Arzneimittel für seltene Krankheiten (orphan drugs)
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Franziska Sprecher AJP/PJA 12/2012 Arzneimittel für seltene Krankheiten (orphan drugs) 1746 Das schweizerische Heilmittelrecht im Vergleich mit der orphan drug Regulierung der EU Franziska Sprecher Arzneimittel für seltene Krankheiten (orphan drugs) lassen sich unter Il est difficile de rechercher, développer et commercialiser des mé- normalen Marktbedingungen kaum kostendeckend erforschen, entwi- dicaments destinés à traiter les maladies rares (médicaments or- ckeln und vermarkten, was zu einem Mangel an geeigneten Therapien phelins) de manière à couvrir les coûts aux conditions normales du und zugelassenen Arzneimitteln für seltene Krankheiten führt. Um den marché. Il en résulte un manque de thérapies adaptées et de médi- fortdauernden Ausschluss von betroffenen Patienten vom medizini- caments autorisés pour les maladies rares. Afin d’éviter que les pa- schen Fortschritt zu verhindern und die Defizite in der Erforschung und tients touchés soient continuellement exclus des progrès médicaux et Entwicklung von orphan drugs zu beseitigen, schuf die Europäische afin d’éliminer les déficits dans la recherche et le développement de Union – nach US-amerikanischem Vorbild – ein Anreizsystem. Der vor- médicaments orphelins, l’Union européenne – à l’instar des États- liegende Beitrag erläutert die regulatorischen Rahmenbedingungen für Unis – a mis en place un système d’incitation. Le présent article ex- orphan drugs in der EU und zeigt auf, dass die Schweiz in der Schaf- plique le cadre réglementaire des médicaments orphelins dans l’UE fung günstiger Rahmenbedingungen für Patientinnen und Patienten, et démontre que la Suisse affiche, dans la création de conditions- die an einer seltenen Krankheit leiden, anderen Ländern um Jahre hin- cadre favorables aux patients souffrant d’une maladie rare, un re- ter her hinkt, sich aber allmählich etwas tut. tard de plusieurs années par rapport à d’autres pays, mais que les choses bougent peu à peu. Inhaltsübersicht I. Einleitung I. Einleitung II. Hintergrund Durch den umstrittenen Entscheid des Schweizerischen A. Seltene Krankheiten/orphan diseases B. Arzneimittel für seltene Krankheiten/orphan drugs Bundesgerichts vom 23. November 20101 zur Kosten- C. Kinder sind besonders betroffen übernahme für das Medikament «Myozyme» für eine an D. Erfordernis besonderer regulatorischer Rahmenbedingungen der seltenen Krankheit Morbus Pompe leidende Patientin für orphan drugs durch die obligatorische Krankenversicherung traten sel- III. Orphan drugs im Recht der EU A. Europäische Arzneimittelregulierung: eine Kurzübersicht tene Krankheiten (orphan diseases) sowie Arzneimittel B. Europäische Regelung für orphan drugs für seltene Krankheiten (orphan drugs) in das Bewusst- 1. Orphan drug Status sein einer breiten schweizerischen Öffentlichkeit2. Seither 2. Zentrales europäisches Zulassungsverfahren für orphan drugs 3. Anreize für die Entwicklung von orphan drugs IV. Schweizerisches Heilmittelrecht 1 BGE 136 V 395. A. Europakompatibles schweizerisches Heilmittelrecht 2 An dieser Stelle soll das Urteil und seine Auswirkungen nicht wei- B. Orphan drugs im schweizerischen Heilmittelrecht ter vertieft werden. Vgl. dazu (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) 1. Orphan drug Status Valérie Junod/Jean-Blaise Wasserfallen, Rationnement des 2. Vereinfachtes Zulassungsverfahren soins: le TF joue enfin cartes sur table, Jusletter 29. August 2011; 3. Reduktion und Erlass von Gebühren, wissenschaftliche Beat Kipfer/Carsten Witzmann, Der Artikel 71 KVV und sei- Beratung ne Umsetzung, Schweizerische Ärztezeitung, 2011/35, 1345 ff.; 4. Keine Marktexklusivität ichel Romanens, Welchen Preis hat die Würde?, Schweizer M 5. (Noch) Keine nationale Strategie Ärztezeitung, 2011/35, 1335 ff.; Tomas Poledna/Marianne 6. Kostenübernahme für orphan drugs Tschopp, Der Myozyme-Entscheid des Bundesgerichts, Juslet- C. HMG Revision – pädiatrische orphan drugs ter, 7. Februar 2011. Siehe auch die in Bioethica Forum, 3/2011 V. Schlussbemerkung erschienenen Beiträge zu BGE 136 V 395: Bernhard Baertschi, Avions de chasse et traitement médicaus onéreux: même combat?, 105 f.; Nikola Biller-Andorno, Verallgemeinerungsfähigkeit als Kriterium für die Beurteilung eines angemessenen Kosten- Franziska Sprecher, Dr. iur., Rechtsanwältin; Studienleiterin Nutzen-Verhältnisses?, 115 f.; Stéphanie Dagron, Maladies Medizin- und Gesundheitsrecht an der Privaten Universität im rares et financement des traitements médecamenteux innovants Fürstentum Liechtenstein; Habilitandin an der Universität Zürich en Suisse entre rationalisation et rationnement, 110 f.; Marion und Gastwissenschaftlerin an der Wirtschaftsuniversität Wien (Eu- Danis, The Swiss Supreme Court’s thoughtful decision regar- ropainstitut und Institut für Österreichisches und Europäisches öf- ding insurance of expensive medications for rare diseases, 117 f.; fentliches Recht). usan Dorr Goold/Erika Blacksher, Resources, rarity, and S
Arzneimittel für seltene Krankheiten (orphan drugs) AJP/PJA 12/2012 1747 beschränkt sich die Diskussion der Thematik nicht länger schen von ihr betroffen sind8. Die Schweiz hat diese Prä- auf einschlägige Fachzeitschriften und Publikationen von valenzschwelle übernommen. Insgesamt leiden in Europa Interessengemeinschaften3, sondern ist vermehrt auch in 30 Millionen Menschen an einer seltenen Krankheit, das der Tages-4 und Sonntagspresse5 zu finden. Auch macht sind 5 bis 6 % der Bevölkerung9. In der Schweiz wird die es den Anschein, dass das umstrittene Urteil eine in der Zahl der Betroffenen auf 500’000 geschätzt10. Die Zahl Schweiz längst fällige Entwicklung in Gang gebracht der seltenen Krankheiten nimmt zu, da Krankheiten, die hat, welche die schwierige Situation von Patienten6, die ursprünglich als ein Krankheitsbild galten, nach der Er- an einer seltenen Krankheit leiden, und die Problematik mittlung ihres genetischen Ursprungs in eine Vielzahl von der orphan drugs in das Bewusstsein und auf die Agen- Krankheiten unterteilt werden11. da der Politik sowie der involvierten Akteure bringt. Vor Seltene Krankheiten sind in der Regel lebensbedroh- diesem Hintergrund und nach einer kurzen Einführung in lich oder chronisch, fortschreitend invalidisierend und mit die Thematik der seltenen Krankheiten und der orphan einer verkürzten Lebensdauer verbunden12. Bei 80 % der drugs (Abschnitt II) gibt der nachfolgende Beitrag einen orphan diseases wird von einem genetischen Ursprung Überblick zu den regulatorischen Rahmenbedingungen ausgegangen13. Die Mehrzahl der seltenen Krankheiten für orphan drugs in der EU (Abschnitt III) und untersucht ist nicht heilbar und/oder es steht keine zufriedenstellende im Anschluss daran den rechtlichen Rahmen für seltene Therapie zur Verfügung14. Die Bezeichnung als «verwais- Krankheiten und orphan drugs im schweizerischen Heil- te» Krankheiten (orphan diseases) kommt daher, dass die mittelrecht (Abschnitt VI). Erforschung, Entwicklung und Markteinführung von Arz- neimitteln für seltene Krankheiten aufgrund der kleinen Patientenpopulationen als unrentabel gilt15. In der Folge II. Hintergrund sind die entsprechenden Forschungsfelder «verwaist», was zu einem Mangel an Therapien für orphan diseases A. Seltene Krankheiten/orphan diseases führt16. Ihre Seltenheit und ein grosser Forschungsbedarf sind die verbindenden Merkmale der im Übrigen äusserst Von den heute weltweit bekannten rund 30’000 Krank- heterogenen Krankheitsbilder seltener Krankheiten. heiten werden 6000 bis 8000 zu den seltenen Krankheiten gezählt7. In der Europäischen Union wird eine Krankheit als selten bezeichnet, wenn weniger als 1 von 2000 Men- 8 Als orphan disease gilt eine Krankheit in der EU, wenn weniger als 230’000 Patienten pro Jahr oder 5 pro 10.000 Einwohner da- von betroffen sind, VO 141/2000/EG (vgl. FN 27), Erwägungs- grund 5. In den USA sind es 200’000 Patienten pro Jahr oder 7,5 pro 10’000 Einwohner, in Japan weniger als 50’000 Patienten pro Jahr oder 4 pro 10’000 Einwohner und in Australien weniger als rationing, 107 f.; Olivier Guillod, Un appel au pouvoir politique, 2000 Patienten pro Jahr oder rund 1 pro 10’000 Einwohner. Hagn/ 92 f.; Stefan Felder, A wise and just decision, 98 f.; Leonard Schöffski (FN 7), 426; Kathrin Roll/Tom Stargardt/Jonas M. Fleck, Fair funding of extraordinarily expensive medication, Schreyögg, Zulassung und Erstattung von Orphan Drugs im in- 96 ff.; Christian Kind, Gerechte Rationierung bedingt auch ge- ternationalen Vergleich, Das Gesundheitswesen, 2010, Bd. 71, rechte Medikamentenpreise, 94 f.; Georg Marckmann, Kosten- 504 ff., 505. Nutzen-Bewertung auf Abwegen…, 112 f.; Rouven Porz, Der 9 Vgl. Informationen auf der Internetseite von EURODIS [http:// rechtliche Turm zu Babel, 103 f. www.eurordis.org, besucht im Oktober 2012]. EURODIS ist eine 3 Romain Lazor, Seltene Krankheiten: eine neue Herausforderung auf dem Gebiet der seltenen Krankheiten tätige nicht-staatliche für das Gesundheitswesen, vivO2 extra (Zeitschrift der Schweizeri- Organisation, die aus einer Allianz von Patientenorganisationen sche Lungenliga) 5/2005, 11 ff. und Einzelpersonen gebildet wird. Romain Lazor/Sizonenko 4 Iwan Städler, «Da werden Behinderte diskriminiert», Tagesan- D’Amato, Seltene Erkrankungen: 30 Millionen Menschen in Eu- zeiger vom 14. Mai 2012, 5. ropa sind betroffen, Schweizerische Ärztezeitung, 2008, 636 ff., 5 Andreas Hirstein, Verhinderte Gentests, NZZ am Sonntag vom 363. 18.3.2012. 10 Lazor/D’Amato Sizonenko (FN 9), 638. 6 Der Einfachheit halber wird nachfolgend nur die männliche oder 11 Romain Lazor/Loredana D’Amato Sizonenko, Seltene die weibliche Form verwendet. Die jeweils fehlende Form ist im- Krankheiten und Orphan-Medikamente: eine Herausforderung für mer mit gemeint. das Gesundheitssystem, Schweizerische Ärztezeitung 28/29/2011, 7 Daniel Hagn/Oliver Schöffski, Orphan Drugs, in: Oliver 1083. Schöffski/Frank-Ulrich Fricke/Werner Guminski (Hrsg.), Phar 12 Lazor/D’Amato Sizonenko (FN 11), 1083. mabetriebslehre, Berlin/Heidelberg 2008, 413 ff.; Birgit 13 Lazor/D’Amato Sizonenko (FN 11), 1083. Wetterauer/R. Schuster, Seltene Krankheiten – Probleme, 14 Hagn/Schöffski (FN 7), 414; Wetterauer/Schuster (FN 7), Stand und Entwicklung der nationalen und europäischen For- 519. schungsförderung, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsfor- 15 Hagn/Schöffski (FN 7), 414. schung – Gesundheitsschutz, 2008, Bd. 51, 519 ff., 519. 16 Hagn/Schöffski (FN 7), 414 m.w.Nw.
Franziska Sprecher AJP/PJA 12/2012 1748 B. Arzneimittel für seltene Krankheiten/ nen Krankheiten nur bei Kindern auf21. Drittens gelten für orphan drugs die medizinische Forschung mit Kindern besonders hohe ethische und regulatorische Anforderungen22, was die Auf dem Gebiet der seltenen Krankheiten ist die For- Entwicklung von Arzneimittel für Kinder und Jugendli- schung und Entwicklung neuer Arzneimittel mit beson- che – und erst Recht von pädiatrischen orphan drugs – vor deren Herausforderungen konfrontiert: Die Patienten- grosse Herausforderungen stellt. Der Begriff «therapeutic populationen sind erklärtermassen klein. Auch leben die orphan» wurde denn auch von einem Pädiater geprägt. wenigen Patienten häufig räumlich weit voneinander Harry Shirkey brachte 1968 damit zum Ausdruck, dass entfernt, was die Bildung von Patientenkohorten und die Kinder regelmässig nicht in Studien eingeschlossen und Durchführung aussagekräftiger Studien erschwert17. Zu- damit von der wissenschaftlich fundierten Arzneimittel- dem sind die Krankheitsbilder bei orphan diseases oft versorgung ausgeschlossen werden23. sehr komplex und erfordern eine hochspezialisierte und Zur Verbesserung der Arzneimittelversorgung in der interdisziplinäre Forschung und Behandlung18, wobei die Pädiatrie im Allgemeinen und mit pädiatrischen orphan einzelnen orphan diseases von verhältnismässig wenigen drugs im Besonderen, soll im Rahmen der laufenden Re- Wissenschaftlern erforscht werden19. vision des Heilmittelgesetzes24 in der Schweiz ein in Eu- Diese Voraussetzungen haben zur Folge, dass die Ent- ropa und den USA längst etabliertes Anreizsystem für die wicklung von Arzneimitteln für seltene Krankheiten mit Pharmaindustrie eingeführt werden. Der vorliegende Bei- erheblichem Mehraufwand verbunden ist und gleichzei- trag wird diese pädiatrischen Aspekte der orphan drug- tig nur eine kleine Patientenpopulation diese Arzneimittel Thematik nur am Rande vertiefen25. nachfragt. Entsprechend hat die pharmazeutische Indus- trie unter normalen Marktbedingungen kein Interesse an der Erforschung und Entwicklung von Arzneimitteln für D. Erfordernis besonderer regulatorischer seltene Leiden, da sie befürchtet, die Entwicklungskos- Rahmenbedingungen für orphan drugs ten nicht durch die zu erwartenden Verkäufe während der Um den fortdauernden Ausschluss von Patienten, die an Patentlaufzeit – sofern ein orphan drug Patentschutz ge- einer seltenen Krankheit leiden, vom medizinischen Fort- niesst – decken zu können20. schritt und damit ihre Diskriminierung in der Gesund- heitsversorgung zu verhindern, müssen die Forschungs- C. Kinder sind besonders betroffen anstrengungen für seltene Krankheiten verstärkt und die Rahmenbedingungen für die Betreuung und Behandlung Kinder sind von der Problematik der Seltenheit in einem von Patienten mit seltenen Krankheiten verbessert werden. dreifachen Sinne betroffen: Erstens treten zahlreiche Da unter normalen Marktbedingungen die Erfor- Krankheiten und gesundheitliche Störungen nur im Kin- schung und Entwicklung von orphan drugs kaum kos- desalter auf oder sind im Hinblick auf ihre Erscheinung, tendeckend möglich ist, bedarf es für die Forschung und ihre Schwere und ihren Verlauf bei Kindern anders als bei Entwicklung auf diesem Gebiet besondere Rahmenbedin- Erwachsenen und bedürfen damit einer eigenständigen gungen. Die USA kennt entsprechende Regelungen für Betrachtung. Zweitens tritt ein erheblicher Teil der selte- orphan drugs seit 198326. Die Europäische Union schuf 17 Wetterauer/Schuster (FN 7), 519. 18 Lazor/D’Amato Sizonenko (FN 11), 1083; Wetterauer/ 21 Peter Kleist, Immer noch Waisenkinder in der Medizin, Schwei- Schuster (FN 7), 519. zerische Ärztezeitung 42/2001, 2221; Wetterauer/Schuster 19 Wetterauer/Schuster (FN 7), 519. (FN 7), 519. 20 Die Kosten für die Forschung und Entwicklung eines neuen Arz- 22 Franziska Sprecher, Medizinische Forschung mit Kindern und neimittels belaufen sich durchschnittlichen auf 1,059 Mio. Euro Jugendlichen nach schweizerischem, deutschem, europäischem bei einer Entwicklungszeit von acht bis zwölf Jahren. Vgl. Eu- und internationalem Recht, Berlin/Heidelberg/New York 2007, ropean Federation of Pharmaceutical Industries and zugl. Diss. Univ. St. Gallen 2007, passim. Associations, The Pharmaceutical Industry in Figures, Ausgabe 23 Harry Shirkey, Therapeutic orphans, The Journal of Pediatrics 2010, 7. Interpharma beziffert die Kosten auf 1’300 Mio. US $, 1968, Vol. 72, 119 f. Interpharma, Pharma-Markt Schweiz 2010, 56. Hagn/Schöffski, 24 Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinprodukte vom 15. De- (FN 7), 422 weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bei zember 2000 (HMG, SR 812.21). orphan drugs die Entwicklungskosten etwas geringer ausfallen als 25 Vgl. dazu Franziska Sprecher, Bald mehr und sicherere Arznei- bei «normalen» Arzneimitteln, da auf Grund der kleinen Patienten- mittel für Kinder?, Jusletter, 18. Januar 2010. population die klinischen Studien weniger umfangreich ausfallen 26 Orphan Drug Act (1983), United States Public Law No. 97–414, und daher weniger Zeit und Ressourcen in Anspruch nehmen (414). 96 Stat. 2049. Vgl. dazu Nikolaus Stürchler, Heilmittel für
Arzneimittel für seltene Krankheiten (orphan drugs) AJP/PJA 12/2012 1749 um das Jahr 2000 mit der VO 141/2000/EG27 ein Anreiz- meinschaftskodexes für Humanarzneimittel fasst einen system zur Förderung der Forschung und Entwicklung grossen Teil der in der europäischen Union geltenden Vor- von orphan drugs. Die Verordnung ist Teil der umfang- schriften für die Herstellung, das Inverkehrbringen, den reichen europäischen Arzneimittelregulierung28. Nachfol- Vertrieb und den Einsatz von Humanarzneimitteln zusam- gend werden die europäischen Rahmenbedingungen für men. Nicht in die Regelungskompetenz der EU, sondern orphan drugs kurz dargestellt. Daran anschliessend fol- der Mitgliedstaaten fallen die Preisregulierung bei Arz- gen Ausführungen zu den rechtliche Vorgaben für orphan neimitteln sowie sozialversicherungsrechtliche Aspekte drugs im schweizerischen Heilmittelrecht. und damit letztlich die Entscheidung über die Verfügbar- keit der einzelnen Arzneimittel für die Patientinnen32. Eine zentrale Rolle bei der Versorgung der Menschen III. Orphan drugs im Recht der EU in Europa mit Arzneimitteln kommt der 1995 gegründe- ten Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zu33. Die A. Europäische Arzneimittelregulierung: EMA ist eine Agentur der Europäischen Union mit Sitz eine Kurzübersicht in London. Sie ist für die Beurteilung und Überwachung von Arzneimitteln zuständig. Im Rahmen des zentralisier- Bis 1995 waren nationale Verfahren die einzige Möglich- ten Zulassungsverfahrens für Arzneimittel34 – welches für keit, ein Arzneimittel in der EU zuzulassen. Heute stehen orphan drugs zwingend vorgeschrieben ist (vgl. hinten verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, die teils auf III.B.2.) – sind die wissenschaftliche Beurteilung und die der Koordinierung nationaler Verfahren, teils auf euro- Zulassungsentscheidung institutionell getrennt. Während päischer Zentralisierung beruhen. Neben den nach wie die EMA die wissenschaftliche Beurteilung der Zulas- vor wichtigen nationalen Zulassungsverfahren29 ist auch sungsanträge vornimmt, erteilt die Europäische Kom- eine EU-weite Zulassung von Arzneimitteln möglich30. mission auf Grundlage der EMA Gutachten und nach Die Richtlinie 2001/83/EG31 zur Schaffung eines Ge- Konsultation der Mitgliedsstaaten die Zulassung für den gesamten EU-Raum. Neben nationalen Zulassungsbehör- seltene Krankheiten – Schlüssel zu wirksamer Regulierung in der den in und ausserhalb von Europa arbeitet die EMA eng Schweiz, AJP/PJA 2002, 883, 885 ff. – Japan und Singapur haben mit internationalen Organisationen zusammen und wirkt seit 1997 eine orphan drug Gesetzgebung. Australien folgte 1998. in diesen mit. Beispielsweise ist sie Mitglied der Interna- Vgl. Harald Enzmann/Johannes Lütz, Förderung von Arznei- tionalen Harmonisierungskonferenz35/36. mitteln für seltene Leiden durch die Europäische Gemeinschaft, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheits- Innerhalb der EMA bestehen verschiedene wissen- schutz, 2008, Bd. 51, 500. Für weitere Länder siehe die Studie von schaftliche Ausschüsse, die in ihrem jeweiligen Fachge- Roll/Stargardt/Schreyögg (FN 7). biet auf die Beurteilung und Überwachung von Arznei- 27 Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und mittel spezialisiert sind. Die Ausschüsse setzen sich aus des Rates vom 16. Dezember 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden ABl. L 18 vom 22.1.2000, S. 1–5. Spezialisten aller EU-Länder sowie der EWR-Länder 28 Philippe Brunet/Clara Martinez Alberola, The new phar- zusammen. Im Rahmen dieses Beitrages interessieren maceutical legislation, Pharmaceuticals Policy an Law, 2005, Vol. 6, 33 ff.; Birka Lehmann, Überblick über die Entwicklung der europäischen Rechtsetzung zur Angleichung der Arzneimittel- vorschriften, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – 32 Kerstin Westermark, The Regulation on Orphan Medicines in Gesundheitsschutz, 2008, Bd. 51, 713 ff.; Rashmi R. Shah/ the EU: Objectives reached and main challenges when fading the Agnès Saint Raymond, Regulation of human medicinal products future, Pharmaceuticals Policy and Law, 2007, Vol. 9, 327, 338 ff. in the European Union, in: John Perry Griffin (Hrsg.), The Text- 33 Europäische Arzneimittelagentur (EMA) [http://www.ema.europa. book of Pharmaceutical Medicine, 6. A., Chichester, West Sussex eu/ema]; Thomas Lönngren, The European Medicines Agency: 2009, 444 ff. – Das Arzneimittelrecht der EU, inklusive Notices to Preparing the ground for the future, Pharmaceuticals Policy and applicants and Guidelines, ist über die EudraLex-Datenbank zu- Law, 2005, Vol. 6, 69 ff.; Shah/Saint Raymond (FN 28), 455 f.; gänglich [http://ec.europa.eu/health/documents/eudralex]. Tobin/Walsh (FN 30), 29 f. 29 Vgl. dazu die rechtsvergleichende Darstellung von Andrea Faeh, 34 Shah/Saint Raymond (FN 28), 466 ff. Zulassung und Vertrieb von rezeptpflichtigen (RX) und nicht re- 35 International Conference on Harmonisation of Technical Require- zeptpflichtigen (OTC, OTX) Arzneimitteln, Fribourg 2008. ments for Registration of Pharmaceuticals for Human Use (ICH) 30 Shah/Saint Raymond (FN 28), 463 ff.; John J. Tobin/Gary [http://www.ich.org]. Zur Rolle und Aufgabe der ICH Sprecher Walsh, Medical Product Regulatory Affairs, Weinheim 2008, (FN 22), 111 ff. 114 ff.; Joachim Schwarz Leitfaden Klinische Prüfungen von 36 Shah/Saint Raymond (FN 28), 498 f.; Dean W. G. Harron, Arzneimittel und Medizinprodukten, 4. A., Aulendorf 2011, 40 ff. Technical requirements for registration of pharmaceuticals for hu- 31 Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates man use: the ICH process in: John Perry Griffin (Hrsg.), The Text- vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes book of Pharmaceutical Medicine, 6. A., Chichester, West Sussex für Humanarzneimittel, ABl. L 311 vom 28.11.2001, S. 67–128. 2009, 522 ff.
Franziska Sprecher AJP/PJA 12/2012 1750 insbesondere zwei Ausschüsse: Der Ausschuss für Hu- der Ausarbeitung und Durchführung der Massnahmen der manarzneimittel (Committee for Medicinal Products for Gemeinschaft im Bereich der seltenen Krankheiten und Human Use, CHMP) ist zuständig für die Ausarbeitung fördert den Austausch von einschlägigen Erfahrungen, von Gutachten der EMA über sämtliche Fragen zu Human politischen Strategien und Verfahren zwischen den Mit- arzneimitteln und verantwortlich für die Risikobewertung gliedstaaten und zwischen den verschiedenen beteiligten von Humanarzneimitteln, die EU-weit zugelassen werden Akteuren.»43 sollen37. Der Ausschuss für Arzneimittel für seltene Lei- den (Committee for Orphan Medicinal Products, COMP) 1. Orphan drug Status prüft Anträge auf Ausweisung eines Arzneimittels als «Arzneimittel für seltene Leiden» (orphan medical pro- Ausgangspunkt für sämtliche Förderungen ist die Aner- duct)38. kennung eines Arzneimittels als orphan drug nach Art. 3 der VO 141/2000/EG44/45. Auf Antrag untersucht das COMP, ob ein Arzneimittel die Kriterien für die Zuer- B. Europäische Regelung für orphan drugs kennung des orphan drug Status erfüllt. Den Status er- Die Grundlage der europäischen Regelung für orphan halten Arzneimittel, die der Diagnose, Verhütung oder drugs bildet die VO 141/2000/EG des Europäischen Par- Behandlung von Krankheiten dienen, die bei höchstens laments und des Rates vom 16. Dezember 1999 über Arz- fünf von zehntausend EU-Bürgern vorkommen (epide- neimittel für seltene Leiden39. Die Verordnung stellt im miologisches Kriterium)46. Unabhängig von der Prävalenz zweiten Erwägungspunkt fest, dass Patienten mit seltenen kann der Status auch Arzneimitteln verliehen werden, Leiden dasselbe Recht wie andere Patienten auf gute Be- handlung haben. Daher müssten Erforschung, Entwick- 43 Art. 2 Beschluss der Kommission vom 30. November 2009 zur lung und Inverkehrbringen geeigneter Arzneimittel durch Einsetzung eines Sachverständigenausschusses der Europäischen die pharmazeutische Industrie gefördert werden. Dieses Union für seltene Krankheiten, ABl. L 315 vom 2. Dezember 2009, Ziel strebt die EU mit einem durch die VO 141/2000/EG S. 18. 44 Artikel 3, Kriterien für die Ausweisung als Arzneimittel für seltene eingeführten System von Anreizen und Förderinstrumen- Leiden. ten an, welches nachfolgend erläutert wird. «(1) Ein Arzneimittel wird als Arzneimittel für seltene Leiden aus- Neben den durch die Verordnung über Arzneimittel gewiesen, wenn der Investor nachweisen kann, dass für seltene Leiden gesetzten rechtlichen Rahmenbedin- a) das Arzneimittel für die Diagnose, Verhütung oder Behand- lung eines Leidens bestimmt ist, das lebensbedrohend ist oder gungen fördert die EU die Erforschung seltener Krank- eine chronische Invalidität nach sich zieht und von dem zum heiten und die Verbesserung der Betreuung und Therapie Zeitpunkt der Antragstellung in der Gemeinschaft nicht mehr von Betroffenen im Rahmen des Aktionsprogrammes als fünf von zehntausend Personen betroffen sind, oder das «Öffentliche Gesundheit»40 und den europäischen For- Arzneimittel für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung ei- nes lebensbedrohenden Leidens, eines zu schwerer Invalidität schungsrahmenprogrammen. 2009 erliess die Kommis- führenden oder eines schweren und chronischen Leidens in der sion zudem die Empfehlung «Seltene Krankheiten: eine Gemeinschaft bestimmt ist und dass das Inverkehrbringen des Herausforderung für Europa»41. 2010 hat ein von der Eu- Arzneimittels in der Gemeinschaft ohne Anreize vermutlich ropäischen Kommission eingesetzter Sachverständigen- nicht genügend Gewinn bringen würde, um die notwendigen Investitionen zu rechtfertigen, ausschuss für seltene Krankheiten die Arbeit aufgenom- und men42. Der Ausschuss «unterstützt die Kommission bei b) in der Gemeinschaft noch keine zufriedenstellende Methode für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung des betreffenden Leidens zugelassen wurde oder dass das betreffende Arzneimit- 37 Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und tel – sofern eine solche Methode besteht – für diejenigen, die des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung von Gemeinschafts- von diesem Leiden betroffen sind, von erheblichem Nutzen sein verfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- wird.» und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arz- Zu Art. 3 VO 141/2000/EG wurde eine Ausführungsverordnung neimittel-Agentur, ABl. L 136 vom 30.4.2004, S. 1–33, Kapitel 1; erlassen: Verordnung (EG) Nr. 847/2000 der Kommission vom Shah/Saint Raymond (FN 28), 456 f. 27. April 2000 zur Festlegung von Bestimmungen für die Anwen- 38 Art. 4 VO 141/2000/EG; Shah/Saint Raymond (FN 28), 457 f. dung der Kriterien für die Ausweisung eines Arzneimittels als Arz- 39 Vgl. FN 27. neimittel für seltene Leiden und von Definitionen für die Begriffe 40 ABl. L 53 vom 26. Februar 2009, S. 41. «ähnliches Arzneimittel» und «klinische Überlegenheit», ABl. L 41 Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parla- 103 vom 28.4.2000, S. 5–8. Vgl. dazu auch die schematische Über- ment, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und an sicht bei Hagn/Schöffski (FN 7), 415. den Ausschuss der Regionen, KOM(2008) 679. 45 Shah/Saint Raymond (FN 28), 480 f. 42 European Union Committee of Experts on Rare Diseases, 46 Die Prävalenz in anderen Teilen der Welt wird nicht berücksichtigt. EUCERD. Enzmann/Lütz (FN 26), 502.
Arzneimittel für seltene Krankheiten (orphan drugs) AJP/PJA 12/2012 1751 bei denen die Wirtschaftlichkeit nicht gegeben ist (öko- sungsverfahrens bestehen verschiedene Zulassungstypen. nomisches Kriterium)47. Stützt sich ein Gesuch auf die Für orphan drugs von besonderer Bedeutung ist die Mög- Seltenheit einer Krankheit (was beim überwiegenden Teil lichkeit einer «Genehmigung vorbehaltlich besonderer Be- der Gesuche der Fall ist48), muss zugleich nachgewiesen dingungen» gemäss Art. 14 Abs. 7, VO 726/2004/EG55. Auf werden, dass die Krankheit lebensbedrohlich ist oder zu Grund der kleinen Patientenpopulationen lassen sich bei chronischer Invalidität führt. Beruft sich ein Gesuchstel- vielen orphan drugs Untersuchungen zur Wirksamkeit und ler darauf, dass das Inverkehrbringen des Arzneimittels Unbedenklichkeit nicht mit der geforderten statistischen in den Ländern der Europäischen Union ohne Anreize Aussagekraft (Goldstandard56) durchführen, da die für sol- vermutlich nicht genügend Gewinn bringen wird, um die che Studien nötigen Patienten in der dafür erforderlichen notwendigen Investitionen zu decken, muss er ausser- Zahl und Zeit nicht rekrutierbar sind57. Ist jedoch – trotz dem nachweisen, dass es sich entweder um eine lebens- unzureichender Studienergebnisse – der Nutzen eines sol- bedrohliche, eine zu schwerer Invalidität führende oder chen Arzneimittels für die Patienten grundsätzlich erkenn- eine schwere und chronische Krankheit handelt49. In die- bar, kann der Hersteller eine Genehmigung vorbehaltlich sem Fall muss die Seltenheit nicht belegt werden50. Es ist besonderer Bedingungen beantragen58. Die Genehmigung den Antragstellern überlassen, ob sie ihr Gesuch entwe- wird jährlich durch die EMA neu beurteilt und die Liste der der mit der Seltenheit einer Krankheit oder der fehlenden Bedingungen wird öffentlich zugänglich gemacht59. Gewinnaussichten begründen. In beiden Fällen darf für Nach erfolgreicher Zulassung im Rahmen des zentra- die betreffende Krankheit keine zufriedenstellende Thera- len europäischen Zulassungsverfahren steht orphan drugs pie in der EU zur Verfügung stehen und das Arzneimittel umgehend der Marktzugang in 29 europäischen Ländern muss einen erheblichen Nutzen versprechen51. (EU-Mitgliedsstaaten plus die EWR Länder Liechten- Der Status als orphan drug wird auf Antrag in einem stein, Island und Norwegen) offen60. frühen Stadium der Entwicklung eines Arzneimittels durch die Europäische Kommission auf der Grundlage eines 3. Anreize für die Entwicklung entsprechenden Gutachtens des COMP erteilt52. Wird der von orphan drugs Status zuerkannt, wird das Arzneimittel gemäss Art. 5 VO 141/2000/EG in das Gemeinschaftsregister für Arzneimit- Der Status als orphan drug eröffnet während der Entwick- tel für seltene Leiden53 aufgenommen54. Die Anerkennung lung und nach erfolgreicher Zulassung den Zugang zu als orphan drug und der Eintrag in das Register erfolgen in verschiedenen Vergünstigungen und Förderungen: der Regel in einem frühen Zeitpunkt der Entwicklung des a. Wissenschaftliche Beratung Arzneimittels und sagen daher nichts darüber aus, ob das und Gebührenerlass Arzneimittel tatsächlich auch zur Marktreife gelangt. Während der Entwicklung erhalten Antragsteller (Ein- 2. Zentrales europäisches Zulassungs zelpersonen oder Unternehmen) gemäss Art. 6 der VO verfahren für orphan drugs 141/2000/EG gebührenfreie wissenschaftliche Beratung und Unterstützung («Protocol Assistance») durch die Als orphan drug ausgewiesene Arzneimittel müssen zwin- EMA bei der Planung und Durchführung der verschiede- gend das zentrale europäische Zulassungsverfahren be- nen Studien, die zum Nachweis der Qualität, Sicherheit schreiten. Im Rahmen des zentralen europäischen Zulas- und Wirksamkeit des Arzneimittels erforderlich sind61. 47 Enzmann/Lütz (FN 26), 501 f.; Roll/Stargardt/Schreyögg 55 Marketing Authorisation under Exceptional Circumstances. (FN 7), 505; Westermark (FN 32), 330. 56 Als «Goldstandard» wird bei klinischen Studien eine prospektive, 48 Enzmann/Lütz (FN 26), 502; Stürchler (FN 26), 888. randomisierte Doppelblindstudie mit entsprechender statistischer 49 Die US-amerikanische Regelung kennt für die Zuerkennung des Aussagekraft bezeichnet, Entzmann/Lütz (FN 26), 506. orphan-drug Status die Kriterien «unbefriedigter medizinischer Be- 57 Mariana Catapano/Rosa Padula, The role of the Orphan darf» und «erheblicher Nutzen» nicht. Vgl. dazu Enzmann/Lütz Drugs initiative, Pharmaceuticals Policy and Law, 2010, Vol. 12, (FN 26), 503. 9 ff.; Westermark (FN 32), 332. 50 Enzmann/Lütz (FN 26), 502. 58 Entzmann/Lütz (FN 26), 505 f.; Hagn/Schöffski (FN 7), 421; 51 Art. 3 Abs. 1 Bst. b VO 141/2000/EG sowie die Ausführungsver- Westermark (FN 32), 332. ordnung VO 847/2000/EG (FN 44). 59 Westermark (FN 32) 332. 52 Art. 5 VO 726/2004/EG (vgl. FN 36). Enzmann/Lütz (FN 26), 504. 60 Westermark (FN 32), 332. 53 Gemeinschaftsregister für Arzneimittel für seltene Leiden: http:// 61 Catapano/Padula (FN 57), 9; Entzmann/Lütz (FN 26), 505; ec.europa.eu/health/documents/community-register/html/orphreg.htm. Hagn/Schöffski (FN 7), 417; Shah/Saint Raymond (FN 28), 54 Enzmann/Lütz (FN 26), 504; Tobin/Walsh (FN 30), 150 f. 481 ff.
Franziska Sprecher AJP/PJA 12/2012 1752 Von dieser kostenfreien wissenschaftlichen Beratung pro- In drei besonderen Fällen erhält ein ähnliches Arznei- fitieren insbesondere kleine und mittlere Unternehmen mittel mit demselben therapeutischen Anwendungsgebiet (KMU’s), die im Nischenmarkt der orphan drugs beson- trotz der zuvor beschriebenen Regelung eine Marktzulas- ders stark vertreten sind62. Neben der wissenschaftlichen sung. Erstens kann der Inhaber einer Marktzulassung eines Beratung sind verschiedene Ermässigungen und ein voll- zuerst als orphan drug ausgewiesenen Arzneimittels einem ständiger Erlass von Gebühren vorgesehen. zweiten Antragsteller die Erlaubnis erteilen. Zweitens kann ein zweiter Antragsteller eine Zulassung erhalten, b. Erleichterter Zugang zu privaten und wenn der erste Antragsteller das Arzneimittel nicht in ge- staatlichen Finanzmitteln nügenden Mengen liefern kann. Drittens hat die Marktex- Die wissenschaftliche Beurteilung eines Antrags um Er- klusivität – unabhängig von der Ähnlichkeit eines nach- teilung des orphan drug Status durch das COMP sowie die folgenden Arzneimittels – dann keinen Bestand, wenn ein Verleihung des orphan drug Status durch die Europäische zweiter Antragsteller nachweisen kann, dass sein Produkt Kommission wirken wie ein von unabhängiger Seite ver- im Vergleich zum geschützten Arzneimittel sicherer, wirk- liehenes Gütesiegel und verschafft den Antragsstellern samer oder unter einem anderen Aspekt überlegen ist71. u.a. einen erleichterten Zugang zu Finanzierungsmög- Neben den in der VO 141/2000/EG vorgesehenen An- lichkeiten63. Ebenso eröffnet die Anerkennung als orphan reizen zur Förderung der Erforschung, der Entwicklung drug den Zugang zu nationalen und europäischen Förder- und des Inverkehrbringens von orphan drugs, steht es der mitteln (z.B. Forschungsförderungsprogramme)64. Kommission sowie den Mitgliedsstaaten frei, weitere An- reize und Förderinstrumente zu etablieren (z.B. Steuerbe- c. Marktexklusivität freiung72, nationale Forschungsförderung, u.a.)73. Der wirkungsvollste Anreiz für die Entwicklung von neu- en orphan drugs ist in Art. 8 der VO 141/2000/EG vorge- sehen: Nach erfolgreicher Zulassung eines zuvor als or- IV. Schweizerisches Heilmittelrecht phan drug ausgewiesenen Arzneimittels wird ein zeitlich begrenztes Alleinvertriebsrecht («Marktexklusivität») ge- A. Europakompatibles schweizerisches währt65. Marktexklusivität nach Art. 8 der VO 141/2000/ Heilmittelrecht EG bedeutet, dass nach der Zulassung eines Arzneimittels Im Gegensatz zu den Medizinprodukten74, die dem «new mit orphan drug Status während 10 Jahren weder die EU and global approach»75 folgen und damit an die Selbstver- noch ein Mitgliedsstaat einen weiteren Antrag für ein an- deres, ähnliches Arzneimittel66 mit demselben therapeu- tischen Anwendungsgebiet annimmt67. Der zehnjährige 70 Hagn/Schöffski (FN 7), 417 f.; Westermark (FN 32), 333. 71 Entzmann/Lütz (FN 26), 505; Westermark (FN 32), 333. Schutz vor Konkurrenzprodukten soll die Amortisation 72 Corinna Remmele, Arzneimittel für seltene Leiden («Orphan der Kosten für die Forschung und Entwicklung von orphan Drugs») im EG- und US-Recht, Aachen 2007, zugl. Diss. Augsburg drugs sicherstellen68. Die Marktexklusivität kann auf sechs 2007, 165. Die EU verfügt über keine Steuerhoheit, so dass nur die Jahre verkürzt werden, wenn nach fünf Jahren festgestellt Mitgliedstaaten über die Gewährung von Steuervergünstigungen entscheiden können. Die US-amerikanische orphan drug Regelung wird, dass ein Arzneimittel die Kriterien für den orphan kennt Steuervergünstigungen. drug Status nicht länger erfüllt69. In diesen Fällen wird das 73 Hagn/Schöffski (FN 7), 417; Roll/Stargardt/Schreyögg Marktexklusivitätsrecht durch die EMA aberkannt70. (FN 7), 507; Westermark (FN 32), 333; Wetterauer/Schuster (FN 7), passim. 74 Medizinprodukte unterscheiden sich von Arzneimitteln insbeson- 62 Hagn/Schöffski (FN 7), 413; Westermark (FN 32), 331. dere dadurch, «dass sie nicht chemischen oder biologischen Ur- 63 Westermark (FN 32), 339. sprungs sind und ihren Zweck damit nicht durch pharmakologische 64 Entzmann/Lütz (FN 26), 505. Siehe für eine Übersicht zu natio- Wirkung entfalten, sondern vorwiegend auf mechanischem, phy- nalen Fördermassnahmen einiger europäischer Länder für seltene sikalischem oder physiko-chemischem Weg». BSK HMG-Meier, Krankheiten Wetterauer/Schuster (FN 7). Vor 3. Kapitel N 4. – Es ist im Vergleich mit dem übrigen Europa 65 Hagn/Schöffski (FN 7), 419. eine schweizerische Besonderheit (oder Kuriosität), dass sich die 66 Die Ähnlichkeit wird näher definiert in der Ausführungsverord- Regelungen zu Arzneimitteln und Medizinprodukten in ein und nung VO 847/2000/EG (FN 44), Art. 3. dem gleichen Gesetz, dem Heilmittelgesetz (HMG) finden. 67 Entzmann/Lütz (FN 26), 504; Hagn/Schöffski (FN 7), 422 f. 75 Entschliessung des Rates 85/C 136/01 vom 7. Mai 1985 über eine 68 Hagn/Schöffski (FN 7), 422 f. neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung 69 Art. 8 Abs. 3 VO 141/2000/EG. Beispielsweise wird die Marktex- und der Normung, ABl. 1985, C 135, S. 1.; BSK HMG-Meier, klusivität verkürzt, wenn sich herausstellt, dass das Arzneimittel vor 3. Kapitel N 10 ff.; Ursula Eggenberger Stöckli, Arzt und gewinnbringend ist, so dass der orphan drug Status nicht länger ge- Heilmittel, in: Moritz W. Kuhn/Tomas Poledna (Hrsg.), Arztrecht rechtfertigt ist. in der Praxis, 2. A., Zürich/Basel/Genf 2007, 459.
Arzneimittel für seltene Krankheiten (orphan drugs) AJP/PJA 12/2012 1753 antwortung der Hersteller anknüpfen, unterliegen Arznei- auf die Daten der EMA und umgekehrt81. Auch werden mittel einer Zulassungspflicht. Als Folge davon besteht im die Entscheidungen über die Zulassung einzelner Arz- Arzneimittelbereich kein freier Warenverkehr, auch nicht neimittel noch nicht gegenseitig anerkannt82, so dass ein zwischen der Schweiz und den Ländern der EU und des Arzneimittel neben der Zulassung im EU-Raum eine Zu- EWR76. Um unter diesen Umständen die Wettbewerbs- lassung für die Schweiz benötigt83. fähigkeit des schweizerischen Pharmamarktes sicher zu stellen, wird die schweizerische Heilmittelgesetzgebung B. Orphan drugs im schweizerischen im Rahmen des autonomen Nachvollzuges weitgehend Heilmittelrecht europakompatibel ausgestaltet und an die massgebenden internationalen Standards angepasst77. Es handelt sich Im Bereich der orphan drugs folgt die Schweiz den euro- beim «internationalisierten» und «europäisierten» Heil- päischen und internationalen Entwicklungen mit grosser mittelrecht dennoch um genuin schweizerisches Recht, so zeitlicher Verzögerung84. Wie die nachfolgenden Ausfüh- dass dem europäischen Arzneimittelrecht in der Schweiz rungen zeigen, besteht in der Schweiz derzeit weder eine keine (unmittelbare) Wirkung zukommt. Doch enthält nationale Strategie für seltene Krankheiten noch lassen das schweizerische Heilmittelrecht zunehmend direkte sich die im schweizerischen Heilmittelrecht vorgesehe- Verweise auf Bestimmungen des Sekundärrechts der EU nen Erleichterungen für orphan drugs mit den Anreiz- und und erklärt einzelne EU-Erlasse explizit für unmittelbar Fördersystemen anderer Industrienationen, insbesondere anwendbar78. Auch die arzneimittelrechtlichen Entschei- denjenigen der EU, vergleichen. Eine vergleichende Un- de der EMA, der europäischen Kommission und der EU- tersuchung der gesetzlichen Regelungen für orphan drugs Mitgliedsstaaten haben in der Schweiz keine direkte Gel- in verschiedenen Ländern zeigt auf, dass die Schweiz ten- tung, doch können sich Gesuchsteller im schweizerischen denziell von den bestehenden Anreizen in anderen Län- Zulassungsverfahren auf Ergebnisse und Dokumentatio- dern (insbesondere der EU und den USA) profitiert85. Seit nen von im Ausland durchgeführten Zulassungsverfahren kurzer Zeit werden aber auch in der Schweiz von privater berufen (vgl. dazu nachfolgend IV.B.1)79. Dennoch hat und staatlicher Seite verschiedene Anstrengungen unter- die schweizerische Zulassungsbehörde (Schweizerisches nommen (vgl. dazu IV.B.5). Heilmittelinstitut, Swissmedic)80 keinen direkten Zugriff 1. Orphan drug Status Wie das EU-Recht kennt auch das schweizerische Recht 76 Art. 16a Abs. 2 Bst. A Bundesgesetz über die technischen Han- den orphan drug Status. Die Verleihung des orphan delshemmnisse (THG, SR 946.51); Paul Hettich, Pharmarecht drug Status durch das Schweizerische Heilmittelinstitut als Risikorecht, in: Peter Hettich/Stefan Kohler (Hrsg.), St. Galler (Swissmedic) wird in der Verordnung über die verein- Tagung zum Pharmarecht, St. Gallen 2010, 9, 18. fachte Zulassung von Arzneimitteln und die Zulassung 77 Stefan Kohler, Aktuelle Trends im Pharmarecht, in: Peter Het- tich/Stefan Kohler (Hrsg.), St. Galler Tagung zum Pharmarecht, von Arzneimitteln86 geregelt. Auf Gesuch hin erhalten St. Gallen 2010, 23, 30. «wichtige Arzneimittel für seltene Krankheiten»87 den or- 78 Pierre Tschannen/Ulrich Zimmerli/Markus Müller, Allge- meines Verwaltungsrecht, 3. A., Bern 2009, § 17 Rz. 20. Vgl. zum Bsp. Art. 4 Medizinprodukteverordnung (MepV) vom 17. Oktober 2001, SR 812.213. 81 Hettich (FN 76) 17, der darauf hinweist, dass der EMA ungleich 79 Berücksichtigt werden ausländische Zulassungsentscheide aus grössere Ressourcen zur Verfügung stehen wie Swissmedic. Ländern mit einer «vergleichbaren Arzneimittelkontrolle» (Art. 13 82 Andreas Balsiger Betts, Swissmedic – Brennpunkte beim Voll- HMG). Die Gleichwertigkeit wird durch Swissmedic nach den zug des Heilmittelrechts, in: Peter Hettich/Stefan Kohler (Hrsg.), schweizerischen Anforderungen geprüft. Die betreffenden Län- St. Galler Tagung zum Pharmarecht, St. Gallen 2010, 31, 42. der sind in der «Liste gemäss Artikel 5a Absatz 4 der Verordnung 83 Wobei bei bereits im Ausland zugelassenen Arzneimittel verkürzte über die Arzneimittel (VAM)» (AS 2010 1295) aufgeführt. Als Verfahren zur Anwendung gelangen (Art. 5a VAM) und im schwei- gleichwertig gelten (Stand Mai 2010) die Kontrollverfahren von zerischen Zulassungsverfahren Entscheide und Dokumentationen Australien, der EWR-Mitgliedsstaaten (EU und EFTA-Länder), Ja- ausländischer Zulassungsverfahren berücksichtigt werden (z.B. pan, Kanada, Neuseeland, Singapur und der USA. Vgl. dazu BSK Art. 26 Abs. 2 VAZV). HMG-Tobler, Art. 13 N 16 ff. 84 Lazor/D’Amato Sizonenko (FN 11), 1083. 80 Zum Schweizerischen Heilmittelinstitut siehe BSK HMG-Richli, 85 Roll/Stargardt/Schreyögg (FN 7), 512. Vor 5. Kapitel, sowie die Kommentierungen der Art. 68 ff. Swiss- 86 Verordnung des Schweizerischen Heilmittelinstituts über die ver- medic ist für den Vollzug des HMG zuständig und damit Zulas- einfachte Zulassung von Arzneimitteln und die Zulassung von sungs-, Kontroll- und Aufsichtsbehörde in einem. Dem Institut ob- Arzneimitteln im Meldeverfahren (VAZV) vom 22. Juni 2006, SR liegt die Überwachung der Sicherheit der Heilmittel (Art. 58 Abs. 3 812.212.23. HMG), vgl. BSK HMG-Eichenberger Art. 58 N 1. 87 Art. 14 Abs. 1 Bst. f HMG.
Franziska Sprecher AJP/PJA 12/2012 1754 phan drug Status verliehen. Der Status kann an Auflagen suchsteller beantragt wird, oder wenn sich heraus stellt, und Bedingungen geknüpft werden88. dass die Kriterien nach Art. 4 VAZV nicht mehr erfüllt Die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Arz- sind. neimittels als wichtiges Arzneimittel für seltene Krank- heiten sind in Art. 4 VAZV geregelt: «Den Status als 2. Vereinfachtes Zulassungsverfahren wichtiges Arzneimittel für seltene Krankheiten (Orphan Drug) erhält ein Humanarzneimittel auf Gesuch hin, Der von Swissmedic verliehene orphan drug Status öffnet wenn die Gesuchstellerin nachweist, dass es der Erken- den Gesuchstellern den Zugang zu einem vereinfachten nung, Verhütung oder Behandlung einer lebensbedrohen- Zulassungsverfahren nach Art. 24–26 VAZV94. Die Ver- den oder chronisch invalidisierenden Erkrankung dient, einfachung im Zulassungsverfahren besteht insbesondere von der zum Zeitpunkt der Gesuchseinreichung höchstens darin, dass der Seltenheit einer Krankheit und der damit fünf von zehntausend Personen in der Schweiz betroffen verbundenen erschwerten Durchführung klinischer Stu- sind oder ihm von einem anderen Land mit vergleichbarer dien Rechnung getragen wird95. Dazu die Erläuterungen Arzneimittelkontrolle im Sinne von Artikel 13 HMG der von Swissmedic: «Bei der Begutachtung sowohl der prä- Status als wichtiges Arzneimittel für seltene Krankheiten klinischen als auch der klinischen Daten wird die Sel- zuerkannt wurde.»89 Um die erforderlichen Nachweise für tenheit der Erkrankung berücksichtigt. Einerseits wird das Prävalenzkriterium zu erbringen, können Gesuchstel- berücksichtigt, was eine realistische Grösse für eine kli- ler, «falls Daten zur Schweiz fehlen», auf Datenbanken nische Studie bei der Seltenheit der Krankheit darstellt. von Drittländern verweisen90. Im Vergleich mit den Kri- Zudem wird auch die Tatsache berücksichtigt, dass die terien für die Zuerkennung des orphan drug Status der Investitionen für diese Arzneimittel, wegen dem kleinen VO 141/2000/EG (vgl. vorne III.B.1) fällt auf, dass die Markt, auf das notwendige Minimum beschränkt werden schweizerische Regelung vordergründig die Kriterien der können. Dies bedeutet aber nicht, dass für die Zulassung fehlenden Wirtschaftlichkeit sowie des «unbefriedigten eines Orphan Drugs ein unausgereiftes, unvollständiges medizinischen Bedarfs» und des «Nutzens» nicht enthält. oder wissenschaftlich ungenügendes Dossier eingereicht Durch den Verweis in Art. 13 HMG91 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 werden kann. Andererseits wird Swissmedic bei Orphan Bst. b und Art. 26 Abs. 2 VAZV sowie Art. 5a VAM92 auf Drugs eher auch publizierte Resultate anstelle von voll- Dokumentationen und Entscheidungen aus Verfahren vor ständigen Studienberichten akzeptieren.»96 ausländischen Arzneimittelbehörden, gelangen diese Kri- Eine besondere Beschleunigung ist im Zulassungs- terien aber auch im schweizerischen Anerkennungsver- verfahren für orphan drugs nicht vorgesehen97. Eine Aus- fahren von orphan drugs – wenn auch indirekt – zur An- nahme bilden Gesuche um Zulassung von Arzneimitteln wendung, sofern sich ein Antragsteller auf den Entscheid mit einer neuen aktiven Substanz (New Active Substance, der EMA oder einer Arzneimittelbehörde eines EU-Mit- NAS) oder deren Indikationserweiterung. Gemäss der gliedstaates bezieht. Verwaltungsverordnung «Zulassung im Ausland bereits Der orphan drug Status kann auch für eine neue In- zugelassener Arzneimittel (Art. 13 HMG)»98 ist eine re- dikation eines bekannten Wirkstoffes beantragt werden, duzierte Begutachtung und in der Folge eine Beschleu- wenn die genannten Kriterien erfüllt sind. Swissmedic nigung des Zulassungsverfahrens – onkologische Arz- führt im Internet eine öffentlich zugängliche Liste aller neimittel ausgenommen – u.a. bei NAS-Arzneimitteln Arzneimittel mit orphan drug Status (Art. 7 VAZV)93. Der möglich, die durch das Committee for Orphan Medicinal orphan drug Status kann von Swissmedic gemäss Art. 6 Products (COMP) der EMA oder durch den Orphan Drug VAZV entzogen werden, wenn dies entweder vom Ge- Act der FDA als «Orphan Drug» eingestuft oder zugelas- sen sind99. Zulassungsgesuche für andere orphan drugs 88 Art. 5 VAZV. 89 Art. 4 Abs. 1 VAZV. Die Schweiz verwendet das gleiche Prävalenz- 94 Art. 14 Abs. 1 lit. f HMG; Art. 4 ff., 24 ff. VAZV. kriterium wie die EU. 95 Art. 26 Abs. 1 VAZV. BSK HMG-Schmid/Uhlmann, Art. 14 90 Art. 4 Abs. 2 VAZV. N 13 ff. 91 Vgl. dazu auch die Verwaltungsverordnung Anleitung Zulassung 96 Swissmedic, Erläuterungen zu Orphan Drugs (Art. 4–7 VAZV, im Ausland bereits zugelassener Arzneimittel (Art. 13 HMG) vom Art. 24–26 VAZV), 4. 22. Juni 2010 (ZL000_00_001d_VV). 97 Swissmedic, Erläuterungen zu Orphan Drugs (Art. 4–7 VAZV, 92 Verordnung über die Arzneimittel (Arzneimittelverordnung, VAM) Art. 24–26 VAZV), 4. vom 17. Oktober 2001, SR 812.212.21. 98 Vgl. FN 91. 93 Excel Tabelle abrufbar unter: http://www.swissmedic.ch/daten/ 99 Verwaltungsverordnung «Zulassung im Ausland bereits zugelasse- 00081 (besucht im Oktober 2012). ner Arzneimittel» (Art. 13 HMG), Kapitel 10.1.
Arzneimittel für seltene Krankheiten (orphan drugs) AJP/PJA 12/2012 1755 werden durch Swissmedic nach den Möglichkeiten prio- vereinheitlichung dienen und hätten einen gewissen ritär behandelt100. Symbolcharakter105. In der zur Zeit laufenden Revision des Heilmittelgesetzes106 sind denn auch keine mit der 3. Reduktion und Erlass von Gebühren, in ausländischen orphan drug Regelungen vorgesehenen wissenschaftliche Beratung Marktexklusivität vergleichbaren Instrumente vorgese- hen. Einzige Ausnahme bilden pädiatrische orphan drugs, Wie die europäische Regelung sieht auch das schweize- für die in der Revisionsvorlage zum HMG spezielle För- rische Heilmittelrecht vor, dass Arzneimittel, denen der derinstrumente vorgesehen sind (vgl. dazu hinten IV.C.). Status eines orphan drug zuerkannt wurde, von einer Re- duktion oder dem Erlass von Gebühren profitieren kön- 5. (Noch) Keine nationale Strategie nen. Nach der Verleihung des orphan drug Status werden die Gebühren auf Gesuch hin erlassen101. Auf Wunsch des In der Schweiz besteht zur Zeit – im Gegensatz zu ande- Antragsstellers, oder wenn von Swissmedic als notwen- ren europäischen Ländern107 – keine nationale Strategie dig erachtet, kann der Antragsteller vor der Einreichung für seltene Krankheiten. Gefordert wird ein schweizweit eines Gesuchs oder auch während dessen Bearbeitung koordiniertes und einheitliches Vorgehen bei der Betreu- durch Swissmedic wissenschaftlich beraten werden102. ung von Patientinnen mit seltenen Krankheiten, der For- schung auf diesem Gebiet sowie der Förderung der Ent- 4. Keine Marktexklusivität wicklung und Marktzulassung von orphan drugs schon länger von verschiedenster Seite108. Notwendig sind auch Neben dem erleichterten Zulassungsverfahren, dem Er- der Aufbau und Betrieb einer nationalen Datenbank109 lass oder der Reduktion von Gebühren sowie der wissen- und die Einrichtung von Referenzzentren110. Auch in die- schaftlichen Beratung für orphan Arzneimittel sind im ser Frage war es der umstrittene Entscheid des Bundes- schweizerischen Heilmittelrecht keine weiteren Anreize gerichtes von Ende 2010, der die zuständigen Behörden und Förderungen vorgesehen. Insbesondere kennt das vermehrt aktiv werden liess. So prüft das Bundesamt für schweizerische Heilmittelrecht keine Marktexklusivität Gesundheit derzeit eine nationale Strategie zur Verbesse- für orphan drugs103. Hierbei gilt es zu bedenken, dass der rung der gesundheitlichen Situation von Menschen mit schweizerische Pharmamarkt – und speziell der Markt für seltenen Krankheiten. Gemeinsam mit den betroffenen orphan drugs – im Vergleich zum Arzneimittelmarkt der Akteuren werden grundlegende Fragestellungen disku- EU104 sehr klein ist, was die Problematik der orphan drugs tiert und der aktuelle Handlungs- und Verbesserungsbe- zusätzlich verschärft. Sind in der EU von einer seltenen Krankheit einige Tausend oder zumindest einige Hun- dert Personen betroffen, ist es in der Schweiz eine Hand- voll Patienten. Der sehr kleine Schweizer Markt hat zur Folge, dass sich ein Engagement im Bereich der orphan 105 Stürchler (FN 26), 893. drugs begrenzt auf die Schweiz kaum lohnt. Entsprechend 106 Zur Revision: Ursula Eggenberger Stöckli, Ordentliche Re- vision des Heilmittelgesetzes: Übersicht, Pharma Recht, 2010, macht die Verleihung von Marktexklusivitätsrechten, wie 140 ff.; Erläuternder Bericht zum Vorentwurf der ordentlichen Re- sie die orphan Regelungen der USA und der EU vorsehen, vision des Bundesgesetzes über Arzneimittel und Medizinprodukte, für den schweizerischen Markt nur sehr beschränkt Sinn, Oktober 2009 [http://www.admin.ch/ch/d/gg/pc/documents/1636/ bzw. würde eine solche Regelung lediglich der Rechts- Bericht.pdf]. 107 Wetterauer/Schuster (FN 7), 520 ff. 108 Postulat 10.4055 der Nationalrätin Ruth Humbel «Nationa- le Strategie zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Menschen mit seltenen Krankheiten»; Willy Oggier, Seltene Er- 100 Swissmedic, Richtlinie Fristen Zulassungsgesuche, Anmerkung zu krankungen und Orphan Drugs in der Schweiz – Handlungsbedarf Orphan Drugs auf S. 5. aus gesundheitsökonomischer Sicht, Schweizerische Ärztezeitung 101 Art. 65 Abs. 6 HMG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 Verordnung des Instituts 18/2010, 734 f. . über die Gebühren des Schweizerischen Heilmittelinstituts vom 109 Hierzu zählt u.a. die ursprünglich in Frankreich initiierte, frei zu- 9. November 2001, SR 812.214.5. BSK HMG-Schmid/Uhlmann, gängliche Internetplattform «Orphanet» (www.orpha.net). Die Art. 65 N 21. schweizerische Plattform von orphanet wird seit 2001 durch die 102 Art. 25 VAZV Vgl. auch Swissmedic, Erläuterungen zu Orphan Genfer Universitätsspitäler betrieben (www.orphanet.ch). Noch Drugs (Art. 4–7 VAZV, Art. 24–26 VAZV), 4. fehlt eine Etablierung in der gesamten Schweiz., vgl. dazu Lazor/ 103 BSK HMG-Schmid/Uhlmann Art. 14 N 14. D’Amato Sizonenko (FN 11), 1085. 104 Der EU-Binnenmarkt umfasst 500 Millionen Personen. Quelle: 110 Vgl. Seltene Erkrankungen – häufiger als man denkt, «BAG prüft I ntegrationsbüro EDA/EVD, Informationsblätter Bilaterale Ab- nationale Strategie zu seltenen Krankheiten», NZZ vom 31. Okto- kommen EU-CH, Ausgabe 2012, 11. ber 2007.
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