Demokratiebildung Meinungsfreiheit und Demokratie verteidigen

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Demokratiebildung Meinungsfreiheit und Demokratie verteidigen
17. Mai 2019 | 73. Jahrgang | 4 Euro                                              Ausgabe 05 / 2019

bildung und wissenschaft –
Zeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Baden-Württemberg

Demokratiebildung
Meinungsfreiheit und Demokratie verteidigen

Arbeitnehmer / innen                   Prävention              Hochschulen
Mehr Wertschätzung von der             Schutzkonzepte          Was Personalräte
Landesregierung erwartet               müssen alle mittragen   bewirken können
Demokratiebildung Meinungsfreiheit und Demokratie verteidigen
Vorteile für
                                                                                           GEW-Mitglieder!

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vom Sieger                                                                                                                                Vorteile für

für Gewinner
                                                                                                                                        GEW-Mitglieder:

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                                                                                                                                        Startguthaben
                                                                                                                                    • Kostenfreie BBBank
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1
    Voraussetzungen: Girokonto mit Gehalts-/Bezügeeingang, Online-Überweisungen; Genossenschaftsanteil von 15,– Euro/Mitglied.
2
    Voraussetzung: Girokonto; Genossenschaftsanteil von 15,– Euro/Mitglied.
3
    Nur Hauptkarte, Voraussetzung: GEW-Mitgliedschaft; alternativ auch Mastercard® Classic mit gleichen Leistungen möglich.
Demokratiebildung Meinungsfreiheit und Demokratie verteidigen
Editorial

                                                                Doro Moritz,
                                                                Landesvorsitzende GEW
                                                                Baden-Württemberg

                   Foto: GEW BW

                                  Europa- und Kommunalwahlen –
                                  Demokratie stärken!
                                  Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Leserin, lieber Leser,

                                  im Mai sind nicht nur Personalratswahlen. Am         und Regierungsbeteiligungen von rechtspo-
                                  26. Mai sind wir zur Wahl des Europaparlaments       pulistischen Parteien in Italien, Ungarn, Polen,
                                  und der kommunalen Parlamente aufgerufen.            Österreich, das Jahr des Brexit. Wir müssen uns
                                  Es ist für die GEW nicht egal, wie es mit Europa     gemeinsam mit Rechtspopulismus und extre-
                                  weitergeht und wie die europäische Wirtschafts-,     men Rechten auseinandersetzen – im persönli-
                                  Sozial-, Friedens- und Migrationspolitik gestaltet   chen Umfeld, am Arbeitsplatz, in Baden-Würt-
                                  wird. Europa betrifft die beruflichen, wirtschaft-   temberg und in Europa.
                                  lichen, sozialen und rechtlichen Interessen der      Wir wollen verhindern, dass die Anti-Europäer
                                  GEW-Mitglieder. Deshalb wollen wir Politik mitge-    oder die Rechtspopulisten im Europäischen Par-
                                  stalten. Das ist unser gewerkschaftlicher Auftrag.   lament das Sagen haben. Sie dürfen nicht so
                                  Diese Wahl betrifft uns alle – die Beschäftigten     stark werden, dass sie das Parlament regelmä-
                                  und die Gesellschaft als Ganze. Auch wenn wir        ßig blockieren können. Deswegen rufe ich alle
                                  nicht mit allem in der EU zufrieden sind: Euro-      Kolleginnen und Kollegen auf: Gehen Sie zur
                                  pa ist die Antwort auf viele Herausforderungen       Wahl und stärken Sie mit Ihrer Stimme die euro-
                                  der heutigen Zeit. Globalisierung, Klimawandel,      päische Demokratie.
                                  Friedenssicherung und Digitalisierung machen         Für mich ist das Wahlrecht auch Wahlpflicht für
                                  an keiner Staatsgrenze halt. Kein Staat kann das     Demokratinnen und Demokraten. Das gilt erst
                                  alleine für sich regeln.                             recht für Pädagoginnen und Pädagogen, die
                                  Lange Zeit standen in der EU nicht die Rechte der    junge Menschen auf ein Leben in gesellschaftli-
                                  Beschäftigten im Vordergrund. Aber allmählich        cher Teilhabe, Toleranz und Verantwortung vor-
                                  wächst das Bewusstsein, dass soziale Fragen die      bereiten. Die Diskussion über den Brexit macht
                                  zentrale Rolle spielen, um Europa zusammenzu-        deutlich, welche negativen Folgen eine „Denk-
                                  halten. Die europäische Einigung wurde bisher        zettel-Wahl“ aus einer diffusen oder tatsächli-
                                  oft zu stark auf die wirtschaftlichen Freiheiten     chen Unzufriedenheit heraus haben kann.
                                  anstatt an sozialen Rechten und den Interessen       Am 26. Mai finden auch Kommunalwahlen statt.
                                  der Menschen ausgerichtet. Die Gewerkschaften        Sie sind sehr wichtig. Bildung und Betreuung
                                  des DGB engagieren sich seit Jahrzehnten für         werden in hohem Maße von den Kommunen
                                  ein soziales, solidarischeres und gerechtes Euro-    und Landkreisen gestaltet. Über die Ausstattung
                                  pa und hatten dem 1. Mai das Motto gegeben:          der Schulen, die Schülerbeförderung, Kitage-
                                  Europa, jetzt aber richtig! Steuergerechtigkeit,     bühren oder Betreuungskonzepte an Schulen
                                  Finanztransaktionsteuer, Regeln für den inter-       und Kindertageseinrichtungen entscheiden die
                                  nationalen Handel, Regeln für faire Arbeit und       Gemeinde- und Kreisräte.
                                  gegen Lohndumping, für Arbeitsschutz, für            Beteiligen Sie sich bitte an den Europa- und
                                  soziale Sicherheit, für Umwelt- und Verbraucher-     Kommunalwahlen. Nutzen Sie Ihr gutes Recht!
                                  schutz – das sind unsere gewerkschaftlichen
                                  Ziele für Europa.                                    Mit freundlichem Gruß
                                  Europa ist in einer außergewöhnlichen Situa-         Ihre
                                  tion: Grenzkontrollen, Schließung der Mittel-
                                  meerhäfen, teilweise eine hohe Arbeitslosigkeit
                                  (insbesondere von Jugendlichen), Wahlerfolge

bildung & wissenschaft 05 / 2019                                                                                                                 3
Demokratiebildung Meinungsfreiheit und Demokratie verteidigen
8   Schöner Beruf
                                                      schwer gemacht   26     Bei Ankündigungen
                                                                              ist die Kultusministerin gut

                                                                       32      Ist das Konsulatsmodell
                                                                               doch das falsche Konzept?

    S.12 Titelthema
    Demokratiebildung
    Meinungsfreiheit und Demokratie verteidigen

                                der Einfalt
                                                           ist g
                                                                                     !!!
         lfalt
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    4                                                                  bildung & wissenschaft 05 / 2019
Demokratiebildung Meinungsfreiheit und Demokratie verteidigen
Inhalt

                                                 In dieser Ausgabe

                                                 Titelthema                                 Aus der Arbeit der GEW

                                                 Demokratiebildung                           8 GEW-Umfrage zur Arbeitszufriedenheit:
                                                 12 Mehr als Gemeinschaftskunde                Schöner Beruf schwer gemacht, Teil II
                                                 17 Demokratie muss                         24 Arbeitnehmer/innentag 2019:
                                                    im Alltag erlebbar bleiben                 Mehr Wertschätzung von der
                                                 20 Im Zeitalter                               Landesregierung erwartet
                                                    digitaler Meldeplattformen              26 Schulleitungstagung der GEW:
                                                 22 Was die Menschen verbindet                 Bei Ankündigungen
                                                                                               ist die Kultusministerin gut
                                                                                            34 Personalratsarbeit:
                                                 Arbeitsplatz Schule /                         „Faul, fauler Müller“
                                                 Kindertageseinrichtung                     36 GEW Südbaden im Gespräch
                                                                                               mit dem Schulpräsidenten:
                                                 25 Landtagsanfrage:                           Wort gehalten
                                                    Situation der Fachlehrkräfte            37 Tagung zur Digitalisierung:
                                                    und Technischen Lehrkräfte verbessern      „Die Technik spielt nur die zweite Geige“
                                                 30 Prävention sexualisierter Gewalt:
                                                    Schutzkonzepte müssen alle mittragen
                                                 32 Herkunftssprachlicher Unterricht:       Rubriken
                                                    Ist das Konsulatsmodell
                                                    doch das falsche Konzept?                3   Editorial
                                                                                             6   Aktuell
                                                                                             7   Glosse
                                                 Aus-, Fort- und Weiterbildung              35   Kurz berichtet
                                                 Hochschule                                 38   Vor Ort
                                                                                            41   Jubilare
                                                 28 Personalratswahlen:                     43   Totentafel
                                                    Was Personalräte an Hochschulen         46   Impressum
                                                    bewirken können                         46   Termine

                                                                                            Heftmitte: Unterrichtspraxis
Foto: Rawpixel / iStock

                                                                                            Titelbild: Rawpixel / iStock

                                                                                            Redaktionsschluss für die nächste b&w Ausgabe:
                                                                                            13. Mai 2019

                          bildung & wissenschaft 05 / 2019                                                                                       5
Demokratiebildung Meinungsfreiheit und Demokratie verteidigen
Aktuell

AUFRUF ZUR GROSSDEMO AM 19. MAI

Ein Europa für alle: Deine Stimme gegen Nationalismus!
                                                                                                               staat und unabhängige Gerichte angegrif­
                                                                                                               fen, Menschen­ und Freiheitsrechte ein­
                                                                                                               geschränkt und das Asylrecht abgeschafft
                                                                                                               werden sollen. Deshalb geht am 26. Mai
                                                                                                               wählen – tretet ein gegen Nationalismus
                                                                                                               und Rassismus: Für ein demokratisches,
                                                                                                               friedliches und solidarisches Europa!
                                                                                                               Am Sonntag, 19. Mai 2019 gehen europa­
                                                                                                               weit zehntausende Menschen gleichzeitig
                                                                                                               auf die Straße! Für die Zukunft Europas,
                                                                                                               gegen Nationalismus!
                                                                                                               Sei dabei! In Stuttgart beginnt die Auftakt­
                                                                                                               kundgebung um 13 Uhr auf dem Arnulf­
                                                                                                               Klett­Platz vor dem Hauptbahnhof.
                                                                                                                                                          b&w

Die Europawahl am 26. Mai 2019 entschei­      Großdemonstrationen in sieben Städten
det über die Zukunft der Europäischen         Deutschlands. Stuttgart ist dabei.
Union. Nationalisten und Rechtsextre­         Wir halten dagegen, wenn Menschenver­
                                                                                                                                Weitere Informationen:
me wollen das Ende der EU einläuten           achtung und Rassismus gesellschaftsfähig                                          www.ein-europa-fuer-
und Nationalismus wieder groß schrei­         gemacht, Hass und Ressentiments gegen                                             alle.de
ben. Ein Bündnis aus mehr als 60 Orga­        Flüchtlinge und Minderheiten geschürt
nisationen und Initiativen organisiert        werden. Wir lassen nicht zu, wenn Rechts­

TAG DER ARBEIT

Mai-Kundgebungen
An den diesjährigen Mai­Kundgebun­
gen des DGB haben sich landesweit
28.600 Menschen beteiligt. Der DGB und
seine Mitgliedsgewerkschaften hatten in
Baden­Württemberg 53 Veranstaltungen
                                                                                           Foto: Helmut Roos

zum Tag der Arbeit ausgerichtet. Bundes­
weit sind 381.500 Teilnehmende für gute
Arbeit und ein soziales Europa auf die
Straße gegangen. Der 1. Mai stand unter       Michael Futterer sprach in Mannheim.
dem Motto „Europa. Jetzt aber richtig!“
Festredner auf der Abschlusskundgebung
                                                                                                                                                                   Foto: Thomas Steinebrunner, DGB Freiburg

in Mannheim war der stellvertretende          Die GEW­Vorsitzende Doro Moritz war
GEW­Vorsitzende Michael Futterer. Er          Hauptrednerin auf der Kundgebung in
warnte vor wachsender Ungleichheit.           Freiburg. Sie erinnerte daran, dass der
„Obwohl die Wirtschaft boomt und die          Bund der Gewerkschaften 70 Jahre alt
Staatsfinanzen solide sind wie lange nicht    wird. „Die Gewerkschaften haben einen
mehr, klafft die Schere zwischen Arm und      maßgeblichen Beitrag dazu geleistet,
Reich weiter auseinander. Viele Menschen      unser Land sozialer, menschlicher und
machen sich Sorgen um ihre Zukunft,           damit lebenswerter zu machen. Wir haben
ihre Alterssicherung und die Chancen          unsere Gesellschaft demokratischer und                           Doro Moritz redete in Freiburg.
ihrer Kinder. Und auch die Digitalisierung    gerechter gestaltet und Deutschland wie­
schafft neue Unsicherheiten. Wir brauchen     der zu einem geachteten Teil der Völkerge­
eine Politik für mehr soziale Gerechtigkeit   meinschaft gemacht, der sich dem verein­                         der Menschenrechte“, sagte Moritz. Rund
– eine Politik für Arbeitnehmerinnen und      ten Europa und dem Frieden in der Welt                           2.000 Menschen applaudierten.
Arbeitnehmer“, sagte der Gewerkschafter.      ebenso verpflichtet fühlt wie der Achtung                                                                   b&w

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Demokratiebildung Meinungsfreiheit und Demokratie verteidigen
Aktuell

GESUNDHEIT SFÖRDERUNG, ARBEIT SMEDIZIN, SICHERHEIT STECHNIK

Betreuung der Lehrkräfte durch den Betriebsärztlichen Dienst B.A.D.
Seit Anfang 2019 ist das überarbeitete             Beratungstermin zur Vorsorge bei Bild­      tung oder krankmachende Arbeitsbe­
Webportal „Sicher gesund“ des B.A.D.               schirmarbeit und zu einer Bildschirm­       dingungen nicht. Vielmehr muss der
online. Lehrkräfte sowie Schulleiter/              arbeitsplatzbrille vereinbart werden.       Arbeits­ und Gesundheitsschutz weiter­
innen finden dort Informationen und              • FAQs zur Bildschirmarbeitsplatzbrille       entwickelt und ein betriebliches Gesund­
Formulare zur Kontaktaufnahme. Hier                findet man mit dem Reiter „Vorsorge“.       heitsmanagement eingeführt werden.
einige Beispiele:                                • Über den Reiter „ASA­Sitzungen“ kön­                                      Georgia Kolb
• Schwangere Lehrerinnen können sich               nen Schulleiter/innen mit dem B.A.D.
  über Fragen des Mutterschutzes infor­            einen Termin für ihre ASA­Sitzung
  mieren und bei Bedarf einen Mutter­              vereinbaren.
  schutzvorsorgetermin bei der oder dem          • Unter dem Stichwort Gesundheitsför­
  zuständigen Betriebsärzt/in vereinbaren.         derung gibt es allgemeine Informatio­
• Unter der Rubrik „Arbeitsmedizin“ ste­           nen zum Umgang mit Belastungen und                          Das Webportal ist
  hen Informationen und ein Kontakt­               Schulungsangebote.                                          unter folgendem Link
                                                                                                               zu erreichen:
  formular für individuelle betriebsärzt­        Die B.A.D.­Homepage löst allerdings
                                                                                                               www.sicher-gesund
  liche Beratung zur Verfügung. Über             die vielfältigen Probleme wie Lärm und                        -schule-bw.de/
  diesen Weg kann z. B. ein individueller        Frustration über die hohe Arbeitsbelas­

  Glosse         Sprechende Gegenstände

  Mein Vater war gesegnet mit einem fei-         philosophiert, ob das eventuell eine alter-   weiter sind. Denn Schönheit liegt im Auge
  nen Humor. Das war sein Glück, denn ich        native Form der Ordnung sein könnte.          des Betrachters, das weiß man ja. Ein
  wüsste nicht, wie er sonst unbeschadet         Diesen Vorschlag brachte ich als Jugend-      Klassenzimmer mit verstreuten Papier-
  meine Kindheit und Jugend überstanden          licher einmal bei meiner Mutter an. Sie       schnipseln auf dem Boden, verschobenen
  hätte. Ordnung war ein stetes Konflikt-        lachte laut und sagte: „Kerle, des isch koi   Tischen, verschmierter Tafel, Brotkrümeln
  feld zwischen mir und meiner Mutter.           Alternative, des isch a elendige Saurei!“     auf den Tischen und umgeworfenen Stüh-
  Und als die Dinge wieder einmal eska-          Jetzt bin ich Lehrer. Und ich gestehe: Mein   len sagt zu den Kindern wahrscheinlich:
  lierten, da erklärte mein Vater mir Fol-       Vater hatte Recht. Die Gegenstände spre-      „Seht! Ich bin ein Kunstwerk, als hätte
  gendes: „Wenn ein Gegenstand auf dem           chen. Man muss nur genau hinhören. In         Joseph Beuys mich erschaffen, ich sym-
  Boden liegt, und wenn klar ist, er gehört      allen Lehrkräftezimmern, die ich in meinen    bolisiere den lebendigen Prozess des Wer-
  dort nicht hin, dann spricht er zu dir.“ Ich   bisherigen Schulen kennengelernt habe,        dens und Vergehens!“ Eine Performance
  verdrehte die Augen. „Normalerweise            gibt es diese herrenlosen Papier- und         ist so ein verwüstetes Klassenzimmer auf
  sagt der Gegenstand: Bitte räume mich          Bücherstapel, die merkwürdigerweise von       jeden Fall.
  an meinen Platz, dort gehöre ich hin!“         Ort zu Ort zu wandern scheinen. Wenn          Als Pädagoge ist meine Aufgabe dann,
  Ich verdrehte nochmal die Augen. „Aber         man genau hinhört, rufen sie mit dün-         die Kunst aufzuräumen, so wie es Ursus
  du hörst den Gegenständen nicht richtig        nem Stimmchen: „Ich bin eine nomadi-          Wehrli in seinen schönen Büchern macht.
  zu, lieber Jens, du hörst nämlich: Hallo,      sche Lehrkräftezimmer-Papierdüne, schieb                                 Jens Buchholz
  ich bin ein Gegenstand, ich liege jetzt        mich an deinen Nachbarplatz, denn wan-
  hier, also gewöhn dich schon mal dran,         dern ist meine Bestimmung!“
                                                                                                                                           Foto: www.kunstaufraeumen.ch/de/presse

  denn das ist jetzt mein Platz!“ Meine          In den Klassenzimmern dagegen ist es
  Schwester lachte laut. Ich verdrehte wie-      anders. Aufgeräumte Klassenzimmer sind
  der die Augen. Klar lachte sie laut. Meine     auf jeden Fall ein herrlicher Anblick. Sie
  Schwester war derart ordentlich, dass          strahlen die Lehrkraft an und sagen mit
  man es nicht aushalten konnte.                 fester Stimme: „Genieße meine Schönheit,
  Komischerweise hat sich das mit den            denn meine Ordnung ist die Ordnung im
  rufenden Gegenständen, an die ich mich         Kopf deiner Schüler/innen.“
  gewöhnen soll, tief in meinem Gehirn           Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht,
  festgesetzt. Lange habe ich darüber            dass die Schüler/innen oft einen Schritt

bildung & wissenschaft 05 / 2019                                                                                                                              7
Demokratiebildung Meinungsfreiheit und Demokratie verteidigen
Aus der Arbeit der GEW

GE W-UMFR AGE ZUR ARBEIT SZUFRIEDENHEIT AN SCHULEN

Schöner Beruf schwer gemacht, Teil II
„Geht’s Ihnen gut an der Schule?“ fragte die GEW im Februar ihre Mitglieder. 5.700 Lehrkräfte haben
die Online-Fragen beantwortet. Die allgemeinen Ergebnisse hat die b&w in der Aprilausgabe (S. 10)
vorgestellt. Wie Lehrkräfte ihre Schulleitungen sehen und was ihnen an den einzelnen Schularten zu
schaffen macht, zeigen wir in diesem Teil.

Im ersten Bericht zu dieser Befragung            Realschulen. Bei beruflichen Schulen             allem ist meine Arbeit zufriedenstellend)
wurde deutlich, dass die Arbeit als Lehr­        und Gymnasien ist die Zustimmung am              Mit den Beschreibungen „frustrierend“
kraft häufig positiv bewertet wurde.             höchsten.                                        und „niemandem zu wünschen“ konn­
72 Prozent aller Befragten stimmten der          Schon deutlich geringer ist die Zustim­          ten zwei negative Aussagen ausgewählt
Aussage „völlig“ oder „ziemlich“ zu, dass        mung bei der Frage, ob die Arbeit alles in       werden. Zwischen 14 Prozent (Gymnasi­
ihre Arbeit sinnstiftend sei. Über alle          allem „zufriedenstellend“ sei. Ein Viertel       en) und 38 Prozent (Gemeinschaftsschu­
Schularten hinweg überwiegen die posi­           der Lehrkräfte an Gemeinschaftsschulen           len) liegt die Bandbreite derjenigen, die
tiven Aussagen. (Siehe Abbildung 1). Es          lehnen diese Aussage ab. Bei Befragten           dieser Beschreibung völlig oder ziem­
gibt aber auch augenfällige Unterschiede.        aus Haupt­/Werkrealschulen und Real­             lich zustimmen, zwischen 22 Prozent
An den Gemeinschaftsschulen ist der              schulen ist der Anteil derjenigen, die           (Haupt­/Werkrealschulen) und 42 Pro­
Anteil der positiv gestimmten Lehrkräf­          ihre Arbeit zufriedenstellend finden,            zent liegen die Werte, die die Beschrei­
te am geringsten (57 Prozent), dicht             nur etwas mehr als halb so groß wie an           bung ablehnen. Die sehr harte Aussage,
gefolgt von Haupt­/Werkrealschulen und           Gymnasien. (Siehe Abbildung 2: Alles in          dass die Arbeit niemandem zu wünschen

                                                                                                                                                     Foto: Marco Stritzinger

Matthias Schneider (GEW-Pressesprecher) und Doro Moritz stellten Ende April die Ergebnisse der GEW-Umfrage der Landespresse vor.

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Demokratiebildung Meinungsfreiheit und Demokratie verteidigen
Aus der Arbeit der GEW

                                                                               Meine Arbeit ist alles in allem sinnstiftend

                                                       alle Befragten                                          71                                                          23                     6

                                                    Berufliche Schule                                               77                                                          19                5

                                                 Gemeinschaftsschule                                 57                                                     33                               10

                                                         Gymnasium                                                       80                                                           18              2

                                                        Realschule                                        62                                                     28                          10

                                               Haupt-/Werkrealschule                                   61                                                    29                              10

                                                          SBBZ                                                      76                                                          20                5

                                                       Grundschule
sei, wird noch deutlicher abgelehnt. Wie­                                                                           77                                                           19                   4

der sind es die Kolleg/innen an berufli­                                0%    10%        20%          30%            40%      50%         60%         70%             80%             90%             100%
chen Schulen und den Gymnasien, die                                                                  Zustimmung                teil�eise Zus�mmung                         Ablehnung
diese negative Wertung nicht teilen (84
und 80 Prozent). Alles in allem ist unver­     Abbildung 1: Alles in allem ist meine Arbeit sinnstiftend.
kennbar, dass Gemeinschafts­, Haupt­/
Werkreal­ und Realschulen ihre Arbeit
schlechter bewerten als SBBZ, berufliche                                     Meine Arbeit ist alles in allem zufriedenstellend
Schulen und Gymnasien.
                                                    Berufliche Schule                                58                                                     32                               10

Vertrauenswürdige Schulleitungen
Personalrät/innen haben häufig damit             Gemeinschaftsschule                33                                              42                                               25

zu tun, Konflikte mit Kolleg/innen und
Schulleitungen zu schlichten. Vor diesem                 Gymnasium                                        64                                                          30                          6
Hintergrund hat uns das positive Bild, das
die meisten Lehrkräfte über alle Schularten             Realschule                       39                                              39                                          22
hinweg über ihre Schulleitungen ankreuz­
ten, überrascht. Die Zuschreibungen ver­
                                               Haupt-/Werkrealschule                34                                               45                                               22
trauenswürdig, gerecht, rücksichtsvoll, fair
und kompetent wurden im Schnitt aller
                                                          SBBZ                                  50                                                    38                                    12
Befragten von deutlich über der Hälfte
positiv gewertet. Im Vergleich der Schul­
arten herrscht bei den Grundschulen das                Grundschule                             47                                               40                                          14

positivste Bild. Dort sagen 70 Prozent,
                                                                        0%    10%        20%          30%            40%      50%         60%         70%             80%             90%             100%
meine Schulleitung ist vertrauenswürdig,                                                             Zustimmung                teilweise Zustimmung                        Ablehnung
an den beruflichen Schulen ist der Wert
mit 57 Prozent am niedrigsten.                 Abbildung 2: Alles in allem ist meine Arbeit zufriedenstellend.
Noch besser schneidet in der Bewertung
das Kollegium ab. Hier werden in allen
Schularten Bestwerte erzielt.

Unterrichtsfaktoren
und Arbeitszufriedenheit
Das größte Problem für den Unterricht
aller Schularten ist die Leistungsband­
breite der Schüler/innen, dicht gefolgt
von Disziplinschwierigkeiten.
Die Kolleg/innen an Realschulen weisen
hier die mit Abstand höchsten Problem­
werte auf. Für Gymnasien, SBBZ und für
Grundschulen sind die Werte – relativ
zu den anderen Schularten – unter dem

bildung & wissenschaft 05 / 2019                                                                                                                                                                      9
Demokratiebildung Meinungsfreiheit und Demokratie verteidigen
Aus der Arbeit der GEW

                                                                                            nterrichtsfakt r - eistungsbandbreite

                                                     alle Befragten    1      10                            30                                       34                                 24

                                                  Berufliche Schule 1         9                        29                                           38                                   23

                                               Gemeinschaftsschule     2          11                        26                                  34                                      27

                                                       Gymnasium 1            9                                   40                                             35                               15

                                                      Realschule      1 5                   21                                      38                                             35

                                           Haupt-/Werkrealschule 1            8                        29                                      35                                       26

                                                        SBBZ              3            19                                   31                                 25                        21

                                                     Grundschule      1       10                             33                                           34                                 22

                                                                      0%           10%           20%             30%         40%         50%          60%           70%        80%           90%       100%
                                                                       nie         selten        ab und zu         h ufig        meistens / immer         wei nicht / trifft nicht zu

                                                Abbildung 3: Unterrichtsfaktor Leistungsbandbreite

Durchschnitt (siehe Abbildung 3). Deut­           dass dies für sie nie oder selten zutrifft.                                       Grundschulen 33, berufliche Schulen 43,
lich ist, nahezu alle Beschäftigten brauchen      Die Gruppe der immer oder häufig                                                  Gemeinschaftsschulen 47.
mehr Unterstützung, weil die Schülerzu­           fachfremd Unterrichtenden ist an den                                              Was überall ein Problem ist, wenn auch
sammensetzung so heterogen ist. Aller­            Gemeinschaftsschulen mit 27 Prozent                                               aus unterschiedlichen Gründen, ist der
dings ist die Heterogenität an den jeweili­       am größten.                                                                       Zeitmangel. Abbildung 4 macht sehr
gen Schularten ganz unterschiedlich. Dies         Fazit zum Thema „Unterricht“: Einen                                               klar, dass „Zeit für mehr Zeit“ das Gebot
zeigen die Antworten auf die Frage nach           guten Unterricht, der Schüler/innen för­                                          der Stunde ist – für alle Schularten. Dies
dem Unterrichtsfaktor „Sprachprobleme“.           dert und auch zu guten Leistungen führt,                                          wird verstärkt durch die Befragten, bei
An den Haupt­ und Werkrealschu­                   kann nur erreicht werden, wenn die                                                denen die Arbeitszeit nie oder selten
len ist das Problem der unzureichen­              jeweilige Problemlagen genau betrachtet                                           ausreicht, um ihre Arbeitsaufgaben gut
den Sprachkenntnisse enorm, an den                und die Lösungen und Unterstützung                                                bewältigen zu können. An Grund­ und
Gymnasien spielt es eine sehr geringe             darauf abgestimmt werden. Die Schulart                                            Gemeinschaftsschulen ist der Anteil
Rolle. Kolleg/innen, die nur an Haupt­            muss dabei als ein gewichtiges Kriterium                                          der Kolleg/innen, denen ihre Arbeits­
und Werkrealschulen arbeiten, sagen               herangezogen und bei der Ressourcen­                                              zeit ausreicht, am geringsten (siehe
zu 30 Prozent (!), dass die Sprachpro­            zuweisung berücksichtigt werden.                                                  Abbildung 5). Ursache dafür ist unter
bleme immer oder meistens ein Prob­               Dass Faktoren, die den Unterricht                                                 anderem die Zunahme der außerunter­
lem darstellen. An Grundschulen sagen             erschweren, auch negativ auf die Arbeits­                                         richtlichen Tätigkeiten, die in den letz­
das 13 Prozent der Lehrkräfte, an SBBZ            zufriedenheit wirken, ist naheliegend.                                            ten Jahren deutlich zugenommen hat.
12 und berufliche Schulen 11 Prozent.             So beeinträchtigen fehlende Lernvor­                                              70 Prozent der Befragten aus Realschu­
Wenig überraschend ist der Wert in                aussetzungen und ein schwieriges Ver­                                             len und 73 Prozent aus Gemeinschafts­
Gymnasien mit 3 Prozent am niedrigsten.           halten der Schüler/innen die Arbeitszu­                                           schulen und 68 Prozent aus den Grund­
Mit der Qualitätsdebatte der letzten              friedenheit. Das gilt über alle Schularten                                        schulen sehen das so.
Monate hat die GEW das Thema „fach­               hinweg. Den höchsten Wert erreichen                                               Was tun, um Entlastung für die Beschäf­
fremder Unterricht“ problematisiert.              Haupt­/Werkrealschulen und Realschu­                                              tigten und damit gute Arbeit zu ermög­
Und auch hier zeigen die Ergebnisse,              len. Dort geben 51 Prozent bzw. 59 Pro­                                           lichen? Bei Befragten aller Schularten
dass das Qualitätskriterium unterschied­          zent der Lehrkräfte an, dass fehlende                                             waren die kleineren Klassen die am
lich relevant ist. An Gymnasien und               Lernvoraussetzungen ihre Arbeitszu­                                               häufigsten gewählte Maßnahme. 80 Pro­
beruflichen Schulen ist das fachfremde            friedenheit stark/sehr stark beeinträch­                                          zent der Realschullehrkräfte sahen dies
Unterrichten nur für wenige ein Prob­             tigen. Den niedrigste Wert (21 Prozent)                                           als entscheidend. Auch die Anrechnung
lem. An Realschulen sagen 65 Prozent,             weisen SBBZ aus, Gymnasien 24 Prozent,                                            von außerunterrichtlichen Tätigkeiten

10                                                                                                                                                             bildung & wissenschaft 05 / 2019
Aus der Arbeit der GEW

                              Beeintr chtigung der Arbeits ufriedenheit Zeitmangel

        alle Befragten                      45                                                        36                                    14                  4

     Berufliche Schule                 38                                                  36                                         19                    6

  Gemeinschaftsschule                             51                                                           33                                13                 3

          Gymnasium                          46                                                        37                                       13              4

         Realschule                               52                                                           32                                12             3

Haupt-/Werkrealschule                        47                                                        35                                       14              4

           SBBZ                        38                                                36                                        18                      7

        Grundschule                          46                                                        37                                       14              3

                         0%     10%    20%             30%       40%             50%            60%             70%             80%             90%              100%

                                       sehr stark      stark   mittelm    ig      gering        gar nicht

Abbildung 4: Zeitmangel und Arbeitszufriedenheit

erzielt hohe Zustimmungswerte, eben­
so der Wunsch nach weniger oder/und                                                                                                         ertragliche Arbeitszeit
effektiveren Sitzungen. Für Gemein­
schaftsschulen wäre eine Verstärkung                                              alle Befragten       2             12                         24                                              41                                      22

der sonderpädagogischen Unterstützung
                                                                               Berufliche Schule
wichtig,                                                                                                   4              13                          25                                                  40                                 17

Diese Faktoren und auch die in den offe­
                                                                         Gemeinschaftsschule 1                  9                     20                                              43                                           27
nen Fragen häufig genannte Reduzie­
rung des Deputats zeigt: Die Investiti­                                             Gymnasium          2             11                         26                                              38                                      23
onen in Zeit für Schule und Unterricht
sind der Schlüssel für Verbesserungen                                              Realschule          2            10                     23                                              42                                          23
im Bildungssystem. Bessere Qualität
und bessere Arbeitsbedingungen gehen                               Haupt-/Werkrealschule               2             12                          27                                                  40                                  19
Hand in Hand und hier gilt es, anzuset­
zen. Eine Handreichung ist dazu nicht                                                  SBBZ                4               18                               24                                             38                                17

erforderlich.
                                 Ute Kratzmeier                                  Grundschule           2            10                     24                                              42                                           23

           GEW-Referentin für allgemeine Bildung
                                                                                                      0%                 10%      20%                 30%               40%      50%             60%            70%        80%          90%       100%
                                                                                                   reicht aus              reicht meistens aus                 reicht teilweise aus        reicht selten aus          reicht nie aus

                                                                   Abbildung 5: Die vertragliche Arbeitszeit reicht aus.

                         Weitere Informationen:
                         www.gew-bw.de/
                         umfrage-arbeitszeit

bildung & wissenschaft 05 / 2019                                                                                                                                                                                                                  11
Titelthema

             bildung & wissenschaft 05 / 2019
Titelthema

                                                                                   DEMOKR ATIEBILDUNG

                                                                 Mehr als
                                                            Gemeinschaftskunde
                               Demokratie lernen und erfahren ist eine Querschnittsaufgabe für alle Lehrkräfte. Sie ist zu wichtig,
                                 als dass sie nur in der Verantwortung der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer liegen kann.
                               Die Vorgaben der KMK, der Beutelsbacher Konsens und die neuen Bildungspläne bilden den Rahmen.

                               Nicht nur historische Erfahrungen in Deutschland zeigen,           so dazu wie das Berufen auf den Willen einer Mehrheit in der
                               dass Demokratie und demokratisches Bewusstsein der Bür-            Bevölkerung.
                               gerinnen und Bürger keine Selbstverständlichkeit sind. So ist      Mit zunehmender Digitalisierung bieten sich zudem nicht
                               eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung 2019 zu dem Ergebnis         nur umfangreiche gesellschaftliche und politische Möglich-
                               gekommen, dass 26 Prozent der Nachwendekinder im Osten,            keiten der Partizipationen an, es lauert auch die Gefahr, dass
                               aber auch 23 Prozent im Westen der Meinung sind, dass es           sich Kontroversen z. B. durch Fake News, Hate Speeches oder
                               „einen starken Führer“ geben sollte, „der sich nicht um Parla-     Social Bots verschärfen, zumal die sozialen Medien die Mög-
                               mente und Wahlen kümmern muss“. Außerdem ist die Politik-          lichkeit bieten, Vorurteile und Hassbotschaften – vermeintlich
                               verdrossenheit in beiden Gruppen beängstigend hoch. Mehr           – anonym vorzutragen. Die Auseinandersetzung in der digita-
                               als 60 Prozent aller Befragten glauben, dass sie „keinen Ein-      len Welt muss deshalb möglichst rasch mit einer Förderung der
                               fluss darauf haben, was die Regierung macht“. Was bedeutet         kritischen Medienkompetenz bei allen Beteiligten einhergehen.
                               „Demokratiebildung“ im Schulalltag?
                                                                                                  Der Beutelsbacher Konsens
                               Herausforderungen der Demokratieerziehung                          Die KMK und die meisten Bildungspläne der Bundeslän-
                               Im Demokratieverständnis des Grundgesetzes wird deutlich,          der beziehen sich explizit auf den Beutelsbacher Konsens.
                               dass es keineswegs ausreicht, sich lediglich auf Mehrheitsent-     Er wurde 1977 auf einer Tagung der Landeszentrale für
                               scheidungen eines Volkes zu berufen. Zur Demokratie gehö-          politische Bildung Baden-Württemberg (LbB) formuliert
                               ren mindestens genauso die Achtung der Menschenrechte, der         und ist inzwischen weit über die politische Bildung hinaus
                               Minderheitenschutz, die Gewaltenteilung sowie Verfahren des        akzeptiert. In den 1970er-Jahren standen auf der einen Seite
                               unabhängigen Rechtsstaates, um nur einige wesentliche Aspek-       emanzipatorische Ansätze, die die Aufgabe der Schule vor-
                               te anzusprechen. Gerade in Zeiten vermehrter globaler Migra-       nehmlich darin sahen, gesellschaftlich benachteiligte soziale
                               tion und ökonomischer Globalisierung stehen die Schulen vor        Gruppen durch die schulische Bildung zu emanzipieren. Auf
                               einer besonderen Herausforderung: das Miteinander unter-           der anderen Seite standen die Traditionalisten, die die Aufga-
                               schiedlicher Ethnien und Kulturen zu ermöglichen, ohne die         be schulischer Bildung insbesondere in der Sozialisation zu
                               zentralen Grundsätze der liberalen Demokratie zu verleugnen        patriotischen Staatsbürgerinnen und -bürgern sahen. Solche
                               bzw. aus falsch verstandener Liberalität nicht nachhaltig einzu-   nationalistische, identitätsstiftende Ziele prägen nach wie vor
Foto: PolaRocket / Photocase

                               fordern. Die Kultusministerkonferenz spricht davon, „Empa-         zahlreiche Bildungspläne innerhalb und außerhalb der Euro-
                               thie, Respekt, Achtung und Toleranz“ (KMK, 2018) müssten           päischen Union. Es bleibt das Verdienst des damaligen Leiters
                               insbesondere an den Schulen gelehrt, gelernt und erfahren          der LpB Baden-Württemberg, Dr. Siegfried Schiele, mit der
                               werden. Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz, Achtung der          Formulierung des Beutelsbacher Konsenses zwischen diesen
                               Menschenrechte, Gewaltenteilung, Mehrparteiensystem sowie          Lagern vermittelt und einen weithin akzeptierten Konsens
                               die Achtung rechtsstaatlicher Verfahren gehören dabei eben-        erreicht zu haben.

                               bildung & wissenschaft 05 / 2019                                                                                               13
dir                     n e                                                                        JETZT.
Bilde                                            d  e i               eigene                   Me
                                                                                                    inu
                                                                                                        ng!

  Grundsätze des Beutelsbacher Konsenses                            diesen Forderungen auseinanderzusetzen. Dies betrifft auch
  1. Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, den Schüler bzw.   gut gemeinte Projekte z. B. zur Zukunftsfähigkeit des Plane-
  die Schülerin – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne         ten Erde oder zur Antidiskriminierung. Die politische Aus-
  erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der             einandersetzung zeigt auch hier, dass es beispielsweise beim
  „Gewinnung eines selbstständigen Urteils“ zu hindern. Hier        Umweltschutzes, beim fairen Handel oder bei der Antidiskri-
  genau verläuft die Grenze zwischen politischer Bildung und        minierung zumeist deutlich unterschiedliche Lösungsansätze,
  Indoktrination. Indoktrination ist unvereinbar mit der Rolle      gibt und dass die Schülerinnen und Schüler sehr sensibel sind,
  des Lehrers bzw. der Lehrerin in einer demokratischen Gesell-     wenn sie den Eindruck bekommen, überwältigt zu werden.
  schaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von        Auch hier sollten das Kontroversitätsgebot und die Priorität
  der Mündigkeit des Schülers und der Schülerin.                    der selbstständigen Suche der Schüler/innen nach Lösungen,
                                                                    die ihren eigenen Interessen entsprechen, gelten.
  2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch      Im Lehrerbegleitheft zu den baden-württembergischen Bil-
  im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit      dungsplänen 2016 fordert Hans Anand Pant den Beutelsba-
  der vorgenannten aufs Engste verknüpft. Wenn unterschiedli-       cher Konsens offiziell und explizit für alle Fächer sowie den
  che Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschla-      Schulalltag.
  gen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur      Häufig wird im Schulalltag allerdings der dritte Teil des Beutels-
  Indoktrination beschritten. (...)                                 bacher Konsenses unterschätzt, enthält er doch direkte Konse-
                                                                    quenzen für die Methodik des Unterrichts. Schülerinnen und
  3. Die Schülerin bzw. der Schüler muss in die Lage versetzt       Schüler sollen durch den Unterricht nämlich in die Lage versetzt
  werden, eine politische Situation und seine eigene Interessen-    werden, ihre eigenen Interessen zu analysieren und in ihrem
  lage zu analysieren sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen,       Interesse zu beeinflussen. Dies bedeutet zunächst, dass sich die
  die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen       Unterrichtenden an didaktischen Methoden und Modellen, z. B.
  zu beeinflussen.                                                  Multiperspektivität, orientieren sollen, die es den Schüler/innen
                                                                    ermöglichen, ein eigenes Urteil mit Urteilskriterien zu entwi-
  Zumindest im Gemeinschaftskunde- und Geschichtsunter-             ckeln. Dabei ist das Urteilen keineswegs schularten- oder alters-
  richt dürften inzwischen das Überwältigungsverbot (Punkt          abhängig. Auch in der Primarstufe urteilen Schülerinnen und
  1) und das Kontroversitätsgebot (Punkt 2) weitgehend akzep-       Schüler. Dies aufzugreifen und pädagogisch zu begleiten, ist im
  tiert sein. Andere Fachbereiche beginnen gerade erst, sich mit    Schulalltag keineswegs immer ganz einfach.

  14                                                                                                      bildung & wissenschaft 05 / 2019
Titelthema

                                                                    links: Schülerinnen und Schüler sollen
                                                                    durch den Unterricht ihre eigenen
                                                                    Interessen analysieren und in ihrem
                                                                    Interesse beeinflussen können.
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                                                                    Die Bildungsinhalte und Unterrichtsmethoden sind nicht           leitungen tragen hierfür eine besondere Verantwortung.
                                                                    von jeder Schule willkürlich festlegbar. Sie sind in den Bil-    Es gibt aber immer auch Einflüsse von außen: Aufgrund eines
                                                                    dungsplänen fixiert, die durch die Abgeordneten im Landtag       mächtigen Wirtschaftslobbyismus wurde in den Bildungsplä-
                                                                    demokratisch legitimiert werden. Demokratie und Schule ist       nen 2016 auf Kosten von Geographie und Gemeinschaftskun-
                                                                    deshalb stets ein schwieriges Mit- und Gegeneinander. Die        de Raum für ein neues Fach WBS (Wirtschaft, Berufs- und
                                                                    Demokratiebildung bleibt jedoch ein zentrales Anliegen schu-     Studienorientierung) geschaffen. Die bisherige Integration
                                                                    lischer Sozialisation.                                           wirtschaftlicher Fragestellungen in die Sozialwissenschaften
                                                                                                                                     wurde bewusst aufgegeben.
                                                                    Demokratie als Herrschaftsform                                   Auch diesem neuen Fach liegen die Prinzipien des Beutelsba-
                                                                    Demokratie als Herrschaftsform wird vor allem im Gemein-         cher Konsenses zugrunde. Allerdings scheinen dessen Prinzi-
                                                                    schaftskundeunterricht thematisiert, der nach Artikel 21,        pien in der ersten Phase der Ausbildung der Kolleginnen und
                                                                    Absatz 2, der Landesverfassung von Baden-Württemberg             Kollegen an den baden-württembergischen Universitäten kei-
                                                                    „ordentliches Lehrfach an allen Schulen“ in Baden-Württem-       neswegs immer selbstverständlich zu sein.
                                                                    berg ist. Damit hat das Fach in Baden-Württemberg Verfas-
                                                                    sungsrang. Dass es für das Fach Gemeinschaftskunde in den        Demokratiebildung in der Schule
                                                                    Sekundarstufen I und II trotz dieser Verfassungsregelung sehr    Wenn Schule mehr als ein Ort demokratischer Wissensver-
                                                                    wenig Wochenstunden gibt (z. B. ab Klasse 8 an den Gym-          mittlung sein will, liegt in ihrem Erfahrungsraum eine hohe
                                                                    nasien meist nur eine Wochenstunde), wird nicht nur von          Verantwortung. „Schule muss ein Ort sein, an dem demokra-
                                                                    Gemeinschaftskundelehrkräften als völlig unzureichend ange-      tische und menschenrechtliche Werte und Normen gelebt,
                                                                    sehen. Zu einer Ausweitung waren allerdings weder frühere        vorgelebt und gelernt werden“ (KMK, 2018).Dabei dürfe kei-
                                                                    noch die aktuelle grün-schwarze Landesregierung bereit. In       neswegs jede Position akzeptiert werden oder müssten alle
                                                                    fast allen anderen Bundeslänwdern steht für politische Bil-      Positionen in gleicher Weise gültig seien. Wenn Äußerungen
                                                                    dung weit mehr Lernzeit zur Verfügung.                           fallen, die mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung
                                                                    Demokratische Herrschaft beruht auf politisch-rechtlicher        und den Menschenrechten nicht vereinbar sind, „dürfen Leh-
                                                                    Gleichheit und politischen Beteiligungsrechten der erwach-       rerinnen und Lehrer diese keineswegs unkommentiert oder
                                                                    senen Bevölkerung (Volkssouveränität). In den meisten            unreflektiert lassen“ (KMK, 2018). Lehrkräfte müssen aller-
                                                                    westlichen Demokratien wählen die Stimmberechtigten ihre         dings sicherstellen, dass Themen multiperspektivisch beleuch-
                                                                    parlamentarischen Vertretungen. Allerdings gibt es auch          tet werden. Dies beinhaltet naturgemäß auch Perspektiven
                                                                    Möglichkeiten direktdemokratischer Partizipation in den          und Erfahrungen von Menschen, die von Abwertungsideolo-
                                                                    deutschen Bundesländern und Kommunen. Über diese For-            gien und Diskriminierungen besonders betroffen sind.
                                                                    men wird im Gemeinschaftskunde-, zum Teil aber auch im           Das bedeutet jedoch nicht, dass Lehrerinnen und Lehrer keine
                                                                    Geschichtsunterricht informiert.                                 eigene Meinung im Unterricht äußern dürften. Zur Glaubwür-
                                                                    Demokratie bleibt aber nicht auf die Staatlichkeit beschränkt.   digkeit und zur Vorbildfunktion von Lehrkräften gehört es
                                                                    Nur wenn demokratischer Prinzipien gesellschaftlich veran-       selbstverständlich, eigene und reflektierte Positionen zu ent-
                                                                    kert und tradiert sind, funktionieren politische demokratische   wickeln. Wichtig ist hierbei immer die Transparenz: Die eige-
                                                                    Systeme. Dies bedingt eine starke Zivilgesellschaft mit freien   ne Meinung muss als solche deutlich kenntlich gemacht wer-
                                                                    Bürgerinitiativen, Verbänden und Vereinen, in der Pluralis-      den und neben ein Spektrum kontroverser Meinungen gestellt
                                                                    mus und soziale Differenz Raum haben und Konflikte friedlich     werden. (vgl. ebenda)
                                                                    geregelt werden. Auch wirtschaftlicher Wettbewerb, ausgetra-
                                                                    gen unter fairen Bedingungen, sollte in einer demokratischen     Demokratieerfahrungen in der Schule
                                                                    Zivilgesellschaft möglich sein. In allen Fächern, vor allem im   Schulen sind kein Ort, an dem frei z. B. über Unterrichtsinhalte,
                                                                    Meinungsbildungsprozess und durch Partizipation am inner-        Prüfungsformen oder Personalentscheidungen entschieden wird.
                                                                    schulischen Kommunikationsprozess, können Schulen das            Eine – von manchen gewünschte – Autonomie der einzelnen
                                                                    notwendige soziale und demokratische Lernen fördern. Schul-      Schule besteht jedenfalls nicht, was nicht ausschließt, dass es

                                                                    bildung & wissenschaft 05 / 2019                                                                                               15
Titelthema

durchaus Spielräume für Partizipation vor Ort gibt. Bildungsplä-      Diskriminierung, des Rassismus, gruppenbezogener Menschen-
ne werden im Auftrag des Kultusministeriums entwickelt, Perso-        feindlichkeit, des Antisemitismus, der Islamophobie, der Homo-
nalentscheidungen werden von der Schulaufsicht bzw. der jeweils       phobie u. a. gehören dabei jedenfalls zu den zentralen Aufgaben
vorgesetzten Behörde getroffen, bei Beschwerden ist stets der         der Demokratiebildung.
Dienstweg einzuhalten. Dabei stehen das direktoriale Prinzip und      Schulen kommt hier neben der Aufgabe, zentraler Ort der
die Demokratiebildung allerdings in einem Spannungsverhältnis.        Wissensvermittlung zu sein, immer auch die Aufgabe zu, Ort
Andererseits müssen sich sowohl das Kultusministerium vor             der demokratischen Erfahrung zu werden. Durch die Einbe-
dem jeweiligen Landtag, Schulleitungen vor dem Ministe-               ziehung handlungs- und erfahrungsorientierter Methoden,
rium, aber auch vor der Schulkonferenz und eventuell sogar            wie z. B. der Debatte, der Fall- und Konfliktanalyse sowie des
öffentlich rechtfertigen. Seit der grün-roten Landesregierung         Planspiels bzw. der Simulation, kann es gelingen, unterrichtli-
(2011 – 2016) gibt es in der Schulkonferenz gar eine Drittelpa-       che, aber auch außerunterrichtliche Lernsituationen zu orga-
rität für Lehrer/-innen, Eltern und Schüler/innen.                    nisieren, die diese Kompetenzen beflügeln sollen. Der „Leitfa-
Die KMK fordert die Länder ausdrücklich auf, im Rahmen                den Demokratiebildung“ bietet dazu für alle Unterrichtsfächer
der inneren Schulentwicklung Schulen verstärkt zu befähigen,          anregende Impulse. Abzuwarten gilt, welche Konsequenzen
„demokratische Gremien und Arbeitsformen“ zu entwickeln               sich daraus für die einzelnen Unterrichtsfächer sowie die
und umzusetzen, die „Schülerinnen und Schülern Entschei-              inner- und außerschulische Kommunikation ergeben werden.
dungsspielräume eröffnen und echte Beteiligung ermöglichen.           Ohne nachhaltige Fortbildungen und externe Evaluationen
Dazu gehören alle Formen der Schülervertretung, aber auch             droht nämlich die Gefahr, dass dieser wesentliche Impuls zur
möglichst „niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten insbeson-           „Demokratiebildung“ im Schulalltag zu verpuffen droht.
dere für junge bildungsbenachteiligte und politikfern aufwach-
sende junge Menschen“ (KMK 2018).
Im Kleinen beginnt dies in der Schul- und Unterrichtskultur mit                         Jürgen Kalb
einer wertschätzenden und diversitätsbewussten Kommunikati-                             Der Studiendirektor ist Fachreferent bei der LpB,
on bzw. Partizipation aller am Schulleben beteiligten Personen.                         Chefredakteur der Zeitschrift „Deutschland und Europa“
                                                                                        und Fachberater für Geschichte, Gemeinschaftskunde
Dazu gehört auch die Pflicht zur Transparenz der Information                            und Wirtschaft am Regierungspräsidium Stuttgart
und Meinungsbildung der Verantwortlichen. Dazu trägt der                                (Gymnasien).
Führungsstil der Schulleitung sowie die demokratiefördernde
Einstellung von Lehrkräften wesentlich bei.
Das Erlernen und Erfahren von Demokratie ist eine zentrale Auf-
gabe schulischen Lernens, keineswegs nur der gesellschaftswis-        Literaturhinweise
senschaftlichen Fächer, sondern eine Querschnittsaufgabe für alle     • Dewey, John (2004): Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die
Lehrkräfte, um Schülerinnen und Schüler letztlich an die Über-        philosophische Pädagogik. Weinheim: Beltz-Verlag
nahme von Verantwortung heranzuführen, sie also zur aktiven           • Faus, Rainer / Storks, Simon(2019): Im vereinten Deutschland geboren
Mitgestaltung am Schulleben zu motivieren. Dazu gehört auch die       – in den Einstellungen gespalten? OSB-Studie zur ersten Nachwendegene-
Entwicklung von Konfliktfähigkeit in einer pluralistischen Gesell-    ration. Frankfurt /Main;
schaft. Zudem bietet auch die im Bildungsplan zentral verankerte      • Frech, Siegfried / Richter, Dagmar (Hrsg.) (2017): Der Beutelsbacher
Unterscheidung zwischen inhalts- und prozessbezogenen Kom-            Konsens. Bedeutung. Wirkung. Kontroversen. Frankfurt / M., Wochen-
petenzen die Möglichkeit, im Sinne des Beutelsbacher Konsenses        schauverlag
die Unterrichtskultur in den einzelnen Fächern zu verbessern und      • Himmelmann, Gerhard (2001): Demokratie lernen. Als Lebens-, Gesell-
zur Methoden- und Handlungsvielfalt beizutragen. Die starke           schafts- und Herrschaftsform. Frankfurt/M, Wochenschau-Verlag
Betonung der selbstständigen Urteilsbildung ist jedenfalls ein zen-   • Kalb, Jürgen (2018): Der Beutelsbacher Konsens und seine Bedeutung
trales Anliegen des Beutelsbacher Konsenses.                          für die Bildungspläne 2016 in Baden-Württemberg, in: LpB Ba-Wü (2018):
Dabei ist Schule kein wertneutraler Ort. Ein Bekenntnis zu den        Der Beutelsbacher Konsens in den Fächern Gemeinschaftskunde und WBS
Menschen- und Grundrechten des Grundgesetzes bleibt der               (Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung) in den Klassen 9 und 10 der
unverrückbare Ankerpunkt jeder demokratischen Erziehung.              Bildungspläne 2016 in Baden-Württemberg. Band 2. Stuttgart, S. 3ff
Das unterscheidet sie von extremistischen und populistischen          • Klieme, E. / Hartig, J. (2007): Kompetenzkonzepte in den Sozialwissen-
Weltanschauungen mit ihren einfachen und aggressiven Feind-           schaften und im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. Zeitschrift für Er-
bildern. Solch ein Unterricht muss auch kein denunziatorisches        ziehungswissenschaft, 10 (Sonderheft 8), 11 – 29.
Meldeportal einzelner rechtspopulistischer Abgeordneter fürch-        • Kultusministerkonferenz (2018): Demokratie als Ziel, Gegenstand und
ten. Die wichtigen Anliegen einer Demokratiepädagogik wie der         Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule. (Beschluss
reflektierte und vorurteilsfreie Umgang mit allen Formen der          der Kultusministerkonferenz vom 06.03.2009 i. d. F. vom 11.10.2018)

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Titelthema

                                                            DEMOKR ATIEBILDUNG

                      Demokratie muss
                  im Alltag erlebbar bleiben
Politische Bildung kommt in den Schulen zu kurz. Den neuen Leitfaden, den das Kultusministerium
zur Stärkung der Demokratiebildung zum Schuljahr 2019/20 einführt, begrüßt die GEW grundsätzlich.
        Erhard Korn hat ihn begutachtet und stuft ihn für Schulen als alltagsuntauglich ein.

                                                                                                                                                        Foto: FatCamera / iStock

Das Grundgesetz und das Schulgesetz verpflichten Lehrkräfte dazu, Menschenwürde und die Gleichberechtigung aller Menschen einzuhalten und zu lehren.

20 Sekunden haben Schülerinnen und Schüler pro Woche Zeit,                  licher und fachdidaktischer Expertise“ solle dazu Orientierung
um über ihre politischen Ideen und Sorgen zu sprechen. Die                  bieten. Es bleibt abzuwarten, ob der Fachtag am 1. Juli 2019
Konsequenz seien mangelhafte politische Kenntnisse, beklag-                 zur Demokratiebildung die Expertise der Universität Bielefeld
ten Bielefelder Bildungsforscher vor einem Jahr. Die Stärkung               widerlegen kann, dass auch Baden-Württemberg der politi-
der Demokratiebildung, die Kultusministerin Susanne Eisen-                  schen Bildung „keine besondere Aufmerksamkeit“ schenkt.
mann bei der Schulleitungstagung der GEW angekündigt hat,                   Nur 2,3 Prozent der Stunden sehe die baden-württembergi-
kann also nur begrüßt werden. Ein „Leitfaden mit hoher fach-                sche Stundentafel der Sekundarstufe für politische Bildung vor

bildung & wissenschaft 05 / 2019                                                                                                                   17
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– fast doppelt so viele sind es in Schleswig-Holstein. Auch für        Anknüpfend an eine Synopse, die Bezüge zu den Fachplänen
„außerunterrichtliche Lernerfahrungen im Bereich der politi-           herstellt (Leitfaden ab S. 31), sollten konkrete Beispiele präsen-
schen Bildung“ stünde, im Gegensatz zur ökonomischen Bildung,          tiert werden, die auch Lehrplaninhalte so abdecken, dass dies in
„kaum Zeit zur Verfügung“.                                             der vorhandenen Lernzeit geleistet werden kann.
Dabei muss Demokratiebildung als wichtiger Aspekt von Schul-
qualität diskutiert werden. Sie darf in den Diskussionen über          Bedrohungen der Demokratie
schulische Leistungen nicht verloren gehen: Das Grundgesetz            Fachwissenschaftlich ist der Rückgriff des Leitfadens auf den
und das Schulgesetz verpflichten Lehrkräfte dazu, Menschenwür-         Extremismus- und Populismusbegriff und deren Vermengung
de und die Gleichberechtigung aller Menschen einzuhalten und           nicht akzeptabel. Diese Begriffe werden hier zur Kennzeichnung
zu lehren und die Verletzung dieser Rechte zu thematisieren. Wir       für die Gefährdungen der Demokratie verwendet und suggerie-
müssen den Wert unserer Demokratie und die, die sie gefährden          ren, dass diese zentral von den Rändern (Extremismus) oder
wollen, in der Schule thematisieren – im Klassenzimmer und im          der Form der Auseinandersetzungen (Populismus) ausgehen.
Lehrerzimmer. Dies fordern auch Wissenschaftler/innen: Politi-         Damit wird überspielt, dass wir es derzeit mit einer ernsthaften
sche Bildung sollte in der Sekundarstufe I durchgehend unterrich-      „Krise der Politik“, „Krise der Demokratie“ oder gar „Krise der
tet werden und mindestens vier Prozent der gesamten Lernzeit           Volkssouveränität“ zu tun haben, die dem autoritären Nationa-
umfassen. (Gökbudak u. a. S.18)                                        lismus erst seine Wirkungsmöglichkeit öffnet.
Der Leitfaden ist auch eine Reaktion auf aktuelle Krisenphänome-       Wissenschaftlich solide fundiert sind dagegen empirische Fest-
ne der Demokratie. Eine neue Mitte-Studie aus Leipzig (Decker          stellungen, dass der Aufstieg des „autoritären Nationalradikalis-
2018) belegt dramatische Neigungen zu Autoritarismus, Nati-            mus“ aus Entwicklungen im ökonomischen System wie „auto-
onalismus und Fremdenfeindlichkeit. Die KMK hat daher im               ritärem Kapitalismus, sozialen Desintegrationsprozessen und
Oktober 2018 versprochen, „Lehrkräfte in ihrem Bemühen zur             politischer Demokratieentleerung“ (Heitmeyer) zu erklären ist.
Demokratiebildung, der Erziehung zu Menschenrechten und im             Der aktuelle Aufstieg des Nationalradikalismus kommt nicht
Eintreten für Toleranz, Respekt und Mitmenschlichkeit im Sinne         vom Rand, sondern aus der Mitte der Gesellschaft, die sich in
des Grundgesetzes zu unterstützen.“                                    autoritäre und demokratische Milieus spaltet. (Decker u. a.)
Schon in der Stellungnahme zum Bildungsplan 2016 hatte die             Wer Demokratie stärken will, darf sich nicht darauf beschrän-
GEW vorgeschlagen, Demokratiebildung als Leitperspektive auf-          ken, formale Merkmale von Demokratie aufzuzählen, deren
zunehmen. Das soll jetzt der „Leitfaden Demokratiebildung“             Institutionen zunehmend geschwächt und ausgehöhlt werden.
nachholen. Mit 51 Seiten ist der                                                                          Das hat jüngst der frühe-
Leitfaden allerdings so lang wie                                                                          re Verfassungsrichter Dieter
der für die Klassen 7– 10 gel-                                                                            Grimm konstatiert: „Demo-

                                                                                                                                                Foto: Patty1971 / Photocase
tende Bildungsplan Gemein-                                                                                kratien sterben heutzutage
schaftskunde. Statt an diesem                                                                             nicht laut, sondern erodieren
anzuknüpfen und ihn zu erwei-                                                                             langsam.“ (FAZ 10.12.2018)
tern, formuliert der Leitfaden                                                                            Dies betreffe auch den Prozess
ein eigenes System und folgt                                                                              der europäischen Einigung,
anderen Kompetenzmodellen.                                                                                bei dem die Verlagerung von
Der Leitfaden bildet die fachdi-                                                                          Kompetenzen nicht von einer
daktische Diskussion der politischen Bildung ab. Er kann so in der     Demokratisierung der europäischen Entscheidungsstrukturen
Lehrkräfteaus- und Fortbildung hilfreich sein. Der Leitfaden ist für   begleitet werde. Antidemokratischer Nationalismus kann so
Lehrkräfte bestimmt, die nicht Gemeinschaftskunde unterrichten         unter der Fahne der Verteidigung der Demokratie marschieren.
und dürfte gerade diese Gruppe am meisten abschrecken: durch           Der Erosionsprozess von Demokratie hängt, so Christoph
seine Länge, die Begrifflichkeit und Komplexität und die struktu-      Schönberger, eng mit einem „Kahlschlag der Zivilgesellschaft“
rellen Überlappungen zwischen Bausteinen, Bestimmungsfakto-            zusammen. Das ist ein Auflösungsprozess gesellschaftlichen
ren, Leitperspektiven, Themenfeldern, Kompetenzen, Handlungs-          Zusammenhalts hin zu individualistischen und konkurrenzori-
feldern etc. Durch die derzeitige Konzeption des Leitfadens ist es     entierten Handlungsweisen, die den ökonomischen Eliten eine
undenkbar, Eltern und Schüler/innen mit einzubeziehen.                 vorher undenkbare Akzeptanz ihres ungeheuren Status- und
Hilfreicher und motivierender wäre ein einfacherer Aufbau des          Machtzuwachses bescherten. (FAZ 28.02.2019)
Leitfadens. Er könnte so auf wenigen Seiten altersgemäße Mög-
lichkeiten von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II den drei       Entsolidarisierung beginnt im Bildungsbereich
grundlegenden Perspektiven von Demokratie als Lebensform (z. B.        Heitmeyer beschreibt unter dem Stichwort „rohe Bürgerlichkeit“
Toleranz, Solidarität, Fairness), Demokratie als Gesellschaftsform     ein Ellenbogendenken, das sich auch in der bildungspolitischen
(Zivilgesellschaft, Öffentlichkeit, Konfliktkultur, Mitbestimmung)     Diskussion bemerkbar macht. Nicht nur in der AfD-Forderung,
und Demokratie als Herrschaftsform (Wahlen, Parlamentarismus,          dass angesichts des Lehrermangels ausgebildete Lehrkräfte
direkte Demokratie, Gewaltenteilung etc.) zuordnen.                    zuerst deutsche Schüler/innen und Schüler zu unterrichten hät-

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Titelthema

              ten, spiegelt sich diese Entsolidarisierung. Wenn, wie die KMK         ohne Beteiligung der Betroffenen beruhen, wie Martin Linde-
              postuliert, Schule die einzige gesellschaftliche Institution ist, in   boom von der Deutschen Vereinigung für politische Bildung
              der wir alle Kinder erreichen können und daher auch demokra-           kritisiert. (b&w 4/2019, S. 31) Demokratie als Leitbild kann nur
              tischer Erfahrungsraum, so bedeutet das, dass auch die Diskus-         wirken, wenn sie auf im Alltag erlebbarer Anerkennung fußt.
              sionen um Schulstruktur, Integration und Inklusion verknüpft           Und das gilt sowohl für den Umgang von Lehrkräften mit Schü-
              sind mit der den Perspektiven einer „solidarischen Gesellschaft“.      lerinnen und Schülern, als auch für den Umgang von Regierung,
                                                                                     Parlament und Schulverwaltung mit Lehrkräften.
                                                                                     Voraussetzung für ein Zurückdrehen der Rechtsentwicklung ist
                                                                                     damit auch die Stärkung von gewerkschaftlicher Gegenmacht.
                                                                                     Sie muss konsequenter als bisher ein politisches Mandat wahr-
                                                                                     nehmen, das schon immer auf die soziale und demokratische
                                                                                     Gestaltung der Arbeitswelt zielt. Ohne die vom DGB in seiner
                                                                                     Stellungnahme zum Leitfaden geforderte stärkere Berücksichti-
                                                                                     gung der „sozialen, gewerkschaftlichen und politischen Dimen-
                                                                                     sionen der Arbeitswelt“ bliebe Demokratiebildung daher an
                                                                                     der Oberfläche hängen. Am Beginn unserer Demokratie, der
                                                                                     Novemberrevolution von 1918, stand die Forderung nach einer
                                                                                     „sozialen Republik“. Ihre Erosion hat Hitler mit dem Verbot von
                                                                                     Gewerkschaften und Arbeiterparteien vollendet. Auch daraus
                                                                                     sollten Lehrkräfte und Schüler/innen heute lernen.
Foto: imago

              Ein gutes Miteinander kann man überall lernen.                                             Erhard Korn
                                                                                                         Im Leitungsteam des GEW-Vorstandbereichs
                                                                                                         Grundsatzfragen.
              Es fällt zudem auf, dass Wahlpräferenzen für nationalistische
              Parteien Milieus spiegeln, die geradezu „getrennte Welten“ dar-
              stellen, die auch eng mit Schulabschlüssen zusammenhängen:
              Die AfD-Klientel verfügt meist über ein „mittleres Einkom-
              mens- und Bildungsniveau“. (Heitmeyer S.226) Die integrative
              Wirkung einer alle Gesellschaftsgruppen umfassenden Schule,            Literaturhinweise
              die nach Klasse 4 endet, reicht offenbar nicht mehr aus, eine          • Hans-Jürgen Bieling, Die Krise der Politik als Ausdruck gesellschaftlicher
              gemeinsame Basis für einen demokratischen Dialog zu legen.             Kräfteverschiebungen, Das Argument 4/2018
               Mit dem Aufstieg „finanzkapitalistischer Akteure“ war in den          • Oliver Decker: u. a., Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Ein-
              letzten 20 Jahren die Schwächung jener Akteure verbunden, die          stellungen in Deutschland (Leipziger Mitte-Studie) Gießen 2016 und die Fortset-
              in Gewerkschaften und Parteien für „soziale Sicherheit, Stabili-       zungsstudie Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft, Gießen 2018
              tät und gesellschaftliche Teilhabe“ stehen. (Bieling S. 496) Empi-     • Wilhelm Heitmeyer: Autoritäre Versuchungen, Berlin 2018
              rische Befunde wie die Studie von Dieter Sauer u. a. stützen diese     • Claus Leggewie: Verfassungsschutz. Über das Ende eines deutschen Son-
              Analyse. Druck auf soziale Standards und Leistungsdruck auf            derwegs, Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2012
              der einen Seite, die „Erosion gewerkschaftlicher Gegenmacht“           • Dieter Sauer: u. a., Rechtspopulismus und Gewerkschaften, Hamburg 2018
              und Entsolidarisierung auf der anderen Seite produzierten nach         • Gökbudak M., Hedtke R.: Ranking Politische Bildung 2018. Social Science
              Sauer Ängste, Enttäuschung über Politik, auf die man keinen            Education/Working Papers.
              Einfluss mehr habe und eine Suche nach Sicherheit, die vom
              autoritären Nationalismus aufgefangen und scheinbar bedient
              werden könne. Die „entdemokratisierte Arbeitswelt“ mit zuneh-
              mend autokratisch auftretendem Management wird so zum
              Nährboden der Rechtsentwicklung. (Sauer S.170) Auch Kul-
              tusministerin Eisenmann wäre glaubwürdiger, würde sie sich in
              ihrem Agieren an ihren eigenen Prämissen orientieren: wenn,
              wie sie zurecht betont, Demokratie auf das „lebhafte, streitige                          Der Leitfaden Demokratiebildung wird ab dem Schul-
              und überzeugte Engagement der Bürger zwingend angewiesen                                 jahr 2019/2020 verbindlich an allen allgemein bilden-
                                                                                                       den Schulen eingeführt.
              ist“, sollte das eigene Agieren etwa bei der Einrichtung der neuen                       www.bildungsplaene-bw.de
              Bildungsinstitute und beim Umgang mit den Fort- und Ausbil-
              dern, „nicht auf völlig intransparenten Entscheidungsprozessen“

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