AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Schule - Bundeszentrale für politische Bildung

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Schule - Bundeszentrale für politische Bildung
70. Jahrgang, 51/2020, 14. Dezember 2020

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
       Schule
      Claudia Lohrenscheit                       Wilfried Schubarth
  DAS RECHT AUF BILDUNG                  SCHULE ALS SOZIALEN ORT
     IM PERMANENTEN                        (WIEDER)ENTDECKEN
      KRISENZUSTAND
                                            Lisa Pagel · Laura Schmitz ·
        Katharina Werner              C. Katharina Spieß · Ludovica Gambaro
      WAS KOSTET ES,                        ZUR SCHULSITUATION
     NICHT IN BILDUNG                       GEFLÜCHTETER KINDER
      ZU INVESTIEREN?                        UND JUGENDLICHER

   Kai Maaz · Martina Diedrich          Michael Wrase · Jutta Allmendinger
     SCHULE UNTER                          DAS RECHT AUF BILDUNG
 PANDEMIEBEDINGUNGEN                           VERWIRKLICHEN

        Stefan Immerfall
 SCHULE IN DER PANDEMIE:
   ERFAHRUNGEN AUS
    OSTWÜRTTEMBERG

                   ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                        FÜR POLITISCHE BILDUNG
               Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Schule - Bundeszentrale für politische Bildung
Schule
                                       APuZ 51/2020
CLAUDIA LOHRENSCHEIT                                WILFRIED SCHUBARTH
DAS RECHT AUF BILDUNG                               SCHULE ALS SOZIALEN ORT
IM PERMANENTEN KRISENZUSTAND                        (WIEDER)ENTDECKEN
Das Recht auf Bildung ist nicht erst seit der       Kinder und Jugendliche sind von der Corona-
Corona-Pandemie ständig herausgefordert.            Krise besonders betroffen. In der Krise haben sie
„Bildung für alle“ lautet seit vielen Jahren das    die Schule als sozialen Ort, als Ort der Begeg-
Versprechen der internationalen Staatengemein-      nung mit Freunden und Lehrkräften vermisst.
schaft: Jedes Kind soll an jedem Ort der Welt zur   Dies belegt die Relevanz der sozialen Dimension
Schule gehen können.                                von Schule, die es künftig auszubauen gilt.
Seite 04–08                                         Seite 28–33

KATHARINA WERNER                                    LISA PAGEL · LAURA SCHMITZ ·
WAS KOSTET ES, NICHT IN BILDUNG                     C. KATHARINA SPIEẞ · LUDOVICA GAMBARO
ZU INVESTIEREN?                                     ZUR SCHULSITUATION GEFLÜCHTETER
Eine gute Bildung hat für den Einzelnen und         KINDER UND JUGENDLICHER
die Gesellschaft einen großen Nutzen, etwa          Schule ist zentral für die Integration geflüchteter
höhere Arbeitseinkommen und ein vermindertes        Kinder und Jugendlicher. Minderjährige mit
Risiko, arbeitslos zu werden. Mehrmonatige          Fluchthintergrund fühlen sich an ihrer Schule
Schulschließungen sind mit individuellen wie        wohl und besuchen diese oft ganztägig. Die
volkswirtschaftlichen Kosten verbunden.             Schulschließungen während der Corona-Krise
Seite 09–14                                         dürften sie besonders hart getroffen haben.
                                                    Seite 34–40
KAI MAAZ · MARTINA DIEDRICH
SCHULE UNTER PANDEMIEBEDINGUNGEN                    MICHAEL WRASE · JUTTA ALLMENDINGER
Seit März 2020 hat die Schule in Deutschland in     DAS RECHT AUF BILDUNG VERWIRKLICHEN
einer ungewöhnlichen Geschwindigkeit unter-         Benachteiligungen im deutschen Bildungssystem
schiedlichste Transformationen durchlaufen.         wegen Herkunft, Hintergrund oder Behinde-
Nach den Schulschließungen ging es in verschie-     rung stehen dem Menschenrecht auf Bildung
dene hybride Modelle über und dann in den           für alle entgegen. Bund und Länder müssen sich
„Normalbetrieb“ unter Pandemiebedingungen.          beim Abbau von Barrieren und Diskriminierung
Seite 15–21                                         gemeinsam anstrengen.
                                                    Seite 41–45
STEFAN IMMERFALL
SCHULE IN DER PANDEMIE:
ERFAHRUNGEN AUS OSTWÜRTTEMBERG
Schulen und Lehrkräfte sind trotz Defiziten
ihrer (Eigen-)Verantwortung in Zeiten der
Schulschließungen gerecht geworden. Aus
Elternsicht erwies es sich als besondere Heraus-
forderung, die Lernmotivation ihrer Kinder
hochzuhalten, wie eine eigene Studie zeigt.
Seite 22–27
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Schule - Bundeszentrale für politische Bildung
EDITORIAL
Als im November 2020 das US-amerikanische Unternehmen Pfizer und die
deutsche Firma Biontech die hohe Wirksamkeit des von ihnen entwickelten
Impfstoffes gegen das neuartige Corona-Virus bekanntgaben, war die Begeis-
terung über die Aufsteigergeschichte zweier Migrantenkinder aus Deutschland
groß. Dabei habe einer der Mitgründer von Biontech, Uğur Şahin, seinerzeit
eine Empfehlung für die Hauptschule bekommen und erst die Intervention eines
Nachbarn seine Gymnasiallaufbahn ermöglicht, wie in diesem Zusammenhang
erzählt wurde. Auch heute noch hängen Bildungskarrieren hierzulande stärker
als in anderen Staaten von bestimmten Herkünften und Hintergründen statt
vom individuellen Potenzial ab.
   Die pandemiebedingten Schulschließungen ab März diesen Jahres haben jene
Schüler besonders getroffen, die bereits „vor Corona“ zu den Benachteiligten
zählten: Kinder und Jugendliche ohne eigenes Zimmer oder eigenen Schreib-
tisch, um in Ruhe zu lernen, ohne (stabile) Internetverbindung und Endgeräte,
um digital vermitteltem Unterricht zu folgen, mit Eltern, die aus verschiedenen
Gründen keine Zeit oder nicht die Mittel haben, Struktur und Unterstützung
bei Selbstlernprozessen zu geben, oder es manchmal nicht schaffen, regelmäßig
Mahlzeiten bereitzustellen. Selbst diejenigen, die alle Voraussetzungen hatten
oder sich selbst zu helfen wussten, waren froh, als die Schulen wieder schritt-
weise für den Präsenzbetrieb öffneten.
   Schule ist mehr als ein Ort der Wissensvermittlung, das hat die Pandemie
verdeutlicht. Und so ist die Bereitschaft der Kultusministerinnen, die Schulen
in der zweiten Infektionswelle offenzuhalten, sehr hoch. Ob genug getan wird,
um die Gesundheit von Schülerinnen- wie Lehrerschaft zu schützen und den
Beitrag der „Massenveranstaltung“ Schule zum Infektionsgeschehen zu min-
dern, ist umstritten. Das Menschenrecht auf Bildung, das viele Voraussetzungen
für die Wahrnehmung anderer Rechte schafft, gilt es in Zeiten der Pandemie
in Deutschland und weltweit bestmöglich zu wahren. „Nach Corona“ muss
mehr getan werden, um dieses Recht für alle zu verwirklichen – ohne dabei dem
Irrglauben zu verfallen, Bildung allein könne alle gesellschaftlichen Probleme
lösen.

                                                     Anne Seibring

                                                                             03
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APuZ 51/2020

            DAS RECHT AUF BILDUNG
       IM PERMANENTEN KRISENZUSTAND
                          Zur globalen Bildungssituation
                                      Claudia Lohrenscheit

„Education is a powerful driver of development        forderungen relevant sein können. Ein menschen-
and one of the strongest instruments of reducing      rechtsbasierter Blick heißt dabei, immer auch auf
poverty and improving health, gender equality,        die Gruppen von Kindern und Jugendlichen zu
peace and stability.“ (World Bank)                    schauen, die diskriminiert oder benachteiligt oder
                                                      von Bildung ganz ausgeschlossen werden. De-
Bildung gilt vielen als Allheilmittel, als „Wun-      rer gibt es viele. Aus globaler Perspektive gehö-
derwaffe“ oder stärkster Treiber für Entwicklung      ren hierzu unter anderem Kinder, die arbeiten
und Wohlstand, wie es das Zitat der Weltbank          müssen, Mädchen und schwangere junge Frauen,
beispielhaft illustriert. Ganz gleich, über welches   Sinti und Roma, Kinder und Jugendliche mit Be-
Thema verhandelt wird und wie krisenhaft eine         hinderungen oder geflüchtete Kinder – mit oder
Situation auch sein mag, fehlende Bildung wird        ohne ihre Familien. Bei uns in Deutschland spie-
stets als Problem und Lösung gleichzeitig propa-      geln sich diese Verhältnisse teilweise wider, auch
giert, und immer als eine der Maßnahmen emp-          wenn hier die Schulpflicht für die meisten Kinder
fohlen, die es dringend braucht. Dies gilt für sehr   sicherstellt, dass sie eine Schule besuchen dürfen.
unterschiedliche Fragestellungen – sei es die Be-     Doch auch hier werden geflüchtete Kinder diskri-
kämpfung einer globalen Pandemie, die Prä-            miniert oder ausgeschlossen, Kinder mit Behin-
vention von Rassismus und gruppenbezogener            derungen nach wie vor abgesondert und solche
Menschenfeindlichkeit oder wenn es heißt, das         aus armen Haushalten und Familien benachtei-
Bewusstsein für die Erderwärmung und den Kli-         ligt. Die Daten hierzu sind durch die Organisati-
mawandel zu schärfen. Wenn es um Bildung geht,        on der Vereinten Nationen für Bildung, Wissen-
kann überdies jede und jeder mitreden, und tut es     schaft, Kultur und Kommunikation, UNESCO,
auch. Ob im privaten oder öffentlichen Bereich,       und internationale Vergleichsstudien lange be-
von staatlichen oder privatwirtschaftlichen Agen-     kannt. Die Corona-Krise wirkt in dieser Situation
turen, ob mit ausgewiesener Expertise oder ohne:      wie ein Brennglas, denn sie zeigt die bereits vor-
Bildung ist ein „Megathema“, zu dem ein kaum          handenen Probleme nicht nur überdeutlich, son-
überschaubarer Korpus an Literatur existiert,         dern verstärkt sie auch noch.
und an dem eine unübersichtliche Vielfalt (inter)
nationaler Akteure mitwirkt, wobei diejenigen,                      BILDUNG FÜR ALLE
um die es vornehmlich geht, die Kinder und Ju-
gendlichen, wenn überhaupt meist als letzte ge-       „Bildung für alle“ lautet seit vielen Jahren das
hört werden.                                          Versprechen der internationalen Staatengemein-
    In diesem Beitrag analysiere ich die globa-       schaft, dass jedes Kind an jedem Ort der Welt
le Bildungssituation vor allem mit Blick auf die      zur Schule gehen kann. Dahinter steckt die zu-
schulische Bildung anhand menschenrechtsba-           mindest rhetorische Einsicht, dass Bildung ein
sierter Kriterien. Bildung ist aus dieser Perspek-    Schlüssel für persönliche Entfaltung, Entwick-
tive nicht bloß ein Instrument oder eine Inves-       lung und Demokratie ist. Die gute Nachricht ist:
tition in „Humankapital“ wie für die Weltbank,        Weltweit haben sich in den vergangenen knapp
sondern zuallererst ein Menschenrecht, für dessen     30 Jahren die Schulbesuchsraten gesteigert, auch
– auch krisenfeste – Realisierung es Grundlagen       wenn Ressourcen und Zugänge zu Bildung nach
und Standards gibt, die auch für aktuelle Heraus-     wie vor extrem ungleich verteilt sind. Der aktu-

04
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Schule - Bundeszentrale für politische Bildung
Schule APuZ

elle Weltbildungsbericht der UNESCO gibt an,                   wurde enttäuscht, und auch der nächste Versuch
dass heute „nur noch“ etwa eine Viertelmilliar-                mit ähnlichen Absichtserklärungen beim zwei-
de Kinder und Jugendliche (258 Millionen) nicht                ten Weltbildungsforum im April 2000 in Da-
zur Schule gehen, das entspricht 17 Prozent welt-              kar, Senegal scheiterte, wobei die Zielgerade auf
weit.01 Das sind fast 100 Millionen weniger als                fünf Jahre verschoben wurde. Die Staatenge-
noch vor 20 Jahren. Doch entwickeln sich die-                  meinschaft verabschiedete den Aktionsplan „Bil-
se Zahlen in verschiedenen Regionen sehr unter-                dung für alle“ mit sechs spezifischen Zielen,03 die
schiedlich: Während Schulbesuchsraten in Asien,                bis 2015 erreicht werden sollten. Die UNESCO
insbesondere in China, in den vergangenen Jah-                 wurde damit beauftragt, die Umsetzung des
ren gestiegen sind, nehmen sie vor allem auf dem               weltweiten Aktionsprogramms zu evaluieren,
afrikanischen Kontinent südlich der Sahara wie-                und musste 2015 die kritische Bilanz ziehen, dass
der ab.                                                        nur jedes dritte Land die Ziele erreicht hatte. Das
     Schulbesuchsraten als Indikator für Bildung               größte Hindernis ist und bleibt die mangelnde
sind allerdings sehr begrenzt und sagen noch                   ­Finanzierung.04
nichts über die Bildungsqualität aus, etwa über                    Weil die UNESCO und andere UN-Organi-
die Bedingungen in den Schulen, ob etwa Kin-                   sationen nicht nachlassen in ihren Bemühungen,
der geschlagen werden, das Curriculum veraltet                 die Weltgemeinschaft zu bewegen, ist Bildung
und an kolonialen Inhalten ausgerichtet ist, oder              auch im Nachfolgeprogramm zu den Millenni-
Lehrpersonal so schlecht entlohnt wird, dass der               um Development Goals, der Globalen Agenda
Beruf zum Nebenjob degeneriert. Von den über                   2030 mit ihren Sustainable Development Goals
80 Prozent der Kinder, die weltweit zur Schu-                  (SDGs, Nachhaltigkeitsziele) wieder prominent
le gehen, haben die meisten noch nie davon ge-                 vertreten. Das Bildungsziel der Agenda lautet,
hört, dass es ihr Menschenrecht auf Bildung ist,               nunmehr bis 2030 inklusive, chancengerechte und
um das es geht, und dass sie dieses Recht zudem                hochwertige Bildung für alle Menschen sicher-
noch genießen können sollten, oder dass Bildung                zustellen und lebenslanges Lernen zu fördern.05
womöglich Spaß machen darf. Fest steht: Für vie-               Doch auch dieser Versuch wird aller Voraussicht
le Kinder und Jugendliche bringt ein fehlender                 nach scheitern. Aus multilateraler Perspektive
Schulzugang massive weitere Benachteiligungen                  liefern die Menschenrechtsorgane und Sonder-
in vielen anderen Bereichen mit sich, beispiels-               organisationen der Vereinten Nationen fundier-
weise mit Blick auf Ernährung und Gesundheit,                  te Daten zur globalen Bildungssituation. Sie zei-
weil gesundes Trinkwasser und die regelmäßigen                 gen mehr als deutlich den mangelnden politischen
Schulmahlzeiten fehlen.                                        Willen der Regierungen weltweit, nicht nur der
     Die schlechte Nachricht ist, dass sich die in-
ternationale Staatengemeinschaft bereits vor
                                                               03 Die Ziele lauteten: (1) Ausbau der frühkindlichen Bildung,
30 Jahren auf „Bildung für alle“ verpflichtet                  (2) uneingeschränkter Zugang zu unentgeltlicher, obligatorischer
hat, einem Ziel, dem sie bis heute nicht nahe ge-              und qualitativ hochwertiger Grundschulbildung für alle Kinder
nug gekommen ist. 1990 waren Re­gier­ungs­ver­                 bis 2015, (3) Absicherung von Lernangeboten und Basisqua-
tre­ter*­innen und Delegierte aus immerhin 155                 lifikationen für Jugendliche, (4) Steigerung der Alphabetisie-
                                                               rungsraten unter Erwachsenen um 50 %, (5) Herstellung von
Staaten, 20 multilateralen Organisationen und
                                                               Geschlechtergerechtigkeit im gesamten Bildungsbereich bis
150 Nichtregierungsorganisationen in Jomtien,                  2015, (6) Verbesserung der Bildungsqualität. Bei all diesen Zielen
Thailand zur ersten Weltbildungskonferenz zu-                  und Maßnahmen sollten insbesondere benachteiligte Kinder
sammengekommen in der Hoffnung, in einem                       (z. B. von ethnischen Minderheiten, Mädchen) und Kinder in
Zeitraum von zehn Jahren bis zum Millenniums-                  schwierigen Lebenssituationen berücksichtigt werden. Vgl. Deut-
                                                               sche UNESCO-Kommission (DUK) (Hrsg.), Education for All by
wechsel 2000 zumindest eine universelle Grund-
                                                               2015. Will We Make It?, EFA Global Monitoring Report 2008,
bildung für alle zu erreichen.02 Diese Hoffnung                Deutsche Kurzfassung, Bonn 2008, S. 3.
                                                               04 Vgl. DUK (Hrsg.), Bildung für alle 2000–2015: Bilanz. Deut-
01 Vgl. UNESCO, Global Education Monitoring Report 2020:       sche Kurzfassung, Bonn 2015. Siehe auch den Kurzüberblick
Inclusion and Education – All means All, Paris 2020, S. 4.     „UNESCO Weltbildungsbericht 2015“: www.unesco.de/bildung/
02 Verabschiedet wurde die World Declaration on Educa-         bildungsagenda-2030/unesco-weltbildungsbericht/bildungs-
tion for All sowie als Handlungsanleitung für Regierungen      agenda-2030.
das Aktionsprogramm „Framework for Action to Meet Basic        05 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit,
Learning Needs“. Vgl. https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/   Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, www.bmz.de/
pf0000127583.                                                  de/themen/2030_agenda/index.html.

                                                                                                                              05
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APuZ 51/2020

armen Länder, sondern zunehmend auch der rei-                      satzweise skizziert werden kann: Verfügbarkeit
chen. Bildung bleibt unterfinanziert, und ein ent-                 von Bildung bedeutet dann unter anderem auch
fernter Traum für zu viele. Auch in Deutschland                    digitale Verfügbarkeit, worauf Schulen und
gibt es viele Defizite. So schreckte zum Beispiel                  Lehrkräfte technisch und didaktisch vorberei-
ein Bericht der Bertelsmann Stiftung auf, die be-                  tet sein müssen. Die Zugänglichkeit von Bil-
rechnet hatte, dass in den kommenden Jahren bis                    dung heißt in der Pandemie einmal mehr, vor
zu 35 000 Lehrer*­  innen an Grundschulen feh-                     allem die Gruppen zu erreichen, die in beson-
len werden. Die Kultusministerkonferenz hatte                      ders verletzlichen Situationen leben, beispiels-
schlichtweg übersehen, wie viele Lehrer*­innen in                  weise behinderte oder geflüchtete Kinder und
den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen,                       Jugendliche, die häufig in Wohnheimen oder
und dass es über eine Million mehr Schüler*­innen                  Sammelunterkünften ohne ausreichend Schutz
geben wird, als von ihr prognostiziert.06                          und Privatsphäre untergebracht sind, und selbst
                                                                   in reichen Staaten wie Deutschland ohne ange-
                   BILDUNG ALS                                     messenen Zugang zum Internet oder Fernun-
                  MENSCHENRECHT                                    terricht auskommen müssen.
                                                                       Bildung angemessen und akzeptabel zu orga-
Die Daten aus den Weltbildungsberichten bezie-                     nisieren, heißt angesichts der Pandemie-Bedin-
hen sich in der Regel nur auf die Schulbesuchsra-                  gungen auch, dass Informationen über Gesundheit
ten, obwohl die UNESCO als Monitoringstelle                        und Schule in kindgerechter Sprache verfasst wer-
für die weltweite Realisierung des Menschen-                       den, und dass die Bedingungen in den Familien an-
rechts auf Bildung auch weitere Themenschwer-                      gemessen Berücksichtigung finden, beispielswei-
punkte in den Blick nimmt, etwa Inklusion                          se mit Blick auf den Zugang zu Computern und
(2020), Flucht und Migration (2019) oder Um-                       digitalen Medien insbesondere in ärmeren und
welt und Nachhaltigkeit (2016). Das Recht auf                      räumlich stark begrenzten Haushalten; oder auch
Bildung umfasst jedoch mehr. Seine Fundierung                      mit Blick auf körperliche Bedürfnisse wie Bewe-
als Menschenrecht korrespondiert mit den staat-                    gung und Spiel. Hier wird deutlich, dass auch die
lichen Pflichten der Achtung, des Schutzes und                     UN-Kinderrechtskonvention mit ihren Schutz-,
der Gewährleistung von Bildungsrechten. Im De-                     Förder- und Beteiligungsrechten zentral ist. Ihre
tail bedeutet dies, Regierungen sind in der Pflicht,               obersten Prinzipien sind für jede Bildung unver-
Bildung frei verfügbar und ohne Unterschied für                    zichtbar: Das beste Interesse des Kindes muss im
alle zugänglich zu machen sowie die Formen von                     Mittelpunkt stehen (Kindeswohl). Kein Kind darf
Bildung (inklusive der Methoden und Lernmate-                      diskriminiert werden (Gleichheitsgebot). Jedes
rialien) orientiert an menschenrechtlichen Werten                  Kind muss gehört werden (Partizipation und Teil-
und angepasst an die Bedürfnisse der Lernenden                     habe), und die Entwicklungstatsache des Kindes
umzusetzen.                                                        muss Berücksichtigung finden (Recht auf Leben
     Der UN-Sozialpaktausschuss hat diese Staa-                    und Entwicklung), wobei Kindheit die Spanne
tenpflichten in Kriterien gefasst, die als 4-A-                    zwischen 0 und 18 Jahren umfasst.08 Diese Garan-
Scheme bezeichnet werden: Bildung muss ver-                        tien sollten in Zeiten einer Pandemie umso mehr
fügbar (availability), zugänglich (accessibility),                 Bedeutung haben, dies betonen das UN-Kinder-
akzeptabel (acceptability) und angemessen (ad-                     hilfswerk UNICEF und der UN-Kinderrechts-
aptability) sein.07 Dass diese Standards als über-                 ausschuss genauso wie zahlreiche Kinderrechts-
geordnete Richtlinien für politisches Handeln                      organisationen und -netzwerke auf nationaler wie
– auch in Krisenzeiten – funktionieren können,                     internationaler ­Ebene.09
zeigt ihre Anwendung mit Blick auf die Coro-
na-Pandemie, die hier aus Platzgründen nur an-                     08 Vgl. Jörg Maywald, Kinder haben Rechte! Kinderrechte
                                                                   kennen – umsetzen – wahren. Für Kindergarten, Schule und
06 Vgl. Julia Köppe, Prognose bis 2025. An Grundschulen feh-       Jugendhilfe, Weinheim–Basel 2012.
len 35 000 Lehrer, 31. 1. 2018, www.spiegel.de/a-1190586.html.     09 Vgl. UNICEF, COVID-19 and the Impact on Children’s
07 Vgl. Claudia Lohrenscheit, Das Recht auf Bildung, 9. 9. 2013,   Rights: The Imperative for a Human Rights-Based Approach,
www.bpb.de/156819; Mareike Niendorf/Sandra Reitz, Das              April 2020, https://d3n8a8pro7vhmx.cloudfront.net/childrights-
Menschenrecht auf Bildung im deutschen Schulsystem. Was zum        connect/mailings/851/attachments/original/UNICEF__CO-
Abbau von Diskriminierung notwendig ist, Deutsches Institut für    VID-19_and_Child_Rights_Imperative_for_a_Human_Rights_
Menschenrechte, Berlin 2016.                                       Approach__Final_April_2020.pdf?1588854658.

06
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Schule - Bundeszentrale für politische Bildung
Schule APuZ

             BILDUNG UND SCHULE                                        Hier zeigt sich die Verwobenheit der Men-
           IN DER CORONA-PANDEMIE                                  schenrechte, ihre Interdependenz. Kein Recht
                                                                   kann vernachlässigt werden, ohne nicht massi-
Kaum ein anderes politisches Handlungsfeld ist                     ve Auswirkung auf die Verwirklichung ande-
so überreguliert und institutionalisiert wie die                   rer Rechte zu haben. Bereits die erste Sonderbe-
Schule, und gleichzeitig politisch so vernach-                     richterstatterin zum Recht auf Bildung, Katarina
lässigt. Dies zeigt sich umso mehr in Krisenzei-                   Tomasevski,13 wies wiederholt auf diesen Zu-
ten. Die UN berichtet, dass durch die plötzli-                     sammenhang hin: „Leaving seven-year-olds to
che Schließung von Schulen und Hochschulen                         fend for themselves routinely drives them into
zu Beginn der Pandemie 1,5 Milliarden Kin-                         child labour, child marriage, or child soldiering.
dern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in                       The Right to education operates as a multiplier.
191 Staaten weltweit der Zugang zu Bildung er-                     It enhances all other human rights when guar­
schwert oder verwehrt war.10 Erfahrungen aus                       an­teed and forecloses the enjoyment of most,
vorangegangenen Epidemien wie der Ebola-Kri-                       if not all, when denied“.14 Wie keine andere hat
se von 2014 bis 2016 weisen darauf hin, dass ein                   Tomasevski für die weltweite Abschaffung der
solcher „Lockdown“ von Schulen massive Kon-                        Schulgebühren gestritten, was in beziehungs-
sequenzen hat: Kinder und Jugendliche sind er-                     weise nach der Corona-Pandemie noch größere
höhten Risiken ausgesetzt, weil die Verbindung                     Relevanz erhält. Familien, deren wirtschaftliche
zu Schulen, Lehrer*­innen, So­zi­al­ar­bei­ter*­innen              Existenz bedroht ist, werden sich Schulgebüh-
und Mit­schüler*­innen fehlen. Die aktuelle UN-                    ren nicht mehr leisten können. Wenn sie meh-
Sonderberichterstatterin zum Recht auf Bil-                        rere Kinder im Schulalter haben, sind es die
dung, Koumbou Boly Barry, schätzt, dass bis zu                     Mädchen, deren Recht auf Bildung zuerst be-
zehn Millionen Mädchen nach dem Lockdown                           schnitten wird.
nicht mehr in die Schule zurückkehren, dass                            Die Corona-Krise zeigt in dramatischer Wei-
mehr Kinder, vor allem Mädchen, in Ehen so-                        se die Schwächen der Bildungssysteme welt-
wie in schädliche Kinderarbeit gezwungen wer-                      weit, die auch zuvor schon bekannt waren.
den, und dass mehr Kinder Gefahr laufen, als                       In zu vielen Ländern heißt Schule auch heute
Kindersoldat*­innen oder durch Menschenhandel                      noch: marode Gebäude, überfüllte Klassenräu-
in die Zwangsprostitution rekrutiert zu werden.11                  me, hohe Kosten für Schulgebühren, -unifor-
Auch die internationale Kinderrechtsorganisati-                    men und -bücher, fehlende oder kaputte Sani-
on Save the Children weist auf die erhöhten Ge-                    täranlagen und fehlender Zugang zu sauberem
waltrisiken durch die Schließung von Bildungs-                     Wasser. Vor diesem Hintergrund warnt Koum-
und Betreuungseinrichtungen hin.12 Während der                     bou Boly Barry davor, dass sich durch die Pan-
Ebola-Krise hatte sich etwa die Zahl der Schwan-                   demie die Ungleichheit beim Zugang zu Bildung
gerschaften bei Teenagerinnen in manchen Regi-                     weiter verschärft. In ihrem Sonderbericht an den
onen um bis zu 65 Prozent erhöht, und vor allem                    UN-Menschenrechtsrat im Juni 2020 hat sie da-
Mädchen und junge Frauen waren verstärkt sexu-                     rauf hingewiesen, dass während der plötzlichen
alisierter Gewalt sowie Verletzungen der sexuel-                   Umstellung auf digitales Lernen und virtuellen
len Selbstbestimmungsrechte ausgesetzt.                            Unterricht massenhaft Kinder abgehängt wur-
                                                                   den: Etwa die Hälfte aller Schüler*­innen welt-
10 Vgl. UN Human Rights Council, Right to Education: Impact of     weit hat zu Hause keinen Zugang zu Computern
the COVID-19 Crisis on the Right to Education. Concerns, Chal-     und fast ebenso viele haben keinen Internetan-
lenges and Opportunities, Report of the Special Rapporteur on      schluss. In einkommensschwachen Ländern in
the Right to Education, Juni 2020, A/HRC/44/39, S. 4. Siehe auch
                                                                   Subsahara-Afrika sind diese Zahlen erwartungs-
UNESCO, Global Education Coalition, https://en.unesco.org/
covid19/educationresponse.
11 Vgl. UN Human Rights Council (Anm. 10), S. 8. Siehe auch        13 Vgl. Claudia Lohrenscheit, Die UN-Sonderberichterstattung
UNESCO, Covid-19 School Closures Around the World Will             zum Recht auf Bildung und ihre Grundlegung durch Katarina
Hit Girls Hardest, 2020, https://en.unesco.org/news/covid-         Tomasevski, in: Bernd Overwien/Annedore Prengel (Hrsg.),
19-school-closures-around-world-will-hit-girls-hardest.            Recht auf Bildung. Zum Besuch des Sonderberichterstatters der
12 Vgl. Save the Children, Save the Children’s Written Submis-     Vereinten Nationen in Deutschland, Opladen–Farmington Hills
sion to the Special Rapporteur on the Right to Education, Juni     2007, S. 34–50.
2020, www.ohchr.org/Documents/Issues/Education/COVID19/            14 Katarina Tomasevski, Education Denied: Costs and Reme-
SavetheChildren.pdf.                                               dies, London 2003, S. 1.

                                                                                                                              07
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Schule - Bundeszentrale für politische Bildung
APuZ 51/2020

gemäß noch höher. Hier haben über Dreiviertel                                    BUILD BACK BETTER
der Schüler*­innen keinen Internetzugang, und
viele leben in Gebieten, die auch das Mobilfunk-                  Build back better – Macht Bildung in Zukunft
netz nicht abdeckt.15 Dieses Abgehängt-Sein                       besser, ist allerorten zu vernehmen. Für die Men-
gilt darüber hinaus auch für viele Lehrkräfte.                    schenrechtsarbeit sind unendliche Geduld, Hart-
Die internationale Bildungsgewerkschaft Edu-                      näckigkeit und unhaltbarer Optimismus genauso
cation International gibt an, dass nur etwa ein                   unverzichtbar wie die Wut über die herrschen-
Drittel der dort vertretenen Lehrer*­innen sich                   den Verhältnisse. Das Menschenrecht auf Bil-
technisch und curricular ausreichend vorbereitet                  dung braucht daher weltweit Mit­streiter*­innen
und unterstützt fühlten, um angemessen auf die                    – auf allen Ebenen – mit einem langen Atem und
neue Situation zu reagieren. Nur in Ausnahme-                     mit dem Mut, trotz anhaltender Bildungskrise
fällen wurden sie bei Entscheidungen zur Öff-                     daran festzuhalten, dass jeder junge Mensch ler-
nung oder Schließung von Schulen konsultiert.                     nen darf und die eigene Persönlichkeit frei ent-
Sie waren zudem – vor allem in privaten Bil-                      falten kann.
dungsinstitutionen – durch unsichere oder nur                         Dass auch unter widrigen Verhältnissen un-
sehr begrenzt laufende Verträge, die mit Beginn                   bedingte Solidarität mit Kindern und ihrem
der Pandemie nicht verlängert wurden, zum Teil                    Recht auf Bildung etwas bewirken kann, zeigt
in ihrer Existenz bedroht.16                                      dieses Beispiel: Mitten in der Corona-Pandemie
    Bei aller Offenheit für neue digitale Lehr-                   kündigt UNICEF an, eine Schule zu gründen
und Lernformen und allen Chancen, die sich                        für alle Kinder und Jugendlichen, die mit oder
damit bieten können, glaubt niemand ernsthaft                     ohne ihre Familien geflüchtet sind und nun auf
daran, dass virtuelle Formate das Schulleben in                   der griechischen Insel Lesbos meist unter kata-
Präsenz auch nur annähernd ersetzen könnten.                      strophalen Bedingungen leben müssen. Bildung
Koumbou Boly Barry würdigt deshalb in ih-                         bedeutet ihnen alles. Bisher konnte UNICEF
rem Sonderbericht auch die vielen verschiedene                    nur etwa 10 Prozent der Schüler*­innen mit ihren
Formen des Fernunterrichts, die in den Staaten                    Bildungsprojekten auf Lesbos versorgen. Nicht
weltweit während der Pandemie erprobt wur-                        zuletzt die Aussagen der Kinder und Jugendli-
den. Das sind High-tech-Lösungen (wie Online-                     chen selbst, die daran teilnehmen konnten, haben
Unterricht und Videokonferenzen) sowie Low-                       dazu beigetragen, dass nun Zelte aufgebaut wer-
tech-Modelle, die beispielsweise das Radio oder                   den, die für alle Kinder Platz zum Lernen bieten:
Bildungsfernsehen genutzt haben; und eben ge-                     „Wenn ich hier bin, fühle ich mich gut und sicher.
nauso gut auch No-tech-Lösungen, bei denen                        (…) Wenn ich hier bin, vergesse ich, dass ich im
Schüler*­innen mit Dokumenten und Lernmate-                       Lager wohne.“18
rialien per Versand oder durch persönliche Über-
gabe versorgt wurden.17 Gerade bei diesem letz-
ten Modell ist es dem unermüdlichen Einsatz
der Lehrer*­innen zu verdanken, dass Lernpro-
zesse nicht gänzlich abbrachen, und der Kontakt
zu den Schüler*­innen gehalten werden konnte.
Auch ihre Sicherheit und ihr Schutz ist Teil des
Rechts auf Bildung. Sie gehen hohe Risiken ein,
wenn sie den Unterricht bei wieder steigenden
Infektionszahlen aufrechterhalten. Und sie ver-
dienen Respekt.

15 Vgl. UN-Human Rights Council (Anm. 10), S. 10.
16 Vgl. Education International (Hrsg.), Covid-19 and Educa-
tion: How Education Unions are Responding, Survey Report,         CLAUDIA LOHRENSCHEIT
April 2020.
                                                                  ist Professorin für Internationale Soziale Arbeit
17 Vgl. UN-Human Rights Council (Anm. 10), S. 7.
18 Zit. nach Thomas Bormann, Zeltschule für Kinder auf Les-
                                                                  und Menschenrechte an der Hochschule für
bos. „Hier vergesse ich, dass ich im Lager wohne“, 30. 9. 2020,   angewandte Wissenschaften Coburg.
www.tagesschau.de/ausland/lesbos-fluechtlingslager-111.html.      claudia.lohrenscheit@hs-coburg.de

08
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Schule - Bundeszentrale für politische Bildung
Schule APuZ

              WAS KOSTET ES,
     NICHT IN BILDUNG ZU INVESTIEREN?
                                         Katharina Werner

Wie in vielen anderen Ländern herrscht in              sellschaft insgesamt einen großen Nutzen hat.
Deutschland Schulpflicht – Kinder sind damit           Wenn zum Beispiel eine gute Bildung das Risi-
verpflichtet, Bildungseinrichtungen zu besuchen,       ko von Arbeitslosigkeit reduzieren kann, ist dies
deren Kosten zum überwältigenden Teil der Staat        von Vorteil für die betroffene Person, aber eben-
und damit alle Steuerzahler tragen. In diesem Bei-     so für deren Familie und die lokale Wirtschaft in
trag beleuchte ich die Vorteile eines solchen Sys-     der Gegend, in der die Person lebt. Dieses Phäno-
tems aus volkswirtschaftlicher Sicht.                  men, von Ökonomen als „Externalität“ bezeich-
                                                       net, ist ein wichtiger Grund, wieso Bildung ge-
               BILDUNG IST                             sellschaftlich umfassend diskutiert und finanziert
           WISSENSVERMITTLUNG                          wird: Von positiven Entwicklungen im Bildungs-
                UND MEHR                               system profitieren nicht nur die direkten Nutz-
                                                       nießer, sondern langfristig alle.
Die Ziele von staatlich geförderter Bildung sind           Dem Umstand, dass Bildung auf verschie-
vielfältig. Dies ist nicht zuletzt auch anhand der     denste Teilbereiche im Leben einen Einfluss hat,
aktuellen Debatten zu Schulschließungen auf-           ist geschuldet, dass es unmöglich ist, alle Folgen
grund der Corona-Pandemie zu erkennen, die auf         einer Bildungskarriere buchhalterisch aufzufüh-
die weitreichenden Folgen des Bildungsausfalls         ren und gegeneinander abzuwägen. Während es
hinweisen. So werden beispielsweise in Zeiten der      also wichtig ist, die vielfältigen Folgen von Bil-
Schulschließungen die Funktion als Betreuungs-         dung im Hinterkopf zu behalten, fokussiere ich
einrichtungen, die den Eltern das Arbeiten ermög-      mich in diesem Beitrag auf die bezifferbaren, ar-
licht, oder die Funktion als sozialer Treffpunkt       beitsmarktrelevanten Aspekte von ­Bildung.
mit Gleichaltrigen neben der Funktion als Ort
der Wissensvermittlung offenkundig.01 All dies ist                     BILDUNG UND
bekannt und historisch belegt. Der Ursprung des                        UNGLEICHHEIT
modernen deutschen Bildungssystems etwa kann
im Bestreben der preußischen Regierung verortet        Unter den vielen Zielen, die das Bildungssystem
werden, den gesellschaftlichen Zusammenhalt in         verfolgt, ist neben der Wissensvermittlung das Ziel
ihrem Sinne zu stärken.02 Nichtsdestotrotz steht       der Chancengleichheit besonders wichtig und be-
heutzutage allem voran die Vermittlung von Wis-        darf besonderen Augenmerks. Historisch gesehen,
sen und damit langfristig die Vorbereitung auf das     war Bildung eine Institution der oberen Schichten
Erwerbsleben im Fokus der Bildungsbestrebun-           und diente neben dem Erhalt des menschlichen
gen. Dass das Bildungssystem diese Kernaufga-          Wissens auch dem Erhalt von Status. Hieraus er-
be im Allgemeinen gut erfüllt, belegen zahlreiche      gab sich lange Zeit eine Situation, in der die fami-
wissenschaftliche Studien. Eine bessere Bildung        liäre Herkunft eine entscheidende Rolle beim Zu-
führt im späteren Verlauf zu einem höheren Ar-         gang zu Bildung spielte. In anderen Ländern, zum
beitseinkommen und einer niedrigeren Arbeits-          Beispiel im Vereinigten Königreich, ist gut zu ver-
losigkeit. Personen mit höherer Bildung führen         folgen, wie sich diese Diskussion etwa am Beispiel
zudem im Durchschnitt stabilere Ehen, sind po-         der Aufnahme von Mitgliedern der englischen
litisch aktiver und damit besser repräsentiert und     Königsfamilie an Eliteuniversitäten wie der Uni-
erfreuen sich besserer Gesundheit.03                   versity of Cambridge bis heute fortsetzt.04
     Damit bleibt einleitend festzuhalten, dass gute       Nach wie vor ist Bildungserfolg wesentlich
Bildung für den Einzelnen, aber auch für die Ge-       vom Familienhintergrund abhängig, wobei die-

                                                                                                        09
APuZ 51/2020

ser Zusammenhang in Deutschland tendenziell                       vorbereitet haben. Die finanzielle Situation der
stärker ausgeprägt ist als in anderen europäischen                Familie, der Wohnort oder die Schulkenntnisse
Ländern.05 Etwa 74 Prozent derjenigen studie-                     der Eltern – Faktoren, die die Kinder selbst nicht
ren, deren Eltern selbst ein Universitätsstudium                  beeinflussen können –, sollten hingegen keinen
abgeschlossen haben, aber nur 21 Prozent derer,                   Einfluss auf die Benotung haben.
bei denen kein Elternteil studiert hat. Ein weite-                    Auch wenn die Einordnung verschiedener
res Beispiel ist der Übertritt auf die weiterführen-              Umstände in beeinflussbare und nicht beeinfluss-
de Schule: Selbst bei gleich guten Noten ist die                  bare Faktoren in der Praxis niemals trennscharf
Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind das Gymnasi-                    möglich ist, ergeben sich anhand dieser theore-
um besucht, höher, wenn die Eltern selbst einen                   tischen Überlegungen wichtige Kriterien für die
höheren Bildungsabschluss haben.06 Diese zwei                     Gestaltung des Bildungssystems. Es zeigt sich
Beispiele illustrieren ein Muster, dass sich auch                 etwa, dass eine Schulpflicht ein wichtiger ers-
bei vielen anderen Bildungsentscheidungen zeigt.                  ter Schritt ist, um sicherzustellen, dass alle Kin-
Vor dem Hintergrund der vielfältigen positiven                    der Zugang zu Bildung erhalten. Des Weiteren ist
Effekte von Bildung für das spätere (Arbeits-)Le-                 kostenlose Bildung, ermöglicht durch ein staatlich
ben der Schülerinnen und Schüler führt eine sol-                  finanziertes Bildungssystem, Voraussetzung, um
che Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom fa-                      den Zusammenhang zwischen dem Zugang eines
miliären Hintergrund zu einer Verfestigung von                    Kindes zu qualifizierendem Wissenserwerb von
gesellschaftlicher Ungleichheit.                                  der Motivation, den Präferenzen und den finan-
    Dennoch ist es in der heutigen Zeit erklärtes                 ziellen Mitteln der Eltern zu verringern. Wenn es
Ziel des Bildungssystems, allen Kindern die Ent-                  dem Bildungssystem gelingt, Kindern unabhän-
faltung ihres Potenzials zu ermöglichen und sie                   gig von ihrem familiären Hintergrund Mathema-
je nach ihren Stärken zu fördern, also Chancen-                   tik oder Lesen beizubringen, schafft es damit die
gerechtigkeit zu gewährleisten. In der ökono-                     Voraussetzungen, dass alle Kinder gemäß ihren
misch-philosophischen Theorie ist eine Institu-                   Talenten Fähigkeiten erwerben können.
tion dann gerecht, wenn der Erfolg des Einzelnen                      Insgesamt steht die Schule damit im Spannungs-
von Faktoren abhängt, die dieser selbst in der                    feld zwischen Herausforderung und Möglichkeit,
Hand hat. Gleichzeitig sollte der Erfolg unab-                    das Potenzial eines gut gestalteten Bildungssys-
hängig von Faktoren sein, für die das Individuum                  tems zur Verbesserung von Chancengerechtigkeit
nichts kann. Am Beispiel der Schule wäre es die-                  innerhalb einer Gesellschaft zu heben.
ser Theorie zufolge zum Beispiel gerecht, wenn
Schülerinnen und Schüler bessere Noten bekom-                                WIE SICH EFFEKTE
men, wenn sie sich im Unterricht beteiligt, gewis-                      VON BILDUNG MESSEN LASSEN
senhaft ihre Hausaufgaben gemacht oder sich in
ihrer Freizeit besonders gründlich auf einen Test                 Die Effekte von Bildung für einzelne Schülerin-
                                                                  nen und Schüler oder Länder zuverlässig abzu-
                                                                  schätzen, ist aus wissenschaftsmethodischer Sicht
01 Siehe dazu den Beitrag von Wilfried Schubarth in dieser        alles andere als trivial. Denn prinzipiell wird jede
Ausgabe (Anm. d. Red.).
                                                                  Bildungsentscheidung nur einmal getroffen –
02 Vgl. Francesco Cinnirella/Ruth Schueler, Nation Building:
The Role of Central Spending in Education, in: Explorations in
                                                                  wie das weitere Leben einer Schülerin oder eines
Economic History C/2018, S. 18–39.                                Schülers verlaufen wäre, wenn die- oder derjenige
03 Vgl. Marta Dziechciarz-Duda/Anna Krol, On the Non-Mo-          weniger Stunden geschwänzt hätte, auf eine ande-
netary Benefits of Tertiary Education, in: Ekonometria 3/2013,    re Schule gegangen wäre oder einen anderen Leh-
S. 78–94.
                                                                  rer in Mathematik gehabt hätte, ist unmöglich
04 Vgl. Prince William Begins Agriculture Course at Cambridge,
7. 1. 2014, www.bbc.com/news/uk-25639442.
                                                                  vorherzusagen, der Einfluss von verschiedenen
05 Vgl. Wilfried Bos et al., IGLU 2016: Wichtige Ergebnisse im    Faktoren im Bildungssystem damit unklar.
Überblick, in: Anke Hußmann et al. (Hrsg.), IGLU 2016. Lesekom-       Klar ist dagegen, dass ein einfacher Vergleich
petenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internatio-      von Schülerinnen und Schülern in den verschie-
nalen Vergleich, Münster 2017, S. 13–28.
                                                                  denen Gruppen Fragen zu Effekten der Bil-
06 Vgl. Tobias C. Stubbe/Wilfried Bos, Schullaufbahnemp-
fehlungen von Lehrkräften und Schullaufbahnentscheidungen
                                                                  dung nicht zufriedenstellend beantworten kann.
von Eltern am Ende der vierten Jahrgangsstufe, in: Empirische     So kann zum Beispiel kaum davon ausgegan-
Pädagogik 1/2008, S. 49–63.                                       gen werden, dass ein möglicher Unterschied in

10
Schule APuZ

den Mathematikleistungen von Gymnasiasten             den Kindertagesstätten und Kindergärten zwar
und Hauptschülern alleine auf den Besuch des          oft unabhängig von der Schulpolitik diskutiert,
Gymnasiums zurückzuführen ist. Da das Gym-            aus ökonomischer Sicht sind diese Bereiche aller-
nasium eher von Schülerinnen und Schülern be-         dings eng verwandt. Obwohl der Anteil der priva-
sucht wird, die bereits in der Grundschulzeit         ten Einrichtungen unter den frühkindlichen Be-
gute Schulleistungen gezeigt haben, würden wir        treuungseinrichtungen nicht vernachlässigbar ist,
Unterschiede zwischen beiden Gruppen auch             sind diese ebenso wie Schulen stark staatlich sub-
dann erwarten, wenn die weiterführenden Schu-         ventioniert. Zudem liegt der Anteil der Kinder,
len identisch wären. Im Umkehrschluss können          die einen Kindergarten besuchen, trotz fehlender
wir von den beobachteten Mathematikleistungen         Kindergartenpflicht bei über 90 Prozent und da-
der durchschnittlichen Schülerin am Gymnasium         mit sehr hoch.07 Trotz aller bestehenden Engpäs-
nicht auf die zu erwarteten Mathematikleistungen      se im Ausbau ist der Rechtsanspruch auf einen
einer Hauptschülerin schließen, die wir ab mor-       Betreuungsplatz, der inzwischen in Deutschland
gen am Gymnasium einschreiben.                        gilt, eine Anerkennung dieser Entwicklung.
    Statt auf einfache Gruppenvergleiche stützen          Inhaltlich unterscheiden sich frühkindliche
sich wissenschaftliche Studien deshalb auf soge-      Einrichtungen hingegen deutlich von schulischen,
nannte natürliche Experimente, um abzuschät-          die im Regelfall einen deutlich stärkeren Fokus
zen, welche Effekte bestimmte Bildungsmaß-            auf strukturierte Wissensvermittlung legen. Den-
nahmen auf die betroffenen Schülerinnen und           noch ist auch der Erwerb von Fähigkeiten, der
Schüler haben. Als „natürliche Experimente“           in Kindergärten und Kindertagesstätten geför-
werden Situationen beschrieben, in denen betrof-      dert wird, im ökonomischen Sinne als Bildung
fene Schülerinnen und Schüler oder Länder un-         zu verstehen: Das Erlernen neuer Fähigkeiten ist
terschiedlichen Bildungsszenarien ausgesetzt wa-      ein dynamischer Prozess, bei dem bereits erlern-
ren, ohne dass dies in Zusammenhang mit ihrer         tes Wissen die notwendige Grundlage für den Er-
intrinsischen Motivation oder ihren eigenen Cha-      werb von neuen Fähigkeiten ist und das Erlernen
rakteristika steht. Ein natürliches Experiment        dieser erleichtert. Demzufolge sind Investitionen
könnte beispielsweise auf eine Gesetzesänderung       in frühkindliche Bildung besonders wichtig, da
folgen, in der festgelegt wird, wie viele Jahre die   sie nicht nur frühkindliche Fähigkeiten verbes-
Schulpflicht gilt. Da eine solche Änderung für alle   sern können, sondern in direkter Folge auch al-
Schülerinnen und Schüler eines Landes gilt, ließe     les zukünftige Lernen ermöglichen. So kann zum
sich vergleichen, wie sich der durchschnittliche      Beispiel Sprachförderung, wie sie in frühkindli-
Bildungserfolg in der durch die Gesetzesände-         chen Einrichtungen möglich ist, Kindern, die im
rung betroffenen Kohorte von vorhergegangenen         familiären Umfeld wenig Deutsch sprechen oder
Jahrgängen unterscheidet.                             Sprachdefizite haben, helfen, diese aufzuholen,
    Im Folgenden werden Ergebnisse solcher wis-       was ihnen es ihnen nach der Einschulung einfa-
senschaftlichen Studien zusammengefasst, die es       cher macht, im Unterricht zu folgen und weiter-
uns erlauben, die ökonomischen Auswirkungen           führende Inhalte zu erlernen.
von Bildung besser zu verstehen.                          Wissenschaftliche Studien weisen nach, dass
                                                      die Investitionskosten für Programme, die das
           EFFEKTE VON BILDUNG                        frühkindliche Lernen von Kindern fördern,
                                                      durch die verbesserten Chancen der Kinder spä-
Insgesamt zeigt die Forschung, dass gute Bildung      ter im Leben ausgeglichen werden, es sich also aus
einen großen Beitrag dazu leistet, dass Kinder Fä-
higkeiten erwerben, und damit langfristig einen
                                                      07 Dennoch greift hier das Argument, dass eine verpflichtende
positiven Einfluss auf ihr späteres Erwerbsleben      Teilnahme an staatlichen Bildungsangeboten einen wichtigen
und die Wirtschaft allgemein hat.                     Beitrag zur Chancengerechtigkeit leistet: Studien zeigen, dass die
                                                      Inanspruchnahme von frühkindlicher Betreuung bei Kindern aus
              Frühkindlicher Bereich                  sozioökonomisch schlechter gestellten Familien besonders niedrig
                                                      ist, obwohl diese Kinder am meisten von einer solchen Betreuung
Ein wichtiges Ergebnis der bildungsökonomi-
                                                      profitieren könnten. Vgl. Thomas Cornelissen/Christian Dust-
schen Forschung ist, dass Bildung im frühkind-        mann/Anna Raute/Uta Schönberg, Who Benefits from Universal
lichen Bereich besonders erfolgreich sein kann.       Child Care? Estimating Marginal Returns to Early Child Care At-
Organisatorisch und gesellschaftspolitisch wer-       tendance, in: Journal of Political Economy 6/2018, S. 2356–2409.

                                                                                                                     11
APuZ 51/2020

gesellschaftlicher Sicht lohnt, diese zu finanzie-                      Neben den positiven Effekten für die Schü-
ren. Dies zeigt etwa die Evaluation eines Projekts,                lerinnen und Schüler profitiert auch die Gesell-
das in den 1960er Jahren einigen armen Familien                    schaft von einem erfolgreichen Bildungssystem.
mit kleinen Kindern im US-Bundesstaat Michi-                       Die Erwartung, dass ein gutes Bildungssystem ein
gan den Zugang zu intensiverer Betreuung durch                     wichtiger Treiber für wirtschaftlichen Fortschritt
pädagogisches Fachpersonal ermöglichte. Da die                     ist, ist auch in der Allgemeinheit weit verbreitet:
Teilnehmer für das Projekt zufällig ausgewählt                     In einer repräsentativen Befragung der Bevölke-
worden waren, lassen sich die Ergebnisse derer,                    rung in Deutschland stimmen über 90 Prozent
für die eine Teilnahme möglich war, mit denje-                     der Befragten der Aussage sehr oder eher zu, dass
nigen, die nicht teilnehmen durften, vergleichen.                  die Schülerleistungen der heute 15-Jährigen wich-
Die Autoren der Studie kommen zu dem Schluss,                      tig für den zukünftigen wirtschaftlichen Wohl-
dass die Ertragsrate des Projekts bei 7 bis 10 Pro-                stand Deutschlands sind. Diese Intuition wird
zent lag, das heißt, dass die sozialen Gewinne die                 von der bildungsökonomischen Forschung bestä-
Kosten deutlich überstiegen.08 Neuere Forschung                    tigt und quantifiziert. Internationale Studien zei-
zeigt, dass diese positiven Effekte hauptsächlich                  gen, dass Länder, deren Schülerinnen und Schüler
für Kinder gelten, die in einem benachteiligten so-                in Kompetenztests besser abschneiden, ein höhe-
zioökonomischen Umfeld aufwachsen.09                               res Wirtschaftswachstum aufweisen als Länder,
                                                                   die schlechtere Leistungen in Kompetenztests
                   Schulischer Bereich                             erreichen. Dabei entspricht eine Verbesserung
Das Kernelement des Bildungsbereichs ist zweifel-                  der Schülerleistungen um eine Standardabwei-
los das Schulsystem. Die umfangreiche Literatur                    chung – was in etwa dem Kompetenzzuwachs
in der empirischen Bildungsforschung quantifi-                     von drei Schuljahren entspricht12 – im interna-
ziert die Effekte des Schulbesuchs auf die erlernten               tionalen Durchschnitt einem zusätzlichen Wirt-
Fähigkeiten und den späteren Arbeitsmarkterfolg.                   schaftswachstum von zwei Prozentpunkten.13
    Insgesamt zeigt sich, dass jedes Jahr an zusätz-               Hierbei ist herauszuheben, dass die positiven Ef-
licher Bildung im Durchschnitt für den Einzelnen                   fekte nicht davon getrieben sind, wie viele Jah-
ein etwa 10 Prozent höheres Einkommen bedeu-                       re die Schülerinnen und Schüler eines Landes im
tet.10 Diese Einschätzung ist das Ergebnis vieler                  Durchschnitt das Bildungssystem besuchen, son-
Studien, die den Zusammenhang zwischen in der                      dern welches Kompetenzlevel sie in dieser Zeit
Schule erlernten Fähigkeiten und Arbeitsmarkt­                     erreichen. Damit bestätigt sich, dass es für einen
erfolg untersuchen. Die Tatsache, dass die Grö-                    späteren Arbeitsmarkterfolg hauptsächlich um
ßenordnung des geschätzten Effekts unverändert                     die im Unterricht vermittelten Fähigkeiten geht,
bleibt, wenn als Datengrundlage Informationen                      nicht um das Absitzen der Mindestschulzeit.
über die pro Schuljahr erlangten Fähigkeiten in                         Einer der zentralen Faktoren, der die Qua-
Kompetenztests und den Zusammenhang zwi-                           lität des Schulunterrichts maßgeblich beein-
schen diesen Fähigkeiten und dem Erwerbsein-                       flusst, ist die pädagogische und fachliche Eignung
kommen verwendet oder der Effekt direkt über                       der Lehrkräfte. Schülerinnen und Schüler, die
Variation in der Länge des Schulbesuchs berech-                    von einer Lehrkraft unterrichtet werden, deren
net wird, unterstreicht die Verlässlichkeit dieser                 Leistung im unteren Dezil der Verteilung liegt,
Schlussfolgerung.11                                                erreichen später ein deutlich geringeres Lebens-
                                                                   einkommen.14 Offen bleibt dabei, wie das Bil-
08 Vgl. James J. Heckman et al., The Rate of Return to the
High/Scope Perry Preschool Program, in: Journal of Public
Economics 1–2/2010, S. 114–128.                                    12 Diese Rechnung greift auf die gängige Näherung zurück,
09 Vgl. Sneha Elango et al., Early Childhood Education,            dass Schülerinnen und Schüler pro Schuljahr im Durchschnitt
National Bureau of Economic Research, NBER Working Paper           Kompetenzen erwerben, die einem Drittel einer Standardabwei-
21766/2015.                                                        chung in internationalen Kompetenztests entsprechen.
10 Vgl. Morley K. Gunderson/Philip Oreopolous, Returns             13 Vgl. Eric A. Hanushek/Ludger Wößmann, Do Better Schools
to Education in Developed Countries, in: Steve Bradley/Colin       Lead to More Growth? Cognitive Skills, Economic Outcomes, and
Green (Hrsg.), The Economics of Education. A Comprehensive         Causation, in: Journal of Economic Growth 4/2012, S. 267–321.
Overview, London 20202, S. 39–51.                                  14 Vgl. Raj Chetty/John N. Friedman/Jonah E. Rockoff,
11 Vgl. Ludger Wößmann, Folgekosten ausbleibenden Lernens:         Measuring the Impacts of Teachers II: Teacher Value-Added and
Was wir über die Corona-bedingten Schulschließungen aus der        Student Outcomes in Adulthood, in: American Economic Review
Forschung lernen können, in: Ifo Schnelldienst 6/2020, S. 38–44.   9/2014, S. 2633–2679.

12
Schule APuZ

dungssystem gestaltet sein muss, um gute Lehr-                     tiplizieren und daraus den Wert der jeweiligen
kräfte für den Beruf zu gewinnen, auszubilden                      Bildung ableiten. Allerdings würde eine solche
und langfristig zu binden.                                         Argumentation davon ausgehen, dass es für die
    Neben den positiven Effekten auf das durch-                    Betroffenen gleichermaßen akzeptabel ist, wenn
schnittliche Einkommen erhöht gute Bildung                         sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 5 Prozent
auch die Chance, überhaupt ein Erwerbseinkom-                      ein sehr hohes Einkommen von 30 000 Euro pro
men zu verdienen. Statistisch gesehen, lag die Ar-                 Monat verdienen, aber mit einer Wahrscheinlich-
beitslosigkeit für diejenigen, die keinen qualifizie-              keit von 95 Prozent lediglich staatliche Notfall-
renden Abschluss haben, 2015 bei etwa 20 Prozent                   unterstützung von 446 Euro erhalten – oder aber
und damit deutlich über dem Durchschnitt derje-                    mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent ein
nigen, die eine berufliche oder akademische Aus-                   Einkommen von 2000 Euro im Monat und ledig-
bildung abgeschlossen haben.15 Doch auch bei den                   lich mit 5 Prozent Wahrscheinlichkeit eine Zah-
höheren Bildungsabschlüssen gibt es noch deutli-                   lung von 446 Euro. In der Praxis zeigt sich je-
che Unterschiede: Das Risiko einer Arbeitslosig-                   doch, dass Sicherheit für viele Menschen ein Wert
keit unter Akademikern war im Durchschnitt nur                     an sich ist. Wenn das Risiko, von einem Beruf
halb so hoch wie das derjenigen, die eine Lehre als                nicht leben zu können, als belastend empfunden
höchsten Berufsabschluss absolviert haben. Dabei                   wird, können die erlebten Kosten, die durch Ar-
zeigen Studien interessante dynamische Effekte:                    beitslosigkeit entstehen, deutlich über dem einfa-
Während das Arbeitslosigkeitsrisiko bei Akade-                     chen mathematischen Erwartungswert liegen.
mikern zu Beginn des Erwerbslebens noch über                           Gesamtwirtschaftlich, sowohl bei Betrach-
dem der Auszubildenden liegt, kehrt sich dies im                   tung der späteren Einkommen als auch der er-
Laufe des Erwerbslebens um.16 Dieses Phänomen                      warteten Arbeitslosigkeit, zeigt sich, dass Schulen
kann dadurch erklärt werden, dass das deutsche                     die einzigartige Chance bieten, die Fähigkeiten
Ausbildungssystem sehr erfolgreich darin ist, Ab-                  einer jeden Schülergeneration zu entwickeln und
solventinnen und Absolventen die speziellen Fä-                    damit einen entscheidenden Beitrag zum langfris-
higkeiten zu vermitteln, die für den gelernten Be-                 tigen Wohlstand eines Landes zu leisten.
ruf zu diesem Zeitpunkt relevant sind, was den
Berufseinstieg erleichtert. Gleichzeitig haben die-                           AUSNAHMEJAHR 2020:
se zielgerichteten Ausbildungen potenziell den                                    KOSTEN FÜR
Nachteil, dass spezialisiertes Wissen mit der Zeit                            SCHULSCHLIE ẞ UNGEN
obsolet wird, womit der Beschäftigungsvorteil ge-
genüber den oft breiter aufgestellten Akademi-                     Die rasche Ausbreitung des neuartigen Corona-
kern nach und nach verloren geht. Festzuhalten                     Virus und die zur Eindämmung der Pandemie
ist auf jeden Fall, dass das oft beschriebene Phä-                 getroffenen Maßnahmen, wie die großflächigen
nomen des arbeitslosen Akademikers in Deutsch-                     Schließungen der Schulen, haben das Bildungs-
land derzeit nicht weit verbreitet ist. Im Gegenteil,              system vor unerwartete Herausforderungen ge-
statistisch gesehen, sinkt mit guter Bildung auch                  stellt. Nicht zuletzt aufgrund der vielfältigen
die Wahrscheinlichkeit, auf dem Arbeitsmarkt                       Aufgaben, die Schulen und Kindergärten gesamt-
keine Beschäftigung zu finden.                                     gesellschaftlich übernehmen, von der Wissens-
    Zu beachten ist, dass die Kosten einer Ar-                     vermittlung über die Kinderbetreuung bis hin zu
beitslosigkeit höher sind, als der einfache mathe-                 einem wichtigen Frühwarnsystem bei Fragen des
matische Erwartungswert suggeriert. Eine nai-                      Kindeswohls, sind die oft überstürzten, mehrwö-
ve Berechnung des Erwartungswertes würde die                       chigen Schul- und Kitaschließungen bemerkens-
Wahrscheinlichkeit einer Arbeitslosigkeit für                      wert. Die in diesem Beitrag vorgestellten Effekte
Individuen mit einem bestimmten Bildungsab-                        von Bildung lassen vermuten, dass die Nachwe-
schluss mit dem durchschnittlichen Gehalt mul-                     hen dieser disruptiven Phase die betroffenen Ge-
                                                                   nerationen von Schülerinnen und Schülern lang-
                                                                   fristig begleiten dürften.
15 Vgl. Institut für Arbeit und Berufsforschung, Qualifikations-
                                                                       Erste Studien zeigen, dass in der Zeit der
spezifische Arbeitslosenquoten, Nürnberg 2015.
16 Vgl. Eric A. Hanushek et al., General Education, Vocational
                                                                   Schulschließungen für einen Großteil der Schü-
Education, and Labor-Market Outcomes over the Lifecycle, in:       lerinnen und Schüler nur sehr wenig interaktiver
The Journal of Human Resources 1/2017, S. 48–87.                   Ersatzunterricht, etwa über Videotelefoniefor-

                                                                                                                   13
APuZ 51/2020

mate, stattgefunden hat. Stattdessen legten viele    liche Teilhabe. Ein Ausfall der Bildung, wie im
Schulen den Fokus auf Arbeitsblätter und Auf-        vergangenen Schuljahr aufgrund der Pandemie
gaben, die in Selbstarbeit Lerninhalte vermitteln    gesehen, hat potenziell gravierende Auswirkun-
sollten und deren Bearbeitung von den Schülerin-     gen. Besonders zu beachten ist, dass die wahren
nen und Schülern – oder ihren Betreuungsperso-       Kosten von unzureichender Bildung schwer zu
nen – ein hohes Maß an Disziplin und Eigenmo-        beziffern sind, nicht zuletzt deshalb, weil es sich
tivation voraussetzt.                                zum großen Teil um sogenannte Opportunitäts-
     Auf Grundlage der wissenschaftlich ermit-       kosten handelt – Kosten, die dadurch entstehen,
telten Effekte von Bildung kann man für die Si-      dass Chancen nicht genutzt werden. Da die Fol-
tuation der Schulschließungen größenordnungs-        gen von Entscheidungen, die nicht getroffen wur-
mäßig abschätzen, welche Auswirkungen der            den, niemals direkt beobachtet werden können,
Ausfall des Schulunterrichts haben könnte. Da-       werden diese Kosten oft unterschätzt. Aber sie
bei ist zu beachten, dass die zur Verfügung ste-     sind sowohl für den Einzelnen als auch die Ge-
henden Zahlen notwendigerweise aus Studien           meinschaft hoch.
stammen, die Ereignisse der Vergangenheit eva-
luieren – die Vorhersage der Effekte in einer neu-
artigen Situation wie der Corona-Pandemie kann       KATHARINA WERNER
daher immer nur eine erste Näherung sein. Neh-       ist promovierte Ökonomin und wissenschaftliche
men wir jedoch die bereits erwähnte Erkenntnis,      Mitarbeiterin am Ifo Zentrum für für Bildungs­
dass ein Schuljahr im Bildungssystem das Ein-        ökonomik.
kommen um etwa 10 Prozent erhöht, dann ergibt        werner.k@ifo.de
sich aus den Schulschließungen für das Jahr 2020
ein errechneter Schaden von 3 bis 4 Prozent des
­Einkommens.17
     In der Zeit der Pandemie waren in vielen Be-
reichen einschneidende Veränderungen des wirt-
schaftlichen Lebens notwendig. Doch auch wenn
Präsenzunterricht aufgrund des Infektionsrisikos
nicht möglich ist, zeigen erste Erkenntnisse, dass
andere Ländern sehr viel erfolgreicher dabei wa-
ren, Lernen durch digitale Formate zu ermögli-
chen. Genau wie die Erfolge der beschriebenen
frühkindlichen Intervention in Michigan erst in
vollem Umfang offensichtlich wurden, als die be-
troffenen Kinder Jahrzehnte später das mittle-
re Lebensalter erreicht hatten, werden die Fol-
gen der aktuellen Bildungspolitik für Jahrzehnte
nachwirken. Daher ist es bei der Gestaltung der
Krisenpolitik besonders wichtig, dass die Kos-
ten ausbleibender Bildung bei politischen Über-
legungen ausreichend berücksichtigt werden,
um die nächste Generation und damit die deut-
sche Gesellschaft insgesamt gut für die Zukunft
 ­aufzustellen.

                      SCHLUSS

Ein gutes Schulsystem erhöht die Fähigkeiten der
Bevölkerung, erhält damit die Leistungsfähig-
keit der Wirtschaft und ermöglicht gesellschaft-

17 Vgl. Wößmann (Anm. 11).

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