Archivnachrichten 62 / März 2021 Thema: 1700 Jahre Jüdisches Leben - Landesarchiv Baden-Württemberg - Landesarchiv Baden ...

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Archivnachrichten 62 / März 2021 Thema: 1700 Jahre Jüdisches Leben - Landesarchiv Baden-Württemberg - Landesarchiv Baden ...
Archivnachrichten
62 / März 2021

Thema: 1700 Jahre
Jüdisches Leben

  Landesarchiv        Festjahr               Jahresbericht       Quellenbeilage

  Baden-Württemberg
                      1700 Jahre jüdisches   Rückblick auf das   Drei Väter, drei
                      Leben in Deutschland   Jahr 2020           Mütter, fünf Namen
Archivnachrichten 62 / März 2021 Thema: 1700 Jahre Jüdisches Leben - Landesarchiv Baden-Württemberg - Landesarchiv Baden ...
2   Archivnachrichten 62 / 2021
    Editorial
Archivnachrichten 62 / März 2021 Thema: 1700 Jahre Jüdisches Leben - Landesarchiv Baden-Württemberg - Landesarchiv Baden ...
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Editorial

                              2021 feiern wir 1700 Jahre jüdisches Leben           sich jüdisches Leben wieder neu in Deutsch­-
                              in Deutschland, denn solange leben Jüdinnen          land entwickeln und ist leider auch heute noch
                              und Juden nachweislich auf dem Gebiet des            immer durch Antisemitismus und Gewalt
                              heutigen Deutschlands. Mit zahlreichen Ver-          bedroht. In diesen Archivnachrichten zeigen wir
                              anstaltungen wird dieses Jubiläum bundesweit         einen kleinen Ausschnitt des jüdischen Lebens
                              gewürdigt, um Perspektiven auf die jüdische          im deutschen Südwesten, wie er sich in den
                              Geschichte, aber auch auf die Zukunft sicht-         reichhaltigen Quellen finden lässt.
                              bar zu machen: 1.700 Jahre jüdisches Leben in            In der Quellenbeilage für den Unterricht
                              Deutschland […]: eine Geschichte mit Zukunft         wird passend zum Thema über die Überlebens-
                              – so fasste es Angela Merkel in ihrem Beitrag        geschichte des Ehud Loeb berichtet, eines
                              für die Wochenzeitung Jüdische Allgemeine            badischen Jungen, der nur durch mehrere Iden­-
                              zusammen. Gerade wir als Archiv, als Gedächt-        titätswechsel und viele Helfer die Shoah über-
                              nis unserer Gesellschaft wollen hierzu einen         lebte. Seine eigene Erzählung der Ereignisse
                              Beitrag leisten und beleuchten das Thema in          eröffnet insbesondere für jüngere Schülerinnen
                              diesen Archivnachrichten unter ganz verschie-        und Schüler einen individuellen Zugang zur
                              denen Blickwinkeln.                                  Geschichte des Genozids an den badischen
                                  Spätestens seit dem Mittelalter gibt es im       Jüdinnen und Juden.
                              deutschen Südwesten jüdische Gemeinden.                  Außerdem enthält diese Ausgabe der Archiv-
                              Erste Spuren jüdischen Lebens lassen sich für        nachrichten den Jahresbericht für das Jahr 2020,
                              das 11./12. Jahrhundert finden, so liegen die        das für das Landesarchiv – wie für uns alle –
                              Anfänge der Gemeinde in Wertheim wahrschein­-        durch die Corona-Pandemie besonders heraus-
                              lich schon in dieser Zeit. Im Reichssteuerver-       fordernd gewesen ist. Wie immer finden Sie im
                              zeichnis aus dem Jahr 1241 – also vor 780 Jahren     Heft neben Berichten zu aktuellen Projekten
                              – werden die jüdischen Gemeinden in Schwä-           sowie neu erschlossenen, digitalisierten oder
                              bisch-Hall, Esslingen, Ulm, Konstanz, Bopfingen      restaurierten Beständen auch Hinweise zu Aus-
                              und Überlingen erstmals schriftlich erwähnt.         stellungen und Veranstaltungen des Landes-
                              Jüdinnen und Juden lebten in den Dörfern und         archivs, zu denen Sie herzlich eingeladen sind.
                              Städten, davon zeugen heute noch vielerorts          Durch die Corona-Pandemie ist noch nicht
                              jüdische Friedhöfe, Synagogen oder Straßen-          absehbar, ob alle Ausstellungen wie geplant
                              namen wie »Judengasse«. In ihren Heimatorten         stattfinden können. Bitte informieren Sie sich
                              und Nachbarschaften, in Wissenschaft und             auf unserer Website zur aktuellen Situation.
                              Wirtschaft, in Vereinen und Parteien prägten             Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre,
                              jüdische Einwohner die Geschichte des Landes.        vertiefende Einblicke in das jüdische Leben im
                              Dennoch schloss die christliche Mehrheitsge-         deutschen Südwesten und bleiben Sie gesund
                              sellschaft sie immer wieder in vielen Bereichen
                              von kultureller, sozialer und politischer Teilhabe      Ihre
                              aus. Jüdisches Leben in Deutschland war sicht-
                              bar und gehörte dazu – allerdings stets in der
                              Spannung zwischen Akzeptanz und Ausgrenzung.
1   Synagoge Emmendingen,
    Innenansicht, vor 1938.
                              Antisemitismus und Verfolgung gipfelten
    Vorlage: LABW, HStAS EA   schließlich in der Shoah, dem nationalsozialis­      ±Dr. Verena Schweizer
    99/001 Bü 305 Nr. 394     tischen Völkermord. Nach 1945 musste                  Redaktion der Archivnachrichten
Archivnachrichten 62 / März 2021 Thema: 1700 Jahre Jüdisches Leben - Landesarchiv Baden-Württemberg - Landesarchiv Baden ...
4                       Archivnachrichten 62 / 2021
                        Inhalt

Inhalt

 	Thema:                                             22	Nur Einnahmequelle?                  34	Haus des Lebens

   1700 Jahre                                         	Zur Aufnahme von Juden in Wank­
                                                        heim 1774 durch den Freiherren
                                                                                               	Der jüdische Friedhof in Wertheim

	
                                                                                                   — Monika Schaupp
   Jüdisches                                            Friedrich Daniel von Saint André
   Leben                                                  — Wilfried Setzler
                                                                                               36	Ortenauer Landjudentum
                                                                                               	Die Gedenk-, Lern- und
8	1700 Jahre jüdisches Leben                         24	Bekehrer und Bekehrte                  Begegnungs­stätte Ehemalige
   in Deutschland                                     	Hohenlohische Gelegenheits­              Synagoge Kippenheim
	Eine wechselvolle Beziehungs­                         druckschriften zu jüdischen                — Florian Hellberg, Jürgen Stude
  geschichte von einseitigem Kultur­                    Konvertitinnen und Konvertiten
  transfer mit jüdischer Sinngebung                       — Jan Wiechert
                                                                                               38	Fleißige Händler –
    — Birgit Klein
                                                                                                   erfolgreiche Frauen
                                                      25	Vom Schutzjuden zum                  	Jüdisches Leben zur Zeit
14	Steinerne Zeugen jüdischen                            Staatsbürger                           der Weimarer Republik in Baden
    Lebens und Leidens                                	Jüdisches Leben im 19. Jahr­               — Linus Maletz, Simon Metz
	Kleindenkmale und Spolien                             hundert im Spiegel der historischen
  erinnern an die jüdische                              Grundbuchüberlieferung
  Bevölkerung an Main und Tauber                          — Michael Aumüller                   40	»Der Pflug« (Hamachreschah)
    — Claudia Wieland                                                                          	Ein jüdischer Landwirtschafts­
                                                                                                 verein zur Vorbereitung
                                                      26	Württembergische Rabbinate und
                                                                                                 auf eine Auswanderung nach
16	Kontrollierte Durchreise                              Synagogen im 19. Jahrhundert
                                                                                                 Palästina (Hachschara)
	Josel von Rosheim und der                           	Die Überlieferung der Israelitischen
                                                                                                   — Jochen Rees
  Durchzug von Juden durch das                          Oberkirchenbehörde im
  Herzogtum Württemberg 1551                            Staatsarchiv Ludwigsburg
    — Erwin Frauenknecht                                  — Peter Müller                       41	Gurs 1940
                                                                                               	Internet-Datenbank zur
                                                                                                 Deportation der jüdischen
18	Maßnahme gegen                                    28	»Sittenlehre zur Erbauung
                                                                                                 Bevölkerung aus Baden,
    antijüdische Hetze und                                der Erwachsenen«
                                                                                                 der Pfalz und dem Saarland
    Verschwörungstheorien?                            	Obrigkeitliche Vorgaben
                                                                                                   — Martin Stingl
	Die Absetzung des Adelberger Abts                     führen zum Umbau
  Lucas Osiander d. Ä. im Jahr 1598                     der Haigerlocher Synagoge
    — Johannes Renz                                       — Raphael Schmid                     42	»Geistige Wiedergutmachung«
                                                                                                   als Ziel
                                                                                               	Das Hauptstaatsarchiv
20	Ein Justizskandal in                              30	»In gnädigster Anerkennung
                                                                                                 Stuttgart dokumentierte
    Württemberg                                           der Verdienste«
                                                                                                 von 1962 bis 1968 das Schicksal
	Der Fall des Joseph Süß                             	Die Nobilitierung des jüdischen
                                                                                                 der jüdischen Bevölkerung in
  Oppenheimer im 18. Jahrhundert                        Bankiers Joseph Wolf Kaulla
                                                                                                 Baden, Württemberg und
                                                          — Birgit Meyenberg
    — Nicole Bickhoff                                                                            Hohenzollern während der Zeit
                                                                                                 des Nationalsozialismus
                                                      32	Das israelitische Frauenbad              — Wolfgang Mährle

                                                          in Friesenheim
                                                      	Hygienestandards – religiöse
                                                        Vorschriften – finanzielle Mittel
                                                          — Anja Schellinger
Archivnachrichten 62 / März 2021 Thema: 1700 Jahre Jüdisches Leben - Landesarchiv Baden-Württemberg - Landesarchiv Baden ...
Archivnachrichten 62 / 2021                            5
                                                                                 Inhalt

  	Archiv aktuell                          	Quellen griffbereit                         	Archive geöffnet
44	Rückblick auf das Jahr 2020        56	Erbverbrüderung statt Mauerfall            63	200 Jahre Landesvermessung
	Jahresbericht des Landesarchivs      	Wiedervereinigung der Mark­                  	Ausstellung des Landesamts
  Baden-Württemberg                      grafschaften Baden-Baden und                   für Geoinformation und
    — Inka Friesen                       Baden-Durlach vor 250 Jahren                   Landentwicklung im Grundbuch­
                                             — Gabriele Wüst                            zentralarchiv 2021
                                                                                            — Michael Aumüller
51	Neuer Leiter im Staatsarchiv
    Sigmaringen                        57	Reichs-, Kreis- und Grafentage
                                           vom 16. bis 18. Jahrhundert                64	… aus der Trennung
	Franz-Josef Ziwes tritt
  die Nachfolge von                    	Erschließung des Bestandes                       heraus! 200 Jahre Evangelische
  Volker Trugenberger an                 R-Rep. 72 im Staatsarchiv                        Landeskirche in Baden
    — Inka Friesen, Verena Schweizer
                                         Wertheim abgeschlossen                       	Ausstellung im Generallandes­
                                             — Anne Christina May                       archiv Karlsruhe
                                                                                            — Udo Wennemuth, Wolfgang Zimmermann
52	Größte Extremismus-Sammlung
                                       58	Vereinfachte Recherche nach
    Deutschlands
                                           70.000 Internierten
	Land richtet Dokumentationsstelle
  (Rechts-)Extremismus im
                                       	Registerbücher der Internierten­
                                         lager unter deutscher Verwaltung
                                                                                          	Junges Archiv
  Generallandesarchiv Karlsruhe ein
                                         in der amerikanischen Zone
    — Wolfgang Zimmermann
                                         nach Einzelpersonen erschlossen              65	Digitale Grüße aus
                                                                                          dem 21. Jahrhundert
                                             — Stephan Molitor
53	Transformation der                                                                	Die Freiwilligendienstleistenden
    Wiedergutmachung                                                                    des Staatsarchivs
                                       59    Von der Kaserne zum Kindergarten
                                                                                        Ludwigsburg auf Social Media
	Start eines Pilotprojekts zur        	Die Konversion militärischer                       — Yanic Dollhopf, Jonathan Machoczek
  Erschließung und Digitalisierung       Objekte in der Überlieferung                          und Annika Richter mit Julia Schneider
  von Wiedergutmachungsakten             der Bundesanstalt für
    — Peter Müller, Rebecca Schröder     Immobilienaufgaben Freiburg
                                             — Juliane Walliser

54	Direkt und bequem
                                                                                          	Geschichte
	Online-Bestellung                                                                         Original
  von Reproduktionen                        	Kulturgut gesichert                     66	Drei Väter, drei Mütter,
    — Thomas Fricke
                                                                                          fünf Namen
                                       60	Was kreucht und fleucht denn da?
                                                                                      	Die Überlebensgeschichte des
55	Wilhelm Weinberg und sein          	Restaurierung von zoologischen
                                                                                        Ehud Loeb aus Bühl in Baden
    »Kataster der Geisteskranken«        Lehrtafeln aus dem
                                                                                            — Daniel Felder
                                         Universitätsarchiv Freiburg
	Neue Erkenntnisse zur Entstehung
                                             — Cornelia Bandow, Dieter Speck
  der »Winnentaler Patientenblätter«
  im Staatsarchiv Ludwigsburg
    — Christian Hofmann                62	back to the roots
                                       	Wie die Akten des Finanzamts
                                         Hirsau über Freudenstadt,
                                         Bonn, Siegburg, Brühl und
                                         München letztendlich ins Staats­
                                         archiv Sigmaringen kamen
                                             — Sabine Hennig
Archivnachrichten 62 / März 2021 Thema: 1700 Jahre Jüdisches Leben - Landesarchiv Baden-Württemberg - Landesarchiv Baden ...
6   Archivnachrichten 62 / 2021
    1700 Jahre jüdisches Leben
Archivnachrichten 62 / März 2021 Thema: 1700 Jahre Jüdisches Leben - Landesarchiv Baden-Württemberg - Landesarchiv Baden ...
1700 Jahre
                     Jüdisches Leben

Cover:
Außenansicht der Ehemaligen       Jüdinnen und Juden wurden und werden
Synagoge Kippenheim.
Vorlage: Förderverein
Ehemalige Synagoge
                                  mit Vorurteilen und Stereotypen belegt, dabei
                                  gehören sie seit Jahrhunderten zu unserer
Kippenheim e. V.

Hardheim, »Lehrer Emanuel
Wertheimer u[nd] Frau«,
vor 1926.
                                  Gesellschaft dazu. Sie bildeten Gemeinden und
                                  errichteten Synagogen, Mikwen sowie Fried­
Vorlage: LABW, HStAS EA
99/001 Bü 305, Nr. 691

Blick auf den jüdischen Fried­
hof Wertheim im April 2007.
                                  höfe. Sie lebten auf dem Land und in der Stadt
                                  und betätigten sich wirtschaftlich, lange Zeit
Vorlage: LABW, StAWt S-N
70_451_7579/24A (01.04.2007)
Aufnahme: Hans Wehnert,
Wertheim
                                  nur in den für sie erlaubten Berufen. Sie rangen
                                  um Anerkennung und rechtliche Gleichstellung
Fragment aus dem Wert­
heimer »Lilien-Machsor«,
Anfang des Abendgebets für

                                  und wurden doch immer wieder verfolgt,
den ersten Vorabend
vor Pessach, beginnend mit der
Qedushat ha-yom, 14. Jh.
Vorlage: LABW, StAWt G-Rep.
108 Nr. 1                         vertrieben und ermordet. Von der reichen jüdi­
Diese Seite:
Jüdische Gemeinde Konstanz,
                                  schen Kultur und Geschichte und vom jüdischen
                                  Leben berichten die Autorinnen und Autoren
Weihe des Betsaales, Juli 1966.
Aufnahme: Stadt Konstanz,
Heinz Finke
Vorlage: LABW HStAS EA
99/001 Bü 305, Nr. 951            ebenso wie von Ausgrenzung und Verfolgung.
Archivnachrichten 62 / März 2021 Thema: 1700 Jahre Jüdisches Leben - Landesarchiv Baden-Württemberg - Landesarchiv Baden ...
8                       Archivnachrichten 62 / 2021
                        1700 Jahre jüdisches Leben

1700 Jahre jüdisches
Leben in Deutschland
Eine wechselvolle Beziehungs­
geschichte von einseitigem
Kulturtransfer mit jüdischer
Sinngebung

                                            Das Jahr 2021 ist in Deutschland ein Festjahr:     an in den Stadtrat berufen durften. Dieser
                                            In Deutschland wird in besonderer Weise            Annahme folgend würde dieses allgemeine
                                            einem Reichsgesetz gedacht, das der römische       Gesetz eine Anwesenheit von Juden in
                                            Kaiser Konstantin im Jahr 321 nach christlicher    Köln vor 1700 Jahren belegen.
                                            Zeit, also vor 1700 Jahren, erließ:                   Zuweilen wird diese Annahme noch fortge-
                                                Durch ein allgemeines Gesetz gestehen wir      sponnen, weil im Codex Theodosianus un-
                                            allen Stadträten zu, dass Juden in den Stadtrat    mittelbar im Anschluss an dieses Reichsgesetz
                                            berufen werden. Damit aber ihnen etwas von         die knappe Zusammenfassung einer weiteren
                                            der früheren Praxis zum Trost gelassen werde,      konstantinischen Verordnung aus dem Jahr 330
                                            dulden wir, dass zwei oder drei nach ewigem        abgeschrieben ist: Als Reaktion auf Konstantins
                                            Privileg durch keine Berufungen belastet werden.   Zugeständnis von 321 befreit sie wiederum
                                                Für alle in der Archivarbeit und -recherche    die Juden reichsweit von einer Berufung in
                                            Aktiven ist es zwar bedauerlich, aber nicht        einen Stadtrat, sofern sie bereits ein Amt inner-
1	Schülerinnen und Schüler                 verwunderlich, dass sich dieses allgemeine         halb einer jüdischen Gemeinde als Priester,
   lesen die Textpassage
   im Dekret Kaiser Konstantins
                                            Gesetz nicht als zeitgenössischer Papyrus über-    Synagogenvorstände (archisynagogi) und Väter
   von 321 n. u. Z., überliefert            liefert in einem Archiv findet, sondern nur in     der Synagoge, ausüben. Hieraus wurde und
   im Codex Theodosianus 16,                seiner Abschrift in dem im fünften Jahrhundert     wird zuweilen geschlossen, in Köln habe bereits
   8.3, Biblioteca Apostolica
   Vaticana, Cod. Reg. Lat. 886,            kompilierten Codex Theodosianus überliefert        im Jahr 330 eine große jüdische Gemeinde mit
   fol. 435v.                               ist, der wiederum in einer Handschrift des         unterschiedlichen Ämtern existiert. Letzterer
    Vorlage: LABW                           sechsten Jahrhunderts im Besitz der Biblioteca     Rückschluss ist zurecht kritisiert worden, da der
                                            Apostolica Vaticana erhalten ist.                  Überlieferungszusammenhang im Codex Theo-
                                                Als allgemeines Gesetz, d. h. Reichsgesetz     dosianus es nicht erlaubt, die Gemeindeämter
                                            war Konstantins Zugeständnis für das ganze         in einer allgemeinen Reichverfügung von 330
                                            Reich verbindlich. Ein besonderer Bezug zum        auf eine jüdische Gemeinde in Köln zu beziehen.
                                            heutigen geografischen Raum Deutschlands              Doch auch hinsichtlich des Reichsgesetzes
                                            könnte allein dadurch gegeben sein, dass dem       von 321 sind die Meinungen in der Forschung
                                            Kompilator des Codex Theodosianus dieses           geteilt, inwiefern die Kölner Adressaten in der
                                            Reichsgesetz in der Abschrift an den Stadtrat      Abschrift des Reichsgesetzes im Codex Theo-
                                            von Colonia Agrippinensis, dem antiken Köln,       dosianus zweifelsfrei die Existenz von Juden in
                                            vorlag und er in den Codex nicht nur seinen        Köln belegen.
                                            Text, sondern auch die Adressaten übertrug.           Nicht nur Michael Toch, emeritierter
                                                Dieser Eintrag der Adressaten wurde            Professor für mittelalterliche Geschichte an der
                                            und wird häufig dahingehend interpretiert,         Hebräischen Universität Jerusalem, bezweifelt
                                            dass Konstantin dieses Gesetz an die Kölner        dies: Ist dies wirklich aus der Tatsache zu er-
                                            Dekurionen sandte in dem Wissen, dass Juden        schließen, daß der Wortlaut des betreffenden ‚all-
                                            in Köln lebten, die die Dekurionen von nun         gemeinen Gesetzes‘ Kaiser Konstantins d. Großen
Archivnachrichten 62 / März 2021 Thema: 1700 Jahre Jüdisches Leben - Landesarchiv Baden-Württemberg - Landesarchiv Baden ...
Archivnachrichten 62 / 2021                   9
                                                                                      1700 Jahre jüdisches Leben

                                sich in einer Abschrift für die Dekurionen von Köln   wenn nicht grundsätzlich, so doch zumindest
                                erhalten hat? Auch Sebastian Ristow, Professor        hinsichtlich seiner Gleichberechtigung. Daher
                                am Archäologischen Institut der Universität           wird das konstantinische Reichsgesetz von 321
                                zu Köln, sieht die sehr geringen Informationen des    positiv als Zugeständnis im Sinne einer recht-
                                Edikt als unbedeutender an als die Tatsache, dass     lichen Gleichstellung von Juden interpretiert,
                                es ohnehin in jeder größeren Stadt des römischen      um diese auch für die Juden in Deutschland in
                                Reichs eine jüdische Gemeinde gegeben haben           späteren Zeiten einzufordern.
                                dürfte und sich für Köln keine belastbaren, konkre-      So berichtete Berthold Rosenthal in seiner
                                ten und besonderen Informationen aus dem              Heimatgeschichte der badischen Juden seit
                                Edikt ableiten ließen. Da Colonia Agrippinensis       ihrem geschichtlichen Aufbau bis zur Gegenwart
                                sich bereits im ersten Jahrhundert zu einer           (Bühl/ Baden 1927), auf einem Gedenkstein
                                Stadt entwickelt hatte, wäre es folglich durch-       der Kölner St. Gereonkirche sei eine Verordnung
                                aus möglich, heute rund 2000 Jahre jüdisches          des römischen Kaisers Konstantin vom 11. Dezem­-
                                Leben in Deutschland zu feiern.                       ber 321 eingemeißelt. Sie meldet, daß die Juden
                                   Dass aber aktuell dem konstantinischen             von Köln den römischen Bürgern gleichgestellt
                                Gesetz von 321 eine so große politische Bedeu-        und in die Kurien der römischen Bürger berufen
                                tung beigemessen wird, hat seinen Grund darin,        werden sollen.
                                dass jüdischem Leben in Deutschland immer                Heute will auch das renommierte Leo Baeck
                                wieder die Berechtigung abgesprochen wurde,           Institute – New York | Berlin (LBI) mit seinem

2	Baum des Lebens in
   Siddur minhag
   Ashkenaz, 13./ 14. Jh.
   Vorlage: London,
    British Library, Ms. Add.
    11639, fol. 122r
Archivnachrichten 62 / März 2021 Thema: 1700 Jahre Jüdisches Leben - Landesarchiv Baden-Württemberg - Landesarchiv Baden ...
Archivnachrichten 62 / 2021                     11
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3	»Plan von der Residentz            Projekt Shared History: 1700 Jahre jüdisches         ein prächtiges steinernes Haus sowie in Frankfurt
   Stadt Mannheim«, hand­
   kolorierte Reproduktion
                                      Leben im deutschsprachigen Raum anhand von           mehrere Grundstücke. Dies alles war ihm nur
   eines Kupferstichs von J. A.       52 Objekten die Geschichte von zentraleuropäi-       in seiner Eigenschaft als privilegierter Hoffaktor
   Bartels von 1758. Auf der          schen Juden erzählen, beginnend mit dem Edikt von    möglich. Er vermittelte Darlehen für seinen
   rechten Seite des Stadtplans
   ist das Landhaus mit               Konstantin dem Großen aus dem Jahre 321, das         Schutzherrn, den Kurfürsten von der Pfalz, sowie
   Garten und Orangerie des           Juden erstmals Ämter in der städtischen Verwal-      für die Höfe zu Erbach, Darmstadt und Wien.
   Moses Lemle Reinganum zu
   erkennen (siehe Markierung).       tung in Köln zugestand. Hier wird gleichfalls das        Aufgrund seiner Stellung war M. Fürsprecher
   Vorlage: Marchivum,               Reichsgesetz als Zugeständnis zugunsten der          der pfälz. Juden beim Kurfürsten. Zeitweise
    Kartensammlung, KS00749           Juden interpretiert, wohingegen es tatsächlich       Vor­steher der jüd. Gemeinde zu Mannheim,
                                      das Gegenteil bedeutete: Es hob die bisherige        unterstützte er Arme und Waisen sowie die jüd.
                                      Freistellung der Juden von städtischen Ämtern        Gemeinden im Lande Israel. Seine bedeutendste
                                      auf und belastete sie dadurch mit den hieraus        Leistung stellte 1708 die Errichtung eines
                                      resultierenden Bürden.                               Lehrhauses, einer sog. ‚Klaus‘, in Mannheim dar,
                                          Somit steht das konstantinische Reichsge-        an der zehn Rabbiner unterrichten sollten.
                                      setz von 321 für eine Entwicklung, die Juden bis     Das Stiftungsvermögen betrug 100 000 Gulden.
                                      zu ihrer Gleichstellung 1871 im deutschen Kai-       In seinem Testament von 1722 erließ M. genaue
                                      serreich von gleichen Rechten ausschloss. Und        Vorschriften über die Arbeit und das Verhalten
                                      auch nach 1871 blieben Juden de facto benach-        der Rabbiner sowie der Studenten. Zwischen
                                      teiligt, so bei der Besetzung von Richterämtern      Armen und Reichen sollte kein Unterschied ge-
                                      oder Professuren, bevor die nationalsozialis-        macht werden. Stipendien sollten Kindern mittel-
                                      tische Gewaltherrschaft ihnen ab 1933 wieder         loser Eltern ein Studium am Lehrhaus ermögli-
                                      zunächst die Bürgerrechte und dann auch die          chen. Diese Stiftung hatte Vorbildwirkung für die
                                      Existenzberechtigung absprach.                       späteren Lehrhäuser in Worms und Mainz.
                                          Daher sollte die Erinnerung an das Gesetz            Auch wenn sich der Lebensstil eines privi-
                                      von 321 im Sinne des englischen shared als           legierten Hoffaktors häufig von dem anderer
                                      einer gemeinsam geteilten Geschichte die umge-       Juden unterschied, so lässt der Hinweis auf das
                                      kehrte Funktion haben, nämlich dazu motivie-         Landhaus mit Garten und Orangerie sowie
                                      ren, gerade auch jene Quellen zu erschließen,        auf das Mustergut auf der Mühlau, einer Mann-
                                      die davon zeugen, wie vielfältig Jüdinnen und        heim vorgelagerten Insel im Rhein, aufhor-
                                      Juden über die Jahrhunderte hinweg ihr Leben         chen. Ein Blick in die Mannheimer Kaufproto-
                                      gestaltet und Teilhabe an der Mitgestaltung der      kolle vermag den Garten mit Orangerie genau
                                      Gesellschaft eingefordert haben – allen Rest-        zu verorten. 1711 verzeichnen sie den Verkauf
                                      riktionen und Verfolgungen zum Trotz.                einer Behausung sampt hausplaz, garthen undt
                                          Bekanntermaßen dokumentieren Quellen             allen zugehörungen im 59. f. quad. No. 1. et 2.
±Literaturhinweise
                                      in Archiven indes vor allem diese Restriktio-        an Herrn Lemble Moyses und frommet dessen
   Berthold Rosenthal: Heimat­        nen und Verfolgungen. Gerichtsakten zeugen           hausfraw. Das vermeintliche Landgut lag also
   geschichte der badischen Juden
   seit ihrem geschichtlichen         häufiger von Konflikten als von einer fried-         im heutigen Quadrat E 7 innerhalb der Stadt,
   Auftreten bis zur Gegenwart.       lichen oder gar freundschaftlichen Koexistenz,       und zwar in der Nähe der nördlichen ehemaligen
   Bühl/Baden 1927, S. 2.
                                      serielle Steuerlisten eher von einem jüdischen       Befestigungsanlagen der Festung Friedrichs-
   Katja Kliemann und Sebastian       Sonderstatus. Folglich sind Archivrecherchen         burg, die nach ihrer Vereinigung mit der Stadt
   Risto: »Köln und das frühe
                                      erforderlich, die es ermöglichen, neue Quellen-      ab 1710 der neuen städtischen Bebauung
   Judentum nördlich der Alpen.
   Kontinuität, Umbruch oder          texte gegen den Strom zu lesen oder auch auf         und im südlichen Bereich dem neuen Schloss
   Neubeginn?« In: Mitteilungen       den ersten Blick monotone Quellengattungen           wich. Folglich lag der neue Besitz in promi-
   der Deutschen Gesellschaft
   für Archäologie des Mittel­        zum Sprudeln zu bringen.                             nenter Lage, zumal in seiner Nähe bald das
   alters und der Neuzeit 31 (2018)       Diese abstrakten Ausführungen lassen             Rheintor gebaut wurde. Dies lässt zunächst
   S. 9–20, S. 13.
                                      sich am Beispiel des Mannheimer Moses Lemle          vermuten, dass das neue Anwesen dem Hoffak-
   Michael Toch: »Dunkle Jahr­        Reinganum (1660/66–1724, abgekürzt M.)               tor vor allem dazu dienen sollte, seinen hohen
   hunderte«. Gab es ein jüdisches    veranschaulichen, dessen facettenreiche              Status ähnlich zu den christlichen Mitgliedern
   Frühmittelalter? (Kleine
   Schriften des Arye Maimon-         Persönlichkeit sich bereits in vielerlei Hinsicht    der Hofgesellschaft zu demonstrieren. Orange-
   Instituts für Geschichte           erkennen lässt, liest man nur in seinem Eintrag      rien waren seinerzeit in der christlichen Elite
   der Juden 4). Trier 2001, S. 12.
   https://www.lbi.org/de/            in der Neuen Deutschen Biographie:                   beliebt, denn im Humanismus der Renaissance
   projects/shared-history/               1712 erhielt M. in Mannheim die Konzession       verwiesen sie auf den antiken Mythos vom
   (aufgerufen am 31.01.2021).
                                      zum Bau eines Landhauses mit Stallungen,             Baum mit den Goldenen Äpfeln. Die Goldenen
   Uri Robert Kaufmann:               Orangerie und Garten. Auf der Mannheimer Flur        Äpfel hatten eine hohe symbolische Bedeutung,
   »Moses Reinganum, Lemle«.          Mühlau richtete er ein Mustergut mit Gestüt          denn sie wurden von den Hesperiden, den
   In: Neue Deutsche
   Biographie 18 (1997) S. 207.       und eine Tapetenmanufaktur ein; dort ließ er die     Nymphen des Abends, Sonnenuntergangs und
   https://www.deutsche-              Geschichte des Stammvaters Jakob und seiner          Westens (von Hesperis, der weiblichen Ver-
   biographie.de/pnd137575688.
   html#ndbcontent
                                      Söhne bildlich darstellen, was für einen deutschen   körperung des Abendsterns Venus als Pendant
   (aufgerufen am 31.01.2021).        Juden jener Zeit ungewöhnlich war. Außerdem          zum männlichen Abendstern Hesperos), in
                                      besaß M. 1714 an der Breiten Straße in Mannheim      einem Garten gehütet, sodass die Hesperiden
12                       Archivnachrichten 62 / 2021
                         1700 Jahre jüdisches Leben

4	Kaufprotokolle 1724-1731:
   7. der verstorbene Verkauffer
   denen herrn und fraw
   Kaufferen den genuß= undt
   gebrauch deß ahn dem
   hindteren ihme Verkauffern-
   und seinen Erben verbliebenen
   größeren stall anschlie­
   ßenden kleinen garthens=
   undt orangerie hauses auff
   ihr lebens lang mündlich
   zugesagt, Sie herr und fraw
   Käuffere aber den genuß
   dieses kleinen garthens, wie
   auch dem Sommer hin, durch
   den gebrauch des orangerie
   hauses deß Verkaufferen
   Erben würcklich überlaßen
   haben, so verbindten Sie
   Erben sich hiemitt, undt krafft
   dieses daß Sie dagegen
   ermlts. Orangerie Hauß von
   Herbst biß auf daß frühe Jahr
   dem Herrn= undt fraw Kauf­
   feren = wie auch deren Erben
   zu Hinsezung Ihrer oranien=
   undt Citeronen baum forth
   andteren garthen gewächß
   beständtig einraumen
   undt gebrauchen laßen
   wollen, alles ohne gefehrde
   undt arglist.
 Vorlage: Marchivum, Amts­
	
 bücher, 2/1900_00063, S. 294

                                             zu den Namenspatinnen der Zitrusfrüchte und        Besitzes hinaus. Denn als 1723 der kurfürstlich
                                             der Orangeriekultur seit der Renaissance wurden.   kurpfälzische Geheime Rat und Staatssekretär
                                                Wollte sich also M., bekannt für seinen ho-     Jacob Dillmann von Halberg das Anwesen
                                             hen Grad der Akkulturation, mit seinem Garten      von seiner Churfürstl. Dhlt. zu Pfaltz ober hoff-
                                             samt Orangerie als Anhänger dieser humanisti-      undt Militz Factoren Herrn Lemble Moyses kaufte,
                                             schen Renaissancekultur präsentieren? Weitere      zeugen bereits die von beiden Seiten verwende-
                                             Eintragungen in den Kaufprotokollen lassen         ten Titel davon, dass der Verkauf auf Augen­
                                             erkennen, dass Garten und Orangerie nicht nur      höhe erfolgte. Denn M. behielt sich das Recht
                                             eine repräsentative Funktion, sondern auch         vor, weiterhin den Garten für den Spaziergang
                                             eine hohe Bedeutung an sich für den Hoffaktor      sowie die Orangerie nutzen zu dürfen, was 1728
                                             hatten, selbst über die Zeit seines eigentlichen   auch gegenüber seinen Erben bekräftigt wurde.
Archivnachrichten 62 / 2021                    13
                                                                                          1700 Jahre jüdisches Leben

5	Popers, Meir / Mannheim,            Nicht auszuschließen ist aber auch noch ein        Lulaw am Laubhüttenfest ist. Eine der Schriften
   Nathan Neta/ Wolf,
   Benjamin, »Me‘orot Nathan«
                                       anderer oder weiterer Grund, der Garten            preist M. als Gönner und Förderer der Klaus
   (»Me‘ore or ve-ja‘ir netiv«),       und Orangerie für ihn so bedeutsam machte.         mit einer blumigen Widmung: Er ging in seinen
   Frankfurt/ M. 5469/ 1708/09.        Als Gründer des Mannheimer Lehrhauses,             Garten herab und pflückte Lilien, die studieren;
   Vorlage: Gershom Scholem           der Klaus, fühlte M. sich der jüdischen Tradi-     ein Zitat aus dem Hohenlied der Liebe (6,2),
    Library, Israel National Library
                                       tion sehr verpflichtet. Die Untersuchung der       das mit einer Deutung aus dem Babylonischen
                                       hebräischen Schriften, die in seinem Lehrhaus      Talmud verflochten wurde. Der Garten des
6	Popers, Meir / Mannheim,            studiert und verfasst wurden, zeigt, dass die      Hohenlieds als Allegorie für den Gottesgarten
   Nathan Neta/ Wolf,
   Benjamin, »Me‘orot Nathan«          Klaus in ihren ersten Jahrzehnten ein Zent-        wurde in der kabbalistischen Lehre weiter aus-
   (»Me‘ore or ve-ja‘ir netiv«),       rum des Studiums der Kabbala, der jüdischen        geführt, in dieser Widmung aber auf M.s Garten
   Frankfurt/ M. 5469/ 1708/09
   mit Widmung an Lemle                Mystik, war. Zahlreiche dieser kabbalistischen     in seiner realen Form und in seiner symboli-
   Moses Reinganum: »Er stieg          Schriften widmen sich dem Garten Eden,             schen Form, der Klaus, dem Lehrhaus, bezogen.
   in seinen Garten und
                                       der sich nicht nur paradiesisch transzendent          Allem Anschein nach hatten M.s Garten und
   pflückte Lilien, die studieren«
   (Zitat aus dem Hohen Lied           im Himmel befand, sondern auch sein Pendant        Orangerie einerseits eine jüdische Bedeutung
   6,2 und dem Babylonischen           im irdischen Garten Eden fand. Die verbotene       und können zudem als ein hervorragendes Bei-
   Talmud Schabbat 30 b).
                                       Frucht des Baumes der Erkenntnis wird hier         spiel für eine Interaktion und einen kulturellen
   Vorlage: Gershom
    Scholem Library,                   auch als Ethrog gedeutet, jener Zitrusfrucht,      Austausch mit der Umgebung dienen. M. teilte
    Israel National Library            die seit der Antike Bestandteil des Feststraußes   zeitgenössische kulturelle Praktiken, gab ihnen
                                                                                          aber jüdische Inhalte, die sich nur Kennerinnen
                                                                                          und Kenner der jüdischen Tradition und Reli-
                                                                                          gionsgeschichte erschlossen und erschließen,
                                                                                          eine so subtile Umdeutung, dass sie anscheinend
                                                                                          nicht zu einem Symbolkonflikt führte.
                                                                                             M.s Engagement in Landwirtschaft und Hor-
                                                                                          tikultur hingegen widersprach zwar dem anti-
                                                                                          jüdischen Stereotyp eines Juden, der angeblich
                                                                                          unproduktiv sei und keinen Bezug zur Scholle
                                                                                          habe. Doch führte umgekehrt die Bewirt-
                                                                                          schaftung des Guts zu Konkurrenz und daraus
                                                                                          resultierenden Konflikten, so der Vorwurf 1716,
                                                                                          Jud Lemble Moyses habe am Fest von Mariä
                                                                                          Geburt (dem 8. September) durch seine Leuth auff
                                                                                          der Mühlaw daß hew, oder ohmet machen lassen.
                                                                                          Als zwei Jahre später Pferde von Mannheimer
                                                                                          Bürgern nahe bei der Mühlau weideten, ging
                                                                                          M. scharf gegen die Verletzung seines Besitzes
                                                                                          vor. Mit seinem jüdischen Hofmann habe M.
                                                                                          die Pferde in seinen Hof und Stall getrieben, den
                                                                                          sie ohne ihre schweiffen ganz geschändet undt
                                                                                          beschädigter wieder verlassen hätten. Daraufhin
                                                                                          klagten einige Bürger als Besitzer der Pferde
                                                                                          gegen den nun zum Juden Lemble Moyses Degra­-
                                                                                          dierten, sodass Zeugen über M.s mögliche
                                                                                          Beteiligung an diesem Vorfall Auskunft geben.
                                                                                             Diese Beispiele zeugen stellvertretend von
                                                                                          der langen und wechselvollen geteilten Ver-
                                                                                          flechtungsgeschichte jüdischen Lebens in
                                                                                          Deutschland, einer im deutschen Doppelsinn
                                                                                          miteinander verbundenen wie auch getrennten
                                                                                          Geschichte, in der Jüdinnen und Juden sehr
                                                                                          viel häufiger die Interessen und Vorlieben ihrer
                                                                                          Umwelt teilten als umgekehrt. Es bleibt zu hof-
                                                                                          fen, dass in den kommenden 1700 Jahren diese
                                                                                          Ungleichzeitigkeit zugunsten eines wirklich
                                                                                          gleichberechtigen Verhältnisses auf Augenhöhe
                                                                                          mit einem wechselseitigen wahren Interesse
                                                                                          aneinander überwunden wird.

                                                                                          ±Birgit E. Klein, Professorin an der Hochschule
                                                                                          für Jüdische Studien Heidelberg und Rabbinerin
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                          1700 Jahre jüdisches Leben

Steinerne Zeugen jüdischen
Lebens und Leidens
Kleindenkmale und Spolien
erinnern an die jüdische
Bevölkerung an Main und Tauber

                                              In den beiden fränkischen Metropolen Würz-       Territorialherren geleitet. Zeugnisse dieses
                                              burg und Rothenburg o. d. T. gab es bereits      (Zusammen-)Lebens, das mit dem Holocaust
                                              im Hochmittelalter bedeutende jüdische Ge-       ein grausames Ende fand, gibt es v. a. in
                                              meinden, deren Mitglieder wie z. B. Rabbi Meir   archivischen Quellen. Der Kundige trifft jedoch
                                              ben Baruch in der ganzen Aschkenas bekannt       auch vor Ort, in den Städten und Gemeinden,
                                              waren. Doch auch in den kleinen Landgemein-      auf Spuren jüdischen Lebens und Leidens, auf
                                              den an Main und Tauber lebten Juden, wie der     steinerne Zeugen einer vergangenen Zeit.
                                              älteste Hinweis auf Lieberman de Grunsvelt          Ein Steindokument, das erst auf den zweiten
                                              von 1218 belegt. Phasen friedlicher Koexistenz   Blick seine Bedeutung preisgibt, findet sich
                                              zwischen Juden und Christen wechselten mit       in der Pfarrkirche in Uissigheim bei Külsheim
                                              Zeiten intensiver Verfolgung und Ausgrenzung.    (Abb. 1). In der Innenwand ist ein Epitaph
                                              Nachfolgende Wiederansiedlungen waren            eingemauert, welches einen gefesselten Ritter
                                              meist vom wirtschaftspolitischen Interesse der   mit einer kleinen Figur zeigt, die diesem ein

                                              1                                                2
1	Grabmal des Arnold von
   Uissigheim in der
   katholischen Pfarrkirche.
 Vorlage: LABW, StAWt S-V 10
	
 Fotosammlung, 0013-04-346

2	Seiteneingang der Marien­
   kapelle Wertheim mit Inschrift:
   »Anno d[omi]ni m°cccc°xlvii
   ist hie zubroche[n] und
   verstort worde[n] eine juden­
   schule und angehaben[n]
   dise capelle […]«.
 Aufnahme: LABW, Claudia
	
 Wieland
Archivnachrichten 62 / 2021                    15
                                                                                 1700 Jahre jüdisches Leben

   Direkt zur Dokumentation   Schwert an den Hals hält. Was hat es damit         Monika Schaupp in diesem Heft). Über seine
   der jüdischen Friedhöfe    auf sich? Es handelt sich um das Grabmal des       Entstehung sind wir gut unterrichtet, existiert
   inklusive Fotos
                              Ritters Arnold von Uissigheim, der als König       doch noch die Urkunde aus dem Jahr 1406
   LABW, StAL EL 228 b I:
   www.landesarchiv-bw.de/
                              Armleder im Jahr 1336 ein Pogrom an Main           über den Kauf des Areals durch die jüdische
   plink/?f=2-1873699         und Tauber anführte. Ausgehend von Röttingen       Gemeinde. Die Dokumentation der Grabsteine
                              überzog er viele fränkische Judengemeinden         dieses und weiterer jüdischer Friedhöfe sowie
                              mit Tod und Verfolgung. Im Gegensatz zu            die dazugehörigen Fotos finden sich im
                              früheren Initiatoren solcher Verfolgungen          Staatsarchiv Ludwigsburg (LABW, StAL EL 228
                              endete er jedoch vor dem Würzburger Zentge-        b I und LABW, StAL EL 228 b II).
                              richt in Kitzingen und wurde mit dem                   Zentrum der jüdischen Gemeinde Wertheim
   LABW, StAL EL 228 b II:
                              Schwert hingerichtet.                              war die damalige Synagoge in unmittelbarer
   www.landesarchiv-bw.de/
   plink/?f=2-2940185            Die wirtschaftliche Bedeutung jüdischer         Nähe zum Marktplatz. An ihrer Stelle erhebt sich
                              Händler und Kaufleute für die Landbevölkerung      jedoch seit 1447 eine Marienkapelle, über deren
                              lässt sich an Architekturzeugnissen in der         Seiteneingang eine Inschrift vom Schicksal des
                              Regel nicht ablesen. Ein Vertreter, der als Hof-   Gebäudes berichtet (Abb. 2). Von der letzten in
                              faktor für die Grafen von Hohenlohe-Weikers-       Wertheim errichteten Synagoge, 1798/99 gebaut
                              heim tätig war, ist jedoch als steinernes Abbild   und erst 1961 abgerissen, zeugt nur noch ein
                              verewigt. Lämmle Seligmann wird zusammen           beschrifteter Türsturz (Abb. 3). Dieser ist heute
                              mit weiteren Bediensteten des Grafenhauses         Bestandteil des Gedenkorts für die verfolgten
                              in der karikaturenhaften Zwergengalerie            und ermordeten Wertheimer Juden.
                              der Gartenanlage von Schloss Weikersheim               Die in Werbach-Wenkheim nach den Zerstö-
                              dargestellt (Abb. 5).                              rungen im Nationalsozialismus als Gedenk-
                                 Trotz der teils abseitigen Lage ist ein         und Veranstaltungsort durch einen Verein
                              Fried­hof der offensichtlichste Beleg für eine     wiederhergerichtete Synagoge bewahrt dagegen
                              ehemalige jüdische Gemeinde. In Wertheim           die Erinnerung an das jüdische Leben und
                              am Main liegt dieser, wie üblich mit einer Mauer   fordert zur Auseinandersetzung mit Geschichte
                              geschützt und abgegrenzt, am Ortsausgang           und Gegenwart christlich-jüdischer Beziehun-
                              Richtung Würzburg (siehe auch Beitrag von          gen auf (Abb. 4). ±Claudia Wieland

                              3 4                                                5
3	Türsturz der letzten
   Wertheimer Synagoge
   mit hebräischer
   Stiftungsinschrift.
 Aufnahme: LABW,
	
 Claudia Wieland

4	Der frühere Betsaal der
   Synagoge Wenkheim
   mit Thoraschreinnische
   und Frauenempore
   beim Tag der Heimat­
   forschung 2017.
 Aufnahme: Armin
	
 Härtig

5	Hoffaktor Lämmle
   Seligmann in der
   Zwergengalerie von
   Schloss Weikersheim.
	Vorlage: LABW, StAWt
  A-60 Nr. 600, Bild 7
16                       Archivnachrichten 62 / 2021
                         1700 Jahre jüdisches Leben

Kontrollierte Durchreise
Josel von Rosheim und der Durchzug von Juden
durch das Herzogtum Württemberg 1551

1	Herzog Christoph von                      Der aus dem Elsass stammende Josel von Ros-           Reichstag 1550/51 aufmerksam. Im Frühjahr
   Württemberg und Josel
   von Rosheim treffen                       heim (um 1478–1554) gilt als der bedeutendste         1551 entwickelten sich daraus intensive
   Vereinbarungen über den                   Fürsprecher der Juden im Heiligen Römischen           Verhandlungen mit dem württembergischen
   Durchzug der Juden durch
                                             Reich. Als unermüdlicher und geschätzter Unter-       Hof. Und im August 1551 wurde zwischen Herzog
   das Herzogtum Württem­
   berg (11. August 1551).                   händler vermittelte er in der ersten Hälfte des       Christoph (1550–1568) und Josel von Rosheim
     Vorlage: LABW, HStAS                   16. Jahrhunderts zwischen Juden und Christen.         in namen und von wegen gemainer jüdischhait
      A 56 U 15                              Er intervenierte bei drohenden Vertreibungen          als ir vollmechtiger anwaldt ein grundsätzliches
                                             seiner jüdischen Glaubensgenossen durch Fürs-         Abkommen erzielt, das den Juden unter
                                             ten oder Städte beim Kaiser oder beim Reichs-         genau bestimmten Bedingungen den Durchzug
                                             kammergericht, setzte sich für gefangene Juden        durch das Herzogtum gestatten sollte (Abb. 1).
                                             ein oder organisierte als Anwalt praktische           Verknüpft war das herzogliche Zugeständnis mit
                                             Hilfe, etwa in Form von Geleitbriefen. In den         der Bedingung, dass alle laufenden Verfahren,
                                             Quellen tritt er häufig als Schtadlan (Fürsprecher)   die Juden mit württembergischen Untertanen
                                             oder als gemeiner Jüdischheit Regierer im deut-       vor dem Rottweiler Hofgericht oder dem
                                             schen Land hervor. Seine Integrität genoss hohes      Reichskammergericht führten, sofort eingestellt
                                             Ansehen, nicht zuletzt am kaiserlichen Hof.           werden sollten. Bis ins Detail genau geregelt
                                             Mehrere kaiserliche Privilegien gehen auf Josels      sind die Konditionen und Tarife für das Geleit.
                                             direkte Intervention zurück: 1544 etwa gelang            Besiegelt wurde die Urkunde sowohl
                                             es ihm, von Kaiser Karl V. ein umfassendes            von Herzog Christoph als auch von Josel von
2	Siegel Josels von Rosheim.                Privileg für einen weitreichenden Bestands-           Rosheim. Dessen Siegel zeigt einen Stierkopf
 Vorlage: LABW, HStAS,
	                                           und Geleitschutz der Juden zu erreichen.              im Schild, darüber die Umschrift Josef in hebrä­
 A 56 U 15                                       1551 fungierte Josel von Rosheim als Vermit­      ischen Schriftzeichen (Abb. 2). Auf der Plica
                                             tler im Herzogtum Württemberg. Konkreter              der Urkunde hat Josel zudem einen eigenhän­
                                             Anlass war das erschwerte Geleit der Juden            digen Bestätigungsvermerk, ebenfalls in
                                             durch das Herzogtum: Aufgrund von Restriktio-         hebräischer Schrift, angebracht: So spricht Josef,
                                             nen und Verboten war ein Durchzug jüdischer           Sohn des Herrn Gerschon, Andenken zum Segen,
                                             Händler durch Württemberg praktisch seit              den man nennt […] Josenin (!) Rosheim, gemeiner
                                             Jahrzehnten unmöglich gewesen. Darauf machte          Juden Regierer, der Ritter […] wie oben geschrie-
                                             Josel mit einer Supplik auf dem Augsburger            ben steht (Abb. 3, Ausschnitt).
                                                                                                      Die Urkunde sollte nach der Ausstellung
1                                                                                                  am 11. August sofort den württembergischen
                                                                                                   Amtleuten im Herzogtum publik gemacht werden
                                                                                                   (Abb. 4). Als Druckkostenzuschuss hatte Josel
                                                                                                   der württembergischen Kanzlei 80 Gulden
                                                                                                   überlassen, aber die Publikation verzögerte sich,
                                                                                                    und im September mahnte Josel die Bekannt-
                                                                                                   machung der Beschlüsse noch einmal an. Trotz
                                                                                                   dieser anfänglichen Verbreitungsprobleme
                                                                                                   war die Wirkung des Vertrags enorm. Der Text
                                                                                                   wurde in Christophs Landesverordnung von
                                                                                                   1551 aufgenommen, und die Bestimmungen
                                                                                                   blieben in der Folge steter Bestandteil der würt-
                                                                                                   tembergischen Rechtsverordnungen.
                                                                                                      Die konsensuale Mitwirkung Josels von
                                                                                                   Rosheim an der Urkunde wird freilich in den
                                                                                                   gedruckten Formen nicht mehr sichtbar,
                                                                                                   hier erscheint die Urkunde stets als alleinige
                                                                                                   Verfügung des württembergischen Herzogs.
                                                                                                   ±Erwin Frauenknecht
Archivnachrichten 62 / 2021   17
                                           1700 Jahre jüdisches Leben

3	Eigenhändige Beglaubigung           3
   Josels auf der Plica. An dieser
   Stelle sei Andreas Lehnertz
   (Jerusalem) herzlich gedankt
   für die wertvollen Hinweise
   zum Siegel und zur Trans­
   kription des Bestätigungsver­
   merks auf der Plica.
	Vorlage: LABW, HStAS, A 56
  U 15, Ausschnitt

4	Druck der Urkunde vom
   11. August 1551.
                                       4
	Vorlage: LABW, HStAS A 56
  Bü 9, Q. 28

±Literaturhinweise
   Stefan Lang: Ausgrenzung und
   Koexistenz. Judenpolitik und
   jüdisches Leben in Württemberg
   und im »Land zu Schwaben«
   (1492–1650) (Schriften zur Süd­
   westdeutschen Landeskunde
   63). Ostfildern 2008.

   Selma Stern: Josel von
   Rosheim. Befehlshaber der
   Judenschaft im Heiligen
   Römischen Reich Deutscher
   Nation. Stuttgart 1959.

   J. Friedrich Battenberg: Josel
   von Rosheim, Befehlshaber der
   deutschen Judenheit, und die
   kaiserliche Gerichtsbarkeit. In:
   »Zur Erhaltung guter Ordnung«.
   Beiträge zur Geschichte von
   Recht und Justiz. Festschrift für
   Wolfgang Sellert. Hg. von Jost
   Hausmann und Thomas Krause.
   Köln u.a. 2000. S. 183–224.

   Andreas Lehnertz: Judensiegel
   im spätmittelalterlichen
   Reichsgebiet. Beglaubigungs­
   tätigkeit und Selbstrepräsen­
   tation von Jüdinnen und
   Juden. 2 Bde. (Forschungen
   zur Geschichte der Juden.
   Abteilung A: Abhandlungen 30).
   Wiesbaden 2020.
18                       Archivnachrichten 62 / 2021
                         1700 Jahre jüdisches Leben

Maßnahme gegen antijüdische
Hetze und Verschwörungstheorien?
Die Absetzung des Adelberger
Abts Lucas Osiander d. Ä. im Jahr 1598

                                             Die Einführung der Reformation (1534) und          mende jüdische Ingenieur Abramo Colorni als
                                             der durch den Augsburger Religionsfrieden          Alchemist in herzogliche Dienste getreten.
                                             (1555) begünstigte Aufbau einer Evangelischen          Dies traf nicht nur auf den Widerstand von
                                             Landeskirche läutete im Herzogtum Württem-         Bürgermeister, Rat und Gericht zu Stuttgart
                                             berg einen starken gesellschaftlichen Wandel       oder der Landstände, sondern auch namhafter
                                             ein. Die Herzöge Christoph (1550–1568) und         Theologen. Die antijüdischen Pamphlete aus
                                             Ludwig (1568–1593) förderten die Etablierung       Martin Luthers letzten Lebensjahren schei-
                                             einer lutherischen Orthodoxie, die auch            nen bei ihnen eine besonders nachdrückliche
                                             das Alltagsleben der Bevölkerung prägen sollte.    Wirkung gehabt zu haben. Das Vorhaben des
                                             Theologen wie Johannes Brenz, Erhard und           Herzogs wurde wohl auch von der Kanzel herab
                                             Dietrich Schnepf, Matthäus Alber, Johann           mehrfach kritisiert, sodass dieser nicht wenig
                                             Andreae, Felix Bidembach d. Ä. oder Lucas          verdrossen reagierte, auch wenn er betonte, ihm
                                             Osiander d. Ä. (1534–1604) hatten in Württem-      ginge es nicht um die Ansiedlung von Juden im
1	Lucas Osiander d. Ä. (1534–1604).         berg nicht nur wichtige geistliche Ämter inne,     Allgemeinen, sondern um einige geschäftstüch-
	Vorlage: LABW, HStAS Q                     sondern übten auch politischen Einfluss aus.       tige jüdische Kaufleute. Der streng orthodoxe
  3/36b Bü 2348                                 Osiander war bereits mit 24 Jahren Super­       Lutheraner Lucas Osiander teilte besonders
                                             intendent in Blaubeuren und später Pfarrer an      heftig gegen die Juden aus: In einem Schreiben
                                             der Stuttgarter Leonhardskirche. Zudem tat         an den Herzog war u. a. zu lesen: Die Juden sind
                                             er sich als Bibelkommentator und Kirchenmusi-      abgesagte Feind unsers Herrn und Hailands Jesu
                                             ker hervor. Auch das erste württembergische        Christi: den selbigen lestern sie haimlich (wie ett-
                                             Kirchengesangbuch von 1583, dem 100. Geburts-      liche bekhert unnd getauffte Juden, in offentlichem
                                             jahr Martin Luthers, ging auf seine Initiative     Truck von inen schreiben) und bilden iren Weibern
                                             zurück. Im Jahr 1596 wurde er schließlich zum      und Kindt ein, unser Herr Jesus von Nazareth sey
                                             lutherischen Abt des Klosters Adelberg ernannt.    ein Hurnkind, von Maria in Hurerey empfangen.
                                                Zu diesem Zeitpunkt regierte mit Friedrich I.   […] Die Wunderwerck hab Christus gethan durch
                                             (1593–1608) bereits wieder ein neuer Herzog,       Zauberey und sei billich umb seiner bösen Stuck
                                             der aus der Mömpelgarder Seitenlinie des           willen ans Creutz gehenckt worden. An anderer
                                             Hauses Württemberg stammte. Seine Politik          Stelle zitierte er aus Luthers judenfeindlichen
                                             war für die damalige Zeit von deutlich größerer    Schriften und griff etwa auch den plötzlichen
                                             Weltoffenheit geprägt als die seiner beiden        Tod des brandenburgischen Kurfürsten Joachim
                                             Vor­gänger. Er ging nicht nur als Anhänger der     Hector im Jahr 1571 auf, in dessen Folge der
                                             Alchemie, sondern auch als Repräsentant des        Jude Lippold ben Chluchim wegen angeblichen
                                             frühen Merkantilismus, einer neuen Wirtschafts-    Giftmords hingerichtet und ein Judenpogrom
                                             form, die das heraufziehende 17. Jahrhundert       vom Zaun gebrochen wurde. Da passte der in
                                             prägen sollte, in die Geschichte ein. So ver-      herzoglicher Gunst stehende jüdische Alche-
                                             suchte er auch, einige geschäftstüchtige Juden     mist natürlich gut ins vorgefertigte Bild.
                                             in Stuttgart anzusiedeln, wovon er sich einen          Der Herzog versuchte sich umgehend von
                                             Wirtschaftsaufschwung erhoffte. Mit der jüdi-      Osianders Hetzschreiben zu distanzieren,
                                             schen Handelsniederlassung von Maggino             und dieser musste sich vor einer Kommission,
                                             Gabrielli schloss er 1598 einen Vertrag ab.        bestehend aus Landhofmeister Christoph von
                                             Bereits im Jahr zuvor war der aus Mantua stam-     Degenfeld und dem herzoglichen Rat Matheus
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                                                                                    1700 Jahre jüdisches Leben

2	Schreiben Herzog Friedrichs   Entzlin, verantworten. Da er bei seinen Über-      Schreiern kaltgestellt. Das Amt des Abts von
   I. zur Ansiedlung jüdischer
   Kaufleute (Konzept)
                                 zeugungen blieb, verlor er im April 1598 seine     Adelberg blieb zudem in der Familie – Nachfol-
   vom 16./26. März 1598.        Stellung als Adelberger Abt. Er wirkte noch        ger wurde sein Sohn Andreas.
	Vorlage: LABW, HStAS A         kurz in der Reichsstadt Esslingen und starb im        Lucas Osiander hat sich, wie weiter oben
  56 Bü 11
                                 Jahr 1604 in Stuttgart.                            ausgeführt, zweifellos Verdienste am Aufbau
                                    Die Absetzung Osianders ist sicher nicht        der württembergischen Landeskirche erworben
3	Einspruch Lucas Osianders
   d. Ä. gegen die Aufnahme      als herzoglicher Gunsterweis für die Juden         und steht daher zu Recht in der Reihe der
   von Juden in Stuttgart vom    oder als Maßnahme gegen antijüdische Hetze         wichtigen württembergischen Reformatoren.
   13./23. März 1598.
                                 an sich anzusehen. Vermutlich waren Herzog         Auf der anderen Seite eiferte er dem späten
	Vorlage: LABW, HStAS A
  56 Bü 11
                                 Friedrich I. die Verschwörungstheorien Osianders   Luther in seinem Antijudaismus nach, womit er
                                 vor allem deshalb zuwider, weil sie seiner Wirt-   in seiner Zeit nicht alleine stand. Die Reduzie-
                                 schaftspolitik nicht zupasskamen. Württemberg      rung auf einen Hassprediger greift also zu kurz.
                                 hatte schon Ende des 15. Jahrhunderts die             Auch für den pragmatisch-opportunisti-
                                 Juden vertrieben und Herzog Christoph sich für     schen Herzog war der Fortgang der Ereignisse
                                 eine Judenvertreibung aus dem gesamten             kein Ruhmesblatt: Gabrielli und Genossen
                                 Reich eingesetzt. Im Gegensatz zu Osiander         verließen Württemberg wegen aufkommender
                                 wurden die anderen Kritiker der herzoglichen       antijüdischer Unruhen noch im gleichen
                                 Wirtschaftspolitik, die sich zurückhaltender,      Jahr. Colorni fiel beim Herzog zunehmend
                                 aber auch eindeutig antijüdisch geäußert           in Ungnade, konnte aber noch rechtzeitig
                                 hatten, überdies nicht mit Sanktionen belegt.      nach Italien fliehen und starb 1599 in Mantua.
                                 Es wurde also nur der lauteste von mehreren        ±Johannes Renz

2                                                              3
20   Archivnachrichten 62 / 2021
     1700 Jahre jüdisches Leben

Ein Justizskandal in               Nur wenige Figuren aus der württembergischen
                                   Geschichte dürften so bekannt sein wie Joseph

Württemberg
                                   Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß; und kaum
                                   eine andere Person wird so überlagert von
                                   den Bildern, welche die Mit- und Nachwelt über

Der Fall des Joseph
                                   sie und die Geschehnisse verbreitete. Um die
                                   reale Persönlichkeit zu erfassen und den histo-
                                   rischen Kern der Ereignisse freizulegen, muss

Süß Oppenheimer                    man auf die überlieferten Akten, die sich zum
                                   großen Teil im Hauptstaatsarchiv Stuttgart

im 18. Jahrhundert
                                   befinden (LABW, HStAS A 48/14), zurückgreifen.
                                      Joseph Süß Oppenheimer wurde wohl im
                                   Februar oder März 1698 in Heidelberg geboren.
                                   Zwischen 1717 und 1735 betätigte er sich von
                                   Frankfurt und Mannheim aus als Privatbankier
                                   und Großkaufmann und wurde Münzproduzent
                                   des Landgrafen von Hessen-Darmstadt. Im
                                   Herbst 1732 lernte er in Wildbad den Prinzen
                                   Karl Alexander von Württemberg (1684–1737)
                                   aus der Seitenlinie Württemberg-Winnental
                                   kennen. Dieser hatte in kaiserlichen Diensten
                                   gestanden und es bis zum Statthalter in
                                   Belgrad gebracht. Bereits im November 1732
1                                  ernannte er Oppenheimer zu seinem Hof- und
                                   Kriegsfaktor und stellte ihn unter seinen
                                   persönlichen Schutz. Als Karl Alexander ein
                                   Jahr später auf den württembergischen Thron
                                   gelangte, weil sein Vetter Eberhard Ludwig
                                   ohne Erben verstarb, bedeutete dies die Wende
                                   im Leben Oppenheimers.
                                      Die Geschäftsbeziehungen zwischen dem
                                   Herzog und seinem Hoffaktor wurden nun
                                   ausgeweitet. Oppenheimer war jetzt nicht mehr
                                   nur für Versorgungs- und Beschaffungsange-
                                   legenheiten wie der Ausstattung des Militärs
                                   oder Geldgeschäfte zuständig, sondern entwi-
                                   ckelte sich mehr und mehr zum engen finanz-
                                   politischen Berater des Herzogs. In dieser Rolle
                                   entfaltete er eine erfolgreiche Tätigkeit zur
                                   Besserung der herzoglichen Finanzen. Mit dem
                                   Titel des Geheimen Finanzienrats ausgestattet,
                                   trat Oppenheimer als Pächter der Stuttgar-
                                   ter Münze auf und übernahm weitere Ämter,
                                   darunter zwei in der Bevölkerung besonders
                                   verhasste: das Gratialamt, das Titel, Ämter und
                                   Stellungen gegen eine Abgabe an die herzog-
                                   liche Schatulle vergab, sowie das Fiskalamt,
                                   das aufgrund von Denunziationen angebliche
                                   Verbrechen untersuchte und den Beschuldigten
                                   ermöglichte, gegen Zahlung einer Geldsumme
                                   dem Gerichtsverfahren zu entgehen.
                                      Die Stimmung im Land wurde zunehmend
                                   feindseliger. Die Maßnahmen merkantilistischer
                                   Wirtschaftsförderung belasteten die Untertanen
                                   finanziell und liefen den Privilegien der würt-
                                   tembergischen Führungsschicht zuwider. Joseph
                                   Süß Oppenheimer personifizierte die unlieb-
                                   samen Reformen und entwickelte sich zum Sün-
                                   denbock für die Politik des Herzogs. Dass er Jude
                                   war, verstärkte diese Wahrnehmung zusätzlich.
Archivnachrichten 62 / 2021                  21
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1	»Wahre Abhandlung«.                            2
   Hinrichtung des Joseph
   Süß Oppenheimer am
   4. Februar 1738 vor den
   Toren Stuttgarts. Kupfer­
   stich von Lucas Conrad
   Pfandzelt und Jacob
   Gottfried Thelot, 1738.
   Vorlage: Württember­
    gische Landesbibliothek
    Stuttgart, Graphische
    Sammlungen

2	Der Schutzbrief Herzog
    Karl Alexanders von
    Württemberg für Joseph
    Süß Oppenheimer,
    14. November 1732.
 Vorlage: LABW, HStAS A
	
 48/14 Bü 81

3	[Curioese] «Nachrichten                        3
   aus dem Reich der
   Beschnittenen«. Innenseite
   des Buchdeckels, Frank­
   furt und Leipzig 1738.
   Vorlage: LABW, HStAS A
    48/14 Bü 130

                                    Oppenheimer war sich bewusst, dass ihn, sollte      die juristische Fakultät einer Universität um
                                    die schützende Hand des Herzogs eines Tages         ein Gutachten angegangen. So war das Todes-
                                    entfallen, die Rache seiner Gegner treffen würde,   urteil, das am 31. Januar 1738 verkündet
                                    und bat wiederholt um seine Entlassung.             und am 4. Februar auf dem Stuttgarter Galgen-
                                       Als Herzog Karl Alexander in der Nacht           berg vollstreckt wurde, keine Überraschung.
                                    vom 12. März 1737 völlig unerwartet im Schloss      Die Leiche sollte noch sechs Jahre zur Schau
                                    Ludwigsburg verstarb, reagierte die Führungs-       gestellt werden, bis die sterblichen Überreste
                                    schicht sofort: Oppenheimer wurde unter             verscharrt wurden.
                                    Hausarrest gestellt, dann auf den Hohenneuffen         Der Prozess und die Hinrichtung waren
                                    verbracht und schließlich auf dem Hohen­            von Anfang an von hoher Publizität begleitet.
                                    asperg inhaftiert. Von Anfang an schien das         Insbesondere nach der Hinrichtung kam eine
4	Titelblatt der Filmzeitschrift   Ende des Verfahrens, das im Mai 1737 aufgenom­-     große Zahl von Flugschriften in Umlauf, die,
   »Illustrierter Filmkurier« mit   men wurde, bereits festzustehen. Rechtswill-        reich illustriert, die Skandalgeschichte des
   Ferdinand Marian als Joseph
   Süß Oppenheimer im 1940
                                    kür kennzeichnete den Prozess: So wurden            Joseph Süß Oppenheimer erzählten – tenden-
   uraufgeführten Hetzfilm »Jud     Oppenheimers alte Feinde aus der Regierung          ziös, schadenfroh und hämisch. Sein Schicksal
   Süß«.                            in das Gericht berufen und fällten das Urteil       wurde bis heute immer wieder neu beschrie-
   Vorlage: LABW, HStAS J 25
                                    über ihn. Man gewährte ihm weder den von            ben, literarisch oder filmisch verarbeitet; die
    Bü 162
                                    ihm gewünschten unabhängigen, auswärtigen           zumeist populären Darstellungen beeinflussen
                                    Rechtsbeistand noch gestand man ihm eine            noch immer das Bild Oppenheimers und er-
                                    Berufungsmöglichkeit zu. Zudem wurde nicht,         schweren den objektiven Zugang zum Thema.
                                    wie sonst bei schweren Kriminalfällen üblich,       ±Nicole Bickhoff
22                      Archivnachrichten 62 / 2021
                        1700 Jahre jüdisches Leben

1                                                                         2

Nur Einnahmequelle?
Zur Aufnahme von Juden in Wankheim
1774 durch den Freiherren
Friedrich Daniel von Saint André
                                            Im Sommer 1774 gewährte Freiherr Friedrich         beiden ledigen Judenburschen ihre Schutz­-
                                            Daniel von Saint André (1700–1775) erstmals        briefe schon nach wenigen Monaten wieder
                                            vier namentlich genannten Juden, zwei Familien-    zurückgaben.
                                            vätern und zwei Junggesellen, in seinem zwi-          Merkwürdigerweise herrschen trotz der
                                            schen Tübingen und Reutlingen gelegenen Dorf       recht guten Quellenlage in der Sekundärlitera-
                                            Wankheim Aufenthalt und Schutz. Damit war          tur eher Unsicherheit und Unklarheit, was die
                                            der Grundstein gelegt hin zur Entwicklung einer    Anfänge angeht. Mal wird unpräzise als Beginn
                                            neuen jüdischen Gemeinde, die, nachdem das         der jüdischen Besiedlung die Zeit um 1775
                                            Dorf 1805 an Württemberg gekommen war, sich        genannt, mal wird von vier oder fünf Familien
1	Generalfeldzeugmeister                   rasch vergrößerte und in der Mitte des 19. Jahr-   gesprochen, die schon 1774 ein Friedhofsgelände
   Friedrich Daniel Freiherr
                                            hunderts über 100 Menschen, gut 15 Prozent         gepachtet hätten. Eine Magisterarbeit setzt
   von Saint André (1700–1775)
   gewährt 1774 vier Juden                  der Einwohner, umfasste.                           den Beginn ins Jahr 1776. Einig ist sich die jün­-
   »Aufenthalt und Schutz«                     Urkunden und Akten im Schlossarchiv in          gere Literatur lediglich in der Frage nach den
   in seinem Dorf Wankheim,
   Ölgemälde.                               Kilchberg sowie im Gemeindearchiv Wankheim         Motiven des Freiherren von Saint André.
 Vorlage: Schloss Kilchberg
	                                          bieten ein anschauliches und detailreiches         Ihm sei das Geld der Juden eine willkommene
                                            Bild vom Gründungsvorgang sowie den Proble­        zusätz­liche Einnahmequelle gewesen, er habe
2	Charlotte Friderike Frei­                men der ersten Jahre. Archivalien im Haupt-        die wirtschaftlichen Vorteile im Blick gehabt und
   frau von Saint André geb.
   Leutrum von Ertingen
                                            staatsarchiv in Stuttgart (LABW, HStAS A           relativ hohe Schutzgeldzahlungen gefordert.
   (1722–1783), Ölgemälde.                  213 und J 386) ergänzen das eine oder andere,      Ähnliches hört man auch auf Führungen durch
 Vorlage: Schloss Kilchberg
	                                          machen beispielsweise deutlich, warum die          den jüdischen Friedhof in Wankheim.
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