APUZAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - BPB

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APUZAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - BPB
APuZ
Aus Politik und Zeitgeschichte
                62. Jahrgang · 14–15/2012 · 2. April 2012

                        Vollbeschäftigung?
                                        Thomas Straubhaar
                                 Wege zur Vollbeschäftigung
                                        Hans-Jürgen Urban
 Gute Arbeit: Leitbild zeitgemäßer Vollbeschäftigungspolitik
                          Aysel Yollu-Tok · Werner Sesselmeier
Vollbeschäftigung: zeit- und gesellschaftskontingenter Begriff
                Martin Dietz · Michael Stops · Ulrich Walwei
  Vollbeschäftigung in Sicht? Zur Lage auf dem Arbeitsmarkt
                                       Markus Promberger
Mythos der Vollbeschäftigung und Arbeitsmarkt der Zukunft
                                        Toni Pierenkemper
   Kurze Geschichte der „Vollbeschäftigung“ in Deutschland
                                          Friederike Maier
      Ist Vollbeschäftigung für Männer und Frauen möglich?
                                            Günther Schmid
Annäherungen an eine Politik der Vollbeschäftigung in Europa
APUZAUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - BPB
Editorial
Mitten in Krisenzeiten staunt die Welt über das German Job
­Miracle: Die Zahl der Arbeitslosen lag im Februar 2012 bei knapp
 über drei Millionen, die Arbeitslosenquote bei 7,4 Prozent, die
 Zahl der Erwerbstätigen ist auf über 41 Millionen gestiegen –
 ein beneidenswerter Zustand im wiedervereinigten Deutsch-
 land nicht nur im Vergleich zur Situation etwa in Griechenland
 oder Spanien. Befinden wir uns auf dem Weg zur „Vollbeschäf-
 tigung“, wie sie bisher nur ein einziges Mal in der Geschichte
 der Bundesrepublik, im „Goldenen Zeitalter“ der 1960er Jahre
 erreicht wurde? Oder ist das Vollbeschäftigungsziel eine Illu­
 sion, ja ein Mythos?

  Von Arbeitslosenquoten von unter drei Prozent wie in den
Jahren 1958 bis 1974 sind wir weit entfernt. Hinter dem Beschäf-
tigungswunder der frühen Bundesrepublik stand eine histori-
sche Sondersituation: die Durchsetzung des auf standardisierter
Massenproduktion und Massenkonsum beruhenden fordisti-
schen Produktionssystems und der damit verbundenen sozia-
len Integration der Arbeiter im Wiederaufbauboom nach dem
Zweiten Weltkrieg – unter weitgehendem Ausschluss von Frauen
aus dem Arbeitsmarkt. Das sogenannte Normalarbeitsverhält-
nis, das zu jener Zeit institutionalisiert wurde, ist heute für viele
Menschen nicht mehr zu haben – das aktuelle „Jobwunder“ be-
ruht zu einem erheblichen Teil auf der Ausweitung atypischer,
nicht selten prekärer Beschäftigung.

  Warum halten dennoch viele am Ziel Vollbeschäftigung, wie
immer auch definiert, fest? Ein hoher Beschäftigungsstand kann
für wirtschaftliche Nachfrage und Wachstum sorgen, und finan-
zielle Ressourcen wie auch gesellschaftliche Anerkennung sind
eng mit der Teilhabe am Erwerbsarbeitsleben verknüpft, eben-
so der Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherungssysteme.
Wer diesen Zusammenhang nicht aufbrechen will, etwa durch
Einführung eines Grundeinkommens, der muss in Wahlkampf-
zeiten vor allem immer noch das eine glaubhaft versichern kön-
nen: eine wirtschaftliche Entwicklung zu fördern, die bestehen-
de Arbeitsplätze sichert und neue schafft.

                                                     Anne Seibring
Thomas Straubhaar             gangen. In allen anderen Ländern des Euro-
                                                           Raums (außer Estland) ist sie gestiegen. Noch

      Wege zur Voll-                                       eindrücklicher fällt ein Vergleich der Beschäf-
                                                           tigungssituation aus. In Deutschland sank die
                                                           (standardisierte) Arbeitslosenquote von 7,1 %

      beschäftigung                                        2010 auf 5,8 % 2011. In Frankreich verharrte
                                                           sie auf dem weit höheren Niveau von 9,8 %, in
                                                           Italien ging sie lediglich von 8,4 % auf 8,1 %

              Essay                                        zurück, in Großbritannien blieb sie unverän-
                                                           dert bei 7,8 %. Der Arbeitsmarkt in Deutsch-
                                                           land hat somit die Krise im internationalen
                                                           Vergleich mehr als gut überstanden.

      V       oller Bewunderung schaut die Welt auf
              Deutschland. Mit German Miracle oder
        mit „deutschem Jobwunder“ wird bezeich-
                                                              Die deutsche Beschäftigungsentwicklung
                                                           der vergangenen Jahre ist weder mit frühe-
                               net, was sich hierzu-       ren Abschwungphasen vergleichbar noch mit
          Thomas Straubhaar lande abspielt.❙1 Das für      den wesentlich ungünstigeren Entwicklun-
     Dr. rer. pol., geb. 1957; die meisten schon zur       gen in den meisten anderen Industrieländern.
Professor an der Universität Utopie gewordene Ziel         Obwohl die gesamtwirtschaftliche Produk-
         Hamburg; Leiter des der Vollbeschäftigung         tion erst allmählich wieder das Vorkrisenni-
  Hamburgischen Weltwirt- könnte bereits in weni­          veau von Anfang 2008 erreichte, hat sich die
    schaftsinstituts (HWWI), gen Jahren Wirklich-          Arbeitsmarktlage verbessert. Trotz Euro-Kri-
       Heimhuder Straße 71, keit werden.❙2 Deutsch-        se und weltweiten Rezessionsängsten waren
             20148 Hamburg. land, dank Marshallplan        2011 im Jahresdurchschnitt lediglich 2 976 000
      straubhaar@hwwi.org und Sozialer Markt-              Personen arbeitslos gemeldet, 263 000 weni-
                               wirtschaft wie Phönix       ger als im Vorjahr.❙4 Ebenso erfreulich entwi-
        aus der Asche des Zweiten Welt­kriegs aufge-       ckelten sich Erwerbstätigkeit und sozialversi-
        stiegen, dann erst zum Wirtschafts­w under         cherungspflichtige Beschäftigung. Sie nahmen
        und später nach der Wiedervereinigung zum          2011 weiter zu. Ende des Jahres lag die Zahl der
        kranken Mann Europas gewandelt, hat sich           Erwerbstätigen bei 41,5 Millionen und damit
        mittlerweile zum europäischen Kraftprotz           um 572 000 höher als im Vorjahr; und die so-
        entwickelt. Von vielen bewundert, anderen          zialversicherungspflichtige Beschäftigung er-
        nachgeahmt und manchen neidisch bis miss-          reichte 29 Millionen, was einem Zuwachs von
        trauisch beäugt, ist Deutschland wiederum
        und wie vor hundert Jahren das wirtschaft-
                                                           ❙1 Vgl. The Economist: Germany: Europe’s engine:
        liche Gravitationszentrum Europas, um das          Special Report vom 13. März 2010; Michael C. Bur-
        sich heutzutage alles dreht. Zugleich ist es der   da/Jennifer Hunt, What Explains the German Labor
        makroökonomische Musterschüler, der für            Market Miracle in the Great Recession, in: Brookings
        alle anderen nicht nur Vorbild, sondern auch       Papers on Economic Activity, 42 (2011) 1, S. 273–335;
        das Maß aller Dinge ist.                           Jens Boysen-Hogrefe/Dominik Groll, The German
                                                           Labour Market Miracle, in: National Institute Eco-
                                                           nomic Review, 214 (2010) 1, S. R38-R50.
        In der Tat sind die deutschen Erfolgszahlen        ❙2 Vgl. Michael Bräuninger/Jörg Hinze, Vollbeschäf-
      beeindruckend. Das gilt sowohl für das Ni-           tigung in Reichweite – Eine Projektion, in: Thomas
      veau wie die Dynamik makroökonomischer               Straubhaar (Hrsg.), Wege zur Vollbeschäftigung,
      Kennziffern.❙3 Deutschland erwirtschaftet            Hamburg 2011, online: www.hwwi.org/fileadmin/
      etwa ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts           hwwi/Publikationen/Studien/Vollbeschaeftigung_
                                                           final.pdf (21. 2. 2012), S. 12–26.
      (BIP) der Europäischen Union, Frankreich
                                                           ❙3 Für die Datengrundlage dieses Abschnitts vgl. Pro-
      nicht einmal ein Sechstel, Großbritanni-             jektgruppe Gemeinschaftsdiagnose, Gemeinschafts-
      en und Italien nur je gut ein Achtel. In den         diagnose Herbst 2011 vom 11. 10. 2011, online: www.
      vergangenen beiden Jahren wuchs die deut-            cesifo-group.de/portal/page/portal/ifoContent/N/
      sche Wirtschaftsleistung real insgesamt um           data/forecasts/forecasts_container/GD20111013/
      6,8 % und damit rund doppelt so stark wie            GD-Herbst-11.pdf (21. 2. 2012).
                                                           ❙4 Vgl. Bundesagentur für Arbeit, Der Arbeitsmarkt
      jene des Euro-Raums (3,4 %) oder die fran-
                                                           im Dezember und im Jahr 2011, Presse Info 001 vom
      zösische (3,1 %), britische (2,5 %) oder itali-      3. 1. 2012, online: www.arbeitsagentur.de/nn_27030/
      enische (2,0 %). Die Staatsverschuldung ist in       zentraler-Content/Pressemeldungen/​2 012/Pres-
      Deutschland im vergangenen Jahr zurückge-            se-12-001.html (22. 2. 2012).

                                                                                            APuZ 14–15/2012        3
721 000 gegenüber 2010 entspricht.❙5 Das sind              und Software ergänzt. Zusammen bilden in-
       unglaubliche Rekorde. Nie waren im wieder-                 dustrielle Hardware und industriebezogene
       vereinten Deutschland weniger Menschen                     Software eine perfekte Symbiose, die weniger
       ohne Arbeit, nie hatten mehr Menschen eine                 in Form von Produkten als vielmehr in klug
       Beschäftigung. Noch vor Kurzem hätte man                   durchdachten Prozessketten daherkommt.
       von solchen Erfolgen nicht zu träumen gewagt.              Dies sorgt für stabile Beschäftigungsverhält-
       Die Beschäftigungsentwicklung verblüfft,                   nisse auch bei konjunkturell schwierigen Um-
       weil sie trotz einer Globalisierung zustande               ständen. Die ausgeprägte Lohnzurückhaltung
       kommt, von der Pessimisten immer befürchtet                der Belegschaften und die als Folge davon ge-
       haben, dass sie zu einer Verlagerung der Jobs              genüber der Konkurrenz attraktiver geworde-
       in Billiglohnländer führe. Und der Beschäfti-              nen Lohnstückkosten haben dazu einen we-
       gungserfolg ist möglich, obwohl der Struktur-              sentlichen Beitrag geleistet.
       wandel beschleunigt voranschreitet, was viele
       Skeptiker bewogen hatte, von einem „Ende der                  In Teilen hat während der ­Rezession
       Arbeit“ zu reden. Nichts davon ist geschehen.              2008/2009 auch die staatlich geförderte Kurz-
       Die südasiatischen Arbeiter haben deutsche                 arbeit zur Stabilisierung der Beschäftigung
       Facharbeiter nicht verdrängt, sondern ergänzt.             beigetragen. Darüber hinaus wurden aber
       Und Maschinen haben den Menschen nicht er-                 auch „atmende“ Arbeitszeitkonten genutzt,
       setzt, sondern leistungsfähiger werden lassen.             die in guten Zeiten Überstunden und in
                                                                  schlechteren Tagen ein Abbummeln ermög-
                                                                  lichen. Hier zeigt sich, dass sich die Arbeit-
Gründe für die Beschäftigungserfolge                              geber stärker als in früheren Abschwungpha-
                                                                  sen darüber bewusst sind, wie sehr sie auf das
       Das German Job Miracle hat viele Gründe.                   Wissen und die spezifischen Fähigkeiten ih-
       Auf der Mikroebene sind deutsche Firmen                    rer Belegschaften angewiesen sind. Um das
       international und zwar weltweit hochgra-                   für den langfristigen Betriebserfolg unver-
       dig wettbewerbsfähig, auch da liegt ein Un-                zichtbare „Humankapital“ nicht kurzfristi-
       terschied zum übrigen Europa. Auf der Ma-                  ger Krisen wegen zu verlieren, „horteten“ sie
       kroebene hat der gemeinsame europäische                    qualifizierte Arbeitskräfte. Firmen behalten
       Binnenmarkt den deutschen Unternehmen                      ihre Fachkräfte auch unter schwierigen Zei-
       die Möglichkeit geschaffen, die mikroökono-                ten, um für einen später erhofften und erwar-
       mische Überlegenheit europaweit auszunut-                  teten Aufschwung gut gerüstet zu sein und
       zen. Aus Deutschland wurden vergangenes                    ihre Produktion rasch wieder nach oben fah-
       Jahr erstmals Güter im Wert von mehr als ei-               ren zu können. Deshalb wurden Kurzarbeit
       ner Billion Euro ins Ausland verkauft. Ent-                und Arbeitszeitkonten auch im Interesse der
       sprechend robust sind die Absatzentwick-                   Unternehmen so häufig als Flexibilisierungs-
       lung und damit die Beschäftigungslage.                     maßnahmen gewählt. Aus Sicht der Betrie-
                                                                  be spielt schließlich auch die, wenn auch erst
         Entscheidend für die internationale Wett-                schwach und langsam, nun doch bereits zu-
       bewerbsfähigkeit ist die weltweite Technolo-               nehmend spürbare, demografische Entwick-
       gieführerschaft einiger deutscher Firmen, vor              lung eine verstärkende Rolle. Die schrump-
       allem vieler kleiner und mittelständischer Un-             fende Zahl jüngerer Menschen lässt einen
       ternehmen. Anders als Großbritannien oder                  Fachkräftemangel entstehen. Da werden auch
       Irland, die auf Dienstleistungen und insbe-                ältere Arbeitnehmer wieder wertvoller. Es
       sondere Finanz- und Kapitalmärkte gesetzt                  wird attraktiver, bei vorübergehender Unter-
       haben, ist Deutschland ein Industrieland ge-               auslastung Belegschaften länger zu halten und
       blieben. Das bedeutet nicht einen Verzicht                 auf Entlassungen zu verzichten.
       auf Dienstleistungen. Aber im Kern steht im-
       mer noch die industrielle Wertschöpfung. Sie                 Vor allem aber haben die Hartz-Reformen
       wird durch industrienahe Dienstleistungen                  der rot-grünen Regierung Gerhard Schröders
                                                                  in den Köpfen der Deutschen mehr verändert,
                                                                  als gemeinhin wahrgenommen wird. Sie haben
       ❙5 Vgl. Bundesagentur für Arbeit, Der Arbeitsmarkt
                                                                  Wille und Bereitschaft gestärkt, so rasch wie
       im Januar 2012, Presse Info 004 vom 31. 1. 2012, online:
       www.arbeitsagentur.de/nn_27030/zentraler-Con-              möglich aus der Arbeitslosigkeit wieder zu-
       tent/Pressemeldungen/2012/Presse-12-004.html               rück in die Beschäftigung zu drängen. Fördern
       (22. 2. 2012).                                             und Fordern ist heute akzeptierte Realität ge-

   4    APuZ 14–15/2012
worden. Flexibilität für betriebliche Bündnisse            Verringerung der Langzeitarbeitslosigkeit.
      für Arbeit und ein Verzicht der Belegschaften            Von entscheidender Bedeutung für das Voll-
      auf überrissene Lohnforderungen im Tausch                beschäftigungsziel ist eine deutliche Reduk-
      gegen Beschäftigungsgarantien sind gang und              tion der Langzeitarbeitslosigkeit. Derzeit
      gäbe. Alles in allem hat sich Deutschland in             sind über eine Million Arbeitslose länger als
      den vergangenen zwölf Jahren enorm verän-                ein Jahr arbeitslos. Die Zahl der Langzeitar-
      dert, stärker wohl als das übrige Europa. Es             beitslosen ist seit 2005 zwar deutlich zurück-
      hat jene strukturellen Reformen und Moder-               gegangen. In Teilen ist dies auf die gute kon-
      nisierungsschritte angepackt, die allen ande-            junkturelle Entwicklung in den Jahren 2005
      ren Euro-Ländern noch bevorstehen.                       bis 2008 zurückzuführen. In der Regel ha-
                                                               ben aber „normale“ Arbeitslose mehr vom
                                                               Konjunkturverlauf profitiert als Langzeit-
Wege Richtung Vollbeschäftigung                                arbeitslose. Die Entwicklung zwischen 2005
                                                               und 2008 deutet auch aus diesem Grund da-
      Was bleibt nun zu tun, damit die positive Dyna-          rauf hin, dass sich die Situation am Arbeits-
      mik Richtung Vollbeschäftigung in Deutsch-               markt strukturell geändert hat. Langzeitar-
      land ihren Schwung behält? Wann und unter                beitslosigkeit ist sehr häufig mit bestimmten
      welchen Bedingungen kann Vollbeschäftigung               individuellen Merkmalen verbunden, die zu
      erreicht werden? Zum einen muss die erfolgrei-           geringeren Einstellungschancen dieser Perso-
      che Politik der vergangenen Jahre fortgeführt            nengruppen führen. Zu diesen gehören neben
      werden, zum anderen müssen weitere Refor-                dem Alter insbesondere das Bildungsniveau
      men erfolgen, um noch vorhandene Struktur-               und die familiäre Situation: Unter den Lang-
      probleme am Arbeitsmarkt zu lösen.❙6                     zeitarbeitslosen finden sich vor allem Ältere,
                                                               überproportional häufig gering Qualifizierte
         Festhalten an den Hartz-Reformen. Der Be-             und auch besonders viele Alleinerziehende.
      schäftigungserfolg in Deutschland ist teilwei-
      se die Folge eines Rückgangs der strukturellen             Einstellungschancen von Älteren verbes-
      Arbeitslosigkeit.❙7 Dies wiederum ist wesent-            sern. Die Arbeitslosenquote ist in den ver-
      lich auf die Arbeitsmarktreformen in der ver-            schiedenen Altersgruppen, mit Ausnahme
      gangenen Dekade zurückzuführen. Die grund-               der Jugendarbeitslosigkeit, weitgehend kon-
      sätzlichen Linien dieser Reformen wurden im              stant.❙10 Aber die Dauer der Arbeitslosigkeit
      Gutachten des Sachverständigenrats (2002)                und damit auch der Anteil der Langzeitar-
      eingefordert.❙8 Ein wichtiger Teil der Reformen          beitslosen nehmen mit dem Alter zu. Da die
      war der Übergang von einer aktiven zu einer              Wahrscheinlichkeit, entlassen zu werden,
      aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Diese Re-             mit dem Alter abnimmt, ist die höhere Ar-
      formen begannen mit dem Job-AQTIV-Gesetz                 beitslosigkeit wesentlich auf eine geringere
      2001 und endeten mit der Zusammenlegung                  Einstellungswahrscheinlichkeit zurückzu­
      von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zur Grund-             führen. Diese dürftige Einstellungsdynamik
      sicherung für erwerbsfähige Hilfebedürftige              führt dann auch zu einer verlängerten durch-
      2005.❙9 Trotz des offensichtlichen Erfolgs der           schnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit. Für
      Reformen wird derzeit darüber diskutiert, ob             die geringe Dynamik auf dem Markt für älte-
      diese Anpassungen der Arbeitsmarktpolitik an             re Arbeitnehmer gibt es verschiedene Gründe:
      die Erfordernisse der Zeit zurückgenommen                Einer besteht darin, dass Ältere im Vergleich
      werden sollen. Dies würde die bisher erreich-            zu ihrer Produktivität höhere Löhne verlan-
      te Entwicklung und damit einen weiteren Weg              gen. Hier sind flexiblere Tarife die ­Lösung.
      zur Vollbeschäftigung gefährden.
                                                                 Eine andere Ursache liegt darin, dass für
      ❙6 Vgl. T. Straubhaar (Anm. 2).                          ältere Arbeitnehmer betriebsspezifische In-
      ❙7 Vgl. Alkis Otto/Christina Boll, Die natürliche Rate   vestitionen in „Humankapital“ weniger ren-
      der Arbeitslosigkeit in Deutschland, in: T. Straub-      tabel sind als für jüngere. Sowohl aus Sicht
      haar (Anm. 2), S. 51–69.                                 der Arbeitnehmer als auch der Arbeitgeber
      ❙8 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der ge-
      samtwirtschaftlichen Entwicklung, Zwanzig Punkte
      für Beschäftigung und Wachstum, Wiesbaden 2002.          ❙10 Vgl. Alexander Reinberg/Markus Hummel, Qua-
      ❙9 Vgl. Joachim Möller et al., Fünf Jahre SGB II: Eine   lifikationsspezifische Arbeitslosigkeit im Jahr 2005
      IAB-Bilanz – Der Arbeitsmarkt hat profitiert, IAB-       und die Einführung der Hartz-IV-Reform, IAB-
      Kurzbericht 29/2009.                                     Forschungsbericht 9/2007.

                                                                                               APuZ 14–15/2012        5
reduziert sich damit der Anreiz, in Aus- und       Zwei zentrale Punkte bieten sich an, die
    Weiterbildung zu investieren. Dies könnte        Beschäftigung und die relative Lohnposition
    sich aufgrund des demografischen Wandels         von gering Qualifizierten zu verbessern. Der-
    und des zunehmenden Fachkräftemangels            zeit ist die Belastung mit Abgaben im unte-
    ändern. Durch beide Entwicklungen wer-           ren Lohnbereich in Deutschland noch immer
    den Investitionen in das „Humankapital“          sehr hoch. So führen schon die Sozialabgaben
    auch bei älteren Arbeitnehmern aus Unter-        für sozialversicherungspflichtige Einkom-
    nehmenssicht rentabler. Die eingeschränkten      men dazu, dass die Nettoeinkommen 40 %
    Möglichkeiten zum Vorruhestand in Verbin-        unterhalb der Arbeitskosten liegen. Sofern
    dung mit der länger andauernden Nachfra-         das Einkommen zum Eingangssteuersatz von
    ge nach der eigenen Arbeitskraft verbessern      14 % besteuert wird, liegt die Schere zwischen
    auch die Bildungsanreize für ältere Arbeit-      Arbeitskosten und Nettolöhnen über 50 % –
    nehmer. Im Gegensatz dazu ist die verlänger-     abgesehen von sonstigen indirekten Arbeits-
    te Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I kon-       kosten. Damit die Arbeitskosten durch die
    traproduktiv. Um die Einstellungsdynamik         Produktivität gedeckt sind und es zugleich
    zu erhöhen, ist eine Liberalisierung des Ar-     Arbeitsanreize für gering Qualifizierte gibt,
    beitsmarkts für ältere Arbeitnehmer beson-       muss diese Schere geschlossen werden. Inso-
    ders bedeutsam.                                  fern besteht eine wesentliche Maßnahme zur
                                                     Verbesserung der Beschäftigung von gering
       Bessere Chancen für gering Qualifizierte.     Qualifizierten in der Absenkung der lohnab-
    Bildung ist eine der wesentlichen Determi-       hängigen Sozialversicherungsbeiträge. Dies
    nanten der Arbeitslosigkeit. So hatten nach      kann durch weitere Steuerfinanzierung ge-
    der Statistik der Bundesagentur für Arbeit im    schehen. Alternativ könnte aber auch ein grö-
    September 2010 in Deutschland 43 % der Ar-       ßerer Teil der Sozialabgaben unabhängig vom
    beitslosen keine abgeschlossene Berufsaus-       Einkommen erhoben werden.
    bildung. Dabei betrug der Anteil der Perso-
    nen ohne abgeschlossene Berufsausbildung           Arbeitskosten und Löhne orientieren sich
    im Rechtskreis SGB III nur 23 %, im Rechts-      an der individuellen Produktivität der Be-
    kreis SGB II, in dem die Langzeitarbeitslosen    schäftigten. Im Gegensatz dazu sind sozi-
    sehr viel stärker vertreten sind, lag der An-    alverträgliche Mindeststandards vom Ein-
    teil bei 54 %. Im Bereich der gering Quali-      kommen und von der sozialen und familiären
    fizierten können zum Teil arbeitsmarktpo-        Situation abhängig. Deshalb müssen die Löh-
    litische Programme helfen. Wesentlich ist es     ne von bestimmten Arbeitnehmern durch
    aber auch, Stellen für gering Qualifizierte zu   Zuschüsse ergänzt werden. Diese müssen so
    schaffen. Impulsgeber für diese Entwicklung      gestaltet sein, dass die Gesamteinkommen
    könnte der Dienstleistungssektor, darunter       nach Steuern und Transfers steigen, wenn der
    insbesondere der Gesundheitssektor, sein.        Lohn zunimmt. So haben die Beschäftigten
    Hier ist schon in den vergangenen Jahren die     ein Interesse an höheren Löhnen und versu-
    Beschäftigung stark ausgeweitet worden und       chen, einen möglichst hohen Lohn zu erhal-
    aufgrund des demografischen Wandels wird         ten. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, ist
    sich dieser Trend fortsetzen. Allerdings be-     es auch nicht möglich, dass die Arbeitgeber
    steht bei der Beschäftigung von gering Qua-      den Lohn auf Kosten der Allgemeinheit nach
    lifizierten häufig das Problem, dass deren       unten drücken.
    Produktivität nur geringe Löhne erlaubt. Ge-
    gebenenfalls liegen diese nur wenig über oder      Für die weitere Entwicklung der Beschäf-
    sogar unterhalb dessen, was gesellschaftlich     tigung ist es daher von besonderer Bedeu-
    als sozial akzeptable Einkommensuntergren-       tung, die Zahl der gering Qualifizierten zu
    ze betrachtet wird. Um diese Problematik         reduzieren. Dazu ist es notwendig, die in
    zu umgehen, fordern Teile der Politik Min-       den nächsten Jahren demografisch bedingt
    destlöhne. Diese würden aber nur in einigen      ausscheidenden Arbeitnehmer mit geringen
    Fällen tatsächlich zu einer besseren Entloh-     Qualifikationen durch solche mit besseren
    nung der gering qualifizierten Beschäftigten     Qualifikationen zu ersetzen. Dies setzt eine
    führen. In weiten Teilen würden die Min-         Verbesserung des Schul- und Bildungssys-
    destlöhne die Beschäftigung dieser Gruppe        tems voraus. Insofern sind die weiteren Ar-
    verhindern und damit das Problem der Ar-         beitsmarktentwicklungen wesentlich von der
    beitslosigkeit vergrößern.                       Bildungspolitik abhängig.

6    APuZ 14–15/2012
Vereinbarkeit von Beruf und Familie stär-            Einkommen von qualifizierten Arbeitskräf-
ken. Eine weitere wesentliche Gruppe im                 ten zusätzliche Güternachfrage, die zu einer
Bereich der Langzeitarbeitslosen sind die               Verbesserung der Beschäftigung insgesamt
Alleinerziehenden. Sie sind mit durchschnitt-           beiträgt. Deshalb sollte eine Politik der Voll-
lich 47 Wochen im Vergleich zu 33 Wochen                beschäftigung nicht nur einseitig, sondern
bei den Arbeitslosen insgesamt deutlich län-            mehrseitig sein. Sie soll die Schwachen stär-
ger ohne Beschäftigung. Auch der Anteil                 ken, ohne die Stärkeren zu vernachlässigen.
der Langzeitarbeitslosen ist mit 41 % unter
den arbeitslosen Alleinerziehenden beson-
ders ausgeprägt im Vergleich zu einem Anteil                                                      Fazit
von 33 % unter allen Arbeitslosen. Gleich-
zeitig sind die alleinerziehenden Arbeits-              In den Jahren seit 2005 hat die Beschäftigung
losen im Schnitt besser qualifiziert als die            in Deutschland stark zugenommen, und die
Langzeitarbeitslosen insgesamt. Insofern ist            Arbeitslosigkeit ist deutlich zurückgegangen.
von Seiten des Arbeitsmarkts eine Verbesse-             Die makroökonomischen Rahmenbedingun-
rung der Beschäftigungssituation möglich.               gen sprechen dafür, dass diese erfreuliche Ent-
Voraussetzung dafür ist jedoch eine Verbes-             wicklung in den nächsten Jahren andauert. Vor
serung der Vereinbarkeit von Familie und                diesem Hintergrund könnte die Arbeitslosen-
Beruf, beispielsweise durch verbesserte Kin-            quote im Jahr 2015 unter 5 % fallen. Damit
derbetreuungsangebote, aber auch durch ver-             dies möglich wird, müssen jedoch verschiede-
mehrte Teilzeitstellen.❙11 Außerdem bedarf              ne Bedingungen erfüllt sein. Aus makroöko-
es einer Qualifikationsoffensive für gering             nomischer Perspektive sind weiterhin beschäf-
qualifizierte Alleinerziehende, insbesonde-             tigungskonforme Tarifabschlüsse notwendig.
re jener mit Bezug von Arbeitslosengeld II.             Sollten die Lohnabschlüsse über dem Vertei-
Diese Personen werden den Drehtüreffekt                 lungsspielraum liegen, würde das Wachstum
aus Hilfebedürftigkeit, Übergang in prekäre             gebremst und der weitere Abbau der Arbeits-
Beschäftigung und Rückfall in erneute Hil-              losigkeit verzögert. Große Anpassungserfor-
febedürftigkeit nur durch höhere Bildungs-              dernisse bestehen auf regionaler Ebene. So
abschlüsse und dadurch verbesserte Beschäf-             werden weiterhin große regionale Unterschie-
tigungsoptionen überwinden können.                      de bei den Arbeitslosenquoten bestehen blei-
                                                        ben. Wegen des Fachkräftemangels in pro-
  Bildungsinvestitionen sind Zukunftsin-                sperierenden Regionen wird es für die dort
vestitionen. Um das Ziel der Vollbeschäfti-             angesiedelten Unternehmen wichtig, Arbeits-
gung realisieren zu können, bedarf es neben             kräfte aus strukturschwachen Regionen anzu-
einer gezielten Politik, die auf Langzeitar-            werben und deren Mobilitätsbereitschaft aktiv
beitslosigkeit gerichtet ist, einer Politik, die        zu fördern. Dies sollte nicht durch staatliche
auf die Fachkräfte zielt. Das kann nur gelin-           Maßnahmen der Regionalförderung oder der
gen, wenn das (Aus-)Bildungssystem ständig              Arbeitsmarktpolitik konterkariert werden.
weiterentwickelt und den geänderten Anfor-
derungen einer modernen Arbeitswelt ange-               Arbeitslosigkeit ist in vielen Fällen ein Bil-
passt wird. Das ist keine Einmal-, sondern              dungsproblem. Hier ist es bedeutsam, dass
eine Daueraufgabe. Und es geht um beide: die            die Bildungspolitik zukünftig für eine besse-
Langzeitarbeitslosen wie die Fachkräfte. So             re Qualifikation der Erwerbstätigen sorgt. Um
erhöhen Investitionen in Sach- und „Human­              die Beschäftigungschancen der derzeitig gering
kapital“ die Kapitalintensität und damit die            Qualifizierten zu verbessern, muss die Flexi-
Arbeitsproduktivität – auch der geringer                bilität am Arbeitsmarkt weiter erhöht werden.
Qualifizierten. Darüber hinaus sind qualifi-            Außerdem muss der Arbeitslosigkeit von Al-
zierte und gering qualifizierte Arbeit in Tei-          leinerziehenden durch eine bessere Vereinbar-
len komplementäre Faktoren. Und letztlich               keit von Familie und Beruf begegnet werden.
entsteht durch steigende Beschäftigung und              Wesentlich ist, dass sozial- und bildungspoli-
                                                        tische Probleme nicht durch Eingriffe in den
                                                        Arbeitsmarkt bekämpft, sondern über Sozial-
❙11 Vgl. Michael Bräuninger/Andreia Tolciu/Ul-
rich Zierahn, Arbeitszeitflexibilisierung als Wettbe-
                                                        und Bildungspolitik und gegebenenfalls über
werbsvorteil. Studie im Auftrag des Bundesminis-        direkte Transfers und Hilfe geregelt wird.
teriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
Hamburg 2010.

                                                                                     APuZ 14–15/2012      7
Hans-Jürgen Urban             auch sozial prekäre Arbeitsverhältnisse ak-
                                                          zeptieren. Vor allem die rot-grüne Bundesre-
        Gute Arbeit:                                      gierung (1998–2005) folgte im Rahmen ihrer
                                                          „Agenda-Politik“ diesem Leitbild der „Akti-

Leitbild einer zeitge-                                    vierung“. Hinzu kamen Maßnahmen, die der
                                                          „Insider-Outsider-Theorie“❙3 folgten und zu
                                                          hohe arbeitsrechtliche Standards als Ursache
mäßen Vollbeschäfti-                                      für den Ausschluss von gering qualifizierten
                                                          Arbeitskräften vom Arbeitsmarkt betrach-

        gungspolitik                                      teten. Regulierungen des Arbeits- und Sozi-
                                                          alrecht wurden durch Lockerung von Regu-

                Essay
                                                          lierungen so umgestaltet, dass die „Flexibili-
                                                          tät ‚an den Rändern‘ durch die Erleichterung
                                                          atypischer Beschäftigungsformen mit gerin-
                                                          gerem Schutz“ erhöht wurde.❙4

       D     ie Stimmung scheint gut: Wenn heu-
             te über den Arbeitsmarkt gesprochen
       wird, dann überschlagen sich die Erfolgsmel-
                                                             Doch sowohl das Szenario des „Endes der
                                                          Arbeitsgesellschaft“ als auch das Leitbild ei-
                                dungen. Die Zahl der      ner „rundum-flexiblen“ und prekären Voll-
           Hans-Jürgen Urban Beschäftigten bricht         beschäftigungspolitik müssen heute als ge-
          Dr. phil., geb. 1961; mit 41 Millionen alle     scheitert angesehen werden. So unterstellte die
     geschäftsführendes Vor- Rekorde und die Ar-          Vorstellung eines Ausstiegs aus der Erwerbsar-
 standsmitglied der IG Metall, beitslosigkeit ist deut-   beit unrealistisch weite Verteilungsspielräume,
Wilhelm-Leuschner-Straße 79, lich gesunken. Eine          überschätzte die Möglichkeiten eines nicht-
          60329 Frankfurt/M. Arbeitslosenzahl an          kommerziellen Alternativsektors und machte
        hans-juergen.urban@ der Drei-Millionen-           den Lebensentwurf einer kleinen gesellschaft-
                   igmetall.de Grenze gab es nach         lichen Minderheit voreilig zum normativen
                                der Statistik der Bun-    Leitbild einer ganzen Gesellschaft. Und auch
       desagentur für Arbeit (BA) zuletzt 1992. Das       eine Politik der „prekären Vollbeschäftigung“,
       macht Hoffnung, dass das Ziel Vollbeschäfti-       die mit ihren Aktivierungs- und Deregulie-
       gung zukünftig erreichbar sein könnte. Das         rungskonzepten auf den Ausbau eines unge-
       war einmal anders: Arbeitssparender techni-        schützten Niedriglohnsektors setzt, vermag
       scher Fortschritt, Kosten- und Produktivi-         weder aus arbeitsmarkt- noch aus sozialpoliti-
       tätsdruck der globalen Konkurrenz und ver-         scher Sicht zu überzeugen. So zeigt schon eine
       festigte Massenarbeitslosigkeit haben in den       ehrliche Bilanz der aktuellen Entwicklungen
       Debatten der vergangenen beiden Dekaden            am Arbeitsmarkt, dass nicht einmal die angeb-
       die Befürchtung genährt, das „Ende der Ar-         lichen Erfolgszahlen einer genauen Überprü-
       beitsgesellschaft“ sei gekommen. Wenn der          fung standhalten. Gründe genug, um nach ei-
       Gesellschaft die Arbeit ausgehe, so wurde ge-      ner Alternativstrategie zu suchen.
       folgert, könne Vollbeschäftigung kein realis-
       tisches Ziel mehr sein. Unter diesen Bedin-
                                                          ❙1 Vgl. Claus Offe, Vollbeschäftigung? Zur Kritik
       gungen hielten die Einen die Zeit reif für die     einer falsch gestellten Frage, in: Gewerkschaftliche
       Förderung einer Alternativökonomie und für         Monatshefte, 45 (1994) 12, S. 796–806.
       Strategien der Existenzsicherung außerhalb         ❙2 Stefan Sell, Vom Vermittlungsskandal der Bun-
       der Erwerbsarbeit.❙1 Andere wollten sich nicht     desanstalt für Arbeit zu Hartz IV: Tiefen und Untie-
       von der Erwerbsarbeit verabschieden, kriti-        fen rot-grüner Arbeitsmarktpolitik in einer Medien-
                                                          gesellschaft, in: Dominik Haubner/Erika Metzger/
       sierten zu hohe Löhne und Lohnnebenkosten
                                                          Her­mann Schwengel (Hrsg.), Agendasetting und Re-
       als Wachstumsbremse und propagierten eine          formpolitik. Strategische Kommunikation zwischen
       „aktivierende Arbeitsmarktstrategie“. Aus-         verschiedenen politischen Welten, Marburg 2005,
       gangspunkt war dabei die Vorstellung, „dass        S. 285–319, hier S. 302.
       es durchaus möglich sei, über niedrige Leis-       ❙3 Werner Sesselmeier, Deregulierung und Regulie-
       tungen und mehr Druck die Mobilität der            rung der Arbeitsmärkte im Lichte der Insider-Out-
                                                          sider-Theorie, in: WSI-Mitteilungen, 54 (2004) 3,
       Arbeitslosen zu erhöhen und damit die Dauer
                                                          S. 125–131.
       der Arbeitslosigkeit zu reduzieren“.❙2 Arbeits-    ❙4 Raimund Waltermann, Abschied vom Normalar-
       lose sollten ihre Erwartungen an Einkommen         beitsverhältnis?, in: Beilage zur Neuen Juristischen
       und soziale Sicherheit zurücknehmen und            Wochenzeitung, (2010) 3, S. 81–85, hier: S. 82.

   8    APuZ 14–15/2012
Prekarisierung und soziale Ungleichheit                    Nicht selten handelt es sich bei den atypischen
                                                           zugleich um prekäre Beschäftigungsverhältnis-
als Programm für Vollbeschäftigung?                        se, und den Betroffenen ist der Weg in ein unbe-
                                                           fristetes, sicheres Normalarbeitsverhältnis auf
      Eine kritische Debatte über aktuelle und zu-         Dauer versperrt. Hier entwickelt sich ein ge-
      künftige Anforderungen an eine zeitgemä-             spaltener Arbeitsmarkt mit gut bezahlten Fach-
      ße (Voll-)Beschäftigungspolitik hat mit einer        kräften einerseits und prekär und zu Niedrig-
      realistischen und ehrlichen Analyse der Ar-          löhnen Beschäftigten andererseits.
      beitsmarktentwicklung zu beginnen. Dabei
      lässt ein genauer Blick schnell deutlich wer-           Die Folge dieser Entwicklung ist die Zunah-
      den, dass das Bild des weitgehend problem-           me sozialer Ungleichheit und die „Rückkehr
      freien Arbeitsmarktes die Wirklichkeit nur           sozialer Unsicherheit“ in die Lohnabhängi-
      sehr verzerrt wiedergibt.                            genexistenz.❙6 Erst Ende 2011 stellte die Or-
                                                           ganisation für wirtschaftliche Zusammenar-
         1. In Deutschland werden nicht alle Arbeits-      beit und Entwicklung (OECD) fest, dass die
      losen in der offiziellen Statistik auch als ar-      Einkommensungleichheit in Deutschland seit
      beitslos erfasst. So gelten Über-58-Jährige, die     1990 erheblich stärker gewachsen ist als in den
      zwölf Monate Hartz IV beziehen, ohne ein Jo-         meisten anderen OECD-Ländern. Die zuneh-
      bangebot bekommen zu haben, nicht als ar-            mende Kluft zwischen Arm und Reich gehe
      beitslos. Auch Personen, die an Aktivierungs-        dabei vor allem auf die Entwicklung der Löh-
      und Eingliederungsmaßnahmen teilnehmen,              ne zurück.❙7 So ist seit Mitte der 1990er Jahre
      werden nicht als arbeitslos erfasst. Nimmt man       die Niedriglohnbeschäftigung rapide gestie-
      die Gruppe der Nicht-Erfassten hinzu, so liegt       gen. Im Jahr 2010 arbeitete laut Statistik der
      die Zahl der Arbeitslosen weit über der offizi-      BA jeder fünfte sozialversicherungspflichtige
      ellen Zahl und trübt damit deutlich die Erfolgs-     Vollzeitbeschäftigte im Niedriglohnbereich.
      meldungen. Dies gilt umso mehr, wenn zudem           Viele Menschen können von ihrer Arbeit nicht
      ein näherer Blick auf die Gruppe der Arbeitslo-      mehr leben. Die Zahl der sogenannten Auf-
      sen geworfen wird. Dann stellt man fest: Lang-       stocker – also derjenigen, die zusätzlich zu
      zeitarbeitslose profitieren vom Aufschwung           ihrem Einkommen auf Hartz IV angewiesen
      kaum. Ihre Zahl nahm von Januar 2011 bis Ja-         sind – liegt seit Längerem bei um die 1,3 Mil-
      nuar 2012 nur um knapp 6 % ab, während sie           lionen, darunter mehr als 320 000 sozial­
      bei denjenigen, die nur kurz arbeitslos sind,        versicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte.
      um fast 12 % zurückging. Hier droht ein So-          Hinzu kommt: Atypische Beschäftigung und
      ckel verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit.          Niedriglohn bieten im Falle von Arbeitslo-
                                                           sigkeit häufig keine soziale Absicherung. Je-
         2. Die Erfolgsmeldungen über die quantitative     der vierte Beschäftigte, der seinen Job verliert,
      Entwicklung der Erwerbstätigkeit sagen nichts        landet mittlerweile direkt in Hartz IV.
      über die Qualität der Beschäftigungsverhält-
      nisse – also darüber, welche Art der Erwerbstä-         3. Die Ursachen der robusten Beschäfti-
      tigkeit sich dahinter verbirgt und ob diese eine     gungsentwicklung vor und während der gro-
      sichere Perspektive bietet. Eine Analyse der ak-     ßen Krise sind umstritten. So wird erstens mit
      tuellen Arbeitsmarktentwicklung zeigt, dass          Blick auf die Vorkrisenzeit oftmals argumen-
      der Beschäftigungsaufbau seit der Wiederverei-       tiert, die Lohnzurückhaltung – die durch die
      nigung von einem schleichenden strukturellen         Deregulierung des Arbeitsmarkts verstärkt
      Wandel am Arbeitsmarkt begleitet war. Das Sta-       wurde – sei verantwortlich für den damaligen
      tistische Bundesamt führt aus, dass „nach Er-        Beschäftigungsaufbau. Doch diese Argumen-
      gebnissen des Mikrozensus die Zahl so genann-        tation greift offensichtlich zu kurz. Zwar pro-
      ter atypischer Beschäftigungsverhältnisse (…)        fitierte der deutsche Arbeitsmarkt vom Auf-
      von 1991 bis 2010 um mehr als 3,5 Millionen ge-      schwung der Jahre 2005 bis 2008, im Vergleich
      stiegen (ist), während gleichzeitig die Zahl der     zu früheren Aufschwungphasen wie auch im
      in Normalarbeitsverhältnissen beschäftigten
      Erwerbstätigen um fast 3,8 Millionen sank“.❙5        ❙6 Vgl. Robert Castel/Klaus Dörre (Hrsg.), Prekariat,
                                                           Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn
                                                           des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2009.
      ❙5 Statistisches Bundesamt, Licht und Schatten am    ❙7 Vgl. OECD, Divided We Stand. Why ­Inequality
      Arbeitsmarkt, 11. 1. 2012, online: www.destatis.de   Keeps Rising, Dezember 2011, online: http://dx.doi.
      (20. 2. ​2012).                                      org/​10.1787/​9789264119536-en (15. 2. 2012).

                                                                                            APuZ 14–15/2012        9
internationalen Vergleich ist der Beschäfti-         ve, wohlfahrtsstaatliche Vollbeschäftigungspo-
        gungsaufbau jedoch nicht außergewöhnlich             litik aussehen kann. Folgende Anforderungen
        stark ausgefallen. Und der stärkere Rückgang         müssen bei der Suche nach geeigneten Konzep-
        der Arbeitslosigkeit in der Aufschwungphase          ten und Maßnahmen erfüllt werden.
        geht in erster Linie auf die Entwicklung des
        Arbeitsangebots zurück. Zugleich aber hat               1. Die gegenwärtige Arbeitslosigkeit beruht
        sich die Lohnzurückhaltung negativ auf die           auch auf dem Umstand, dass die Nachfrage
        Kaufkraft und das Konsumverhalten und da-            nach Arbeitskräften niedriger ist als das Ar-
        mit die Binnenkonjunktur ausgewirkt.❙8               beitskräfteangebot auf dem Arbeitsmarkt. Im
                                                             Zuge des demografischen Wandels muss mit
           Zweitens lässt sich die vielfach geäußerte        einem Rückgang des Arbeitskräfteangebots
        These nicht belegen, die robuste Verfassung          und damit mit einer gewissen Entlastung am
        des Arbeitsmarkts in der Krise sei Resultat          Arbeitsmarkt gerechnet werden. Gleichwohl
        der Arbeitsmarktderegulierung und der da-            wird auch in Zukunft die Frage auf der Tages-
        durch beförderten Lohnzurückhaltung. Es              ordnung bleiben, wie Arbeitsplätze nicht nur
        waren vielmehr vor allem die Nutzung tarif-          gesichert, sondern auch wie unter den Bedin-
        licher Möglichkeiten betrieblicher Arbeits-          gungen einer sich wandelnden Industriege-
        zeitverkürzung (Arbeitszeitkonten) sowie die         sellschaft neue geschaffen werden können. Er-
        Kurzarbeit, die in der Krise halfen, Beschäf-        forderlich ist eine Politik der Ökologisierung
        tigung zu sichern. Diese Instrumente haben           und Sozialisierung der Erwerbsarbeit. Ersteres
        mit den Arbeitsmarktreformen des vergange-           wird sich nur mit einer aktiven Wirtschafts-,
        nen Jahrzehnts jedoch nichts zu tun. Sie wa-         Struktur- und Industriepolitik erreichen las-
        ren Verhandlungsergebnis der Sozialpartner,          sen, die Konzepte zur ökologischen Industrie-
        und die Sonderregeln zur Kurzarbeit wurden           produktion fördert und die notwendige Ener-
        erst bei Krisenausbruch ins Leben gerufen.❙9         giewende vorantreibt. Die Sozialisierung der
                                                             Erwerbsarbeit, im Sinne einer sozial verträg-
           Diesen Befunden zum Trotz sind viele Ver-         lichen Erwerbsarbeit, stellt darauf ab, Felder
        fechter der bisherigen Strategie nicht von ihrer     des individuellen und gesellschaftlichen Be-
        Linie abzubringen. So fordert der Sachverstän-       darfs als neue Beschäftigungssektoren zu er-
        digenrat in seinem Jahresgutachten 2011/12           schließen (beispielsweise im Pflegebereich).
        eine Beibehaltung des arbeitsmarktpolitischen
        Deregulierungskurses und mahnt, dass im Fal-            2. Gegenwärtig dominiert ein geradezu ver-
        le einer wirtschaftlichen Abkühlung die „Rigi-       schwenderischer Umgang mit der Arbeitsfä-
        ditäten auf Arbeitsmärkten wie Sperrklinken          higkeit der Menschen. Die Arbeitsintensität
        wirken werden und die erforderlichen Anpas-          steigt über alle Branchen und Berufsgrup-
        sungen behindern“.❙10 Angesichts der erhebli-        pen hinweg, der Zeitdruck wächst und die
        chen Zweifel am Erfolg und dem hohen Preis           Arbeitszeiten werden länger. Zudem arbeitet
        der bisherigen Strategie überzeugt dies nicht.       mittlerweile die Mehrheit der Beschäftigten in
                                                             „atypischen Arbeitszeitlagen“, darunter vie-
                                                             le in Schicht-, Nacht- und Wochenendarbeit.
Wohlfahrtsstaatliche                                         Die Grenzen der Belastbarkeit sind für viele
Vollbeschäftigungspolitik                                    erreicht. Gerade die Zunahme psychisch be-
                                                             anspruchender Arbeitsbedingungen führt für
        Wer den Preis der zunehmenden Prekarisie-            immer mehr Beschäftigte zur Überforderung,
        rung der Arbeits- und Lebensverhältnisse, der        chronischen Ermüdungserscheinungen bis hin
        Rückkehr der Unsicherheit und sozialer Exklu-        zum Burnout. Neben den gesundheitlichen
        sion bei verfestigter Sockelarbeitslosigkeit nicht   Auswirkungen auf die Betroffenen dürfen die
        zahlen will, muss sich fragen, wie eine alternati-   volkswirtschaftlichen Folgekosten dieser Ent-
                                                             wicklung nicht übersehen werden.❙11 Daher
        ❙8 Vgl. Alexander Herzog-Stein et al., Vom Krisen-
        herd zum Wunderwerk? Der deutsche Arbeitsmarkt
        im Wandel, IMK Report 56/2010.                       ❙11 Vgl. Hans-Jürgen Urban/Klaus Pickshaus/Andrea
        ❙9 Vgl. ebd.                                         Fergen, Das Handlungsfeld psychische Belastungen
        ❙10 Sachverständigenrat zur Begutachtung der ge-     – die Schutzlücke schließen, in: Lothar Schröder/
        samtwirtschaftlichen Entwicklung, Verantwortung      Hans-Jürgen Urban (Hrsg.), Gute Arbeit, Zeitbom-
        für Europa wahrnehmen. Jahresgutachten 2011/12,      be Arbeitsstress – Befunde, Strategien, Regelungsbe-
        Wiesbaden 2011, S. 20.                               darf, Frankfurt/M. 2012.

   10    APuZ 14–15/2012
darf eine zeitgemäße Vollbeschäftigungspoli-      wird.❙12 Die beklagte Passivität resultiert auch
tik die Qualität der Arbeit nicht vernachlässi-   aus der Rückkehr der sozialen Unsicherheit in
gen. Alle Maßnahmen, die mit der Intention        die Lohnarbeiterexistenz und die mit ihr ein-
ergriffen werden, neue Arbeitsplätze zu schaf-    hergehenden Momente der Resignation und
fen oder vorhandene zu sichern, müssen vor        der Abwendung von Fragen, die über die ma-
dem Hintergrund der notwendigen Humani-           terielle Existenzsicherung hinausreichen. Die
sierung der Arbeitswelt bestehen können.          Bedeutung einer sozialstaatlich abgesicherten
                                                  Lebensführung für die Demokratie ist mit der
   3. Spätestens mit der Diskussion um die        Entwicklung des neuen deutschen Arbeits-
Deckung des zukünftigen Fachkräftebedarfs         marktregimes und seinen regulatorischen
muss sich eine moderne Vollbeschäftigungs-        und distributiven Liberalisierungsmaßnah-
politik mit dem Problem auseinanderset-           men völlig aus dem Blick geraten. Der ehemals
zen, dass qualifizierte Fachkräfte zu einem       emanzipatorische Anspruch der De-Kommo-
knappen Gut werden könnten. Konzepte,             difizierung der Erwerbsarbeit wurde aus der
die darauf setzen, vorhandenes Arbeitskräf-       Sozial- und Arbeitsmarktpolitik verbannt.
tepotenzial durch Intensivierung der Ar-          Gefordert ist nunmehr die Rückbesinnung
beit, längere Arbeitszeiten und Erhöhung          auf eine emanzipatorische sozial- und arbeits-
des Renteneintrittsalters zu vernutzen und        marktpolitische Strategie, die soziale Risiken
Arbeitnehmerschutzrechte als Einstellungs-        absichert und den Beschäftigten „individuelle
hemmnis attackieren, sind angesichts der          Gestaltungsoptionen in einer Lebenslaufper-
skizzierten Zunahme arbeitsbedingter Er-          spektive“ eröffnet.❙13 Dabei ist zu berücksich-
krankungen kein sinnvoller Ausweg. Ebenso         tigen, dass die sozial abgesicherte, unbefris-
problematisch ist die Erhöhung des Renten-        tete Vollzeitbeschäftigung über das ganze
eintrittsalters. Selbst wenn man den Aspekt,      Erwerbsleben hinweg längst nicht mehr für
dass es sich bei der Rente mit 67 um einen        alle Beschäftigten eine erstrebenswerte Norm
nicht wünschenswerten sozialpolitischen           darstellt. Arbeits- und Lebensformen jenseits
Rückschritt handelt, unberücksichtigt lässt,      des Normalarbeitsverhältnis und der Norma-
ist die Verlängerung der Lebensarbeitszeit        lerwerbsbiografie haben zugenommen. Mit
keine tragfähige Option. Denn: Es gibt kei-       ihnen sind auch neue Sicherheitserwartungen
ne Veranlassung zu glauben, dass mit renten-      und -anforderungen verbunden. Das verlangt
politischen Maßnahmen die Erwerbsbeteili-         nach einem neuen Regime der sozialen Sicher-
gung Älterer tatsächlich erhöht wird. Damit       heit, das autonome Handlungsspielräume bei
wird kein Arbeitsplatz altersgerecht gestaltet    unsteten Erwerbsverläufen eröffnet. Dieser
und kein Sinneswandel bei der Einstellungs-       Aspekt weist über die Beschäftigungs- und
politik der Unternehmen erreicht. Lediglich       Arbeitsmarktpolitik hinaus und stellt alle so-
die Rentenabschläge derer, die am Ende ih-        zialstaatlichen Institutionen vor neue Heraus-
res Arbeitslebens den bruchlosen Übergang         forderungen. Dazu gehören der Ausbau einer
in die Rente nicht schaffen, werden größer. Es    armutsvermeidenden Mindestsicherung im
ist offenkundig: Mehr Druck, mehr Leistung        Rentensystem sowie sozialstaatliche Begleit-
und weniger Schutz sind keine Antworten.          maßnahmen außerhalb der Versicherungs-
Nötig ist die Förderung der Erwerbsarbeit         systeme. An oberster Stelle steht der forcierte
von Frauen, die Erhöhung der Erwerbsquoten        Ausbau einer öffentlichen Infrastruktur der
Älterer und die Verbesserung der Chancen          Kinderbetreuung und der Pflege.❙14
gering Qualifizierter. Der Weg dorthin führt
über die bessere Vereinbarkeit von Familie
und Beruf, die altersgerechte Arbeitsgestal-      ❙12 Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt/M.
                                                  2008.
tung und eine aktive ­Qualifizierungspolitik.
                                                  ❙13 Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier/Claudia Bo-
                                                  gedan, Arbeitsmarktpolitik – ein emanzipatorisches
   4. Colin Crouch hat in seiner These vom        Projekt in der sozialen Marktwirtschaft, in: dies.
drohenden „postdemokratischen Zeitalter“          (Hrsg.), Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Markt-
darauf hingewiesen, dass eine Mixtur aus          wirtschaft, Wiesbaden 2009, S. 269–281, hier: S. 275.
Passivität der Bevölkerung, ausgeklügelten        ❙14 Vgl. Hans-Jürgen Urban, Sozialstaatliche Erneu-
                                                  erung als Reformalternative. Thesen zur Debatte,
Manipulations- und Marketingstrategien der
                                                  in: Hans-Jürgen Urban/Christoph Ehlscheid/Axel
politischen Eliten und einer ausufernden po-      Gerntke (Hrsg.), Der Neue Generationenvertrag.
litischen Lobbymacht transnationaler Unter-       Sozialstaatliche Erneuerung in der Krise, Hamburg
nehmen zur Bedrohung für die Demokratie           2010, S. 227 ff.

                                                                                   APuZ 14–15/2012        11
Solidarische Neuordnung                                  wertiger Beschäftigung – beides gesetzlich
                                                         festgeschriebene Ziele der Arbeitsförderung –
des Arbeitsmarktes                                       zum Herzstück der Arbeitsförderung wer-
                                                         den. Damit würde nicht zuletzt auch ein Bei-
       Es wäre eine Überforderung der Arbeits-           trag zur Fachkräftesicherung geleistet.
       marktpolitik, von ihr die Lösung der gegen-
       wärtigen Arbeitsmarktprobleme zu verlangen.         Verbesserung der sozialen Absicherung für
       Über Arbeitsmarktpolitik alleine lässt sich der   Arbeitslose. Hier ist ein Bündel von Maßnah-
       Schwenk hin zu einer am Leitbild Gute Ar-         men notwendig. Sie reichen von einer bedarfs-
       beit ausgerichteten Vollbeschäftigungsstra-       gerechten Ermittlung und Ausgestaltung der
       tegie nicht bewerkstelligen. Hierzu bedarf es     Hartz IV-Regelsätze, die ein menschenwürdi-
       einer anderen Wirtschafts- und Steuerpoli-        ges Existenzminimum gewährleistet, bis hin zu
       tik. Arbeitsmarktpolitik stellt jedoch ein un-    einer Veränderung der Anspruchsgrundlage für
       verzichtbares Element in einem beschäfti-         Arbeitslosengeld I. Um einen Anspruch auf Ar-
       gungspolitischen Gesamtkonzept dar. Dabei         beitslosengeld I zu haben, müssen Erwerbslo-
       ist zu konstatieren, dass das Herumdoktern        se derzeit innerhalb der zurückliegenden zwei
       an einzelnen Problemen als arbeitsmarktpo-        Jahre mindestens zwölf Monate sozialversiche-
       litischer Beitrag unzureichend wäre. Notwen-      rungspflichtig gearbeitet haben. Vielen befristet
       dig ist vielmehr eine solidarische Neuordnung     Beschäftigten gelingt es nicht, diese Vorausset-
       des Arbeitsmarktes, die darauf zielt, Prekari-    zung zu erfüllen. Eine Verlängerung der Rah-
       tät und Armut für Beschäftigte und Arbeits-       menfrist auf drei Jahre würde dazu beitragen,
       lose zu vermeiden und für beide Perspektiven      dass viele befristet und instabil Beschäftigte An-
       und Sicherheit zu schaffen. Unverzichtbar ist     spruch auf Arbeitslosengeld I erhielten und vom
       daher eine grundlegende Reform der Arbeits-       Abrutschen in Hartz IV verschont ­blieben.
       und Sozialverfassung. Elemente einer entspre-
       chenden Reformstrategie sind:                       Neue Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose,
                                                         die vor Lohndumping schützen. Für Hartz-
         Einführung eines gesetzlichen, flächende-       IV-Empfänger gilt derzeit grundsätzlich jede
       ckenden Mindestlohns. Damit könnte eine           Arbeit als zumutbar. Einzige Haltelinie nach
       über Wirtschaftszweige und Sektoren hinweg        unten ist das Minimalkriterium der Sitten-
       reichende generelle Untergrenze der Entloh-       widrigkeit (sittenwidrige Löhne sind rechts-
       nung sichergestellt und Lohndumping und           widrig und so auch für Hartz-IV-Empfänger
       Downsizingprozesse unterbunden werden.            unzumutbar). Wird eine zumutbare Arbeit
                                                         abgelehnt, drohen dem Betroffenen Leis-
         Regulierung von Leiharbeit und die Umset-       tungskürzungen. Dieses System hat die Aus-
       zung des Grundsatzes „Gleiche Arbeit, gleiches    breitung prekärer, niedrig entlohnter Arbeit
       Geld, gleiche Rechte“. Nach wie vor sind die      erheblich vorangetrieben. Will man hier um-
       gesetzlichen Regelungen unzureichend. Leih-       steuern, sind veränderte Zumutbarkeitsrege-
       arbeiter sind weiterhin Beschäftigte zweiter      lungen nötig, die auf administrativen Zwang
       Klasse, denen der gleiche Lohn und die gleichen   zur Aufnahme prekärer Arbeit verzichten und
       Arbeitsbedingungen verweigert werden, und         Elemente des Berufs-, Qualifizierungs- und
       der Missbrauch der Leiharbeit existiert nach      Verdienstschutzes enthalten. Auch Arbeits­
       wie vor. Mit der Umsetzung des Grundsatzes        lose müssen ein Recht auf tariflich entlohnte
       „Gleiche Arbeit, gleiches Geld, gleiche Rechte“   beziehungsweise ortsübliche Löhne haben.
       würde hier wirkungsvoll gegengesteuert.
                                                            Fazit: Nicht Niedriglöhne, ausufernde Ar-
         Neuausrichtung und Verbesserung der             beitszeiten, verschleißende Arbeitsbelastungen
       Qualität der Arbeitsförderung. In den vergan-     und Druck auf Arbeitslose, sondern ein starkes
       genen Jahren orientierte sich die Arbeitsför-     Flächentarifvertragssystem, faire Löhne und
       derung vorrangig an dem Ziel einer möglichst      sichere Beschäftigung, Investitionen in Bildung
       kurzen Verweildauer in Arbeitslosigkeit und       und Qualifizierung sowie humane Arbeitsbe-
       schnellen Vermittlung, während die Quali-         dingungen weisen die richtige Richtung für
       tät und Nachhaltigkeit der vermittelten Be-       eine an Guter Arbeit orientierte, wohlfahrts-
       schäftigung eine untergeordnete Rolle spielte.    staatliche Vollbeschäftigungspolitik.
       Künftig muss die Verbesserung der Beschäf-
       tigungsstruktur und die Vermeidung unter-

  12    APuZ 14–15/2012
Aysel Yollu-Tok · Werner Sesselmeier                 gungsentwicklungen in den Wirtschaftswis-
                                                            senschaften? Drittens: Ist Vollbeschäftigung

 Vollbeschäftigung:                                         ein „einfach“ zu verfolgendes Ziel? Viertens:
                                                            Und nochmals: Was ist Vollbeschäftigung?

        ein zeit- und                                                             Was ist Vollbeschäftigung?
       gesellschafts-                                       Der Begriff der Beschäftigung, im Sinne ei-
                                                            ner über den Markt organisierten Erwerbs-
kontingenter Begriff                                        tätigkeit, entstand im Zuge der Industriali-
                                                            sierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Einer
                                                            der Katalysatoren für die Industrialisierung
                                                            in Deutschland war Bevölkerungswachstum

       D       ie Beschäftigungssituation in einem
               Land ist sicherlich eine der kritischs-
         ten Größen für die Politik, denn die Arbeits-
                                                            in Kombination mit dem Bedeutungsverlust
                                                            des primären Sektors. Folglich gab es ein gro-
                                                            ßes Angebot an Arbeitskräften, worauf der
                                  marktlage kann über       wachsende Industriesektor zurückgriff. An-
                  Aysel Yollu-Tok Wahlen entscheiden        fang des 20. Jahrhunderts kippte diese Situ-
        Dr. rer. pol., geb. 1979; und tut dies auch oft.    ation aber: Die Weltwirtschaftskrise 1929
 Gastprofessorin für Volkswirt- Der Grund hierfür           führte zur Entlassung von sechs Millionen
  schaftslehre, Hochschule für ist die zentrale Rol-        Erwerbstätigen und damit erstmals zu ei-
   Wirtschaft und Recht Berlin, le der Beschäftigung        ner Massenarbeitslosigkeit in Deutschland.
          Badensche Straße 52, für Wohlstand und            Diese Zeit kann als Geburtsstunde der Voll-
                   10825 Berlin. Wohlfahrt der Be-          beschäftigung als wirtschaftspolitisches Ziel
aysel.yollu-tok@hwr-berlin.de völkerung. Prinzipi-          bezeichnet werden. Vollbeschäftigung ist
                                  ell profitiert die gan-   also ein eher junger Begriff, der erst seit etwa
            Werner Sesselmeier ze Gesellschaft von          150 Jahren eine Rolle spielt.
        Dr. rer. pol., geb. 1960; einem ausgeglichenen
Professor für Volkswirtschafts- Arbeitsmarkt. Vollbe-          Wann ist Vollbeschäftigung erreicht? Si-
   lehre; Herausgeber der Zeit- schäftigung führt zu        cherlich nicht erst, wenn alle Bürger, die ar-
  schrift „Sozialer Fortschritt“; einer nachhaltigen ge-    beiten können und wollen, auch Arbeit ha-
  Universität Koblenz-Landau, samtwirtschaftlichen          ben, die Arbeitslosenquote also bei Null
         Abteilung Wirtschafts­ Nachfrage und da-           liegen würde. In einer dynamischen Markt-
                   wissenschaft, mit zu einem stabilen      wirtschaft wird es aufgrund von diversen
     August-Croissant-Straße 5, ­Wirtschaftswachstum.       Übergängen wie Jobwechsel oder dem Über-
                  76829 Landau. Auf der mikroöko-           tritt vom Bildungssystem in die Arbeitswelt
  sesselmeier@uni-landau.de nomischen Ebene be-             immer ein gewisses Quantum an sogenannter
                                  deutet Erwerbsarbeit,     friktioneller beziehungsweise Sucharbeitslo-
         dass Individuen ihre Bedürfnisse mit den           sigkeit geben, die in etwa bei 2 % angesie-
         ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, das         delt wird.❙2 Daneben schwankt die Vorstel-
         heißt einem stabilen Einkommen, kontinu-           lung, wann Vollbeschäftigung erreicht sei,
         ierlich befriedigen können. Erwerbsarbeit          mit der gesamtwirtschaftlichen Großwetter-
         ist aber nicht nur die zentrale Größe für ob-      lage. So ist in Paragraf 1 des mittlerweile ver-
         jektives, das heißt materielles, sondern auch      gessenen, aber immer noch gültigen Gesetzes
         für subjektives Wohlstandsempfinden. Die           zur Förderung der Stabilität und des Wachs-
         gesellschaftliche Anerkennung ist eng mit
         der Erwerbstätigkeit verknüpft und trägt           ❙1 Vgl. Uwe Blien, Arbeitslosigkeit als zentrale Di-
         zusätzlich über das Erwerbseinkommen               mension sozialer Ungleichheit, in: APuZ, (2008)
         und die daraus generierte soziale Absiche-         40–41, S. 3–6; Markus Promberger, Arbeit, Arbeits-
         rung einen großen Teil zur sozialen Teilhabe       losigkeit und soziale Integration, in: ebd., S. 7–15.
         bei.❙1 Da dem so ist, soll im Folgenden vier       ❙2 Vgl. Thomas Straubhaar/Michael Bräuninger, Wege
                                                            zur Vollbeschäftigung. Zusammenfassung des Gut-
         Fragen nachgegangen werden. Erstens: Was
                                                            achtens „Wege zur Vollbeschäftigung“, April 2011, on-
         ist unter Vollbeschäftigung zu verstehen?          line: www.hwwi.org/fileadmin/hwwi/­Publikationen/​
         Zweitens: Welches sind die theoretischen           Studien/Schriftenreihe7_Online​version.​pdf (9. 3. ​2012),
         Grundlagen zur Erklärung von Beschäfti-            S. 12.

                                                                                                APuZ 14–15/2012          13
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