2 Berliner Debatte Initial

Die Seite wird erstellt Stefan-Santiago Freund
 
WEITER LESEN
2 Berliner Debatte Initial
Berliner Debatte
           Initial

21. Jg. 2010
                                       2
                              Europäische Integration
                                  und EU-Kritik
                                                             Beichelt
                                      EU-Kritik
                                   als Aneignung
Neyer
                                  Supranationalität
                                   und Legitimität
                                                          Lechevalier
                                    Europäische             Wielgohs

                                    Sozialpolitik
Gissendanner

                                   Integration 2.0

                                                               Varga
                                      Wahlen            Freyberg-Inan
elektronische Sonderausgabe
ISBN 978-3-936382-68-6               in Ungarn
© www.berlinerdebatte.de
2 Berliner Debatte Initial
Berliner Debatte Initial 21 (2010) 2                                                  1

            Europäische Integration und EU-Kritik
      – Zusammengestellt von Timm Beichelt und Jan Wielgohs –

Editorial                               2                 ***
Europäische Integration                      Michael Dellwing
und EU-Kritik                                Frenemies und das „wahre Selbst“.
                                             Eine Soziologie echter Identitäten
Timm Beichelt                                und feindlicher Freunde                 94
EU-Skepsis als Aneignung
europäischer Politik                    3    Markus Linden
                                             Kein Ende der Demokratie.
Jürgen Neyer                                 Eine Einordnung und Kritik der
Das Recht auf Rechtfertigung und             Erosionsthese Michael Th. Grevens      105
die Legitimität von Supranationalität   17
                                             Johannes Peisker
Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs             Zwischen den Fronten
EU-Sozialpolitik und die Debatte             humanitärer Interventionen             116
um das Europäische Sozialmodell         29
                                             Stephan Beetz
Gert-Rüdiger Wegmarshaus                     Ist das Land anders?
EU-Integration: Demokratische                Neue räumliche Ordnungen
Legitimation durch Deliberation              und ihre gesellschaftlichen Diskurse   123
und Partizipation?                      45
                                             Matthias Finster, Uwe Krähnke
Ungarn nach den Wahlen                       Wie elitär war das
                                             Ministerium für Staatssicherheit?      136
Mihai Varga, Annette Freyberg-Inan
Ungarn 2010                             60
                                             Besprechungen und Rezensionen
Máté Szabó
Ungarn hat gewählt – aber wie?          67   Raj Kollmorgen
                                             Transformation für alle(s)?
Integration von Minderheiten                 Zu Rolf Reißigs Entwurf eines
                                             neuen sozialen Wandlungskonzepts
Scott Stock Gissendanner                     für das 21. Jahrhundert                147
Integration 2.0                         73
                                             Harald Simons:
Mathias Lindenau                             Transfers und Wirtschaftswachstum
Öffnet die Schweizerische Volkspartei        Rezensiert von Ulrich Busch            156
die Büchse der Pandora?                 82
                                             Edelbert Richter:
Michael Bloch                                Die Linke im Epochenumbruch
Das Schweizer Minarett-Verbot           90   Besprochen von Rolf Reißig             158
2 Berliner Debatte Initial
2                                                            Berliner Debatte Initial 21 (2010) 2

                                        Editorial

Noch vor wenigen Jahren galt grundsätzliche       deuten, und plädiert dafür, die Zunahme von
Kritik an der Europäischen Union in den           EU-Kritik als einen Prozess der Aneignung
Öffentlichkeiten ihrer Mitgliedsländer weit-      europäischer Politik durch die kritischen Ak-
gehend als tabu. Unmittelbar nach dem Ende        teure zu interpretieren.
des Kalten Krieges, zwischen 1989 und 1994,           Die weiteren Schwerpunktbeiträge befassen
fand EU-Mitgliedschaft die ausdrückliche Zu-      sich mit ausgewählten Problembereichen, die
stimmung von über 60, zeitweise 70 Prozent        Beichelt als spezifische Anlässe neuerer EU-
der Unionsbürger/innen. Der Bevölkerungs-         Kritik identifiziert. Jürgen Neyer und Gert-
anteil der Gegner schien mit unter 10 Prozent     Rüdiger Wegmarshaus setzen sich mit dem in
vernachlässigbar, und Politiker beschränkten      der Literatur häufig thematisierten „Demokra-
EU-kritische Äußerungen auf Detailaspekte         tiedefizit“ der EU auseinander. Während Neyer
der Unionspolitik, wollten sie nicht der Ver-     den deklarierten Anspruch der EU, demokrati-
letzung des politischen Anstands beschuldigt      schen Prinzipien zu genügen, für grundsätzlich
werden. Diese Konstellation des „permissiven      verfehlt hält und die Legitimationschancen
Konsensus“ ist inzwischen Geschichte. Nicht       supranationalen Regierens in der EU eher in
nur in der breiteren Bevölkerung ist der An-      einem Geltungsgewinn argumentationsba-
teil der EU-Skeptiker in den letzten Jahren       sierter und gerechtigkeitsorientierter Politik
dramatisch gestiegen. Auch von politischen        sieht, prüft Wegmarshaus diverse Ansätze
Eliten der Mitgliedsstaaten und selbst von        direkter und partizipativer Demokratie auf
Intellektuellen, die einst zu den Protagonisten   ihre Eignung, die Legitimationsprobleme der
des europäischen Einigungsprojekts zählten, ist   EU zu beheben.
inzwischen zunehmend vehemente Grundsatz-             Die wachsende Diskrepanz zwischen der
kritik am Modus der europäischen Integration      Forcierung der Integration des europäischen
zu vernehmen. So ist EU-Skepsis in den letz-      Binnenmarktes (negative Integration) und dem
ten eineinhalb Jahrzehnten zum Gegenstand         gleichzeitigen Geltungsverlust von Projekten
intensiver Forschung geworden.                    positiver, auf Marktregulierung basierender
    Timm Beichelt, der im Wintersemester          Integrationspolitik gilt als eine weitere zentrale
2009/10 an der Europa-Universität Viadrina in     Ursache für zunehmende Unzufriedenheit mit
Frankfurt (Oder) die Ringvorlesung veranstaltet   und Kritik an der EU, deren Wahrnehmung
hat, auf welche die Beiträge zum thematischen     schon Jacques Delors dazu motiviert hat, für
Schwerpunkt dieser Ausgabe zurückgehen, sy-       eine Stärkung der „sozialen Dimension“ der
stematisiert einleitend die diversen Phänomene    EU zu werben. Arnaud Lechevalier und Jan
der neueren EU-Skepsis und EU-Kritik nach         Wielgohs liefern einen Überblick über die
Trägergruppen und Themen und unterbreitet         Entwicklungsphasen der Sozialpolitik der EU
verschiedene Erklärungsangebote. Insbeson-        und thematisieren eine Reihe von Faktoren,
dere problematisiert er die in der politischen    die der Verwirklichung der Kernideen des
Öffentlichkeit wie in der Forschung noch          „Europäischen Sozialmodells“ auf absehbare
immer verbreitete Gewohnheit, substanzielle       zeit im Wege stehen werden.
Kritik an der europäischen Integration als für
die weitere Entwicklung der EU destruktiv zu                                         Jan Wielgohs
Berliner Debatte Initial 21 (2010) 2                                                           29

                         Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs

               EU-Sozialpolitik und die Debatte
               um das Europäische Sozialmodell

Timm Beichelt stellt in seinem Beitrag zu          rationsfortschritte, die seit der Gründung der
diesem Heftschwerpunkt fest, dass EU-Skepsis       EG 1957 erreicht worden sind.
in den letzten Jahren an Breite und Intensität         Der Diskurs über die „soziale Dimension“
gewonnen hat, und macht dabei insbesondere         der EU bzw. das Europäische Sozialmodell
Identitätsbedrohungen, den Verlust an nationa-     (ESM), der den Gegenstand dieses Aufsatzes
ler Souveränität, die EU-Bürokratie sowie den      bildet, ist in seiner Entstehung selbst eine
marktzentrierten Modus der Integration und         Reaktion auf Konsequenzen von Integrati-
den damit verbundenen Verlust an allgemeiner       onsfortschritten, die in den Öffentlichkeiten
politischer Steuerungsfähigkeit als Gegenstände    der Mitgliedsländer wie unter den Akteuren
kritischer Diskurse aus. Er konstatiert nicht      der EU-Politik seit Anfang der 1990er Jahre
schlechthin die Zunahme von Kritik an der          umstritten sind.
EU, sondern bezeichnet diese als Aneignung             Im Folgenden werden wir auf den Begriff
europäischer Politik und charakterisiert sie       des ESM und markante Veränderungen in der
damit faktisch als Resultat von Prozessen, in      politischen Debatte eingehen. Anschließend
denen sich die Akteure der verschiedenen           werden wir einige markante Tendenzen der
Ebenen – die Bürger, die Parteien und die po-      Sozialpolitik der EU überblicksartig darstellen
litischen Eliten – die europäische Integration     und die gegenwärtige Konstellation bewerten.
und ihre Resultate „zu eigen machen“. EU-Kritik    Abschließend werfen wir einen Ausblick auf die
erscheint damit selbst als ein Ausdruck des        Zukunft der „sozialen Dimension“ der EU.
Integrationsfortschritts – und es hängt von
ihrer politischen Bearbeitung ab, ob sie die
Integration weiter befördert oder desintegrative   Entstehung und Entwicklung
Tendenzen beflügelt.                               des ESM-Diskurses
     Vor diesem Hintergrund verstehen wir die
Probleme, die Anlass zu EU-Skepsis und Kritik      Worum geht es in der Debatte um das ESM?
geben, nicht einfach als „Mängel“ oder, um mit     Der Begriff „Europäisches Sozialmodell“ bzw.
Lenin zu sprechen, als „Kinderkrankheiten“, die    „Europäisches Gesellschaftsmodell“ hat in der
dem Umstand geschuldet wären, dass sich die        zweiten Hälfte der 1980er Jahre Eingang in die
europäische Integration noch in einem histo-       Sprache der europäischen Integrationsdebatten
risch frühen Stadium befindet, und die durch       gefunden und gehört heute zum festen Reper-
eine „Vervollkommnung“ des eingeschlagenen         toire der offiziellen EU-Rhetorik. Er fungiert
Integrationsmodus quasi organisch überwun-         dort als eine Formel, die den normativen
den werden könnten. Vielmehr betrachten wir        Anspruch der EU verkörpert, ökonomische
sie als durch die Europäisierung selbst bedingt    Dynamik und sozialen Ausgleich systematisch
als Konsequenzen des spezifischen Modus, in        miteinander zu verkoppeln (Aust et al. 2002:
welchem die Integration bisher vorangetrieben      273). Der Kontext, in dem die Rede vom ESM
wurde, gleichsam als „Kehrseiten“ der Integ-       aufkam, war die Kritik von Kirchen, Wohl-
30                                                              Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs

fahrtsverbänden, Gewerkschaften und linken          Gesellschaftsmodell, einer besonderen Kapi-
Parteien an dem Umstand, dass das in der            talismusvariante, rechtfertigen würden, ist in
Einheitlichen Europäischen Akte von 1987            der Literatur allerdings umstritten (siehe u.a.
verankerte Binnenmarktprogramm einseitig            Baldwin 2003; Crouch 2000; Offe 2001), worauf
auf Deregulierung und Liberalisierung setzte,       wir hier aber nicht näher eingehen können.
aber keine sozialpolitischen Akzente enthielt           Delors Vorstellung jedenfalls, die Anfang der
(Schulte 2004: 86). Bis Mitte der 1990er Jahre      1990er Jahre von der Mehrheit der Regierungen
setzte sich dann in der politischen Klasse der      der EU-Mitgliedsländern zumindest rhetorisch
EU die insbesondere auch vom damaligen              unterstützt wurde, lief daraus hinaus, durch
Kommissionspräsidenten Jacques Delors               den Ausbau einer europäischen Staatlichkeit,
vertretene Auffassung durch, dass eine Inte-        d.h. eine stärkere Verlagerung von politischen
grationsstrategie, die ausschließlich auf die       Regelungskompetenzen auf die EU-Ebene und
Integration und Liberalisierung der Märkte          die systematische Einbeziehung der europäi-
setzt, den EU-Bürgern gegenüber nicht be-           schen Sozialpartner die Marktintegration durch
gründungsfähig wäre und daher mit einem             eine „soziale Dimension“ zu ergänzen. Es ging
chronischen Legitimationsdefizit belastet           faktisch darum, den sich andeutenden Verlust
bleiben würde (Aust et al. 2002: 286). In den       der Nationalstaaten an sozialpolitischer Steue-
europäischen Gesellschaften, so die weitere         rungsfähigkeit durch einen Kompetenzgewinn
Argumentation, seien neben Demokratie und           auf der supranationalen Ebene zu kompensie-
persönlichen Freiheitsrechten auch solche           ren, um so die sozialen Errungenschaften der
Werte wie Tariffreiheit, Chancengleichheit          Nachkriegsjahrzehnte unter den veränderten
für alle, soziale Sicherheit und Solidarität tief   Bedingungen des gemeinsamen Marktes zu
verwurzelt – Werte, die, wie Delors betonte,        bewahren.
„der Markt als solcher nicht schaffen noch be-          Mit dem globalen Hegemoniegewinn
wahren kann“ (zit. ebd.). „Die Klammer, die alle    marktliberalen Denkens hat sich im Laufe der
diese […] Grundwerte miteinander verbindet“,        1990er Jahre jedoch auch in dieser Debatte
so heißt es schließlich im Weißbuch Sozialpo-       ein Paradigmenwechsel vollzogen, in dessen
litik der Kommission, „ist die Überzeugung,         Ergebnis solche Vorstellungen von positiver
dass wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt      Integration (Scharpf 1999: 49) und „euro-
Hand in Hand gehen müssen“ (Europäische             keynesianische“ Positionen an den Rand des
Kommission 1994: 5).                                politischen Diskurses geraten sind. Mit der
     Forciert wurde die Debatte nicht zuletzt       Lissabon-Strategie vom Jahr 2000 hat die Idee,
durch die Einsicht, dass die einsetzende Glo-       den Herausforderungen der Globalisierung
balisierung des Kapitalverkehrs auf Dauer die       durch den Umbau der sozialen Marktwirt-
Fähigkeit der einzelnen (westeuropäischen)          schaften der Nachkriegsära zu „aktivierenden“
Wohlfahrtsstaaten zu unterminieren droht,           Wohlfahrtsstaaten zu begegnen, wie sie in der
durch Marktregulierung und Umverteilung             Rede von der „Modernisierung des Europäi-
soziale Ungleichheit zu begrenzen und sozialen      schen Gesellschaftsmodells“ (Europäischer
Frieden zu bewahren. Die Errungenschaften           Rat 2000; zur Diskussion vgl. Giddens 2006)
der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten der          symbolisiert ist, den Charakter einer offiziellen
Nachkriegjahrzehnte, die in der Formel vom          Doktrin erfahren. Dieser Paradigmenwechsel
ESM als ein spezifisches Merkmal reklamiert         lässt sich – stark vereinfacht und zugespitzt in
werden, durch das sich die europäische Kapi-        folgenden Punkten zusammenfassen:
talismusvariante von der US-amerikanischen              (1) Der „Markt“ wird nicht mehr vorrangig
und ostasiatischen unterscheide, würden damit       als eine Organisationsform kapitalistischer
aufs Spiel gesetzt. Ob die westeuropäischen         Wirtschaft angesehen, die politisch reguliert
Gesellschaften tatsächlich genügend Gemein-         werden muss, weil sie Krisen und soziale
samkeiten und gemeinsame Unterschiede               Ungleichheit produziert, sondern primär als
gegenüber den USA und Japan aufweisen, die          ein Instrument der effizienten Allokation von
die Rede von einem spezifisch europäischen          Produktionsfaktoren. Als zentrales Merkmal
EU-Sozialpolitik und die Debatte um das Europäische Sozialmodell                                 31

des herkömmlichen Wohlfahrtsstaates gilt nicht      ist in der EU bislang ebenso wenig gangbar
mehr dessen Fähigkeit zur Gewährleistung            wie der über steuerliche Finanzierung. So
sozialer Kohäsion, sondern seine vermeintliche      kann die EU bis heute keine spending power
Wirkung als Wachstumsbremse, insofern leis-         dazu einsetzen, Einfluss auf die Ausgestaltung
tungsunabhängige Sozialleistungen (d.h. soziale     der Sozialprogramme der Mitgliedsstaaten zu
Bürgerrechte) die Anreize zur Erwerbstätigkeit      nehmen (Leibfried/ Obinger 2008: 14).
minimieren.                                             Da sie keine Kompetenzen zur Erhebung
    (2) Das vorrangige Ziel wohlfahrtsstaatlicher   von Steuern oder Beiträgen hat und nur über
Politik besteht nicht mehr darin, die Bürger        einen geringen Etat verfügt (1 Prozent des
vor den Risiken des Marktes zu schützen,            EU-Bruttonationaleinkommens im Vergleich
sondern sie für den Markt „fit“ zu machen.          zu etwa 20 Prozent in den Mitgliedsstaaten),
Die Begrenzung sozialer Ungleichheit wird           fehlt ihr eine autonome finanzielle Grundlage
tendenziell auf die Gewährleistung gleicher         für die Entwicklung eigenständiger redistri-
Lebenschancen reduziert, was sich in einer          butiver Sozialpolitik. Es überrascht daher
zumindest rhetorischen Favorisierung von Hu-        nicht, dass die Fortschritte, die in den letzten
mankapitalinvestitionen gegenüber Ausgaben          beiden Jahnzehnten in der EU-Sozialpolitik
zur sozialen Sicherung ausdrückt (Stichwort         erzielt worden sind, praktisch ausschließlich
Rekommodifizierung versus Dekommodifi-              die regulative Sozialpolitik betreffen. Zudem
zierung).                                           hat die Rechtsprechung des Europäischen
    (3) Als zentrale Handlungsebene dieser          Gerichtshofes maßgeblich zur Asymmetrie
Reformen gilt wieder der Nationalstaat, d.h.        zwischen negativer und positiver Integration
Projekte der positiven Integration spielen –        der EU beigetragen (vgl. Scharpf 2009).
im Unterschied zur Delorschen Vision – im
Konzept des „neuen“ ESM keine wesentliche           Entwicklungsphasen des „sozialen Europa“
Rolle mehr.
    Vor dem Hintergrund dieser Neubewertung         In der Geschichte der Sozialpolitik der EU
von Markt, Wohlfahrtsstaat und Handlungsebe-        können drei Phasen unterscheiden werden.
ne werden im Folgenden einige markante Ent-         Die erste Phase verlief von 1958 bis 1986. Für
wicklungen der EU-Sozialpolitik dargestellt.        die Gründung der Europäischen Wirtschafts-
                                                    gemeinschaft (EWG) spielten bekanntlich
                                                    sicherheitspolitische und ökonomische Motive
Sozialpolitik der EU – Fortschritte,                die ausschlaggebende Rolle. Die Römischen
Reichweite und Grenzen                              Verträge favorisierten zunächst eine Integration
                                                    der Märkte und beließen die Zuständigkeit
Wie Leibfried et al. (2005) zeigen, haben beim      für die Sozialpolitik bei den Mitgliedsstaaten.
historischen Durchbruch zum Wohlfahrtsstaat         Supranationale Sozialpolitik wurde damit als
in allen Bundesstaaten „Strategien“ zur Um-         ein Nebenprodukt der Integration konzipiert
schiffung von Vetopunkten eine wichtige Rolle       und auf zwei Aufgaben begrenzt:
gespielt. Doch die Wege, die föderalistische        –– Erstens wurden im Zusammenhang mit der
Nationalstaaten üblicherweise gegangen sind,            Arbeitnehmerfreizügigkeit Maßnahmen
um Solidargemeinschaften aufzubauen, sind               zur Koordinierung der nationalen Sozial-
der EU bislang versperrt. In herkömmlichen              versicherungssysteme getroffen, um dem
Bundesstaaten wurden sozialpolitisch bedingte           Grundsatz des Gleichbehandlungsprinzips
Finanzierungskonflikte zwischen Gebiets-                Geltung zu verschaffen, nach dem Arbeit-
körperschaften über den Aufbau autonomer                nehmer aus einem anderen Mitgliedsstaat
Sozialversicherungen und die Beitragsfinan-             im Beschäftigungsland nicht schlechter als
zierung von Sozialleistungen gelöst. D.h., die          einheimische Beschäftigte gestellt werden
Kosten sozialer Sicherung wurden zum großen             dürfen (Verordnung von 19711, erneut
Teil Dritten aufgebürdet - den Arbeitsnehmern           2004).
und Arbeitgebern. Dieser Weg über Parafiski         –– Zweitens übernahm die EU-Sozialpolitik
32                                                         Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs

   über die Sozialfonds eine Pufferfunktion     die Sozialpolitik im Vertrag von Amsterdam
   für die wirtschaftliche Umstrukturierung,    umgesetzt wurde. Die Charta der Grundrechte,
   insbesondere für Regionen mit alten          die am 7. Dezember 2000 in Nizza verkündet
   Indus­t rien. Parallel dazu schreibt der     wurde, greift unter anderem die in dieser
   EWG-Vertrag die Gleichstellung von Frauen    Sozialcharta erklärten Rechte auf. Die Charta
   und Männern auf dem Arbeitsmarkt vor.        der Grundrechte ist durch den Vertrag von
   Diese Regelung hat seitdem Anlass zu einer   Lissabon rechtskräftig geworden (Art. 6 Abs. 1
   weitreichenden Antidiskriminierungsge-       EUV mit Opt-out-Klausel für Großbritannien,
   setzgebung und -rechtsprechung gegeben,      Polen und Tschechien).
   die einen der wichtigsten Beiträge zum           Der Eckpfeiler der EU-Sozialpolitik ist seit
   „sozialen Europa“ darstellt.                 1993 der Vertrag von Maastricht (Vertrag über
Die zweite Phase von 1986 bis 2003 kann mit     die Europäische Union/ EUV vom 7.2.1992).
Jean-Claude Barbier (2008) als das „goldene     Zum einen, weil er auch für die Sozialpolitik
Zeitalter“ des „sozialen Europa“ betrachtet     das Subsidiaritätsprinzip festschreibt, nach
werden. Mit der Einheitlichen Europäischen      dem nur solche Aufgaben vergemeinschaftet
Akte von 1986 gewann die EU zum ersten Mal      werden sollen, die von den Mitgliedsstaaten
Regelungskompetenzen im Bereich des Arbeits-    allein nicht bewältigt werden können, zum
und Gesundheitsschutzes für Arbeitnehmer.       anderen, weil er die Verteilung der Kompeten-
Zudem wurde den Sozialpartnern eine legitime    zen zwischen der EU und den Mitgliedsstaaten
Rolle auf der EU-Ebene eingeräumt. Nach dem     festlegt (Tabelle 1).
Beitritt von Spanien und Portugal wurden 1988       Die Felder, in denen die Souveränität der
die Strukturfonds und der Kohäsionsfonds        Nationalstaaten über das Mitentscheidungs-
und damit die Finanzierungsinstrumente der      recht des Europäischen Rats (bei qualifizierter
Regionalpolitik der EU spürbar aufgestockt.     Mehrheit) und des Europäischen Parlaments
   1989 haben die Mitgliedsstaaten (mit Aus-    (EP) eingeschränkt werden kann, konzentrie-
nahme von Großbritannien) der Gemeinschaft-     ren sich auf Arbeits- und Gesundheitsschutz,
scharta der sozialen Grundrechte der Arbeit-    Arbeitsbedingungen, berufliche Eingliederung
nehmer zugestimmt, die als Abkommen über        und ähnliches. Es sind die sozialpolitischen

Tabelle 1: Die Kompetenzen der EU auf dem Gebiet der Sozialpolitik
 Mitentscheidungsverfahren (EU-Rat und EP) mit qualifizierter Mehrheit:
   –– Verbesserung der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der
      Arbeitnehmer
   –– Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer
   –– Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und Gleichbe-
      handlung am Arbeitsplatz
   –– Bekämpfung sozialer Ausgrenzung
   –– Modernisierung der Sozialschutzsysteme
 Mitentscheidungsverfahren mit Einstimmigkeit:
   –– Soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer
   –– Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrags
   –– Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinter-
      essen
   –– Beschäftigungsbedingungen der Staatsangehörigen dritter Länder
 Kompetenzübertragung ausgeschlossen für:
   –– Arbeitsentgelt
   –– Koalitionsrecht, Streik- und Aussperrungsrecht
EU-Sozialpolitik und die Debatte um das Europäische Sozialmodell                               33

Bereiche, die von den 12 Regierungen (darunter    und so ist in den letzten Jahren von diesem
11 konservativen), die den Maastricht-Vertrag     Verfahren kein intensiver Gebrauch mehr
ausgehandelt haben, als zweitrangig betrachtet    gemacht worden.
wurden. Nichtsdestoweniger können Entschei-            Wie ist diese Sozialgesetzgebung der EU
dungen in diesen Bereichen brisante Themen        insgesamt zu bewerten? Eine generelle Antwort
betreffen, wie die langjährigen Debatten über     ist schwierig, denn sie hängt von der jeweiligen
die Änderung der Direktive von 1993 über die      Lage in den verschiedenen Ländern und den
Regelung der Arbeitszeit gezeigt haben.           betroffenen Gebieten der Sozialpolitik ab.
    In anderen Bereichen bleibt das Veto-Recht    Allgemein könnte man in Anlehnung an Rib-
der Mitgliedsstaaten ungetastet. Das betrifft     hegge (2008) sagen: Die EU-Sozialgesetzgebung
vor allem den Kern des Arbeitsrechts und          strebt zwar nicht nach einer Harmonisierung
der Sozialpolitik wie Kündigungsregelungen        der „best pratices“, aber zumindest begrenzt
oder die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer.     sie den Wettbewerb zwischen den nationalen
In einigen Gebieten schließt der Vertrag von      Sozialsystemen durch Mindeststandards.
Maastricht eine Kompetenzübertragung an           Durch die Integration in den Acquis Commu-
die EU explizit aus – in der Lohnpolitik und      nautaire sind diese Mindeststandards auch für
im Koalitionsrecht (und damit hinsichtlich der    die Länder zwingend geworden, die der EU
Rechte von Gewerkschaften und der Rolle von       erst später beigetreten sind, was namentlich
Tarifverträgen).                                  in einigen ostmitteleuropäischen Staaten zu
    Die Logik dieser Kompetenzverteilung liegt    nicht zu vernachlässigenden sozialen Verbes-
auf der Hand: Je wichtiger die Sozialbereiche     serungen führte.
für die Finanz- und Wirtschaftspolitik sowie           Infolge der Einführung eines neuen Kapitels
für die Erhaltung der nationalen Sozialord-       über die Beschäftigungspolitik in den Vertrag
nungen sind, desto weniger wird die Macht         von Amsterdam wurde 1997 – in Anlehnung
mit der EU-Ebene geteilt. Nichtsdestoweniger      an den Koordinierungsmechanismus in der
ist dadurch eine wichtige Gesetzgebung über       Wirtschaftspolitik – die sogenannte Offene
Sozialstandards entstanden. Das betrifft ins-     Methode der Koordinierung (OMK) eingeführt.
besondere die Freizügigkeit der Arbeitnehmer,     Die OMK kam zunächst bei der Koordinierung
der Arbeitslosen und sonstigen EU-Bürger,         der nationalen Beschäftigungspolitiken zur
das Diskriminierungsverbot, Arbeitsschutz         Anwendung und wurde später auch auf die
und Arbeitsbedingungen, die Europäische           Politik der sozialen Inklusion und zum Teil
Aktiengesellschaft und den Europäischen           auf die Alterssicherung und die Gesundheits-
Betriebsrat.                                      versorgung ausgeweitet. Die OMK beruht im
    Der andere wichtige Aspekt des Maastricht-    Kern auf intergouvernementaler Abstimmung,
Vertrags ist die Verankerung des sozialen         lässt aber die nationalen Zuständigkeiten in den
Dialogs im EU-Recht. Seit 1993 muss die EU-       betroffenen Gebieten unangetastet. Sie stellt
Kommission, wenn sie im sozialpolitischen         im Wesentlichen einen Versuch dar, für die
Bereich eine Initiative ergreifen bzw. eine       nationalen Beschäftigungs- und Sozialpolitiken
Direktive verabschieden will, den Tarifparteien   einen gemeinsamen Rahmen zu definieren.
eine Verhandlungsfrist gewähren. Treffen die      Bei diesem Verfahren erarbeitet zunächst
Sozialpartner eine Vereinbarung, dann wird        die EU-Kommission in Zusammenarbeit mit
diese zum Gemeinschaftsrecht, wenn der Rat        dem EU-Ministerrat gemeinsame Leitlinien,
ihr im Gesetzgebungsverfahren zustimmt.           welche die Mitgliedsstaaten in ihrer Politik
Über dieses Verfahren sind einige wichtige        berücksichtigen sollen, die aber nicht ver-
Vereinbarungen in EU-Recht umgesetzt wor-         bindlich sind. Die Mitgliedsländer erarbeiten
den: im Bereich des Elternurlaubs (1995), der     auf dieser Basis nationale Pläne, über deren
Teilzeitarbeit (1997), der befristeten Arbeits-   Erfüllung im Dreijahresabstand berichtet wird.
verhältnisse (1999) und der Telearbeit (2004).    Anhand dieser Berichte und gegebenenfalls
Allerdings sind die Arbeitsgeberverbände auf      mittels eines Benchmarking-Verfahrens nimmt
EU-Ebene in dieser Hinsicht sehr zurückhaltend    der EU-Rat dann eine Evaluierung vor und
34                                                               Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs

kann auf Empfehlung der Kommission mit                anhängen, eine Standortpolitik entwickelt, die
qualifizierter Mehrheit Empfehlungen an die           mit der eingangs geschilderten Kernidee des
Mitgliedsstaaten aussprechen.                         ESM schwer zu vereinbaren ist.
    Wie hat sich die Einführung der OMK
bisher auf die nationalen Beschäftigungs- und         Der Europäische Gerichtshof und die asym-
Sozialpolitiken ausgewirkt? In Auswertung der         metrische Integration Europas
umfangreichen Literatur der letzten Jahre (u. a.
Goestschy 2004; Zetlin/ Pochet 2005; Schmid           Parallel zum Einflussgewinn marktlibera-
2008, Barbier u.a. 2009; IRES 2009) sind im           len Denkens hat auch die Rechtsprechung
Wesentlichen drei Effekte auszumachen:                des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in
–– Erstens ist unter den administrativen Eliten       zunehmendem Maße die nationalen Siche-
    der EU eine neue „kognitive Gemein-               rungssysteme, das nationale Arbeitsrecht und
    schaft“ entstanden, die sich zunehmend            die Tarifautonomie beschränkt bzw. in Frage
    durch gemeinsame Problemdeutungen                 gestellt. Wie Fritz Scharpf (2009) ausführlich
    auszeichnet – z. B. über die Ursachen von         argumentiert, bewirken die Verteilung der
    Arbeitslosigkeit und die optimale Art, diese      Kompetenzen zwischen der EU und den
    zu bekämpfen.                                     Mitgliedsstaaten und die damit verbundene
–– Zweitens bietet die OMK eine strategische          Anreizstruktur eine doppelte Asymmetrie.
    Machtressource für diverse Akteure, die           Die erste Asymmetrie betrifft die Beziehungen
    auf nationaler Ebene an der Aushandlung           zwischen der gesetzgebenden Gewalt und
    von Zielen und Inhalten der Politik betei-        der Judikative. Mit den Urteilen zu den Fällen
    ligt sind.                                        „Van Gend & Loos“ (1963) und „Costa/ENEL“
–– Drittens hat sich die OMK – und insbesonde-        (1964) hat der EuGH nicht nur die Doktrin der
    re die Europäische Beschäftigungsstrategie        Eigenständigkeit des Europarechts entwickelt,
    (EBS) – als ein „selektiver Verstärker“ (Visser   die besagt, dass die Mitgliedsstaaten sich frei-
    2004) neoliberaler Reformen erwiesen. Das         willig einer Gemeinschaft mit eigenständiger
    gilt insbesondere für die Arbeitsmarktrefor-      Rechtsordnung unterworfen haben, sondern
    men sowie für die Unterordnung der sozialen       auch den Vorrang des Europarechts gegenüber
    Sicherungspolitik unter das inzwischen            dem Recht der Mitgliedsstaaten. Die Wirk-
    dominierende beschäftigungspolitische             samkeit dieser Rechtssprechung, die bei den
    Ziel, Arbeitsplätze „um jeden Preis“ zu           nationalen Verfassungsgerichten (insbesondere
    schaffen.                                         beim deutschen Bundesverfassungsgericht) nie
Seit 2003 ist eine dritte Phase in der EU-Sozi-       unumstritten geblieben ist, wird jedoch durch
alpolitik auszumachen, die im Wesentlichen            hohe Hürden für ihre politische Umkehrung
durch einen Reformstau gekennzeichnet ist.            gestärkt: Entscheidungen des EuGH können
Dazu haben mehrere Faktoren beigetragen, von          nur durch Änderungen des EU-Vertragsrechts
denen hier nur zwei hervorgehoben werden              aufgehoben werden, die einstimmige Beschlüs-
sollen. Zum einen haben sich im Laufe der             se des Europäischen Rats erfordern, in allen
1990er Jahre die Machtverhältnisse von den            Mitgliedsstaaten ratifiziert werden müssen,
Befürwortern einer positiven Integrationspolitik      und daher bei Themen, zu denen unter den
zu Gunsten von politischen Kräften verschoben,        Mitgliedstaaten wenig Einigkeit besteht, kaum
die die „soziale Dimension“ der EU bestenfalls        Erfolgsaussichten haben.
als ein Nebenprodukt der wirtschaftlichen                 Der EuGH hat von dieser Lage Gebrauch
Integration betrachten. Zum anderen hat mit           gemacht, um den vier Grundfreiheiten Vorrang
der Ost-Erweiterung das ökonomische Gefälle           gegenüber den nationalen Sozialordnun-
innerhalb der EU massiv zugenommen. Ange-             gen einzuräumen: Mit dem Urteil zum Fall
sichts der knappen Mittel, die die EU für dessen      Dassonville (1974) hat er Artikel 28 EGV2
Überwindung zur Verfügung stellt, haben die           so interpretiert, dass „jede Handelsregelung
Beitrittsländer, deren Eliten großenteils den         der Mitgliedsstaaten, die geeignet ist, den
Prinzipien marktliberaler Wirtschaftspolitik          innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar
EU-Sozialpolitik und die Debatte um das Europäische Sozialmodell                                   35

oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu       im Gegensatz zur üblichen Rechtssprechung
behindern, [...] als Maßnahme mit gleicher           von Verfassungsgerichten in föderalen Staaten
Wirkung wie eine mengenmäßige Beschrän-              die Rechtsprechung des EuGH nicht darauf
kung anzusehen“ [ist]. Von daher müssen              zielt, ein „faires“ Gleichgewicht zwischen den
alle nationalen Regelungen, die den Handel           Regierungsebenen zu identifizieren und zu
hemmen, als „nicht quantitative“ Hindernisse         schützen. Üblicherweise haben nämlich in
betrachtet werden, die gegen die Warenver-           jeder Föderation das Verfassungsrecht und
kehrsfreiheit verstoßen. Später hat der EuGH         die verfassungsmäßige Rechtsprechung eine
mit der Cassis-de-Dijon-Entscheidung von             bipolare konzeptuelle Struktur: Die natio-
1979 die Rechtslage präzisiert und entschieden,      nalen und regionalen Interessen haben eine
dass „Hemmnisse für den Binnenhandel der             gleichwertige normative rechtliche Stellung.
Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden         Auf EU-Ebene dagegen entscheidet der EuGH
der nationalen Regelungen über die Vermark-          im Alleingang, welche nationalen Interessen
tung eines Erzeugnisses ergeben, hinzunehmen         als gesetzlich vorgeschriebene „zwingende
[sind], soweit diese Bestimmungen notwendig          Erfordernisse“ gelten dürfen. Insofern ist der
sind, um zwingenden Erfordernissen [wie              EuGH ein Instrument zur Förderung eines
dem Schutz der öffentlichen Gesundheit oder          dynamischen Prozesses – einer Integration, die
dem Verbraucherschutz], gerecht zu werden“.          zunehmend auf Kosten der nationalstaatlichen
Wenn solche nationalen Regelungen nicht              Autonomie geht (Scharpf 2009).
gerechtfertigt erscheinen, weil sie den vom               Obwohl der EVG-Vertrag eine Zuständigkeit
EuGH festgesetzten „zwingenden Erforder-             der EU im Bereich der Lohnpolitik und des Ko-
nissen“ nicht entsprechen, oder weil sie den         alitionsrechts explizit ausschließt, hat der EuGH
„Proportionalitätstest“ des EuGH (zwischen           2007 und 2008 in mehreren Entscheidungen
den deklarierten Zielen und den angewandten          (Viking, Laval, Rüffert und Kommission versus
Mitteln) nicht bestehen, gilt das Prinzip der        Luxembourg) im Namen der Grundfreiheiten
gegenseitigen Anerkennung. Insofern hat die          das nationale Streikrecht bzw. die Lohnpolitik
„Cassis-Doktrin“ die Verhandlungskonstellation       und Tarifverträge in Frage gestellt (Höppner
und die Anreize, denen die Mitgliedsstaaten          2009; Laulom/ Lefresne 2009).
im Gesetzgebungsverfahren gegenüberstehen,                Ähnliches gilt für den Gesundheitsbereich.
verändert. Während bis dato die nationale Ge-        Unter Verweis auf die Dienstleistungs- und
setzgebung in Kraft blieb, so lange die nationalen   Warenverkehrsfreiheit hat der EuGH die
Regierungen der Harmonisierungsrichtlinie            Patientenmobilität entscheidend ausgeweitet
nicht zustimmten, findet jetzt das Prinzip der       und die Mitgliedsstaaten in ihrer Souverä-
gegenseitigen Anerkennung systematische              nität über die Sozialversicherungssysteme
Anwendung (Scharpf 2009).                            eingeschränkt. In seiner Rechtsprechung
    Eine Folge dieser Rechtsprechung ist die         stellte er fest, dass, auch wenn der Bereich
systematische Liberalisierung des Binnen-            der sozialen Sicherheit national geregelt
marktes und die Ausweitung der Reichweite            wird, die Dienstleistungsfreiheit in diesem
der „negativen Integration“ (Scharpf 1999:           Bereich Anwendung finden muss. Dem
49). Angesichts des „verfassungsrechtlichen          gemäß sieht das Gericht Regelungen, die
Charakters“ der Entscheidungen des EuGH              für ambulante Leistungen im Ausland eine
können politische Versuche, die Reichweite           Vorabgenehmigung der einheimischen Kran-
dieser Liberalisierung mittels EU-Gesetzgebung       kenkasse fordern, als Verstoß gegen die
zu beschränken, durch das Veto „liberaler“           Dienstleistungsfreiheit. Der EuGH hat in
Regierungen ohne Schwierigkeit blockiert             anderen Entscheidungen hinzugefügt, dass
werden. Diese Konfiguration unterminiert             die Gefährdung des finanziellen Gleichge-
die Verhandlungsmacht der Befürworter von            wichts des sozialen Sicherungssystems keine
Liberalisierungsbeschränkungen und positiver         ausreichende Begründung für die Ablehnung
Integrationspolitik.                                 der Kostenübernahme für eine Behandlung
    Die zweite Asymmetrie entsteht daaus, dass       im Ausland sei. Die Genehmigungspflicht
36                                                                    Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs

ist nur noch im stationären Bereich – sofern               scher „Schocks“ in der Eurozone zu begren-
verhältnismäßig – gerechtfertigt.                          zen, wie die gegenwärtige Krise eindrücklich
                                                           bestätigt. Zum anderen bewirkt sie, dass den
                                                           nationalen Arbeitsmärkten eine Pufferfunk-
Die aktuelle Konfiguration der Europäi-                    tion über die Flexibilisierung der Löhne und
schen Wirtschafts- und Währungsunion                       des Arbeitsrechts zugeschrieben wird. Unter
(EWU) und ihre Konsequenzen für ein                        diesen Umständen verschärft die einheitliche
soziales Europa                                            Währung die Anreize zur Lohnzurückhaltung
                                                           und zum Sozial- und Fiskalwettbewerb zwi-
Der institutionelle Rahmen der EWU erzeugt                 schen den Mitgliedsländern (Fitoussi/ Saraceno
für die Sozialpolitik der EU wie die der Mit-              2005; Beier et al. 2006; Creel et al. 2007; De
gliedsländer erhebliche Restriktionen. Eine                Grauwe 2006).
Koordinierung der Wirtschafts- und Lohn-                       Die internationale Mobilität der Produkti-
politik auf EU-Ebene gibt es lediglich durch               onsfaktoren schränkt den Umverteilungsspiel-
die „Grundzüge der Wirtschaftspolitik“, die in             raum der Regierungen zunehmend ein und
Form einer Empfehlung des Rates beschlossen                drängt sie, die Abgaben auf die am wenigsten
wurden, und den Stabilitätspakt. Der Stabilitäts-          mobilen Produktionsfaktoren zu verschieben,
pakt soll sicherstellen, dass die Mitgliedsstaaten         d. h. den Verbrauch und den Faktor Arbeit.
in ihre Bemühungen um Haushaltsdisziplin                   Wie die Abbildungen 1-3 zeigen, haben die
auch ihre Sozialausgaben einbeziehen. In den               EU-Mitgliedsstaaten in den letzten Jahren die
„Grundzügen der Wirtschaftspolitik“ wird                   Abgaben auf die mobilsten Faktoren, d.h. auf
Sozialpolitik explizit der Wirtschaftspolitik              Kapital sowie die höchsten Vermögens- und
untergeordnet.                                             Erwerbseinkommen, erheblich gesenkt – auf
    Diese institutionelle Architektur der EWU,             ein Niveau, das deutlich unter dem der meisten
die dem sogenannten „Brüssel-Frankfurt-                    anderen OECD-Länder liegt (Laurent 2007).
Konsens“ geschuldet ist, hat weitere negative                  Die sozialpolitisch kontraproduktive Ten-
Folgen für die soziale Entwicklung. Zum einen              denz zeigt sich auch im Bereich der Lohnent-
erschwert sie es, den Umfang makroökonomi-                 wicklung. Zwar ist die vielfach befürchtete

Abb. 1: Körperschaftssteuern in der EU 1995 bis 2005 in Prozent

                                     EU 15 (obere Kurve)            EU 10 (untere Kurve)

Quelle: Eurostat
EU-Sozialpolitik und die Debatte um das Europäische Sozialmodell                37

Abb. 2: Körperschaftsteuersatz in der EU im Vergleich zu anderen OECD-Ländern

Quelle: Laurent (2007)

Abb. 3: Entwicklung der Spitzen-Einkommensteuersätze
und des Körperschaftsteuersatzes in 11 EU-Ländern

Quelle: Laurent (2007)
38                                                                   Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs

race to the bottom hier bislang ausgeblieben.           Arbeitskosten zu senken, Sozialleistungen
Gleichwohl haben mehrere EWU-Länder                     reduziert und der kontributive Charakter der
– allen voran Deutschland – in den letzten              sozialen Sicherungssysteme verstärkt. Zugleich
Jahren einen aggressiven „Lohnwettbewerb“               wurden die Mindestleistungen gekürzt, die
zu Lasten anderer EU-Mitglieder betrieben               das Auffangnetz für die steigende Anzahl von
(Abbildung 4). Ein Vergleich der Entwicklung            Bürgern bilden, die von Sozialversicherungen
der Lohnstückkosten in der deutschen und der            ausgeschlossen sind, um den Druck zur Be-
französischen Industrie (Abbildung 5) zeigt,            schäftigungsaufnahme – auch zu Niedriglöhnen
dass die Lohnstückkosten (Arbeitkosten pro              – zu erhöhen. Beide Strategien zusammen
Kopf/ Produktivität) in Deutschland abneh-              verstärken den Trend zur „Zersplitterung“ der
men, nicht weil die Produktivität schneller             Beschäftigungsnormen und einer Zweigleisig-
als in Frankreich wächst, sondern wegen der             keit der sozialen Sicherungssysteme. Letzt-
Stagnation der Löhne und der indirekten                 endlich manifestieren sich die Effekte dieser
Kosten (Sozialleistungskürzungen, Reform der            Entwicklung in einer deutlichen Zunahme
Finanzierung der Sozialversicherung).                   der sozialen Ungleichheit in den Euro-Ländern
    Zwar haben die Unterschiede in der insti-           und der EU generell (Abbildung 6).
tutionellen Verfassung der nationalen Beschäf-              Fazit: Die institutionelle Architektur der
tigungs- und sozialen Sicherungssysteme die             Europäischen Wirtschafts- und Währungsuni-
von der EWU ausgehenden Impulse zur Kon-                on – mit ihren Strafverfahren (Stabilitätspakt),
vergenz bislang noch stark gebremst. Dennoch            der Harmonisierung (Acquis communautaire
macht es sich bemerkbar, dass die Mehrheit              und Rechtsprechung), der Konkurrenz (über
der Mitgliedsstaaten der Währungsunion die              den europäischen Binnenmarkt) und der „trans-
gemeinsame Tradition des sogenannten Bis-               nationalen Kommunikation“ (insbesondere
marckschen Modells der Lohnversicherung                 mittels der OMK) – forciert die Unterminierung
teilen, im Rahmen dessen Sozialleistungen               der nationalen Umverteilungssysteme – eine
überwiegend über lohnabhängige Beiträge                 Tendenz, die der ursprünglichen Idee des
(Lohnnebenkosten) finanziert werden. Daher              Europäischen Sozialmodells, Konvergenz in
wurden in den meisten Euro-Ländern, um die

Abb. 4: Entwicklung der Lohnstückkosten in der Eurozone 1998-2005
(Arbeitskosten pro Kopf/Produktivität)

Quelle: Europäische Kommission: EMU after Five Years, European Economy, Special Report
EU-Sozialpolitik und die Debatte um das Europäische Sozialmodell                                                                           39

Abb. 5: Entwicklung der Lohnstückkosten in der Industrie in Deutschland und Frankreich

  150,00
                                                                Arbeitskosten und
  140,00                                                        Produktivität in
                                                                FRANKREICH
  130,00

  120,00

  110,00
                                                                                              Produktivität in DEU

  100,00
                                                                                            Arbeitskosten DEU
    90,00
                  1995       1996    1997          1998      1999       2000         2001      2002        2003          2004      2005

Quelle: Europäische Kommission: EMU after Five Years, European Economy, Special Report

Abb. 6: Entwicklung der Einkommensungleichheit
(Veränderungen um Gini-Koeffizient-Punkte)
              Mid-1980s to Mid-1990s                         Mid-1990s to Mid-2000s            Cumulative change (Mid-1980s to Mid-2000s)
         - 0,08     - 0,04   0,00   0,04    0,08    - 0,08   - 0,04   0,00    0,04     0,08     - 0,08   - 0,04   0,00      0,04    0,08

   AUT
   BEL
   CZE
   DNK
   FIN
   FRA
   DEU
   ESP
   GBR
   GRC
   HUN
   IRL
   ITA
   LUX
   NLD
   PRT
   SWE
   CAN
   JPN
   USA
40                                                               Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs

Richtung höherer Niveaus des sozialen Aus-               69 Prozent3 auf mindestens 75 Prozent zu
gleichs zu befördern, entgegen läuft.                    steigern;
    Die im Juni 2010 vom Europäischen Rat            –– die Schulabbrecherquote von derzeit 15
beschlossene „Strategie für Beschäftigung und            auf unter 10 Prozent zu senken und den
intelligentes, nachhaltiges und integratives             Anteil der 30- bis 34-Jährigen mit einem
Wachstum – Europa 2020“ (Europäischer Rat                Hochschulabschluss oder vergleichbarer
2010; Europäische Kommission 2010) lässt in              Qualifikation von gegenwärtig 31 auf min-
dieser Hinsicht keine grundsätzlichen Kor-               destens 41 Prozent zu erhöhen;
rekturabsichten erkennen. Das Dokument,              –– soziale Integration durch die Verminde-
das als Konsequenz der globalen Finanz- und              rung der Armut zu fördern, wobei die
Wirtschaftskrise vor allem eine Stärkung der             konkrete Festlegung der Ziele den Mit-
wirtschaftspolitischen Koordination innerhalb            gliedsstaaten freigestellt ist (Europäischer
der EU, die strengere Überwachung der Haus-              Rat 2010: 12).
haltspolitiken der Mitgliedsstaaten sowie eine       Doch schon die Erfahrungen der Lissabon-Stra-
abgestimmte Strategie für den Ausstieg aus           tegie zeigen, dass die Annahme: „Ein höheres
den temporären staatlichen Maßnahmen zur             Bildungsniveau erhöht […] die Beschäftigungs-
Krisenbekämpfung ankündigt, folgt in sozial-         fähigkeit, und eine erhöhte Beschäftigungsquote
politischer Hinsicht der Logik der in weiten         hilft, die Armut einzugrenzen“ (Europäische
Teilen gescheiterten Lissabon-Strategie aus          Kommission 2010, 13) bestenfalls als unter-
dem Jahre 2000. „Europa 2020“ sieht vor:             komplex zu bewerten ist und dass eine Politik
–– die durchschnittliche Beschäftigungsquote         der Beschäftigungsförderung „um jeden Preis“
    unter den 20- bis 64-Jährigen von derzeit        in der Realität vor allem die Ausweitung des

Tabelle2: Beschäftigung und Armutsgefährdung in der EU-15, 2001-2008
                    Beschäftigungsquote*                  Armutsgefährdung**      Armutsgefährdung
                                                          vor Sozialtransfers     nach Sozialtransfers
                      2001        2008     Veränderung       2001       2008         2001       2008
 Ø EU-15              64,1        67,3          +3,3         24,0        24,8        15,0        16,4
 Spanien              57,8        64,3          +6,5         23,0        24,1        19,0        19,6
 Griechenland         56,3        61,9          +5,6         23,0        23,3        20,0        20,1
 Deutschland          65,8        70,7          +4,9         21,0        24,2        11,0        15,2
 Italien              54,8        58,7          +3,9         22,0        23,4        19,0        18,7
 Österreich           68,5        72,1          +3,6         22,0        24,5        12,0        12,4
 Niederlande          74,1        77,2          +3,1         22,0        19,8        11,0        10,5
 Finnland             68,1        71,1          +3,0         29,0        27,2        11,0        13,6
 Belgien              59,9        62,4          +2,5         23,0        27,0        13,0        14,7
 Frankreich           62,8        64,9          +2,1         26,0        23,1        13,0        13,4
 Dänemark             76,2        78,1          +1,9         29,0        27,8        10,0        11,8
 Irland               65,8        67,6          +1,8         30,0        34,0        21,0        15,4
 Luxemburg            63,1        63,4          +0,3         23,0        23,6        12,0        13,4
 Schweden             74,0        74,3          +0,3         17,0        28,5          9,0       12,2
 Großbritannien       71,4        71,5          +0,1         28,0        29,0        18,0        18,8
 Portugal             69,0        68,2          -0,8         24,0        24,9        20,0        18,5
Quelle:Eurostat
* AnteilderBeschäftigtenandererwerbsfähigenBevölkerungimAlterzwischen15und64Jahren;AngabeninProzentbzw.
   ProzentpunktenfürdieVeränderung
** AnteilderPersonenmiteinemEinkommenvonwenigerals60ProzentdesjeweiligennationalenDurchschnittseinkom-
   mensanderGesamtbevölkerung;AngabeninProzent
EU-Sozialpolitik und die Debatte um das Europäische Sozialmodell                                   41

Niedriglohnsektors stimuliert. Wie Tabelle 2          denen die Problemlösungskapazität der EU
zu entnehmen ist, ist in den fünf Ländern der         institutionell eng begrenzt ist und gleichzeitig
EU-15, die von 2001 bis 2008 den höchsten             die der Mitgliedsstaaten sukzessive abnimmt
Anstieg der Beschäftigungsquote aufzuweisen           (Scharpf 1999: 109). Der Anspruch, der im
hatten, im gleichen Zeitraum die Armuts-              Diskurs über das ESM erhoben wird – wirt-
gefährdung (vor Sozialtransfers) gestiegen.           schaftliche Dynamik und sozialen Fortschritt
Mit Ausnahme Italiens nahm dabei auch der             systematisch zu verkoppeln – scheint daher
Bevölkerungsanteil zu, der trotz staatlicher          bei aller gegenläufigen offiziellen EU-Rhetorik
Transferleistungen von Armut bedroht ist.             (auch der ESM-Modernisierer) in den letzten
Gleichzeitig zeigt die Tabelle, dass auch in Län-     beiden Jahrzehnten deutlich an Geltung ver-
dern mit hohen Beschäftigungsraten (über 70           loren zu haben, wie nicht zuletzt die Zunahme
Prozent im Jahr 2008) Armutsgefährdung nur            der sozialen Ungleichheit und der Armutsge-
dort signifikant gemindert wird, wo der Staat         fährdung zeigt.
vergleichsweise umfangreiche Sozialtransfers              Die „alte“ Vorstellung, den Rückgang so-
organisiert. Genau diese Fähigkeit wird durch         zialpolitischer Problemlösungskapazität der
die oben erläuterte institutionelle Verfassung        Nationalstaaten durch eine substanzielle Kom-
der EU wie auch durch die neue Strategie              petenzverlagerung auf die supranationale Ebene
„Europa 2020“ in Frage gestellt.                      zu kompensieren, scheint vorerst gescheitert.
                                                      Und die Erfolgaussichten der „neuen“ Strategie,
                                                      mittels unverbindlicher intergouvernementaler
Schlussbemerkungen                                    Abstimmung im Rahmen der OMK die negati-
                                                      ven sozialpolitischen Effekte der Binnenmarkt-
Sicherlich wäre es verkürzt, die Entwicklung,         regeln und des Wettbewerbsrechts wirksam zu
die die EU-Sozialpolitik in den letzten 15 Jah-       neutralisieren und soziale Kohäsion innerhalb
ren genommen hat, als bloßen Ausdruck des             und zwischen den Mitgliedsgesellschaften zu
Siegeszuges neoliberaler Ideologie zu deuten.         gewährleisten, scheinen eher fraglich. Viel-
Wie wir gezeigt haben, sind im Bereich der            mehr ist damit zu rechnen, dass Jürgen Neyers
supranationalen regulativen Sozialpolitik, d.h.       Charakterisierung der EU als eines Gebildes,
der Setzung von EU-weiten Standards, in den           das sich im sozialpolitischen Bereich durch
1990er Jahren durchaus erkennbare Fortschritte        „organisierte Unverantwortlichkeit“ (Neyer
erzielt worden, deren Bedeutung namentlich für        2007: 43) auszeichnet, für absehbare Zeit seine
einige Beitrittsländer nicht unterschätzt werden      Gültigkeit behalten wird. Die Formel vom ESM
sollte. Insofern lassen sich die Lissabon-Strategie   droht damit, sich von einer identitätsstiften-
und „Europa 2020“ nicht nur als Strategien            den europäischen Vision in eine bloße Fiktion
zur Überwindung der auf Dekommodifizie-               bzw. eine Etikette für die Umorientierung
rung orientierten Wohlfahrtsregime, sondern           der mitgliedsstaatlichen Sozialpolitiken von
auch als Versuch der Zurückweisung radikaler          Welfare- zu Workfare-Politik (Peck 2001) zu
neoliberaler Positionen interpretieren. Zudem         verwandeln.
kann man die OMK auch als einen Versuch                   Abschließend sollen noch einige Faktoren
interpretieren, im Bereich des Sozialschutzes,        anführt werden, die der Entwicklung einer Euro-
in dem es der EU an gesetzgeberischer Kom-            päischen Sozialpolitik, die dem ursprünglichen
petenz fehlt, gemeinschaftliches Handeln aber         Anspruch eines spezifischen Europäischen
geboten bzw. wünschenswert ist, zumindest             Sozialmodells im eingangs erläuterten Sinne
eine politische Strategie zu finden, die den          gerecht werden könnte, entgegenstehen:
Trend zu einer race to the bottom bremst (vgl.            Erstens, mit der fortschreitenden Ver-
Schulte 2004: 89).                                    lagerung wichtiger Kompetenzen in den
    Gleichwohl reichen diese Fortschritte             Zuständigkeitsbereich der EU – namentlich
nicht annähernd, um das Grundproblem auch             in der Außenhandels-, Wettbewerbs- und
nur im Ansatz zu bewältigen, dass nämlich             Währungspolitik – gehört die Sozialpolitik
Sozialpolitik zu den Politikfeldern gehört, in        zu den wenigen zentralen Politikfeldern, in
42                                                                                   Arnaud Lechevalier, Jan Wielgohs

denen die Regierungen der Mitgliedsstaaten                         effizient, positive Integrationspolitik dagegen
noch Gestaltungskompetenzen besitzen, die                          wenig attraktiv.
einen gehaltvollen programmatischen Partei-                             Viertens haben mit der Osterweiterung
enwettbewerb ermöglichen. Ungeachtet der                           das ökonomische Gefälle und die kulturel-
vorteilhaften Möglichkeit, die Schuld für die                      le Heterogenität innerhalb der EU massiv
Gründe gesellschaftlicher Unzufriedenheit                          zugenommen, was die länderübergreifende
der EU zuzuschreiben, würde ein weiterer                           Einigungsfähigkeit in diesem für die nationalen
sozialpolitischer Kompetenzabtritt den de-                         Legitimationszusammenhänge substanziellen
mokratischen Wettbewerb weiter entleeren                           Politikfeld zusätzlich beschränkt.
und die heute schon bestehenden Legitimati-                             Fünftens sind auch die Erwartungshaltungen
onsprobleme der nationalen politischen Eliten                      der EU-Bürger an eine supranationale europä-
weiter verschärfen.                                                ische Sozialpolitik heterogen und ambivalent.
    Zweitens bietet die traditionelle Vielfalt der                 Einerseits befürwortet insgesamt eine Mehrheit
national spezifischen Ausgestaltungen der eu-                      der EU-Bürger – wie Abbildung 7 zeigt – eine
ropäischen Sozialstaaten (vgl- Esping-Andersen                     aktivere sozialpolitische Rolle der EU, was
1990) dank deren institutioneller Trägheit zwar                    interventionistische Positionen und positive
einen gewissen Puffer gegen marktliberale                          Integrationspolitik durchaus legitimieren
Reformstrategien. Aber gleichzeitig erschwert                      würde. Andererseits deuten die Befunde dieser
sie auch eine länderübergreifende Einigung auf                     und anderer Meinungsumfragen (Dehousse
sozial progressive und Konvergenz fördernde                        2008) auf eine tendenzielle Spaltung der öf-
supranationale Lösungen.                                           fentlichen Meinung zwischen wie in den ein-
    Drittens, auch wenn im Bereich der                             zelnen Gesellschaften hin: In den ökonomisch
Wirtschaftspolitik marktliberales Denkens                          leistungsstärkeren Ländern und unter den
in den letzten Jahren und namentlich im                            einkommensstärkeren Bevölkerungsgruppen
Zuge der Weltwirtschaftkrise von 2008/9                            fällt die Zustimmung zu einer stärker harmoni-
an Attraktivität verloren zu haben scheint,                        sierenden Rolle der EU vergleichsweise gering
dominieren hinsichtlich der europäischen                           aus. Damit korrespondieren auch Analysen der
Sozialpolitik weiterhin Orientierungen auf re-                     Referenden über den EU-Verfassungsvertrag in
kommodifizierende Reformstrategien. Aus der                        Frankreich und den Niederlanden. Diejenigen,
Perspektive liberal orientierter nationalstaat-                    die gegen den Vertrag gestimmt haben, haben
licher wie EU-Eliten aber ist die gegenwärtige                     ein gemeinsames soziales Profil: Es waren über-
Konfiguration fast optimal: Der Wettbewerb                         wiegend Arbeiter, Menschen mit niedrigem
zwischen den nationalen Systemen scheint                           Bildungsniveau und Teile der Mittelschichten,

Abb. 7: Zustimmung der Bevölkerung zu einer Harmonisierung
der sozialen Sicherungssysteme in der EU (2006)
  100

     80

                                                                                                                 EU-25
     60

     40

     20

     0
                    H

                        GR

                                                                                           T
               LV

                                       CY

                                                                                                            A

                                                                                                                IE

                                                                                                                     UK
                                                CZ

                                                                                                    D
                             SK

                                  EE

                                            B

                                                      P

                                                                        S

                                                                                 E

                                                                                               DK
                                                                   NL

                                                                            LT

                                                                                      F

                                                                                                                          SF
          PL

                                                                                                        L
                                                          SI

                                                               I

                                                                                          M

Quelle:
 Quelle:Eurobarometer (2006a: 43)
           Eurobarometer      (2006a:           43)
EU-Sozialpolitik und die Debatte um das Europäische Sozialmodell                                          43

die die EU vornehmlich als großen Markt wahr-      (Hofbauer 2007). Statt dessen ist eher damit
nehmen und die marktliberale Konstruktion          zu rechnen, dass Gruppen, deren EU-Kritik
der Union als Bedrohung empfinden (ebd.:           bislang einen Aneignungsanspruch artikuliert,
6), oder die die Präkarisierung wachsender         sukzessive in Richtung eines grundsätzlicheren
Bevölkerungsgruppen und den Abbau öffent-          „Euro-Skeptizismus“ (siehe Beichelt in diesem
licher Dienstleistungen aus sozialethischen        Heft) tendieren werden. Für die Legitimation
Gründen ablehnen. Aber es sind genau diese         des europäischen Integrationsprojekts stellt
Gruppen, die vergleichsweise ungünstige Vo-        sich damit eine Herausforderung, auf die die
raussetzungen haben, um ihre Interessen im         politischen Eliten der EU wie die ihrer Mit-
demokratischen Wettbewerb zur Geltung zu           gliedsstaaten bislang keine Antwort bieten.
bringen, und deren Unzufriedenheit daher ein
hohes Anomiepotenzial enthält.
     Man kann die Debatte um die „soziale          Anmerkungen
Dimension“ der EU und die darin artikulierte       1   VO (EWG) 1408/71 vom 14. Juni 1971; ergänzt durch
Kritik an der marktzentrierten Konstruktion der        die Durchführungsverordnung (EWG) 574/72, die die
Union im Sinne der anfangs angesprochenen              praktische Anwendung ersterer regelt. Die Verordnung
                                                       1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen
Anregung von Beichelt als einen Prozess der            Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie
Aneignung europäischer Integrationspolitik             deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemein-
interpretieren. Aber es handelt sich dabei um          schaft zu- und abwandern, stellt eine Art Sozialversi-
einen Prozess, in dem rivalisierende Aneig-            cherungsabkommen zwischen den Mitgliedstaaten der
                                                       EU, dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und
nungsansprüche geltend gemacht werden,                 der Schweiz dar, das die Systeme die sozialen Sicherung
insofern die Teilnehmer der Debatte kon-               koordiniert. Um die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht
kurrierende soziale Gruppen und politische             zu beschränken, sorgt die Verordnung dafür, dass
                                                       Arbeitnehmer und Selbstständige bei einer beruf-
Akteure sind, die den Anspruch erheben, die            lichen Tätigkeit im Ausland sozial abgesichert sind,
EU so zu gestalten, dass sich damit ihre jeweils       d.h., sie weiterhin ihren Krankenversicherungsschutz
eigenen Lebenschancen verbessern bzw. ihren            genießen, ihre Rentenansprüche nicht einbüßen, und
je spezifischen Präferenzen Rechnung getragen          auch im Fall der Arbeitslosigkeit abgesichert sind. Der
                                                       Geltungsbereich der Verordnung wurde im Laufe der
wird. Über die Verwirklichung so verstandener          Jahre, nicht zuletzt aufgrund der Rechtsprechung
Aneignungsansprüche wird immer wieder neu              des EuGH (siehe unten), sukzessive ausgeweitet. Er
im demokratischen Wettbewerb oder auch in              erstreckt sich nunmehr auch auf Angestellte und
                                                       Selbstständige, die in anderem Mitgliedstaat einer
sozialen Kämpfen entschieden. Deren Ausgang            Beschäftigung nachgehen bzw. eine solche suchen,
ist trotz der gegenwärtigen Hegemonie markt-           sowie auf Rentner (mit Rentenansprüchen), Grenz-
liberalen Denkens offen und unterliegt nicht           arbeiter und Studenten/Auszubildende (jeweils mit
zuletzt auch kontingenten Entwicklungen. Die           Angehörigen).
                                                   2   „Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle
obigen Ausführungen sollten jedoch deutlich            Maßnahmen gleicher Wirkung sind zwischen den
gemacht haben, dass in diesem Wettbewerb               Mitgliedstaaten verboten“.
wenig Chancengleichheit besteht, sondern dass      3   Für „Europa 2020“ werden neue Indikatoren entwickelt.
                                                       So wird in den Angaben von Eurostat die Beschäfti-
soziale Gruppen bzw. politische Akteure, die           gungsquote künftig auf die 20- bis 64-Jährigen bezogen,
eine stärkere positive Integration im Interesse        anstatt wie bisher auf die 15- bis 64- Jährigen.
der Verkopplung von ökonomischer Dynamik
und sozialem Ausgleich teils aufgrund ihrer
unzureichenden Organisationsfähigkeit, teils
                                                   Literatur
durch die institutionelle Architektur der EU       Aust, Andreas/ Leitner, Sigrid/ Lessenich, Stephan, 2002:
systematisch benachteiligt sind. Dies beschränkt       Konjunktur und Krise des Europäischen Sozialmodells.
die Aussichten für eine Umkehrung des seit             Politische Vierteljahresschrift 43 (2), 272-301.
                                                   Baldwin, Peter, 2003: Der europäische Wohlfahrtsstaat.
dem Maastrichter Vertrag zunehmenden                   Konstruktionsversuche einer zeitgenössischen For-
Trends zur Polarisierung zwischen den in der           schung. In: Stephan Lessenich/ Ilona Ostner (Hg.):
EU dominierenden Eliten und der öffentlichen           Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Frankfurt (Main):
                                                       Campus, 45-63.
Meinung sowie der Erosion des zuvor breiten        Barbier, Jean-Claude, 2008 : La longue marche de l’Europe
gesellschaftlichen Integrationskonsenses               sociale. Paris: Presse Universitaire de France.
Sie können auch lesen