ASTROTEILCHENPHYSIK IN DEUTSCHLAND-PERSPEKTIVEN UND EMPFEHLUNGEN STRATEGIEPAPIER FÜR ERUM-PRO (2020-2023) KOMITEE FÜR ASTROTEILCHENPHYSIK

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Astroteilchenphysik
in Deutschland –
PERSPEKTIVEN und EMPFEHLUNGEN

Strategiepapier für ErUM-Pro (2020-2023)
Komitee für Astroteilchenphysik

9. Mai 2019
Impressum
Das vorliegende Dokument wurde vom Vorsitzenden
und stellvertretenden Vorsitzenden des KAT in enger
Abstimmung mit den gewählten KAT-Mitgliedern und
deren Stellvertreterinnen und Stellvertretern sowie
den ex-officio Mitgliedern aus dem Wissenschafts-
bereich erarbeitet und editiert. Es berücksichtigt
Kommentare und Änderungsvorschläge der Astro-
teilchenphysik-Gruppenleiterinnen und -leiter.

Herausgeber
Komitee für Astroteilchenphysik (KAT)
c/o Prof. Dr. Uli Katz
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Erlangen Centre for Astroparticle Physics
Erwin-Rommel-Str. 1
91058 Erlangen
uli.katz@physik.uni-erlangen.de
Druck
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

Design und Layout
Beatrix von Puttkamer
© KAT Mai 2019
Inhalt

1 Astroteilchenphysik: Stand des Feldes................................................................ 5

2 Strategieprozess in der deutschen Astroteilchenphysik....................................... 7

3 Zusammenfassung der Empfehlungen................................................................ 9
    3.1 Empfehlung des KAT für ErUM-Pro (2020-2023)......................................................................... 9
    3.2 Weitere Forschungsempfehlungen des KAT................................................................................. 9

4 Zentrale Fragen und Methoden der Astroteilchenphysik.................................... 11

5 Detaillierte Empfehlungen................................................................................ 17

6 Gesellschaftliche Relevanz und Anwendungen.................................................. 23

Anhang 1 Astroteilchenphysik-Experimente in ErUM-Pro..................................................................... 25
Anhang 2 Gruppenleiterinnen und Gruppenleiter und die
         Entwicklung der Astroteilchenphysik in Deutschland............................................................ 26
Anhang 3 Innovative Technologien aus der Astroteilchenphysik........................................................... 28
Anhang 4 Das Komitee für Astroteilchenphysik (KAT)........................................................................... 30
Perspektiven der Astroteilchenphysik                                                                  06.05.2019

1 Astroteilchenphysik: Stand des Feldes
Astroteilchenphysik ist ein dynamisches, national und     sortien geplant, gebaut und betrieben. Bei vielen der
international schnell wachsendes und höchst erfolg-       maßgeblichen Experimente sind deutsche Forscher-
reiches Forschungsfeld, das sich in den letzten Jahr-     gruppen signifikant und vielfach in führenden Rollen
zehnten interdisziplinär im Grenzbereich von Astro-,      beteiligt. Diese Spitzenstellung wurde durch die kon-
Teilchen- und Kernphysik entwickelt hat und grund-        struktive Zusammenarbeit zwischen Helmholtz- und
legende physikalische Fragestellungen untersucht, die     Max-Planck-Instituten und den Universitäten möglich,
diese Felder der Physik – d.h. Vorgänge auf den kleins-   wobei die Förderung von Universitätsgruppen durch
ten und größten uns bekannten Längenskalen – in Be-       ErUM-Pro ein essenzielles Element ist. Das KAT sieht
ziehung setzt.                                            diese Grundlage der Forschungsförderung in der Ast-
                                                          roteilchenphysik als unabdingbar an und hofft, dass sie
Die Methode, verschiedene Signaltypen zu kombinie-        unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Erfolge
ren – die Multi-Messenger-Astronomie – hat 2017 mit       und der wachsenden Community weiter gestärkt wird.
der Evidenz für eine erste astrophysikalischen Quelle     Das KAT erachtet es weiterhin als sehr wichtig, dass die
hochenergetischer Neutrinos sowie mit der Beobach-        Balance zwischen Großprojekten und kleineren Expe-
tung der Verschmelzung zweier Neutronensterne mit         rimenten mit kürzeren Zeitskalen, z.B. zur Etablierung
Gravitationswellen und elektromagnetischer Strahlung      neuer Methoden und Detektorkonzepte, aufrechter-
entscheidende Durchbrüche gefeiert. Die Einbezie-         halten wird.
hung von Gravitationswellen in diese Forschung hat
sich als extrem fruchtbar erwiesen; schon kurz nach       Die Gravitationswellenforschung ist thematisch eng
ihrer Entdeckung (Nobelpreis 2017) haben Gravitati-       mit den anderen Forschungsthemen der Astroteilchen-
onswellen-Messungen und insbesondere auch simul-          physik – insbesondere der Multi-Messenger-Astrono-
tane Beobachtungen von Gravitationswellen- und            mie – verzahnt und ist eines der Themenbereiche des
elektromagnetischen Signalen im Frequenzbereich von       KAT. Neu sind nunmehr der Übergang von der reinen
Radio- bis Gammastrahlung zu völlig neuen astrophysi-     Detektorentwicklung zu vielfachen Gravitationswellen-
kalischen Erkenntnissen geführt – im Fall des genann-     beobachtungen und der astrophysikalischen Auswer-
ten Neutronenstern-Ereignisses z.B. zum Ablauf des        tung der Ergebnisse, sowie Vorbereitungen für ein Ex-
Verschmelzungsvorgangs, zur Natur von Kilonovae und       periment der nächsten Generation. Das KAT sieht es als
zur Nukleosynthese in Folge solcher Prozesse. Im Be-      essenziell an, den Universitäten in dieser Phase Zugang
reich der kosmischen Strahlung hat das Auger-Experi-      zu diesem Feld zu ermöglichen und regt deshalb an,
ment mit der erstmaligen Beobachtung einer Anisotro-      die Gravitationswellen in die Forschungsförderung in
pie bei höchsten Energien einen Durchbruch erzielt.       ErUM-Pro neu aufzunehmen, mit einem resultierenden
                                                          Aufwuchs der geförderten Gruppen und Standorte,
Im Bereich der Niederenergie-Astroteilchenphysik wur-     der sich auch im Umfang der Förderung widerspiegeln
den bei der Untersuchung der Neutrinoeigenschaften        sollte.
und der Suche nach Dunkler Materie große Fortschrit-
                                                          Die jüngsten Erfolge der Astroteilchenphysik wurden
te erzielt. So wurden bei der Suche nach dem neu-
                                                          durch neue experimentelle Methoden und immer
trinolosen doppelten Betazerfall neue Rekord-Aus-
                                                          empfindlichere Instrumente möglich, die rasant wach-
schlussgrenzen erreicht, die Messung des gesamten
                                                          sende Datenraten liefern. Es ist zu erwarten, dass sich
Spek­trums der solaren Neutrinos aus der pp-Kette in
                                                          diese Tendenz beschleunigt fortsetzt. Zunehmende
Echtzeit erfolgt jetzt mit einem einzigen Experiment,
                                                          Aufmerksamkeit gilt deshalb dem Themenbereich Da-
und die Messung der Neutrinomasse mit um eine Grö-
                                                          ten und Computing, wobei Rechen- und Speicherka-
ßenordnung erhöhter Empfindlichkeit hat gerade be-
                                                          pazität der entsprechenden Rechner-Infrastrukturen,
gonnen. Die Parameter der mit atmosphärischen und
                                                          schneller Datentransfer zwischen Rechenanlagen und
solaren Neutrinos entdeckten Neutrinooszillationen
                                                          Nutzern, der Einsatz von Methoden des maschinellen
(Nobelpreis 2015) werden immer präziser vermessen.
                                                          Lernens sowie die Umsetzung von Open Data Access
Die Sensitivitäten bei der Suche nach Dunkler Materie
                                                          im Mittelpunkt stehen. Die deutsche Astroteilchenphy-
verzehnfachen sich weiterhin etwa alle 3 Jahre. Kürz-
                                                          sik-Community ist an entsprechenden übergreifenden
lich wurde zudem das erste Mal der neutrinobehaftete
                                                          Initiativen (ErUM-Data, NFDI, EOSC) intensiv beteiligt.
doppelte Elektroneneinfang am Isotop Xe-124 nachge-
                                                          Das KAT gibt zu bedenken, dass die Nutzung künftiger
wiesen und die längste je direkt gemessene Halbwerts-
                                                          Lösungen innerhalb dieser Großinitiativen Vorarbeiten
zeit veröffentlicht.
                                                          auf Experimentebene erfordert, deren Förderung als
Die meisten Experimente und Observatorien der As-         Methodenentwicklung im Rahmen von ErUM-Pro von
troteilchenphysik werden von internationalen Kon-         hoher Bedeutung sein wird.

                                                                                                                5
Perspektiven der Astroteilchenphysik                                                                06.05.2019

Die Astroteilchenphysik ist wissenschaftlich eng ver-    hin beflügelt die Forschung in der Astroteilchenphysik
zahnt mit der Teilchen-, Kern- und Hadronenphysik, re-   hochtechnologische Entwicklungen und deren Anwen-
präsentiert durch die Komitees KET und KHuK (Physik      dung auf teilweise völlig anderen Gebieten, wie z.B.
der kleinsten Teilchen in ErUM-Pro). Ausgelöst durch     in der Bildverarbeitung oder der Medizintechnik. Die
den Strategieprozess der europäischen Teilchenphy-       grundlegenden Fragestellungen und die extrem an-
sik (European Particle Physics Strategy Update) gab es   spruchsvollen technischen Herausforderungen begeis-
2017/2018 eine Reihe gemeinsamer Workshops, bei          tern insbesondere junge Menschen, sich intensiv mit
denen übergreifende Strategien für bestimmte For-        Forschung, Entwicklung und neuen Technologien zu
schungsfelder – wie etwa die Neutrinophysik – dis-       beschäftigen. Viele junge Menschen entscheiden sich
kutiert und beschlossen wurden. Diese Schlussfolge-      gerade deswegen für ein Studium im MINT-Bereich.
rungen fließen in das vorliegende Papier ein. Das KAT    Das KAT sieht es als essenziell an, dass die Wissen-
sieht die Verzahnung der Komitees sehr positiv und ist   schaftler proaktiv auf die Gesellschaft zugehen, um
bestrebt, diese insbesondere auf den Rat Deutscher       ihre Forschung zu vermitteln und Begeisterung dafür
Sternwarten (RDS) zu erweitern und synergetisch zu       zu wecken.
nutzen, u.a. auch für Querschnittsaufgaben in Berei-
                                                         Dieses Papier fasst die wissenschaftlichen und förder-
chen wie Computing und Outreach.
                                                         politischen Prioritäten der deutschen Astroteilchen-
Die gesellschaftliche Relevanz der Forschung auf dem     physik-Community für die nächste Förderperiode von
Gebiet der Astroteilchenphysik und den angrenzen-        ErUM-Pro (2020-23) zusammen. Es konzentriert sich
den Gebieten wie Astronomie und Teilchenphysik           daher auf die großen Projekte in diesem Feld, deren
reicht weit über die eigentlichen wissenschaftlichen     deutsche Beteiligung Gegenstand dieser Förderung ist
Fragestellungen hinaus. Sie beinhaltet den zentralen     und/oder werden soll. Um jedoch ein vollständiges und
kulturellen Aspekt der Frage nach dem Ursprung des       unverzerrtes Bild des Forschungsfeldes darzustellen,
Weltalls, der Materie und des Lebens, der als Triebfe-   werden zusätzlich auch Empfehlungen formuliert, die
der von Erkenntnisstreben und damit des Fortschritts     nicht direkt auf ErUM-Pro zielen.
von enormer gesellschaftlicher Bedeutung ist. Weiter-

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Perspektiven der Astroteilchenphysik                                                                       06.05.2019

2 Strategieprozess in der deutschen Astroteilchenphysik
Das KAT organsiert seit 2015 jeweils gegen Jahresen-           lichen Fragestellungen der wachsenden deutschen
de Strategietreffen im Physikzentrum der DPG in Bad            As­troteilchenphysik-Gemeinschaft im Rahmen realisti-
Honnef, zu denen die Gruppenleiterinnen und Grup-              scher finanzieller Mittel und Ressourcen auch in Zukunft
penleiter der Astroteilchenphysik in Deutschland sowie         erfolgreich bearbeitet werden können. Der Strategie-
Vertreter von den angrenzenden Komitees, BMBF, DFG             prozess findet in enger Abstimmung zwischen den For-
und Projektträger eingeladen sind. Bei diesen Treffen          schern an deutschen Universitäten, Helmholtz-Zentren
werden neue Entwicklungen diskutiert und ein Mei-              und Max-Planck-Instituten statt und erfolgt in Diskus-
nungsbild zu strategischen Entscheidungen gebildet.            sion mit dem BMBF. Der europäische Strategieprozess,
Im September 2018 fand in Mainz zudem das Treffen              der im Rahmen des APPEC durchgeführt wurde, und
der deutschen Astroteilchenphysik-Community mit fast           sich jetzt in der Phase der Umsetzung befindet, findet
200 Teilnehmern statt.                                         hierbei ebenso Berücksichtigung wie die globalen in-
                                                               ternationalen Entwicklungen und nationale Interessen.
Seit dem letzten Strategiegespräch mit dem BMBF im
April 2016 haben KAT, KET und KHuK eine Reihe von              Die Empfehlungen beinhalten Fortführungen und Wei-
Workshops organisiert, die Zukunftsperspektiven für            terentwicklungen von erfolgreichen Projekten, die In-
die Forschung im Bereich der Elementarteilchen-, As-           betriebnahme von kurz vor dem Start befindlichen Ex-
troteilchen-, Hadronen- und Kernphysik und insbeson-           perimenten und eine Selektion von exzellenten neuen
dere die deutsche Position im Hinblick auf den Euro-           Experimenten. Insbesondere durch die außerordentlich
pean Particle Physics Strategy Upgrade (EPPSU) Prozess         erfolgreiche Positionierung der deutschen Astroteil-
zum Thema hatten. Aus einem Abschluss-Workshop                 chenphysik in den letzten Jahren werden auch in den
im Mai 2018 ging eine gemeinsame Stellungnahme                 nächsten Jahren wesentliche Fortschritte und weitere
hervor und das KAT hat die Astroteilchenphysik-As-             Durchbrüche bei der Beantwortung der vier identifizier-
pekte in einem Dokument zusammengefasst, das an                ten Grundfragen – Eigenschaften von Neutrinos, Natur
EPPSU submittiert wurde.                                       der Dunklen Materie, Verständnis des nicht-thermischen
                                                               Universums und Ursprung der kosmischen Strahlung,
Im Mai 2018 fand in Hannover ein gut besuchtes Tref-
                                                               Entwicklung des Universums – erwartet. Dies setzt na-
fen der deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissen-
                                                               türlich voraus, dass die entsprechenden Rahmenbe-
schaftler statt, die an der Gravitationswellenforschung
                                                               dingungen für die hierzu erforderlichen innovativen,
interessiert sind. Der Letter of Intent für das Einstein-Te-
                                                               hochtechnologischen und methodischen Entwicklungen
leskop wurde u.a. von Teilnehmern aus 15 deutschen
                                                               zumindest vorhanden bleiben, wenn nicht ausgebaut
Universitäten gezeichnet. Die sehr unterstützende Hal-
                                                               werden. Der Bau der hierzu erforderlichen Großgeräte
tung und das breite Interesse an einer Beteiligung an
                                                               und darüber hinaus gehende F&E-Arbeiten ermöglichen
diesem Feld wurden auch beim KAT-Strategietreffen im
                                                               es nicht nur, wissenschaftliches Neuland zu betreten
November 2018 deutlich.
                                                               und fundamentale Fragen zu beantworten, sondern sie
Die Schlussfolgerungen der genannten Treffen, Work-            schaffen auch einen hohen Mehrwert für Industrie und
shops und Dokumente bilden die Grundlage für das               Gesellschaft. Die Astroteilchenphysikerinnen und -physi-
vorliegende Papier.                                            ker in Deutschland sehen sich gut gerüstet, diesen Weg
Angesichts der großen wissenschaftlichen und finan-            konsequent weiterzugehen. Eine starke Vernetzung in-
ziellen Herausforderungen der kommenden Jahre hat              nerhalb der Astroteilchenphysik und mit benachbarten
sich das KAT zum Ziel gesetzt, klare Empfehlungen und          Wissenschaftsfeldern spielt dabei auf nationaler wie in-
Priorisierungen für die deutsche Astroteilchenphysik zu        ternationaler Ebene eine zunehmend bedeutsame Rolle.
erarbeiten. Sie sollen aufzeigen, wie die wissenschaft-

                                                                                                                     7
Perspektiven der Astroteilchenphysik                                                              06.05.2019

3 Zusammenfassung der Empfehlungen
Die hier vorgeschlagenen Forschungsschwerpunkte        Entwicklung des Universums:
und Empfehlungen für zukünftige Themen gründen         –– F&E und experimentnahe Entwicklungsarbeiten
auf einer sorgfältigen Abwägung des wissenschaftli-       für einen Gravitationswellendetektor der nächsten
chen Potenzials, des fundamentalen Charakters der         Generation (Einstein-Teleskop).
wissenschaftlichen Fragen, der Stärken der deutschen
Gruppen in den jeweiligen Feldern, sowie auf der Be-
                                                       Theorie:
rücksichtigung einer realistischen Finanzierung.
                                                       –– Förderung experimentnaher theoretischer
Im Folgenden werden stichpunktartig die vom KAT           Arbeiten.
empfohlenen Schlüsselexperimente und aktivitäten zu
den zentralen Fragen der Astroteilchenphysik aufge-    Querschnittsthemen:
führt. Aufgrund der besonderen Förderungslandschaft
                                                       –– Unterstützung von Methodenentwicklung im
in Deutschland gehen wir dabei zuerst auf spezielle
                                                          Bereich der Digitalisierung des Forschungsfeldes,
Empfehlungen für die ErUM-Pro Förderperiode 2020-
                                                          komplementär zu ErUM-Data und NFDI.
2023 ein.
                                                       –– Wissenschaftskommunikation und Outreach:
                                                          Transfer von Ergebnissen in andere Fachbereiche
                                                          und in die Gesellschaft.
3.1 Empfehlung des KAT für ErUM-Pro                    –– Maßnahmen zur Vernetzung und zur Strukturbil-
    (2020-2023)                                           dung der Astroteilchenphysik auf nationaler und
                                                          internationaler Ebene.
Eigenschaften von Neutrinos:
–– Vollständige Ausschöpfung des Empfindlich-
   keitspotenzials des KATRIN-Experiments für die      3.2 Weitere Forschungsempfehlungen des KAT
   Messung der Neutrinomasse und die Suche nach
   sterilen Neutrinos.
                                                       Eigenschaften von Neutrinos:
–– Unterstützung der Doppelbetazerfall-Suche mit
                                                       –– F&E zur Entwicklung und Fortentwicklung neu-
   dem GERDA-Nachfolgeexperiment LEGEND-200
                                                          artiger Technologien zur Neutrino-Massen-
   und Vorbereitung von LEGEND-1000.
                                                          bestimmung, z.B. ECHo.

Natur der Dunklen Materie:                             –– Durchführung von Flüssigszintillator-Experimenten
                                                          zur Massenhierarchie (JUNO) und zur Suche nach
–– Unterstützung der direkten Suche nach Dunkler          sterilen eV-Neutrinos (STEREO).
   Materie mit XENONnT.
                                                       –– Ausschöpfung des astrophysikalischen Potenzials
–– Beteiligung an der Vorbereitung von DARWIN             von JUNO.
   und CRESST-III.
                                                       –– Ausschöpfung des neutrinophysikalischen Potenzi-
                                                          als von IceCube-Gen2 Phase 1.
Nicht-thermisches Universum:
                                                       –– Durchführung von mindestens einem der Expe-
–– Aufbau und Inbetriebnahme des Gamma-Ob-
                                                          rimente ORCA und PINGU zur Bestimmung der
   servatoriums CTA und Unterstützung der beiden
                                                          Massenhierarchie mit atmosphärischen Neutri-
   Vorgängerexperimente H.E.S.S. und MAGIC bis
                                                          nos, falls dies früher realisiert werden kann als
   zum Start von CTA.
                                                          die beschleunigerbasierten Neutrinoexperimente
–– Fertigstellung und Inbetriebnahme von AugerPrime       Hyper-Kamiokande und DUNE.
   und Ausnutzung seiner vollen Empfindlichkeit.
                                                       –– Untersuchung der kohärenten Neutrinostreuung mit
–– Ausnutzung der vollen Empfindlichkeit von Ice-         CONUS und F&E zur Entwicklung von CONUS100
   Cube, Vorbereitung und Aufbau von IceCube-             zur Ausschöpfung des Physikpotenzials.
   Gen2 Phase 1, sowie F&E für IceCube-Gen2.

                                                                                                              9
Perspektiven der Astroteilchenphysik                                                              06.05.2019

Natur der Dunklen Materie:                              Nukleare Astrophysik:
–– Suche nach Axionen und axionartigen Teilchen in      –– Terrestrische Laborexperimente mit astrophysika-
   Koordination mit der Teilchenphysik.                    lischer Relevanz, z.B. mit dem kurz vor der Inbe-
                                                           triebnahme stehenden Beschleuniger im Dresdener
Nicht-thermisches Universum und Entwicklung des            Felsenkeller und dem im Aufbau befindlichen
Universums:                                                LUNA-MV-Beschleuniger im italienischen Unter-
                                                           grundlabor LNGS.
–– Intensivierung von Multimessenger-Messungen
   (Gammas, kosmische Strahlung, Neutrinos, Gravi-      –– Interdisziplinäre Netzwerke zur Erforschung der
   tationswellen) und Sicherstellung des Betriebs und      kernphysikalischen Aspekte von Stern- und Super-
   der Weiterentwicklung der Observatorien.                nova-Physik, extremer Materieformen wie Neu­
                                                           tronensternen und schwarzer Löcher sowie deren
–– Aufrechterhaltung der deutschen Expertise bei
                                                           Akkretions- und Verschmelzungsprozessen.
   Unterwasserteleskopen (KM3NeT) und langfristige
   Hinarbeit auf volle Himmelsabdeckung in der Neu-
   trinoastronomie mit IceCube und KM3NeT.
                                                        Übergeordnete Themen:
                                                        –– Weiterentwicklung von Infrastrukturen, Anpassung
–– Weiterentwicklung der Radiodetektionstechnik
                                                           der Personalstrukturen, Förderung des wissen-
   für den Nachweis von kosmischer Strahlung und
                                                           schaftlichen Nachwuchses durch gezielte Qualifika-
   ultrahochenergetischen Neutrinos in großskaligen
                                                           tionsangebote.
   Observatorien.
–– F&E für die Entwicklung von Gamma-Teleskopen
   mit großem Gesichtsfeld (z.B. HAWC South).
–– Volle Nutzung des wissenschaftlichen Potenzials
   der Gravitationswellenastronomie.

Astroteilchenphysik-Theorie:
–– Beibehaltung und Weiterentwicklung der experi-
   mentunabhängigen theoretischen Forschung in der
   Astroteilchenphysik.
–– Experimentübergreifende und Multimessen-
   ger-Analysen, sowie die Unterstützung der Obser-
   vatorien in Planung, Bewertung, Design, Beobach-
   tungsprogramm und Auswertung.
–– Fortführung von Arbeiten zu Modellierung
   astro­physikalischer Prozesse, insbesondere des
   nicht-thermischen Universums.

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Perspektiven der Astroteilchenphysik                                                                   06.05.2019

4 Zentrale Fragen und Methoden der Astroteilchenphysik
Die Astroteilchenphysik kombiniert unser Wissen über        Die wichtigsten Forschungsthemen sind:
die größten Strukturen des Universums mit dem über die      –– Eigenschaften der Neutrinos;
kleinsten Bausteine der Materie und die Kräfte zwischen
                                                            –– Natur der Dunklen Materie;
ihnen. Es ist ein faszinierendes Wissenschaftsgebiet, das
an den Schnittstellen von Astronomie, Astrophysik, Kos-     –– Verständnis des nicht-thermischen Universums und
mologie, Elementarteilchenphysik, Kernphysik und Infor-        Ursprung der kosmischen Strahlung;
mationstechnologie lebt.                                    –– Entwicklung des Universums.
Die Astroteilchenphysik hat zu Schlüsselentdeckungen        Bei der Erforschung der Natur der Neutrinos und der
geführt (z.B. Neutrinooszillationen, Gravitationswellen,    Dunklen Materie liefert die Astroteilchenphysik zur
erste Evidenz für eine Quelle hochenergetischer kosmi-      beschleunigerbasierten Teilchenphysik komplemen-
scher Neutrinos, ...), die unser Verständnis der funda-     täre Informationen, die meist nur mit den Methoden
mentalen Gesetze der Teilchenphysik und der Kosmo-          der Astroteilchenphysik gewonnen werden können.
logie, sowie der Prozesse in unserem Universum und          Die Suche nach Axionen und axionartigen Teilchen
wie es mit dem Urknall begann, wesentlich erweitert         ist nicht beschleunigerbasiert, wird aber auch im Be-
haben. Die Astroteilchenphysik beschäftigt sich mit         reich der Teilchenphysik betrieben. Die Erforschung
grundlegenden und bislang ungelösten Fragen, wie            des nicht-thermischen Universums und des Ursprungs
etwa der Natur der Dunklen Materie und der Objekte          der kosmischen Strahlung hat wichtige Verbindungen
und Prozesse, in denen ultrahochenergetische kosmi-         mit den Zielen der (bodengebundenen) Astrophysik in
sche Strahlung auf das Millionenfache der LHC-Strah-        Deutschland. In beiden Fällen sind allerdings die Me-
lenergie beschleunigt werden. Europa und insbeson-          thoden und Instrumente spezifisch für die Astroteil-
dere Deutschland spielen eine führende Rolle in vielen      chenphysik ausgelegt. Die Entwicklung des Universums
Teilgebieten der Astroteilchenphysik und die Astroteil-     zwischen Urknall, Gegenwart und Zukunft ist ein zent-
chenphysik-Forschungsgruppen aus Deutschland ge-            rales Thema von Kosmologie und Astrophysik und hat
nießen weltweit höchstes Ansehen. Als führende Part-        enge Anbindung an die Gravitationsphysik und – z.B.
ner in zahlreichen Feldern der Astroteilchenphysik sind     über die Dunkle Materie – an die Teilchenphysik. Auch
sie hervorragend positioniert, Antworten auf zentrale       hier liefern die Instrumente und Methoden der Astro-
Fragen zu finden und moderne Methoden für das For-          teilchenphysik Erkenntnisse, die das Feld entscheidend
schungsfeld zu entwickeln.                                  voranbringen.
Das Verständnis, ob eine bestimmte wissenschaftliche        Die Astroteilchenphysik untersucht hochenergetische
Frage primär zur Astroteilchenphysik oder zu einem an-      kosmische Teilchen-, Gamma- und Neutrino-Strahlung
deren Forschungsfeld gehört, ist aufgrund ihrer Über-       sowie Gravitationswellen als Boten aus dem Universum
schneidung mit verschiedenen Nachbargebieten und            mit neuartigen, äußerst empfindlichen Nachweisme-
aus historischen (und forschungspolitischen) Gründen        thoden, die oft an entlegenen Standorten betrieben
von Land zu Land unterschiedlich. Daher möchten wir         werden müssen. Laborexperimente vermessen die
die Forschungsschwerpunkte der deutschen Gemein-            Masse der Neutrinos oder suchen nach extrem seltenen
schaft der Astroteilchenphysik klären:                      Ereignissen wie dem neutrinolosen doppelten Betazer-
                                                            fall oder Reaktionen von Teilchen der Dunklen Materie.
–– Studium kosmisch relevanter Elementarteilchen            Für solche Experimente müssen experimentelle Unter-
   jenseits der Möglichkeiten terrestrischer Teilchen-      grundsignale, wie z.B. durch die kosmische Strahlung
   beschleuniger zum Verständnis ihrer Eigenschaften        oder radioaktive Kontaminationen, um viele Größen-
   und ihrer Rolle bei astrophysikalischen und kosmo-       ordnungen unterdrückt werden.
   logischen Prozessen;
                                                            Astroteilchenphysik-Experimente der heutigen Gene-
–– Astrophysik mit Boten aus dem Universum jenseits
                                                            ration sind aus diesen und weiteren Gründen extrem
   der elektromagnetischen Strahlung im Radio- bis
                                                            anspruchsvoll. Zur Durchführung sind besondere In­
   Röntgenbereich.
                                                            frastrukturen notwendig, die gemeinsam mit interna-
                                                            tionalen Partnern betrieben werden. Zur direkten Mes-
                                                            sung der Neutrinomasse im KATRIN-Experiment etwa

                                                                                                               11
Perspektiven der Astroteilchenphysik                                                                  06.05.2019

wird das Tritiumlabor des KIT in Karlsruhe benötigt.      ßem Potenzial, das ein einzigartiges Fenster zur Physik
Zur Suche nach Dunkler Materie und zur Erforschung        jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik bietet
der intrinsischen Eigenschaften von Neutrinos sind die    und mit der Entdeckung der Neutrinooszillationen (No-
Abschirmungseigenschaften (Faktor eine Million) von       belpreis 2015) dieses auch bereits geöffnet hat. Zu den
Untergrundlaboren, wie z.B. dem LNGS im Gran-Sas-         wichtigsten wissenschaftlichen Fragen gehören die
so-Massiv in Italien erforderlich. Die Beobachtung von    Bestimmung der absoluten Masse der Neutrinos, die
extraterrestrischen Hochenergie-Neutrinos wird an         Anordnung der Neutrinomassen, ob Neutrinos iden-
Orten wie im antarktischen Tiefeneis bzw. in Meeren       tisch mit ihren Antiteilchen sind (Majorana-Teilchen),
oder tiefen Seen vorangetrieben. Für eine erfolgreiche    eine mögliche CP-Verletzung im Neutrinosektor, die
Hochenergie-Gamma-Astronomie und zur Beobach-             Präzisionsbestimmung der Mischungswinkel und die
tung der kosmischen Strahlung werden streulichtarme       mögliche Existenz steriler Neutrinos. Die Messungen
Verhältnisse und große unbewohnte Flächen benötigt,       von Massenhierarchie, Oszillationsparametern und der
wie sie nur an wenigen Orten weltweit – etwa in Nami-     CP-Verletzung im Neutrinosektor erfordern Experimen-
bia, La Palma, Chile oder Argentinien – zu finden sind.   te mit Reaktor-, Beschleuniger- sowie atmosphärischen
                                                          Neutrinos.
Sowohl die experimentellen als auch die theoretischen
Arbeiten in den genannten Schwerpunkten sind eng          Die Untersuchung des Betaspektrums aus dem Triti-
miteinander verknüpft, und die wissenschaftlichen Fra-    um-Zerfall ermöglicht den Zugang zur absoluten Mas-
gestellungen können nur im Rahmen der bestehenden         senskala von Neutrinos mit Sub-eV-Empfindlichkeit so-
engen Koordination innerhalb der Astroteilchenphysik      wie zu sterilen Neutrinos im eV- und keV-Bereich mit
und ihrer angrenzenden Forschungsfelder beantwortet       hoher Empfindlichkeit. Das KATRIN-Experiment (CERN
werden. Ein Beispiel ist der Multi-Messenger-Ansatz,      Recognised) ist weltweit einzigartig und hat gerade
der die Messungen von hochenergetischen Photonen,         mit der Datennahme begonnen. Seine Empfindlich-
Neutrinos und Atomkernen sowie von Gravitations-          keit kann durch ein neues Detektorsystem zum Elekt-
wellen verbindet, um die höchstenergetischen Prozes-      ronnachweis (TRISTAN) und die Entwicklung geeigneter
se in unserem Universum verstehen zu lernen. Diese        differenzieller Methoden (z.B. Flugzeitspektroskopie)
Forschung nutzt ein Portfolio aus anspruchsvollen         signifikant gesteigert werden, insbesondere auch für
Experimenten, modernen Methoden aus der Infor-            sterile keV-Neutrinos. Ein längerfristiges Ziel ist die
mationstechnologie sowie Infrastrukturen, die i.d.R.      Entwicklung einer quasi-atomaren Tritium-Quelle zur
nur gemeinsam mit internationalen Partnern betrie-        weiteren Verringerung systematischer Unsicherheiten.
ben werden können. Die Flexibilität und Diversität der    Die Entwicklung neuer komplementärer Techniken,
Methodik ist eine grundlegende Eigenschaft des For-       wie z.B. der Zyklotronstrahlungs-Emissionsspektrosko-
schungsfeldes und ist für die wissenschaftlichen Erfol-   pie mit Projekt 8 und der Vermessung des Elektronen­
ge maßgeblich.                                            einfangs von Ho-163 mit Kryobolometern bei ECHo,
                                                          wird vorangetrieben, um den Bereich der invertierten
Die Beiträge der deutschen Gruppen zu den Erfolgen        Massenskala über die KATRIN-Sensitivität hinaus abzu-
der letzten Jahre wären ohne die Finanzierung durch       decken.
die Verbundforschung Astroteilchenphysik des BMBF,
                                                          Die Massenhierarchie der Neutrinos stellt eine der noch
die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Europäi-
                                                          unbeantworteten fundamentalen Fragen der Neutrino-
sche Union, sowie die Helmholtz-Gemeinschaft, die
                                                          physik dar, deren Beantwortung u.a. auch von großer
Max-Planck-Gesellschaft und die Universitäten nicht
                                                          Bedeutung für die Untersuchung von CP-Verletzung
möglich gewesen. Diese Erfolge haben zu einem ste-
                                                          im Neutrinosektor ist. Die Neutrino-Massenhierarchie
tigen Wachstum der nationalen und internationalen
                                                          kann mit den Methoden der Astroteilchenphysik un-
Gemeinschaft der Astroteilchenphysikerinnen und
                                                          tersucht werden, komplementär zu Experimenten an
-physiker geführt. Wir sind bereit, uns weiteren Her-
                                                          Beschleunigerstrahlen (Hyper-Kamiokande und DUNE):
ausforderungen zu stellen und die nächsten Entde-
                                                          Mit zukünftigen dicht instrumentierten Neutrinoteles-
ckungsphasen in Angriff zu nehmen.
                                                          kopen (PINGU als Teil von IceCube Gen2 oder KM3NeT/
                                                          ORCA, unter Auswertung der Richtungs- und Energie-
                                                          verteilung atmosphärischer Neutrinos) oder durch die
Eigenschaften von Neutrinos                               Untersuchung der Oszillationen von Reaktorneutrinos
Neutrinos sind neben Photonen die häufigsten Ele-         (JUNO). Die Kombination der Messungen mit atmo-
mentarteilchen im Universum. Sie sind etwa eine Mil-      sphärischen und Reaktorneutrinos steigert die Emp-
liarde Mal zahlreicher als Atomkerne oder Elektronen,     findlichkeit synergetisch. Ein wichtiger Beitrag in die-
extrem leicht und bilden einen kleinen Teil der Dunk-     sem Feld ist die starke deutsche Beteiligung an dem
len Materie. Die Neutrino-Physik ist ein dynamisches,     CERN Recognised Experiment JUNO und an den Un-
Community-übergreifendes Forschungsfeld mit gro-          tersuchungen zu Oszillationen atmosphärischer Neu-

12
Perspektiven der Astroteilchenphysik                                                                   06.05.2019

trinos, bei denen die Durchführung von mindestens          unbekannte Materieform, die wir Dunkle Materie nen-
einem der beiden Experimente ORCA/KM3NeT und               nen. Diese Dunkle Materie bildet “Halos” um Galaxien
PINGU/IceCube sehr wünschenswert ist.                      wie die Milchstraße. In der Astroteilchenphysik wird
                                                           versucht, Dunkle-Materie-Teilchen direkt mit technolo-
Wenn Neutrinos identisch mit ihren Antiteilchen sind,      gisch neuartigen Detektoren nachzuweisen, die sich in
dann tritt – äußerst selten – der neutrinolose doppelte    Untergrundlaboratorien unter mehr als einem Kilome-
Betazerfall auf. Aus der Halbwertszeit dieses Prozesses    ter Abschirmung aus Felsgestein befinden. Derzeit füh-
kann auf die Neutrinomasse geschlossen werden. Viele       ren die Experimente CRESST-III (niedrige WIMP-Mas-
Theorien jenseits des Standardmodells der Teilchenphy-     sen) und XENON1T (mittlere und große Massen) mit
sik sagen die Existenz dieses Zerfalls voraus und lassen   deutscher Beteiligung die direkte WIMP-Suche an. Mit
sich dadurch testen Die Entdeckung des neutrinolosen       der Erweiterung von CRESST-III auf 100 Detektoren
Doppelbetazerfalls hätte weitreichende Konsequenzen        und dem Umbau von XENON1T auf XENONnT wird
für unser Verständnis, warum das Universum aus Ma-         diese Suche wesentlich sensitiver. In der kommenden
terie und nicht aus Antimaterie aufgebaut ist. Bei der     Förderperiode sollen die Arbeiten am DARWIN-Projekt
Suche nach diesem sehr seltenen Zerfall hat das von        beginnen, für das deutsche Gruppen im XENON-Pro-
Gruppen aus Deutschland initiierte GERDA-Experiment        gramm führende Expertise gewonnen und entschei-
(Ge-76) als erstes Experiment weltweit eine Sensitivität   dende Vorarbeiten geleistet haben. Die deutlich erhöh-
für die Halbwertszeit jenseits von 1026 Jahren erreicht.   te Empfindlichkeit von DARWIN für WIMPs soll darüber
Als Zusammenschluss der GERDA-Kollaboration, der           hinaus durch ein breites Programm zur Neutrinophysik
US-amerikanischen MAJORANA-Kollaboration und               (neutrinoloser Doppelbetazerfall, Messung von solaren
weiterer Gruppen wurde die LEGEND-Kollaboration            und Supernova-Neutrinos) ergänzt werden.
gegründet. In einer ersten Phase wird die GERDA-In-
frastruktur am LNGS für das LEGEND-200-Experiment          Mit Neutrino- oder Gamma-Teleskopen wie IceCube
umgebaut; der Beginn der Datennahme ist für das Jahr       oder CTA oder mit dem AMS II-Experiment auf der ISS
2021 geplant. Parallel hierzu laufen die Vorarbeiten zu    wird komplementär zur direkten Suche indirekt nach
LEGEND-1000 in intensiver Zusammenarbeit mit Part-         Teilchen gesucht, die bei der Paarvernichtung oder dem
nern aus den USA, wo das DOE einen down-select-            Zerfall von Teilchen der Dunklen Materie entstehen.
Prozess zur Auswahl des Doppelbeta-Experiments der         Diese beiden Methoden sind auch komplementär zur
nächsten Generation initiiert hat. Des Weiteren ist eine   Suche nach Dunkler Materie am LHC. Bei einer Entde-
deutsche Gruppe am geplanten nEXO-Experiment be-           ckung von Kandidatenteilchen am LHC müssten wei-
teiligt, das im Isotop Xe-136 angereichertes Xenon ver-    tere Messungen der Astroteilchenphysik klären, ob sie
wendet. Die DARWIN-Kollaboration mit starker deut-         hinreichend langlebig sind und im frühen Universum in
scher Beteiligung beabsichtigt, mit natürlichem Xenon      hinreichender Anzahl gebildet werden konnten.
neben der Suche nach WIMPs (Weakly Interacting Mas-        Ein weiterer Kandidat für die Dunkle Materie sind Axi-
sive Particles) auch nach dem neutrinolosen Doppel­        onen. Die Suche wird sich hier auf das Solar-Axion-Ex-
betazerfall von Xe-136 zu suchen.                          periment IAXO (erste Phase Baby-IAXO) und das Expe-
                                                           riment MADMAX zur Suche nach Axionen der Dunklen
Die kohärente, elastische Streuung von Neutrinos an
                                                           Materie konzentrieren, die beide bei DESY angesiedelt
Atomkernen ist ein im Rahmen des Standardmodells
                                                           werden sollen.
erwarteter Prozess, der sich aber lange der experimen-
tellen Beobachtung entzogen hat und erst vor kurzem        Weitere Möglichkeiten für Dunkle Materie, wie z.B.
das erste Mal nachgewiesen wurde. Er ist interessant,      primordiale schwarze Löcher, Wolken aus ultraleichten
weil er zum einen die gleiche experimentelle Signatur      Bosonen, aber auch andere gravitativ wechselwirkende
erzeugt wie die Streuung von Teilchen der Dunklen          Dunkle Materie, können mit Hilfe von zukünftigen Gra-
Materie an Atomkernen und somit einen irreduziblen         vitationswellendetektoren wie dem Einstein-Teleskop
Untergrund für entsprechende Suchen darstellt. Zum         untersucht werden.
anderen hat der Prozess astrophysikalische Relevanz
und kann zur Suche nach neuer Physik verwendet wer-        Verständnis des nicht-thermischen Universums und
den. Er wird u.a. mit dem von deutschen Gruppen be-        Ursprung der kosmischen Strahlung
triebenen CONUS-Experiment untersucht.
                                                           Aus dem Universum treffen Teilchen mit bis zu millio-
                                                           nenfach höherer Energie auf die Erde, als sie ein irdi-
                                                           scher Beschleuniger wie der LHC erzeugen kann. Diese
Natur der Dunklen Materie                                  kosmischen Boten treten in Form von geladener kos-
Die bekannte Materie, die aus Atomen aufgebaut ist,        mischer Strahlung, hochenergetischer Gammastrah-
macht nur etwa ein Sechstel der Materie im Univer-         lung und Neutrinos auf. Sie demonstrieren – wie auch
sum aus. Der überwiegende Anteil ist eine uns noch         Röntgen- und Gammastrahlung jenseits der Strahlung

                                                                                                               13
Perspektiven der Astroteilchenphysik                                                                   06.05.2019

heißester kosmischer Gase im keV-Bereich sowie Ra-         Datenanalyse essenzielle Kontinuität zu gewährleisten,
diostrahlung mit eindeutig nicht-thermischen Spek-         sollen H.E.S.S und MAGIC bis zum Start von CTA wei-
tren – die Omnipräsenz und überragende Bedeutung           terbetrieben werden. Für Hochenergie-Neutrinos sind
hochenergetischer Prozesse in der Astrophysik. Kern-       die wichtigsten Projekte auf globaler Ebene IceCube
und Hochenergie-Physik mit relativistischen Teilchen ist   mit seinen zukünftigen Erweiterungen IceCube-Gen2,
Grundlage der Prozesse in kosmischen Extremen wie          das Mittelmeer-Experiment KM3NeT und GVD im
Sternexplosionen, Sternkollisionen, Neutronensternen,      Baikal-See in Russland. Die deutsche Community en-
und Materie-Energie-Umwandlungen am Rand Schwar-           gagiert sich vor allem im Bereich IceCube-Gen2, aber
zer Löcher mit der Bildung hochenergetischer Jets. Die     auch in KM3NeT. Alle diese Experimente haben außer-
Gesamtheit solcher Prozesse wird als nicht-thermisches     dem ein einzigartiges Programm zur Teilchenphysik,
Universum bezeichnet. Wir wollen verstehen, wo die-        das die Untersuchung teilchenphysikalischer Wechsel-
se Teilchen herkommen, wie kosmische Beschleuniger         wirkungsmodelle jenseits von LHC wie auch die Suche
bei den höchsten Energien funktionieren und welche         nach Urknallrelikten und indirekten Signalen der Dunk-
astrophysikalische Rolle nicht-thermische Prozesse spie-   len Materie beinhaltet. Auger, CTA, IceCube, KM3NeT
len. Durch die gleichzeitige Beobachtung von mehr als      und MAGIC sind als CERN Recognised Experiments
einem Botentyp aus derselben Quelle oder demselben         anerkannt.
Quellentyp potenzieren wir unser Verständnis.
Mit dem Pierre-Auger-Observatorium (Auger) werden
die höchstenergetischen kosmischen Teilchen gemes-         Entwicklung des Universums
sen, ihre Zusammensetzung bestimmt und ihre Quellen        Obwohl viele Aspekte der Entwicklung des Universums
gesucht; kürzlich wurden erste Hinweise auf Quellkan-      zwischen Urknall und Gegenwart (wie z.B. der kosmi-
didaten gefunden. Mit Auger konnte 2017 erstmals           sche Mikrowellen-Hintergrund, die Strukturbildung und
eine Anisotropie der höchstenergetischen kosmischen        die Expansion des Weltalls) im Rahmen des Standard-
Strahlung nachgewiesen werden. Dieses Ergebnis             modells der Kosmologie zumindest prinzipiell verstan-
wurde von physics world als einer der Top 10 break-        den sind, bleiben Fragen offen, deren Beantwortung zu
throughs of 2017 gerankt. Mit dem Neutrinoteleskop         neuen Erkenntnissen und sogar Paradigmenwechseln
IceCube wurde im Jahre 2013 entdeckt, dass auch            führen kann. Dazu gehören unter anderem die Häufig-
sehr hochenergetische Neutrinos aus dem Universum          keit, Massenverteilung, Genese und Entwicklung der
auf die Erde treffen. Ein weiterer Durchbruch gelang       schwarzen Löcher sowie die Synthese der schweren
2017 mit der Assoziierung eines hochenergetischen          Atomkerne.
Neutrino-Ereignisses zu einer astrophysikalischen Quel-
le (einem Blazar) durch Multimesseger-Beobachtungen        Schon die ersten Messungen von Gravitationswellen
von IceCube, MAGIC und dem Fermi-Satelliten und der        mit LIGO (Nobelpreis 2017) und Virgo haben das Po-
nachfolgenden Identifikation mehrerer weiterer Neu-        tenzial dieses neuen Beobachtungsfensters für astro-
trinoereignisse aus der gleichen Richtung in den archi-    physikalische Erkenntnisse gezeigt. So konnten mehr-
vierten IceCube-Daten. Mit Cherenkov-Teleskopen wie        fach Prozesse beobachtet werden, bei denen zwei
H.E.S.S. und MAGIC werden hochenergetische Gam-            schwarze Löcher zu einem schwereren schwarzen Loch
maquanten gemessen; deutsche Gruppen leisten da-           verschmolzen sind. Aus den Signalen konnten u.a.
rüber hinaus substantielle Beiträge zum FACT-Teleskop      die Entfernung dieser Vorgänge und die Massen der
und zum Wasser-Cherenkov-Detektor HAWC. H.E.S.S.           schwarzen Löcher im Anfangs- und Endzustand ermit-
und MAGIC haben zusammen mit dem US-amerikani-             telt werden. Die breite Relevanz der Gravitationswel-
schen VERITAS-Projekt die Hochenergie-Gammastrah-          lenforschung zeigt sich auch daran, dass LIGO, Virgo
lungs-Astronomie etabliert. Mit dem Nachfolgeprojekt,      und das weltraumbasierte LISA-Projekt als CERN Reco-
dem Cherenkov Telescope Array CTA, wird diese neue         gnised Experiments anerkannt sind.
astronomische Disziplin mit den Methoden der Astro-
                                                           2017 wurde erstmals ein Gravitationswellensignal von
teilchenphysik Routine werden.
                                                           der Verschmelzung von zwei Neutronensternen beob-
Für kosmische Strahlung ist AugerPrime als das Upgra-      achtet und durch Multi-Messenger-Beobachtungen mit
de des Pierre-Auger-Observatoriums das weltweit wich-      elektromagnetischer Emission vom Radio- bis hin zum
tigste Projekt. Darüber hinaus ist als Zukunftsprojekt     Gamma-Bereich korreliert. Auch dieses Ergebnis wurde
ein globales Observatorium zur Messung der höchst­         von physics world als einer der Top 10 breakthroughs
energetischsten Teilchen des Universums angedacht.         of 2017 gerankt. Es stellt sich heraus, dass bei diesem
Für hochenergetische Gammastrahlen sind Aufbau und         Ereignis auch kernphysikalische Prozesse abgelaufen
Betrieb des Cherenkov Telescope Array (CTA) das zent-      sind, die im Mittelpunkt des Interesses der nuklearen
rale Ziel. Um die gerade für die Multimessenger-Astro-     Astrophysik stehen – einem weiteren Kernbereich der
nomie und für den Erhalt der Expertise in Betrieb und      Astroteilchenphysik. Diese Prozesse sind eng verknüpft

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Perspektiven der Astroteilchenphysik                                                                    06.05.2019

mit der chemischen Entwicklung von Sternen und              für Datenzugriff, -verarbeitung, -rekonstruktion und
Galaxien und beinhalten Aspekte der Kern-, Neutri-          -analyse zu entwickeln. Wichtige Stichworte sind hier
no- und Atomphysik sowie der Astronomie. Kürzlich           Deep Learning und offener Datenzugriff. Das gesamte
konnte z.B. mit Hilfe hochaufgelöster Spektroskopie         Forschungsfeld wird in eine neue Ära des Forschungs-
gezeigt werden, dass ein einziger Verschmelzungspro-        datenmanagements eintreten und eine nachhalti-
zess zweier Neutronensterne die Häufigkeit schwerer         ge und interdisziplinäre offene Wissenschaftskultur
Atomkerne in allen alten Sternen der Zwerggalaxie           entwickeln, wie sie auch für eine optimal effiziente
Reticulum II signifikant angereichert hat.                  Multimessenger-Forschung unerlässlich ist. Die Astro-
                                                            teilchenphysik-Community beteiligt sich proaktiv an
Mit ihren jüngsten Ergebnissen haben die bodenge-           entsprechenden nationalen (NFDI, ErUM-Data) und in-
bundenen Gravitationswellen-Interferometer dieses           ternationalen (EOSC) Prozessen.
weitere Beobachtungsfenster zum Universum geöff-
net. Schon für die gerade angelaufene neue Beob-            Viele der diskutierten Themen und Projekte erfordern
achtungsmission O3 wurden die Empfindlichkeit und           auch erhebliche technologische Entwicklungen in
somit die erwartete Rate von Beobachtungen erneut           den Bereichen Detektoren, Auslese, Kalibration und
massiv gesteigert. Die Instrumente der nächsten Ge-         Synchronisation. Beispiele aus dem Detektorbereich
neration (Einstein-Teleskop und LISA) werden unse-          sind kostengünstige Einzelphotonen-Detektoren mit
re kosmologischen Modelle noch präziser testen, die         hoher Granularität oder die Herstellung hochreiner
Verteilung von Materie und Dunkler Materie kartieren        Materialien hinsichtlich radioaktiver Verunreinigungen.
und empfindlich auf Effekte neuer Physik jenseits des       Aufgrund der sehr langen Zeiträume vieler der derzeit
Standardmodells der Teilchenphysik und jenseits der         vorgeschlagenen Projekte wird es unerlässlich sein, das
Standard-Kosmologie sein. Gravitationswellen können         technologische Know-how in der Gemeinschaft zu er-
Informationen aus der frühen Entwicklung des Univer-        halten und weiterzuentwickeln.
sums liefern – also aus der Epoche vor dem kosmischen       Eine herausragende europäische Forschungslandschaft
Mikrowellen-Hintergrund, aus der Inflationsphase und        in der Astroteilchenphysik ist die Grundlage für den
zu möglichen frühen Phasenübergängen erster Ord-            wissenschaftlichen Fortschritt und die Attraktivität
nung. Ein wachsender Anteil der deutschen Astroteil-        des Feldes. Um die Kontinuität und Entwicklung der
chenphysik-Gemeinschaft ist entschlossen, sich nach         unverzichtbaren Expertise in der Forschung und der
Möglichkeit intensiv – auch im Sinne der Multi-Mes-         kollaborativen Forschungsinfrastruktur (Computer,
senger-Astronomie – an der Entwicklung dieser Expe-         Software und Detektoren) zu gewährleisten, müssen
rimente der dritten Generation zu beteiligen und an         die Personalstrukturen an die langfristige Dauer der
deren wissenschaftlichem Ertrag zu partizipieren.           Experimente angepasst werden, die die Laufzeit der
                                                            Bewilligungszeiträume weit übersteigt. Junge Wis-
                                                            senschaftler sind oft die Quelle neuer Ideen und ver-
Übergreifende Themen                                        fügen in vielen Bereichen über Spitzenkompetenz. Sie
                                                            sind darauf angewiesen, dass ihre wissenschaftlichen
Alle oben genannten Projekte werden wichtige,
                                                            und technischen Beiträge hohe Sichtbarkeit erhalten,
manchmal sogar entscheidende Impulse für die Wei-
                                                            und sie brauchen Förderung und realistische Karriere-
terentwicklung der fundamentalen theoretischen
                                                            perspektiven.
Grundlagen der Physik liefern. Die physikalische Inter-
pretation der experimentellen Daten basiert auf einem       Im Zuge von Outreach und Wissenschaftskommu-
immer tiefer werdenden theoretischen Verständnis und        nikation teilen Wissenschaftler ihre Begeisterung für
erfordert an vielen Stellen die detaillierte Modellierung   die Forschung und deren Ergebnisse mit der weltwei-
astrophysikalischer Prozesse unter Einbeziehung eines       ten Öffentlichkeit, um diese für den gesellschaftlichen
breiten Spektrums theoretischer Methoden. Eine enge         Nutzen der Grundlagenforschung zu sensibilisieren und
Zusammenarbeit zwischen Experiment und Theorie ist          um ihre Unterstützung zu werben. Outreach-Program-
daher Voraussetzung für die Weiterentwicklung des           me schaffen auch Möglichkeiten für junge Menschen,
Forschungsgebietes. Die Theorie stellt auch die Verbin-     Vorbilder zu treffen und Einblicke in den Forschungs-
dungen zwischen den verschiedenen Themen her und            prozess zu gewinnen. Der offene Online-Zugang zu
identifiziert frühzeitig Möglichkeiten für zukünftige Ex-   Daten oder Masterclass-Programmen ermöglicht die
perimente.                                                  Beteiligung der Öffentlichkeit an der wissenschaftli-
                                                            chen Forschung.
Beispiellose Datenraten und -mengen der nächsten Ex-
periment-Generation erfordern die Nutzung moderns-
ter Methoden aus den Bereichen Computing- und
Datenmodelle, Algorithmik und Software, um
adäquate Computerkonzepte und innovative Prozesse

                                                                                                                15
Perspektiven der Astroteilchenphysik                                                                       06.05.2019

5 Detaillierte Empfehlungen
Neutrinoeigenschaften                                          rexino und Double-Chooz wird in dem neuen Großex-
                                                               periment JUNO (Jiangmen Underground Neutrino Ob-
Wie groß ist die Neutrinomasse? Das weltweit führen-           servatory) in China Verwendung finden, das im Jahre
de Experiment zur direkten Neutrinomassen-Messung              2021 mit der Datennahme beginnen soll. Mit JUNO
ist das KATRIN-Experiment am KIT unter deutscher               wird die Massenhierarchie mit Hilfe von Reaktorneutri-
Führung. KATRIN vermisst das Betaspektrum des Triti-           nos und damit komplementär zu Beschleunigerexperi-
um-Zerfalls und hat 2019 mit der Datennahme begon-             menten und zu atmosphärischen Neutrinos untersucht.
nen. KATRIN wird während der kommenden Förderpe-               JUNO lässt darüber hinaus weitere Beiträge zur Erfor-
riode die entscheidenden Daten nehmen. Parallel läuft          schung astrophysikalischer Neutrinoquellen erwarten,
die Entwicklung neuer Methoden zur Steigerung der              wie etwa eine erste Messung der solaren CNO-Neu-
Empfindlichkeit und des Physikpotenzials von KATRIN.           trinos oder als Observatorien für Supernova-Neutrinos.
Zudem werden in Deutschland im Rahmen weiterer                 Dieses Potenzial kann durch Entwicklungsarbeiten zu
Projekte innovative und zur Messung des Tritium-Be-            richtungsauflösenden Szintillatoren und ultraschnellen
taspektrums komplementäre Technologien entwi-                  Lichtsensoren für zukünftige Neutrinodetektoren noch
ckelt, z.B. mit dem unter deutscher Leitung stehenden          weiter gesteigert werden.
ECHo-Experiment, um die Empfindlichkeit von Experi-            Ein anderer, vielversprechender Ansatz zur Messung
menten auf international führendem Niveau in Zukunft           der Neutrino-Massenhierarchie ist die Untersuchung
nochmals signifikant steigern zu können. Das langfris-         von Oszillationen atmosphärischer Neutrinos auf ihrem
tige Ziel ist eine Sensitivität, die es erlaubt, auch solche   Weg durch die Erde mit dicht instrumentierten Neu-
Modelle zu testen, denen zufolge die Neutrinomassen            trinoteleskopen. Sowohl IceCube wie auch KM3NeT
sogar noch unterhalb der Empfindlichkeitsgrenzen der           haben Letters of Intent für entsprechende Detektoren
jetzt anlaufenden Experimente liegen könnten.                  (PINGU bzw. ORCA) vorgelegt, wobei deutsche Grup-
Sind Neutrinos identisch mit ihren Antiteilchen? Kom-          pen in beiden Fällen maßgebliche Beiträge geleistet ha-
plementär zur direkten Neutrinomassen-Messung und              ben. Insbesondere ORCA hat ein hohes Potenzial, da es
verbunden mit der Überprüfung, ob Neutrinos ihre               deutlich vor den beschleunigerbasierten Experimenten
eigenen Antiteilchen sind, ist die Suche nach dem              Hyper-Kamiokande und DUNE in Betrieb gehen kann.
neutrinolosen doppelten Betazerfall. Die Expertise der         Auch der kürzlich genehmigte Ausbau von IceCube
Gruppen aus Deutschland ist im GERDA-Experiment                (Gen2 Phase 1) eröffnet die Möglichkeit neuer Erkennt-
gebündelt und die Gruppen haben sich eine weltweite            nisse in der Neutrinophysik, insbesondere durch die
Sichtbarkeit und Anerkennung in diesem kompetitiven            Messung von Tau-Neutrinos, sowie durch Kombination
Feld erarbeitet. Die Vorbereitung des Nachfolgeexpe-           mit den JUNO-Daten auch in der Neutrino-Massenhie-
riments LEGEND-200 schreitet entsprechend der Pla-             rarchie.
nung voran und der Beginn der Datennahme ist für               Eine Steigerung der Empfindlichkeit von KATRIN wird
2021 geplant. Vorarbeiten für einen neuen Detektor             die Suche nach sterilen Neutrinos im keV-Massenbe-
LEGEND-1000 haben begonnen. Die DARWIN-Kol-                    reich ermöglichen. Weiterhin wird deutsche Szintilla-
laboration untersucht derzeit die Empfindlichkeit des          tor-Technologie im Experiment STEREO am Forschungs-
geplanten multi-purpose-Experiments bezüglich des              reaktor ILL in Frankreich verwendet, um bei sehr kurzen
neutrinolosen doppelten Betazerfalls von Xe-136.               Baselines nach Oszillationen steriler Neutrinos zu su-
Ist die Massenhierarchie der Neutrinos so wie bei den          chen.
anderen Elementarteilchen und gibt es weitere, sterile
                                                               Was lernen wir von kohärenter Neutrinostreuung? Die
Neutrinos? In der letzten Dekade wurde das Phänomen
                                                               kohärente, elastische Streuung von Neutrinos an
der Neutrinooszillationen in mehreren Experimenten
                                                               Atomkernen ist sowohl als Untergrundprozess für die
weltweit eindrucksvoll bestätigt. Oszillationsparame-
                                                               direkte WIMP-Suche als auch für Teilchen- und Astro-
ter konnten mit immer höherer Präzision vermessen
                                                               physik relevant. Sie wird in Deutschland mit dem CO-
werden, insbesondere auch der Mischungswinkel Q13,
                                                               NUS-Experiment untersucht.
dessen Größe für die Planung künftiger Experimente
von entscheidender Wichtigkeit ist. Beiträge deutscher
Gruppen wurden hier besonders in den Experimenten              Eine substantielle deutsche Beteiligung am kom-
Borexino, Double Chooz, OPERA und T2K sichtbar. Die            menden Doppelbetazerfall-Experiment LEGEND
von deutschen Gruppen vorangetriebenen Entwicklun-             und starke Anstrengungen zur Erhöhung der di-
gen der Technologie ultrasensitiver Flüssigszintillatoren      rekten Neutrino-Massenempfindlichkeit von La-
bei niedrigsten radioaktiven Verunreinigungen in Bo-           borexperimenten werden empfohlen. Das KAT

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Perspektiven der Astroteilchenphysik                                                                06.05.2019

empfiehlt weiterhin, KATRIN und LEGEND die              aus der Paarvernichtung oder dem Zerfall von Teilchen
notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, um         der Dunklen Materie (indirekte Suche). Sie sind beson-
ihr Empfindlichkeitspotenzial vollständig auszu-        ders auf Dunkle-Materie-Teilchen mit hohen Massen
schöpfen sowie die Weiterentwicklung von KAT-           empfindlich und damit im Phasenraum komplementär
RIN und LEGEND zu unterstützen. F&E-Arbeiten            zu den Experimenten der direkten Suche.
bezüglich der Empfindlichkeit von DARWIN auf            Dunkle Materie wurde bisher nicht entdeckt und die
Neutrinoeigenschaften sollen gefördert werden.          WIMP-Hypothese auch nicht durch Entdeckung neuer
Das KAT empfiehlt die Beteiligung an JUNO und           Physik z.B. am LHC gesichert. Es ist daher notwendig,
an mindestens einem der Experimente (ORCA,              die Suche auch auf Teilchen jenseits von WIMPs auszu-
PINGU) zur Bestimmung der Neutrino-Massen-              weiten. Die vielversprechendsten Alternativen sind Axi-
hierarchie mit atmosphärischen Neutrinos, falls         onen und axionartige Teilchen sowie sterile keV-Neu-
dieses deutlich eher realisiert werden kann als         trinos. Die Suche nach solchen Teilchen kann nur zum
die beschleunigerbasierten Neutrinoexperimen-           Teil mit den oben genannten Detektoren durchgeführt
te Hyper-Kamiokande und DUNE. Das KAT emp-              werden und erfordert neue, spezialisierte Experimen-
                                                        te. Andere Alternativen, wie z.B. primordiale schwar-
fiehlt, die Vorbereitung und den Aufbau von
                                                        ze Löcher, können mit Gravitationswellen untersucht
IceCube-Gen2 Phase 1 zu unterstützen. Das KAT
                                                        werden.
unterstützt ebenfalls die Bestrebungen zur Suche
nach sterilen Neutrinos (KATRIN, STEREO) sowie          Das KAT empfiehlt, sowohl CRESST wie auch
die Fortentwicklung neuartiger Technologien zur         XENONnT zu unterstützen, so dass sie ihr Poten-
Neutrino-Massenbestimmung, z.B. Kryobolome-             zial voll ausschöpfen können. Darüber hinaus
ter bei ECHo, sowie atomare oder quasi-atomare          sollten für den Upgrade von CRESST-III und für
Tritiumquellen bei Project 8 und KATRIN. Die Aus-       DARWIN als erstklassig positionierte Projekte mit
schöpfung des Physikpotenzials von CONUS zur            führender deutscher Beteiligung die notwenigen
Untersuchung kohärenter Neutrinostreuung so-            Mittel bereitgestellt werden. Weiterhin empfiehlt
wie die Weiterentwicklung zu CONUS100 werden            das KAT in Koordination mit den Axion-Gruppen
befürwortet.                                            der Teilchenphysik die Suche nach Axionen und
                                                        axionartigen Teilchen zu intensivieren, insbeson-
                                                        dere mit den Experimenten MADMAX (am DESY
Dunkle Materie                                          angesiedelt) und IAXO.

Was ist die Dunkle Materie? Da die Masse der Teilchen
Dunkler Materie unbekannt ist, empfiehlt das KAT die
folgenden komplementären Wege, die es der deut-         Nicht-Thermisches Universum und
schen Astroteilchenphysik-Gemeinde erlauben wird,
weiterhin führend bei der Suche und der erhofften
                                                        Ursprung der kosmischen Strahlung
Entdeckung der Dunklen Materie mitzuwirken:             Wo befinden sich die Teilchenbeschleuniger im Univer-
Bei der direkten Suche im Bereich sehr leichter WIMPs
                                                        sum und wie funktionieren sie, welche Rolle spielt die
(Weakly Interacting Massive Particles) besitzt das
                                                        kosmische Strahlung in der Entwicklung unserer Milch-
CRESST-Experiment mit einer speziellen, in Deutsch-
                                                        straße und des Universums? Zur Untersuchung des
                                                        Hochenergie-Universums werden alle drei Arten von
land entwickelten Kryobolometer-Technologie die
                                                        Botenteilchen, d.h. geladene kosmische Strahlung,
beste Empfindlichkeit. Im Bereich mittelschwerer und
                                                        Gamma-Strahlung und Neutrinos, sowie die Gravita­
schwerer WIMPs hat XENON1T die weltweit beste
                                                        tionswellen genutzt.
Empfindlichkeit, die ab Winter 2019/2020 mit dem
XENONnT-Detektor um eine weitere Größenordnung          Die Aktivitäten der Gamma-Astronomie konzentrieren
gesteigert werden wird. Hierzu steuern deutsche Grup-   sich auf den Bau und die Inbetriebnahme von CTA,
pen u.a. bei der entscheidenden weiteren Reduktion      das als Großgerät des BMBF betrieben werden wird.
von Störsignalen wesentliche innovative Technologien    Die Tatsache, dass die derzeit laufenden Gammastrah-
bei, die für das DARWIN-Projekt eine entscheidende      lungs-Teleskope – H.E.S.S. und MAGIC – an vielen Mul-
Rolle spielen werden. Die deutlich erhöhte Empfind-     timessenger-Beobachtungen und insbesondere auch
lichkeit auf WIMPs wird bei DARWIN ergänzt durch ein    an Multimessenger-Entdeckungen der vergangenen
breites Programm zur Neutrinophysik.                    Jahre beteiligt waren, demonstriert das Potenzial der
                                                        Gamma-Astronomie auch in diesem Bereich.
Die weiter unten genannten Experimente zum Hoch­
energie-Universum (CTA und IceCube) verfolgen einen     Im Rahmen der Erforschung der kosmischen Strahlung
anderen Zugang: Sie suchen nach sekundären Teilchen     ist das Pierre-Auger-Observatorium das führende Expe-

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