß­
                                              flocken“ oder „Schwärme“ von
                                              „schwarzen Mücken“. Die Betroffe­
                                              nen haben den Eindruck, dass
                                              ein „schwarzer Vorhang fällt“
der Graue Star altersbedingt und              oder eine „schwarze Wand
tritt häufig erst weit nach dem 60.           aufsteigt“ – die Sehfähigkeit
Lebensjahr auf.                               verschlechtert sich immer mehr.
                                              Bei Auftreten dieser Symptome
Eine Operation, die meist ambulant            muss sofort ein Augenarzt auf­
erfolgt und bei der eine künstliche           gesucht werden.
Linse eingesetzt wird, ist die einzige
Möglichkeit, die Sehkraft wieder              Die wichtigste Maßnahme ist die
zu verbessern. Wenn keine anderen             zeitige Laserbehandlung der Netz­
schwerwiegenden Augenerkran­                  hautablösung. Wenn diese nicht hilft,
kungen vorliegen, erzielt man damit           ist auch eine Augenoperation mög­
oft sehr gute Ergebnisse. n                   lich, um die Netzhaut anzulegen. n

                                         11
hautzellen zur Verringerung der
                                           Sehschärfe, zu Nachtblindheit und
                                           Ausfällen im äußeren Bereich des
                                           Gesichtsfeldes kommt. Die Foto­
                                           rezeptoren im Zentrum der Makula
                                           bleiben zunächst erhalten. Der
                                           Sehrest wird dann als „Tunnelblick“
                                           oder „Röhrengesichtsfeld“ bezeich­
                                           net: Sichtbar sind nur noch „fronta­
                                           le“ Gegenstände. Dadurch wird es
                                           immer schwieriger, sich zu orientie­
                                           ren. Die Retinopathia Pigmentosa
                                           führt nicht selten zur Erblindung.

                                           In Deutschland leiden etwa 30.000
                                           bis 40.000 Menschen an der Krank­
                                           heit, weltweit rund 3 Millionen
                                           Menschen. Retinopathia Pigmentosa
                                           ist eine der häufigsten Ursachen für
                                           einen Sehverlust im mittleren Alter.

                                           Die wichtigste Methode zur frühen
                                           Erkennung ist die Elektroretinografie,
                                           ein spezielles augenärztliches
                                           Verfahren, bei dem die Fähigkeit
                                           des Auges, Lichtreize in Nervenreize
                                           umzuwandeln, überprüft wird.
                                           Bislang gibt es allerdings keine
                                           Therapie, mit der ein Fortschreiten
                                           der RP gestoppt werden kann.
                                           Auch der Krankheit vorzubeugen ist
Retinopathia                               nicht möglich. Derzeit wird an der
                                           Entwicklung von Retina­Prothesen
Pigmentosa                                 gearbeitet, die die Sehfähigkeit
                                           teilweise wiederherstellen sollen.
Bei der Retinopathia Pigmentosa            Ein erstes System ist auf dem
(RP) handelt es sich um eine Gruppe        Markt erhältlich. n
von erblichen Erkrankungen der
Netzhaut, die durch verschiedene           Für die fachliche Unterstützung
Genveränderungen entstehen                 bedanken wir uns bei Angelika
können und bei denen es durch              Ostrowski und Juliane Willuhn
schrittweises Absterben der Netz­          von Blickpunkt Auge des DBSV.

                                      12
Blickpunkt Auge
Ein Angebot des DBSV e. V.
Menschen, die von einer schwer­
wiegenden Augenerkrankung
                    ­
erfahren haben, stehen vor einer
besonders schwierigen Lebens­
situation. Oft suchen sie nach
Informationen zu ihrer Augen­
erkrankung und zu Behandlungs­           — Unterricht zur sicheren
möglichkeiten, hoffen auf Heilung.         Orientierung im Straßenverkehr
Kommt es trotz des medizinischen         — Erhalt des Arbeitsplatzes oder
Fortschritts zu einem spürbaren            berufliche Neuorientierung
Sehverlust, ist nichts mehr wie
vorher. Viele Betroffene können sich     Die Berater leben selbst mit
nicht vorstellen, wie es weitergehen     einer Seheinschränkung oder sind
soll, fürchten sich, ihre Selbst­        mit den daraus resultierenden
ständigkeit zu verlieren und auf Hilfe   Problemen sehr vertraut. Ihnen
angewiesen zu sein. Über Unter­          muss man seine Situation nicht
stützungsangebote, Möglichkeiten         lange erklären. Man kann von ihrem
zum Ausgleich einer Sehbeeinträch­       Wissen und ihren Erfahrungen aus
tigung, rechtliche und finanzielle       erster Hand profitieren.
Leistungen wissen sie meist wenig.
                                         Partner von Blickpunkt Auge
Das Patientenangebot „Blickpunkt         sind Augenärzte, Augenkliniken,
Auge“ informiert und berät Augen­        spezialisierte Augenoptiker,
patienten und ihre Angehörigen           Hilfsmittelhersteller und ­anbieter,
unabhängig und kostenfrei zu             weitere Fachkräfte rund ums Sehen,
allen mit der Augenerkrankung            Sozial­ und Wohlfahrtsverbände,
verbundenen Themen, zum Beispiel:        andere Selbsthilfeorganisationen
— Grundlegende Fragen zu den             und Behörden.
    häufigsten Augenerkrankungen
— Sehhilfen und andere Hilfsmittel
— Rechtliche und
    finanzielle Ansprüche
— Tipps und Tricks zur Alltags­
    bewältigung und Schulung in
    lebenspraktischen Fähigkeiten
OFFEN
mit der Erblindung
umgehen !
DBSV Weitersehen 2014

                                         Interview mit Gisela Hirschberger,
                            Mitglied im Landesvorstand des Blinden­ und
                          Sehbehindertenverbandes Niedersachsen (BVN)
                           und Vorsitzende des Blindenvereins Oldenburg

von Dr. Susanne
Niemuth­Engelmann

Gisela Hirschberger kam 1949             Frau Hirschberger, 1997 haben
mit angeborenem Glaukom                  Sie während einer Grönland­
zur Welt. Die Ärzte prophezeiten         reise festgestellt, dass auch
ihren Eltern, dass sie erblinden         mit Ihrem linken Auge etwas
würde, doch nach insgesamt               nicht mehr in Ordnung war.
sieben Operationen im ersten             Wie machte sich das bemerkbar?
Lebensjahr konnte ihre Sehfähig-
keit erhalten werden. 1962               Bei Treppen habe ich immer darauf
wurde sie auf dem rechten Auge           geachtet, hinter anderen Passagie­
am Grauen Star operiert, worauf          ren zu gehen, damit ich sehe,
erneut viele Jahre guten Sehens          aha, da geht der Fuß runter, also
folgten. Erst 1975 begann mit            da muss eine Stufe sein. Und da
der ersten Hornhautverpflanzung          ist mir klar geworden, da stimmt
auf dem rechten Auge ein langer          was nicht. Aber das hat mich nicht
Weg allmählichen Sehverlustes.           beunruhigt.
Weitere Stationen waren 1978
der Graue Star links, 1985               Was haben Sie
die zweite Hornhautverpflanzung          daraufhin unternommen?
rechts und 1986 eine Notoperation
rechts wegen immens hohen                1997 noch nichts, weil es sich
Augendrucks. Diese OP, bei               anfangs wieder regeneriert hat.
der mit dem Skalpell durch die           Aber 1998 wurde es schlimmer, und
neue Hornhaut geschnitten wurde,         dann bin ich ins Universitätsklinikum
führte in Verbindung mit                 Hamburg­Eppendorf (UKE) gefahren,
dem sehr hohen Augendruck                wo man eine vorbereitende Glau­
von 60 mmHg – die Obergrenze             kom­OP mit Laser gemacht hat.
des Normwertes liegt bei                 Im Februar 1999 habe ich links die
21 mmHg – zunächst zur Erblin-           insgesamt dritte Hornhautver­
dung auf dem rechten Auge.               pflanzung bekommen. Das lief

                                    15
erst gut an, aber dann spielte         Wie war das bei Ihnen?
      der Augendruck wieder ver­             Waren Sie aufgrund Ihrer Vor­
rückt, auch unter Einfluss von Kor­          geschichte innerlich gefasster?
tison. Kortison muss bei Hornhaut­
verpflanzung sein, damit sich keine          Ja, vor allem weil ich während
Antikörper bilden und damit sich             meiner Tätigkeit beim Augenarzt
außerhalb der Nähte keine Gefäße             sehr viel mitbekommen habe: Was
bilden, mit Blut füllen und die Nähte        es bedeutet, wenn Menschen ihr
bedrohen. Der Augendruck konnte              Augenlicht verlieren, wie Menschen
bei mir aber nicht mehr unter                damit umgehen, wie Angehörige
Kontrolle gebracht werden.                   damit umgehen. Ich denke schon,
                                             dass ich mich von daher schneller
Wie ging es dann weiter?                     darauf einstellen konnte, dass ich
                                             es vom Kopf her steuern konnte.
Im August 2000 habe ich mit mei­             Und dann kommt es natürlich
ner Augenärztin gesprochen, der              darauf an, was man für eine Per­
Tochter von meinem früheren Chef –           sönlichkeit ist: Ist man positiv
ich habe selbst beim Augenarzt               eingestellt, oder ist man von Haus
gearbeitet. Ich rede mit ihr ganz            aus ein eher schwermütiger Typ.
offen und ehrlich. Eine Wahrheit,
auch wenn sie noch so hart ist, liegt        Frau Hirschberger, Sie sind
mir mehr als alle Heucheleien,               heute als Vorsitzende des
damit kann ich gar nicht leben. Sie          Blindenvereins Oldenburg in der
hat gemerkt, dass man mir nichts             Beratung von Menschen tätig,
vormachen muss. Wir haben dann               denen Sehverlust droht. Welche
den Antrag auf Blindengeld (Bl)              Fragen werden besonders häufig
gestellt, und im November 2000               gestellt und welche Probleme
habe ich es bekommen. 50 Jahre,              stehen im Vordergrund?
nachdem man meinen Eltern ge­
sagt hat: “Ihr Kind wird erblinden“,          Die Beratung wird ja überwiegend
war es dann also so weit.                     von unserem Sozialarbeiter gemacht,
                                              der sehr viel Erfahrung hat. Ich bin
Viele Menschen, die ihr                       allerdings häufig dabei und werde
Leben lang gut sehen konnten,                 dann von den Betroffenen gefragt:
stehen wie unter Schock,                     „Frau Hirschberger, wie gehen Sie
wenn sie im fortgeschrittenen                 denn damit um? Wie schaffen Sie
Alter eine gravierende Augen­                 das?“ Und da geht es oft um ganz
diagnose erhalten.                            konkrete, praktische Alltagstipps.

                                        16
DBSV Weitersehen 2014

Ich sage den Menschen:
„Verzweifeln Sie nicht!
Versuchen Sie einmal,
das zu machen,
was Sie noch können,             Gehen Sie zum Briefkasten
was Sie sich zutrauen.           und holen Sie die Zeitung. Oder
                                 versuchen Sie, sich Ihr Brötchen
Sei es, dass Sie Geschirr        selbst zu schmieren.“ Und den
abwaschen oder                   Angehörigen sage ich: „Lassen
                                 Sie es Ihre Frau, Ihren Mann selbst
die Betten machen,               machen!“ Es geht natürlich alles
also all die Dinge, bei          langsamer, hektische Bewegungen
                                 sind bei Erblindung nicht mehr
denen eigentlich nicht
                                 angesagt. Man muss Geduld
viel passieren kann.             haben.

                            17
dann genau auf, welches Gerät das
                                            passendste ist, und die Betroffenen
                                            können es anschließend so bei
                                            ihrem Optiker bestellen.

                                            Bestimmt können Sie viele
                                            Tipps besser geben als jeder
                                            Sozialarbeiter, weil Sie selbst
                                            die konkreten Erfahrungen
                                            gemacht haben.

      Welche weiteren                        Mit Sicherheit, aber unsere anderen
      wichtigen Themen gibt                  Ehrenamtler in den Kreisgruppen
es in Ihren Gesprächen?                      beraten auch. Sie sind ja ebenfalls
                                             selbst betroffen und sehr einfühlsam,
Die Beratung geht natürlich auch             rufen die Leute auch mehrfach an
dahin: Welche Anträge können bei             und hören sich an, was sie sonst
der Krankenkasse gestellt werden,            noch so umtreibt. Da kommt oft
wo kann ich Orientierungs­ und               sehr viel zusammen; die drohende
Mobilitätstraining (O&M) machen,             Erblindung ist dann nur noch der
wie bekomme ich einen DAISY­                 Gipfelpunkt der Schicksalsschläge.
Player, all diese Hilfsmittel.               Wenn man bedenkt, wie alt die
Den „Papierkram“ erledigt unser              Leute oft sind, was sie im Leben
Sozialarbeiter, z. B. schreibt er            schon alles durchgemacht haben,
die Widersprüche, wenn ein Antrag            und jetzt kommt auch noch das!
aus unserer Sicht unbegründet                Wir sind in gewisser Weise
abgelehnt wird. Er berät auch im            „Schmalspurpsychologen“.
Hinblick auf vergrößernde Sehhilfen.
Oft sind die Leute vorher beim              Kommen die Betroffenen
Optiker und stehen unter einem              häufiger allein zu Ihnen oder in
gewissen Entscheidungsdruck. Sie            Begleitung von Angehörigen?
kaufen dann eine Lupe, mit der sie          Welche Rolle spielen Partner
im Alltag nichts anfangen können.           und Familie in der Beratungs­
Es liegt nicht an den Optikern, die         situation?
haben meist viel Geduld. Den Druck
machen sich die Leute selbst, oder          Im Allgemeinen kommen die be­
er kommt von den Angehörigen.               troffenen Personen mit einer Begleit­
Bei uns in der Geschäftsstelle              person. Die Angehörigen wollen
können alle möglichen vergrößern­           helfen, wissen aber oft nicht mit der
den Sehhilfen in aller Ruhe ausge­          Situation umzugehen. Die betroffene
testet werden – wir verkaufen sie ja        Person kann leicht bevormundet
nicht. Unser Sozialarbeiter schreibt        werden.

                                       18
DBSV Weitersehen 2014

Ich habe erlebt, dass                        erkennen. So etwas ist für die
                                             Angehörigen völlig verwirrend und
eine Frau mit ihrer                          muss erklärt werden.
Schwiegermutter kam
                                             Was ist der wichtigste Rat, den
und sagte: „Unsere                           Sie Menschen geben, die zum
Oma kann nichts mehr                         ersten Mal in ihrem Leben mit
sehen.“ Da habe ich                          einer schweren Augendiagnose
                                             konfrontiert werden?
gefragt: „Hat die Dame
auch einen Namen?                             Der wichtigste Rat ist: offen mit der
                                              Erblindung umgehen! Und offen
Und kann sie auch                             sagen, wie es einem damit geht.
selbst sprechen?“                             Nicht verstecken, nicht denken:
                                             „Ich möchte den weißen Stock nicht
Das kann ich nicht lei-                       nehmen, weil meine Nachbarn
den, wenn man mit mir                         dann sehen, dass ich blind bin.“
über jemanden reden                           Ganz ehrlich sagen: „Die Situation
                                              ist jetzt so für mich, ich stoße an
will, der daneben sitzt,                      meine Grenzen, ich brauche Hilfe.“
das ist entwürdigend.                         Denn jeder Blinde braucht irgend­
                                              wann Hilfe.

Manchmal schicken wir die Ange­              Und was ist Ihr wichtigster Rat
hörigen zum Einkaufen, damit wir             an Verwandte und Freunde von
mit den Betroffenen allein sprechen          Betroffenen?
können. Dann reden sie eher über
ihre Probleme und Ängste. Familien           Ich sage den Leuten: Bietet eure
können auch überfordert sein. Sie            Hilfe an! Wenn sie angenommen
meinen es gut, machen aber genau             wird, ist es okay. Wenn sie nicht
das Falsche, und dann kommt es               angenommen wird, dann beobach­
zu Irritationen und Aggressionen.            tet das einfach mal. Wenn es klappt,
Über vieles muss man auch erst               ist es gut, wenn es nicht klappt,
einmal genau informieren. Ein                sagt: Ich hatte dir meine Hilfe
Beispiel: Makula­Degeneration führt          angeboten … und versucht es
nicht grundsätzlich zur vollständigen        wieder. n
Erblindung. Vielleicht sieht der
Betroffene auf einem dunklen
Teppich einen hellen Fussel, weil             Lesen Sie ab Seite 82, was Gisela
das Licht gerade entsprechend auf             Hirschberger über ihre Reisen
die Netzhaut fällt, kann aber nicht           erzählt und wie sie zum Thema
das Gesicht seines Gegenübers                ‚Blindheit und Reisen‘ steht.

                                        19
Striche
ins Nichts
von Eckhard Seltmann
DBSV Weitersehen 2014

„Komm, hol sie doch                         gebunden, angelehnt an jene des
 einfach wieder hervor!“                    Kritischen Realismus, der sich in
                                            den Siebziger Jahren etabliert hatte.
„Warum sollte ich?“                         Dabei stand die Auseinandersetzung
                                            mit der visuellen Wahrnehmung im
„Weil sie dir früher                        Mittelpunkt: Was glaube ich zu
 so viel bedeutet haben.“                   sehen, und was sehe ich wirklich?
                                            Also bemühte ich mich, auf dem
Wie oft hatte – es war Ende der             Papier die Illusion einer Fotografie –
Neunziger Jahre – meine damalige            insbesondere eines Pressefotos –
Lebensgefährtin versucht, mir Mut           zu erzeugen, um den Wahrheits­
zu machen, wieder zu meinen                 gehalt des vermeintlich Dokumen­
Bleistiften zu greifen und mit ihnen        tierten zu hinterfragen.
strichelnd oder schraffierend übers
Papier zu fahren.                           „Du müsstest deiner Hand
                                             nur freien Lauf lassen.“
„Das dürfte seinen Reiz
 bestimmt nicht verloren haben!“            „Und dann?“

„Ach, ich weiß nicht …“                     Keine Frage: Ich hatte Angst vor
                                            den Strichen ins Nichts, diesem
Mehr als zehn Jahre waren die nach          Freihandgekritzel ins bildnerisch
Holz und Grafit duftenden Schach­           Unüberschaubare, Unkontrollierte,
teln in meinem Arbeitszimmer ver­           Ungewisse. Was würde dabei denn
räumt gewesen und hatten sich               schon herauskommen? Ein Krikel­
dennoch mit ihrem unverwechsel­             krakel von Hellgrau über Anthrazit
baren Aroma beständig in Erinnerung         bis ins Tiefschwarze.
gehalten. Eine schmerzliche Er­
innerung, die mit so vielen anderen         „Versuch‘s doch einfach
einherging, nachdem mir das Sehen            noch mal – bitte!“
infolge von Retinopathia Pigmentosa
abhanden gekommen war. Als                  „Also gut.“
Blinder jemals wieder eine Zeich­
nung anfertigen? Völlig undenkbar!          Mit Herzklopfen öffnete ich die
                                            Schachteln und begann zu zeichnen.
„Ist doch einerlei,                         Zaghafte Schraffuren entstanden.
 was dabei herauskommt.“                    Schneller als gedacht stellte sich
                                            dabei die Vertrautheit mit dem
„Das sagt sich so leicht.“                  Abrieb des Grafits auf dem leicht
                                            strukturierten Untergrund wieder ein.
Zeichnungen waren für mich stets            Der Kopf, der einst alles domi­
an konkrete Ziele und Motive                niert hatte, war plötzlich nicht

                                       21
mehr gefragt. Stattdessen             Mitten im Variieren der Bleistiftminen
      kamen Gefühle zum Zuge, die           stellte sich mir die nächste Heraus­
sich ihren Weg aus dem Bauch                forderung: eine wunderschöne,
heraus in die Finger bahnten und            aufklappbare Holzkiste mit dem
diesen die Absolution fürs Spontane,        kompletten Faber­Castell­Buntstift­
Willkürliche, Gestische erteilten.          sortiment, dreilagig, in weit über
                                            einhundert Abstufungen. Als Spät­
„Hei, das sieht interessant aus!“           erblindeter waren mir Leuchtkraft
                                            und Wirkung der Farben sehr wohl
„Findest du?“                               noch präsent, und so gewannen
                                            meine Zeichnungen im gezielten
Die Kumpanei mit den Bleistiften            Einsatz der Farbtöne eine zusätz­
war wiederhergestellt. Doch es              liche, emotionale Dimension.
blieb das Unbehagen, mich in der
Leere des Blattes zu verlieren. Aus         „So bunt ist für dich
diesem Grund nahm ich Passe­                 eine Mozart-Symphonie?“
partouts unterschiedlichster Größen
zu Hilfe, innerhalb derer ich meine         „Na ja, allenfalls das Motiv
Kompositionen platzierte. Die                eines Satzes.“
ehemals konkreten Bildbotschaften
wichen fortan abstrakten Begriffen.          Schließlich war da noch eine
                                             Zeichnung, die von zwei Linien
„Welchen Titel sollen diese                  erzählt, welche sich aus einem
 wilden Schwünge erhalten?“                  düsteren Richtungswirrwarr heraus­
                                             lösen und einander zugewandt
„Leicht werden.“                             ihren Weg ins Unbehelligte fort­
                                             setzen, bis sie nach und nach
Ich hatte, was mir nicht vorstellbar         schwächer werden und sich in der
gewesen war, mit meinem alten                vermeintlichen Ferne verlieren. Ich
Handwerkszeug zu einer neuen                 hatte dieser Zeichnung den Titel
Ausdrucksform gefunden, in der ich          „gemeinsam“ gegeben und sie auf
mich den Sehenden mitteilen konn­            den Lebensalltag zweier Liebender
te. Sie glich einer unterschwelligen         bezogen. Natürlich mit eindeutigen
Sprache, deren Sinnfälligkeit sich           Hintergedanken.
erst nach Abschluss des Zeichen­
prozesses einstellte. Kurze Zeit            „Und was machen wir
später erhielt sie eine weitere              mit dieser Zeichnung hier?“
Bedeutungsebene.
                                            „Sie vielleicht als unsere
„Fühl mal!“                                  Heiratsanzeige verwenden?“

„Doch nicht etwa … ?“                       „Liebend gern!“     n

                                       22
Eckhard Seltmann (geb. 1951)                er im Rahmen eines Entwicklungs­
absolvierte das Grundstudium                hilfeprojekts mit seiner Familie
Industrie­Design in Pforzheim               in Kamerun, anschließend studierte
sowie ein Lehramtsstudium                   er erneut und machte 2001
in Ludwigsburg und war von 1978             den Magister in Sprachwissen­
bis 1989 Lehrer für Deutsch und             schaft und Psychologie. Bis 2008
Bildende Kunst in Baden­Württem­            war er Lehrbeauftragter an der PH
berg. Nach seiner Erblindung                Ludwigsburg. Er ist in zweiter Ehe
aufgrund von RP schied er aus               verheiratet, Vater zweier Kinder
dem Schuldienst aus. Er beschrieb           und stolzer Großvater. Auf der
den Verlust des Sehens in „Maul­           „ART BLIND“ des Vereins Blinde
wurf oder Der Alleingang“ (Rowohlt,         und Kunst e. V. war Seltmann 2013
1992). Von 1993 bis 1996 lebte              mit drei Zeichnungen vertreten.

                                      24
Der Deutsche Blinden­ und
Sehbehindertenverband e. V. (DBSV)

Als Dachverband der Selbsthilfevereine des Blinden­
und Sehbehindertenwesens bündelt und koordiniert
der DBSV das bundesweite Handeln und Auftreten
von 20 Landesvereinen. Die Landesvereine selbst vertreten
die Interessen der blinden und sehbehinderten Menschen
auf Länderebene.

Das Angebot der Selbsthilfevereine ist einzigartig,
denn nur hier wird Betroffenen von Betroffenen geholfen.
Patienten, die mit einer Augenerkrankung konfrontiert sind,
treffen auf Menschen, die einmal in der gleichen Situation
waren und deshalb ganz genau wissen, wie man sich
nach einer solchen Diagnose fühlt.

Die Netzwerke der Selbsthilfe informieren zudem
über medizinische Fragen und helfen in sozialen und recht­
lichen Angelegenheiten. Zahlreiche spezialisierte Fachdienste
und Einrichtungen unterstützen im Berufsleben, beraten
über Hilfsmittel, verleihen Hörbücher, bieten Veranstaltungen,
Erholungsreisen und Kurse zur Bewältigung des Alltags
wie auch zur Verbesserung der Mobilität.

Das zentrale Angebot aber ist und bleibt der Austausch
unter Betroffenen und damit das beste Mittel,
um die Auswirkungen einer Augenerkrankung zu verarbeiten.

Wenn Sie dazu Fragen haben oder uns Anregungen
geben möchten, sprechen Sie uns an!

2 01805 – 666 456
0,14 € /Min. aus dem Festnetz, Mobilfunk max. 0,42 € /Min.
DBSV Weitersehen 2014

Wie wahr
 ist Ihre
 Wahrnehmung?
von Jennifer Sonntag                         uns in andere Menschen einzufüh­
                                             len, über den Tellerrand zu blicken.
Wenn wir beurteilen wollen, ob               Schließlich sind wir soziale Wesen
etwas wirklich wahr ist, müssen wir          und auf den Umgang miteinander
uns zunächst fragen, was unsere              angewiesen. Da sozialer Umgang
ganz persönliche „Wirk“­lichkeit             nicht bedeutet, einander sozial zu
und „Wahr“­nehmung ausmacht.                 umgehen, müssen wir die Dinge,
Realistisch sind beide „wahrlich“            die wir bewerten, manchmal aus
nicht „wirklich“, denn wir rezipieren        der Perspektive des anderen
subjektiv, und unsere Umwelt                 betrachten. Nur so können wir sein
objektiv bewerten können wir nicht,          Verhalten und Erleben verstehen.
solange wir Menschen sind. Jeder
von uns ist geprägt von eigenen              Wir müssen im Umgang miteinan­
Erfahrungen und Gefühlen, hat                der immer wieder erkennen, dass
eigene Beweggründe, erlebt seine             keiner von uns mit seiner Sicht­
Welt eigen und verhält sich seinen           weise das Maß aller Dinge sein
Eigenheiten entsprechend.Wir sind            wird. Das Leben ist so vielfältig wie
Individuen und sehen alles, worauf           die Perspektiven, aus denen man
wir treffen, aus unserem Blickwinkel.        es betrachtet, und dabei bedingen
                                             die unterschiedlichen Wahr­
Wahrnehmung                                  nehmungen die Definition von
und sozialer Umgang                          Wirklichkeit. Zum Glück hat jeder
                                             von uns einen eigenen Kopf,
Nun liegt es an uns, unseren Blick­          und Gedanken sind bekannt­
winkel nicht zu ernst zu nehmen,             lich frei. Auch wenn es hin

                                        27
und wieder schmerzlich ist,           für eine Verkäuferin hielt. Für die
     nicht jedem Zeitgenossen die          Ratsuchende wirkte die Puppe
vermeintliche „Wahrheit“ plausibel         also echt, und sie wählte ein ihrer
machen zu können, sollten wir              Wirklichkeit angemessenes Verhal­
doch akzeptieren, dass diese eben          ten der Puppe gegenüber, die ja
nur unsere Wahrheit ist.                   für sie keine war. Auf die Verkäuferin
                                           wiederum wirkte die Dame vorerst
Die Notwendigkeit                          wie eine „arme Irre“. Auch ihre
gleicher Vorstellungen                     Wirklichkeit entsprach nicht der
                                           Realität.
Selbstverständlich gibt es Dinge,
über die wir uns im Großen und             In der Wirklichkeit eines seh­
Ganzen einig sind. Menschen sind           behinderten Bewerbers wirkte die
darauf angewiesen, in Gruppen              am Boden stehende, sich hoch in
zusammen zu leben und haben                den Raum erstreckende Grün­
von bestimmten Gesetzmäßig­                pflanze in einem Bürokomplex wie
keiten, die das Überleben sichern,         ein Kleiderständer. Er war bereits
ähnliche Vorstellungen. Es ist uns         im Begriff, seinen Mantel in der
also ein menschliches Bedürfnis,           Pflanze zu platzieren, als die Realität
Normen und Werte als Orientie­             ihn einholte.
rungshilfe zu nutzen. Und mit
bestimmten Signalen, Symbolen              Und was das Kellerfenster betrifft …
oder Gegenständen verknüpfen               Eine Gruppe Blinder wurde beim
wir alle das Gleiche. Egal ob              Verlassen einer Kneipe gebeten,
Schaufensterpuppe, Grünpflanze             doch diesmal die Tür zu benutzen.
oder Kellerfenster, wir wissen, was        Die kleine Gesellschaft hatte beim
wir davon zu halten haben, oder?           Betreten des Kellerlokals den Ein­
Ist das „wirklich“ so?                     stieg durch ein Fenster gewählt und
                                           sich über die tiefe Stufe gewundert.
Die Tücken unterschiedlicher               Es war ein großzügiges Kellerfenster,
Auffassungen                               was auf die Blinden wie eine zuge­
                                           geben seltsame, wohl aber wie eine
Bemühen wir die oben genannten             Tür wirkte. Realität verkannt!
Beispiele: Für einen sehbehinderten
Menschen kann eine Schaufenster­           Diese Beispiele zeigen, dass wir
puppe durchaus zu etwas ganz               die Begriffe Wirklichkeit und Realität
anderem werden als für einen               hier streng voneinander trennen
normalsichtigen. So berichtete eine        sollten. Wenn etwas in Wirklichkeit
betroffene Dame davon, in einer            geschehen ist, dann hat es auf
Boutique einen angeregten Monolog          jemanden ge“wirkt“. Und somit
mit einer Schaufensterpuppe                entspricht es dessen Wirklich­
begonnen zu haben, da sie sie              keit. Denn nur in der Wirklich­

                                      28
keit der Frau war die Puppe               Unsere Wirklichkeit
      lebendig, in der Wirklichkeit
                                               „wirkt“ direkt auf unsere
des Mannes die Grünpflanze ein
Kleiderständer, und für die blinde              Gefühlswelt, im positiven
Partygesellschaft war das Keller­              wie im negativen Sinne.
fenster in Wirklichkeit der Eingang.
In der Realität leben Puppen nicht,            Gerade durch eine Sehbe-
sind Grünpflanzen keine Kleider­
ständer und Fenster keine Türen.               hinderung oder Erblindung
Und in der Realität sind Sehbehin­             erleben wir einen Sinnes-
derte natürlich nicht von Sinnen!              wandel, eine Verschiebung
                                               in unserer Wahrnehmung.
Sehbehinderung und
Wirklichkeit
                                               Aber wir müssen das
 Wer seine Sehbehinderung kennt,               nicht als puren Verlust
 weiß sicher ähnliche Geschichten zu           empfinden. Für unsere
 erzählen und kann, wenn der Schreck
 oder die peinliche Situation vorüber          Wirklichkeit ist das sogar
 sind, über so manches Trugbild                ein Gewinn, denn da wo
 lachen. Wer an einem Tunnelblick              blinde Flecken entstehen,
 leidet, kann in seine Wirklichkeit
                                               ist auch immer Raum
 eben nur die Personen integrieren,
 die sich in seinem Fokus bewegen.             für Erkenntnis.
 Alle anderen hat er „wirklich“ nicht
 gesehen, auch wenn sie zum Grei­
 fen nahe waren. Selbst wenn diese             Unserer Wahrnehmung öffnen
 Mitmenschen in der Realität nicht             sich Türen, die früher verschlossen
„wirklich“ fehlen, im Bewusstsein              blieben. Wir entwickeln feinere
 des Betroffenen waren sie nicht da.           Antennen, erlangen vielleicht
 Und natürlich laufen die Leute nicht          sogar tiefere Eindrücke als zuvor,
 ohne Gesichter auf der Straße                 weil wir gewohnte Denkräume
 herum, auch wenn sie für eine                 verlassen müssen. Das ist eine
 Person mit zentralem Gesichtsfeld­            große Chance, wenn wir zu dem
 verlust keine Gesichter mehr haben.           vordringen wollen, was uns
 Diese Empfindung ist ganz wahrhaf­            wirklich ausmacht. Wir lernen,
 tig. Ein erblindeter Mensch fühlt sich        in uns hineinzuspüren und auf
 vielleicht „wirklich“ unsichtbar, weil        uns zu hören. Uns wird in dieser
 er sich im Spiegel nicht mehr erken­          Auseinandersetzung sehr bewusst,
 nen kann, auch wenn ihm reell                 dass wir Menschen uns und
 bewusst ist, dass er sich nicht in            der Welt nicht allein als optische
 Luft aufgelöst haben wird.                    Phänomene begegnen. n

                                          30
Jennifer Sonntag wurde
1979 in Halle geboren
und erkrankte in ihrer
Kindheit an Retinopathia
Pigmentosa (RP). Als
junge Frau erblindete sie.
Die Diplom-Sozialpäda-
gogin ist am Berufs-
förderungswerk Halle
in der Öffentlichkeits-
und Rehabilitationsarbeit
tätig. Als Schriftstellerin
beschäftigt sie sich
mit tabuisierten Themen
wie dem Weiblichkeits-
und Schönheitsempfinden
blinder Frauen.
Ihr aktuelles Hörbuch
„Zigaretten danach“ ist
eine Anthologie erotischer
Geschichten mit 27 Bei-
trägen von 18 Autoren.

Informationen zu weiteren
Büchern Jennifer Sonntags
sowie zu ihrem Leben und
ihren Projekten unter:
www.blindverstehen.de
Tastgewinn
von Toni Schreiber

Ich spüre den weichen Stoff unter
meinen Fingern und darunter eine
Schulter. Sie fühlt sich gut an, zart
gerundet, beinahe zerbrechlich.
Wenn ich mit meinen Fingern –
ganz aus Versehen natürlich – etwas
ausschwärmte, wären da wohl
ein schlanker Hals, glatte Haut,
die langen Haare. Ich halte aber still
und folge unsicher. Ich kann nichts
sehen und habe keinerlei Vorstellung
von meiner Umgebung. Alles, was
mir momentan geblieben ist, das ist
die Schulter unter dem Stoff.

Meine Füße zögern, wollen nur
widerstrebend vorwärts. Ich tapse,
schlurfe, tripple, stolpere, obwohl
keine Kante im Weg ist. Es geht
Vor mir ist ein Tisch, neben mir sitzt
                                       offenbar schon jemand. Flüchtig
                                       hatte meine Hand einen Jacken­
                                       ärmel gestreift. Ein Mann? Eine Frau?

                                       Als Neuankömmling werde ich
                                       begrüßt; drei Stimmen – eine Frau
                                       und zwei Männer. Sie klingen, als
                                       wären sie in den besten Jahren,
                                       und prosten sich und bald auch mir
                                       zu. Die Frau sitzt neben mir.

                                       Ich stelle mich vor und würde gern
                                       wissen, was die anderen drei von
                                       mir denken. Hören sie meine 85 Kilo
                                       und meine Halbglatze? Spüren sie,
                                       dass ich „Bürohände“ habe, die so
                                       aussehen, als würde ein Hammer
                                       für sie zu schwer sein? Was verrät
                                       meine Stimme von mir? Auf jeden
                                       Fall sicher meine momentane
                                       Unsicherheit …

                                       Die Tischdecke ist glatt, vor mir
                                       liegen Messer und Gabel, und
                                       weiter vorn steht, nein, stand ein
                                       Glas. Ich habe es umgestoßen.
                                       Aber es war ja noch leer – also
                                       nichts passiert. Die Kellnerin
um eine Ecke – dann geradeaus.         kommt an den Tisch. Sie heißt
Gemurmel umgibt mich und völlige       Andrea. Ihre Stimme und ihre
Dunkelheit – nein: Finsternis,         Schulter kenne ich schon; sie hatte
kompletter Sehverlust. Ich fühle       mir geholfen, meinen Platz zu
mich hilflos und unfähig, auch nur     finden. Nun fragt sie die Getränke
einen Schritt allein zu machen.        ab. Ein Bier wird mir jetzt guttun,
                                       leider wird es nur in Flaschen
Meine zweite Hand wird auf eine        angeboten, aber egal.
Stuhllehne gelegt – das ist wie eine
Insel im unendlichen Meer ohne         Als es serviert wird, bekomme
Ufer und völlig im Nebel. Ich setze    ich sachdienliche Hinweise zu
mich ein wenig ungeschickt und         den Standorten von Glas und
fühle mich sicherer.                   Flasche. Na, dann mal Prost!
Ich finde das Glas, und               schmecken alle etwas anderes,
       das findet meinen Mund.               denn hier isst das Auge nicht
 Das Bier schmeckt. Meine Tisch­             mit. Andrea klärt uns auf:
 nachbarn sind schon beim Witze­             Eine Pilzsuppe – ich hatte den
 erzählen: Ein gehörloser und ein            richtigen Riecher …
 blinder Mann wollen sich duellieren.
„Ist er schon da?“, fragt der                Am Nebentisch wird es laut –
 Blinde seinen Sekundanten.                  scheinbar eine Reisegruppe. Einer
 Auf der anderen Seite wird zur              ruft nach der Kellnerin, er sucht
 gleichen Zeit die Frage gestellt:           das stille Örtchen und wird in die
„Hat er schon geschossen?“                   richtige Richtung geleitet. Hier
 Ha, ha, ha …                                können alle nichts sehen und
                                             fühlen sich trotzdem oder gerade
Ich bin nicht sicher, ob ich über            deshalb den anderen auf eigen­
Blindenwitze lachen kann, aber               tümliche Weise näher. Hören auf
mein Gegenüber meint, dass sich              Stimmen, sprechen unbefangen
Nichtsehende oft am meisten über             miteinander – ohne wissende
solche Witze amüsieren und sie               Blicke und dominierenden
gern weitererzählen. OK, wenn das            Augenschein. Hände gehen auf
so ist, steuere ich auch noch eine           Erkundungstour. Wie sonst selten
Geschichte bei: Beim Verlassen der           kommen alle Sinne in Form;
Kneipe hat ein blinder Gast einen            nur das Sehen hat Pause.
Bierkrug mitgehen lassen, was der
Wirt bemerkte. „He, hier wird nicht          Jetzt wird der Hauptgang aufge­
geklaut!“, ruft er ihm erbost hinter­        tragen. Ich habe Schweinefilet mit
her. Geistesgegenwärtig entschul­            Kroketten und Rosenkohl bestellt.
digt sich der Blinde, den Bierkrug           Andrea beschreibt die Lage der
in der Hand haltend: „Oh, pardon,            Speisen auf dem Teller wie auf einer
das habe ich nicht gesehen.“                 Uhr: Fleisch zwischen 4 und 8 Uhr,
                                             Kroketten zwischen 9 und 12 und
Und schon sind wir in der besten             Gemüse bei 1 bis 4.
Unterhaltung. Ich schenke mir Bier
nach, indem ich das Glas in die              Ich stochere mit der Gabel herum,
Hand nehme und mit einem Finger              bis mir eine Krokette auf die Hose
spüre, wie sich der Schaum nähert.           rollt, kann sie gerade noch vor dem
Das geht ganz gut.                           endgültigen Fall bewahren und
                                             stecke sie mir in den Mund; keiner
Jetzt wird das Essen serviert.               hat es bemerkt. Nun nehme ich
Wir sollen raten, was das für eine           doch hin und wieder die Finger zu
Suppe ist. Die Meinungen gehen               Hilfe, weil auch der Rosenkohl recht
tüchtig auseinander, von Spargel             beweglich vor dem Aufspießen
bis Fisch. Wir vier am Tisch                 Reißaus nimmt.

                                        34
DBSV Weitersehen 2014

Geschafft – der Teller ist leer, und
ich bin satt, verweigere das Dessert.
                                             Hinter dem Pseudonym
Jetzt kann ich schon zwei Stunden            Toni Schreiber verbirgt sich
nichts sehen. Nicht, dass ich mich           Dr. Thomas Nicolai, der 1950 im
daran gewöhnt hätte, aber meine              thüringischen Thalbürgel geboren
anderen Sinne sind wach. Und                 wurde und seit früher Kindheit
meine Tischnachbarn sind mir                 stark sehbehindert ist. 1973
auf irgendeine Weise vertrauter,             schloss er in Leipzig das Studium
als wenn ich sie sehen würde.                der Kulturwissenschaften ab und
                                             promovierte 1983 an der Humboldt­
Wieder die Schulter unter meiner             Universität Berlin. Er war von 1978
Hand. Ich folge Andrea nun                   bis 1990 beim Blinden­ und Seh­
entschieden lockerer als vorhin.             schwachen­Verband der DDR
                                             (BSV) und von 1991 bis 1998 beim
Plötzlich kann ich wieder etwas              DBSV als Referent für Öffentlich­
sehen. Es blendet. Leute um mich             keitsarbeit und Redakteur tätig.
herum. Ach, das waren meine                  In dieser Funktion hat er auch
Tischnachbarn. Wir mustern uns               mehrfach das Jahrbuch des DBSV
nun doch etwas überrascht. Die drei          geleitet. Sein Verein Tandem­Hilfen
sind doch ein paar Jährchen älter,           e. V. fördert das Tandemfahren
als sie klangen, und ich, wie wirke          und führt Hilfsprojekte für blinde
ich auf die drei? Wir reden nicht            Menschen in Osteuropa durch.
darüber und wünschen uns noch                Neben diesem Engagement
einen schönen Tag – ohne Seh­                organisiert Dr. Thomas Nicolai
verlust und mit Tastgewinn und der           Benefizkonzerte und macht selbst
wieder einmal bestätigten Erkennt­           Musik mit der Gruppe „Klang­
nis, dass uns die Augen zwar viele           bande“ und dem „Duo unnivitho“.
Bilder übermitteln, aber manches             Er hat zwei Töchter und vier
auch verdecken. n                            Enkelkinder.

                                        35
Von der
Jannowitz-
 brücke zur
Weidendammer
     Brücke

      von Dr. Hans-Jürgen Krug
Hier am Wasser entlang muss es               fressende Lärm der Autokolonnen
einen Weg geben. Endlich ist die             geht nun gnädig über uns hinweg.
Zeit dafür gekommen, und wir                 Nur hin und wieder ertragen wir eine
wissen nicht, wie lange dieser               S­Bahn wie Gewitterdonner vom
Durchgang noch offen steht. Einige           hohen Stadtbahnviadukt. Wir stehen
Male bin ich für den heutigen Tag            halbhoch über einem kleinen Damp­
Probe gelaufen, immer in der                 ferhalt, der bis zum Sommer 1961
Erwartung, dass die latenten Bilder          ganz regulär in Betrieb war. Erst
von einst doch wieder aufleben               1990 konnte er wieder angelaufen
mögen – wie das allmählich er­               werden. Die verwaiste Anlegestelle
wachende Foto im Entwicklerbad               hier wirkte davor wie ein Blind­
unter dem dämmrig rot sickernden             fenster, wie auch die zugemauerten
Licht einer Dunkelkammer.                    Eingänge zu den Geisterbahnhöfen
                                             der verstohlen von West nach West
Ich stehe mit meiner Gruppe unten            rollenden Untergrundbahnen. Ich bin
am Ende der Hallentreppe im S­               verwundert, wie selbstverständlich
Bahnhof Jannowitzbrücke.                     heute wieder die Normalität Einzug
Nahezu alle behaupten sich nur               gehalten hat, als hätte es nie diese
noch mit einem schwachen Seh­                Jahrzehnte des verwunschenen
rest, sind zu Teilen sogar blind, und        Stillstandes gegeben. Die langen
einige haben wie ich noch eine               bleiernen Jahre haben sich unmerk­
starke Hörbehinderung obendrauf.             lich zu einem kurzen Moment der
                                             Erinnerung zusammengezogen wie
Ich verteile die mitgebrachten Funk­         ein dünnes geologisches Sediment,
sprechempfänger an alle, die meinen          das sich aus einst viel mächtigeren
Erzählungen in dem alles durch­              Schichten verdichtet hat.
setzenden Straßenlärm oder bei dem
bald auseinandergezogenen Pulk               Auf dem knappen dreiviertel Kilo­
kaum folgen könnten. Erleichtert             meter von hier bis zur Mühlendamm­
kann ich unten an der Brücke nach            brücke kreuzen mehrere U­Bahn­
den ersten Straßenklippen meine              tunnel die Spree. Wenn man gerade
Zuhörer im Halbkreis versammeln.             auf einem ihrer teppichgroßen
Ich fange an mit dem historischen            Lüftungsroste zu stehen kommt, hört
Hintergrund von Bahnhof und Brücke           man etwa die durchrollende Bahn
und erzähle, welche erhellenden              zwischen Klosterstraße und Mär­
Stationen uns heute erwarten.                kischem Museum. Dazwischen liegt
                                             die Unterwasserfahrt. Auch bei den
Wir genießen die Stille, in die wir          zugemauerten „Geisterstrecken“
beim Hinabsteigen von der Straße             im Zentrum hatte man immerhin die
Schritt für Schritt eingetaucht sind.        Lüftung freihalten müssen, und das
Der sonst nur wenig nachlassende,            wie aus einer versunkenen Zeit
sich stets ätzend in unsere Hörgeräte        emporsteigende Rollen und

                                        37
Dröhnen war jedem Eingeweihten                ein paar Lastkähne und Ausflugs­
als Zeichen einer unabweisbaren               dampfer abfertigt. Die Schleuse
Parallelwelt zugänglich. Vor der              reguliert säuberlich einen Pegelun­
Mühlendammschleuse zweigt                     terschied von einem guten Meter,
der Spreekanal ab, der noch bis               der erst knapp hinter der Mühlen­
nach der Kaiserzeit als durchgängige          dammbrücke in einem hörbaren
Schiffspassage gedient hatte.                 Wasserfall zum Leben erwacht.
                                              Wir stehen vor der Mühlendamm­
Von dem sich allmählich nach                  brücke. Die Uferpromenade wurde
rechts fortwölbenden Stadtbahn­               für uns gnädig unter der vier­
bogen ist das älteste Berliner                spurigen Straßenbrücke hindurch­
Siedlungsgebiet umschlossen.                  gefädelt, die nach einer Fahrzeug­
Unter einem roten Ziegeldach                  welle spürbar zu schwingen an­
erhebt sich die alte Berliner Münze,          fängt. Wir machen, dass wir aus
in der sich zu DDR­Zeiten das                 der schmalen Unterquerung hervor­
Kulturministerium befunden hatte.             kommen. Unter uns wölben sich
Ja, hier muss er gewesen sein, der            nun uralte Keller des alten Nikolai­
Sitz des Ministers, den es als Amt            viertels. Rechts von uns stehen
im heutigen Deutschland gar nicht             die gut nachgebildeten Stilbauten
mehr gibt, jenes Mannes, der über             des 1987 wiederauferstandenen
Bücher und Filme zu richten hatte             Ensembles. Bis wenige Jahre vor
und über das Gehen oder Bleiben               dem Ende unserer DDR war hier
so manchen Künstlers.                         noch alles Grünanlage, nur einzelne
                                              verirrte Mauerreste gab es noch,
Ja, das Dach der alten Münze soll             und das Portal der Nikolaikirche
rot und von der anderen Uferseite             war seit dem Kriege zugemauert,
deutlich zu sehen sein. Ich aber              als wartete es auf ein erlösendes
sehe nichts, vor mir ist alles grau in        Heiliges Jahr. Vom Ufer weg erhebt
wechselndem Schein, und ich muss              sich in die Propststraße hinein
zusehen, dass nicht auch noch in              ein bronzener Zweikampf:
mir alles in einem einzigen grauen            Der Drachentöter Daniel bezwingt
Mahlstrom verschwindet. Immerhin              ein Ungeheuer, das sich unter ihm
kann ich noch die versunkenen                 noch nicht ganz aufgegeben hat.
Bilder wie die Sichttafeln eines
Bänkelsängers hervorholen und als             Lange Jahre nach dem Krieg stand
Panorama um mich aufstellen.                  er im Berliner Friedrichshain hinter
Hinterher, wenn die Promenade                 dem Großen Bunkerberg. 1855 war
vorbei ist, werde ich mir einbilden,          die Plastik entstanden, es war ein
ich hätte alles deutlich mit eigenen          Auftragswerk des preußischen
Augen gesehen. Noch immer sind                Königs nach der Niederschlagung
wir auf der Höhe der Großen                   der 1848er Revolution an den
Schleuse, die von Zeit zu Zeit noch           Bildhauer August Kiss; und der fast

                                         38
Sie können auch lesen