Dringend gesucht: Hausärztin/-arzt unter 70 - von Sabrina Bundi, Journalistin und Comicautorin - Raetia Publica

 
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Raetia Publica | Ausgabe 6, 26. September 2017

Dringend gesucht: Hausärztin/-arzt unter 70
von Sabrina Bundi, Journalistin und Comicautorin

Schreckensdiagnose Hausärztemangel: Dem Kanton Graubünden gehen die Hausärzte in Pension.
Aber wie übel ist die Situation tatsächlich? Während Statistiken in den Medien immerzu Alarm
auslösen, versuchen Ärzte, einzelne Gemeinden und der Kanton dem drohenden Mangel die noch
botoxfreie Stirn zu bieten – mit neuen Konzepten und reizvollen Arbeitsbedingungen. Allerdings ist
das – as usual – vor allem in der Peripherie schwierig.
«Dem Kanton gehen die Hausärzte aus», «Jeder zweite Hausarzt will seine Praxis schliessen»,
«Wegen Hausärztemangel: Wird der Apotheker zum Medizinmann»… Schlagzeilen wie diese drängen
sich einem spätestens bei der nächsten Grippe wieder in den fiebrigen Sinn. Denn sollten sie wirklich
die Zukunft prophezeien, wird das Gesundheitssystem in den nächsten 10 Jahren überlastet sein, was
heisst: Die Fahrt zum Hausarzt dauert a) viel länger (vor allem wenn man am «musculus gluteus» der
Welt wohnt – und wer will schon mit 39,3 Grad Fieber im Auto delirieren). Und b) wird bei nicht-
Notfällen, wie beispielsweise einem eingewachsenen Zehennagel, die Wartezeit für Termine endlos.
Aber noch ist der Hausarzt – in der Regel männlich, mit eigener Praxis und bereits (ohne ungalant
sein zu wollen) grauen oder lichten Haaren – in der Nähe. Noch.
Im Jahr 2015 waren in Graubünden laut Bericht Gesundheitsversorgung 2017 des Kantons
Graubünden 386 Ärztinnen und Ärzte registriert, davon waren 231, also 60 Prozent, Hausärzte. Eine
Umfrage des Ärztenetzwerks Grisomed aus dem Jahr 2013 prognostiziert für das Jahr 2023 einen
Mangel von rund 7000 Stellenprozenten infolge Pensionierungen. Eine Studie des Vereins Junge
Hausärzte Schweiz aus dem Jahr 2016 sagt schweizweit voraus, dass in 10 Jahren nur noch jede
zweite Praxis besetzt sein wird.

Ein Generationenwechsel findet statt…
… und Graubünden ist mitten drin. War es vor 20 – 40 Jahren für Hausärzte noch wichtig, eine eigene
Praxis als Vorsorge aufzubauen, will die Generation Y (die mit neuer Gesetzgebung zur beruflichen
Vorsorge aufwächst), vor allem eine ausgewogene Work-Life-Balance. Besagte Studie der Jungen
Hausärzte Schweiz ergibt: Junge Hausärztinnen und Hausärzte wollen geregelte Arbeitszeiten, am
liebsten (90 Prozent von ihnen), in einem Angestelltenverhältnis. Sie wollen weniger administrativen
Aufwand, eine angemessene Entlöhnung und ein Teilzeitpensum von etwa 70 Prozent – und zwar
nicht nur junge Ärztinnen, sondern auch junge Ärzte.
Nur: Mit einem Teilzeitpensum lässt sich keine eigene Praxis führen, deshalb steht auf der
Wunschliste der Studienabgänger ganz oben die Gruppenpraxis. 86 Prozent der Befragten möchten
im Kollektiv arbeiten, 11 Prozent in einer Doppelpraxis und nur 2 Prozent favorisieren die
Einzelpraxis.

Die Gemeinschaftspraxis – das Modell der Zukunft?
Auch in Graubünden gibt es mittlerweile viele Beispiele, wo sich Hausärzte zur Gemeinschaftspraxis
zusammengetan haben. In Klosters wurde eine Gruppenpraxis beim Altersheim eingerichtet, in
Thusis teilen sich Hausärzte Räume und Apparate mit dem Spital, in Küblis hat sich eine ganze
Ärztefamilie zusammengetan, in Zernez gibt es eine Gemeinschaftspraxis, welche die eher
unbequemen Büroarbeiten wie Rechnungen stellen, outgesourced hat und sie in Chur von Grisomed
machen lässt.

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Allerdings bedeuten auch Gruppenpraxen für die Regionen eine Zentralisierung, wenn auch nur im
Kleineren: «Auch Coop und Migros bauen keine Filiale dort, wo es keine Kunden hat», sagt Rudolf
Leuthold, Leiter des Amts für Gesundheit des Kantons Graubünden. Für die Peripherie in Graubünden
scheint deshalb die von 11 Prozent der Studienteilnehmer bevorzugte Zweierpraxis Potential zu
haben. Auch für dieses Modell gibt es in Graubünden schon mehrere Beispiele: Martin Tomaschett,
Hausarzt in Trun, hat eine junge Ärztin Teilzeit engagiert. Gian Bundi, Hausarzt in Vella, wird ebenfalls
mit seinem Nachfolger Mario Venzin bis zur Pensionierung im Doppel praktizieren.

Was den Beruf unattraktiv macht                          Tarmed und Taxwertpunkte
Die Gründe, warum immer weniger Hausärztinnen            Tarmed wird hergeleitet aus «Tarif
und Hausärzte in Graubünden praktizieren wollen,         médicinal» und legt seit 2004 die Tarife für
sind: Tarife, Tarmed, Dignität, Notfalldienst und:       ambulante Leistungen der Ärzte in
Spezialisierung.                                         Arztpraxen und Spitälern in der Schweiz
Es ist tatsächlich so, dass, ähnlich wie in Grey‘s       fest. Erstellt wird er von der Ärzteschaft
Anatomy, die Cardio-Göttin und der Neuro-                FMH und der Santésuisse.
McDreamy bei Assistenzärzten beliebter sind als der      Er regelt mit einem Punktesystem
Landarzt Dr. Karsten Mattiesen. Spezialisiert auf        beispielsweise, wie viel der Hausarzt für
einem Gebiet, bekommen sie in der Medizinwelt            Operationen, das Studium der Akten, für
nicht nur mehr Anerkennung, sondern gemäss               Telefonate mit Patienten oder für die
aktuellem Tarmed (siehe Kasten) auch mehr Lohn.          Blutabnahme abrechnen kann. Ausserdem
«Nach dem Staatsexamen kommen die jungen                 gibt er vor, wie viel Kosten für Patienten
Assistenzärztinnen und -ärzte in ein Krankenhaus,        und Patientinnen anfallen und wie viel die
wo sie zuerst auf Spezialisten treffen, und nicht auf    Krankenkassen übernehmen.
Hausärzte», sagt Martin Tomaschett. Tatsächlich          Tarmed ist neben dem Taxwertpunkt
existiert im Kanton Graubünden seit mehreren             mitentscheidend für den Lohn der
Jahren das Projekt Capricorn, das Assistenzärzte für     Hausärzte. Wie hoch jeder Punkt im
ein halbes Jahr vom Spital in die Hausarztpraxen         Tarmed tatsächlich abgerechnet wird, wird
schickt. Ein Modell, das gut und erfolgreich             mittels Taxwertpunkten bestimmt – auch
funktioniert, wie Rudolf Leuthard bestätigt.             diesen Wert bestimmt die Ärzteschaft
Trotzdem bleibt oft die Spezialisierung attraktiver,     zusammen mit Krankenversicherern und
weil «Hausärzte gleich nach dem Studium                  dem jeweils kantonalen Ärzteverein. In
‚geschnitten‘ werden», sagt Martin Tomaschett.           Graubünden liegt der Taxwertpunkt bei
Ihm wäre im Übrigen eine Spezialisierung zu              0.83 Franken – gleich hoch wie in anderen
langweilig: «Ich möchte nicht täglich nur die            ostschweizer Kantonen.
Prostata behandeln, als Hausarzt habe ich viel mehr
Abwechslung.»

Was Hausärzte dürfen und was nicht
Hausärzten wird vorgeschrieben, wie sie Patienten behandeln dürfen. «Sie können zum Beispiel ein
EKG machen, vielleicht noch ein Röntgen ohne Lendenwirbel, dann noch etwas Labor und das war‘s»,
sagt Tomaschett. Er selber habe ausserdem die Ausbildung für Ultraschall, Magenspiegelung,
Dickdarmspiegelung und Herzbelastung noch vor der Einführung des Tarmeds absolviert. Nach
Einführung des Tarmeds seien – zum Beispiel für die Lizenz zum «Ultraschallen» – 300 supervisierte
Ultraschalls und mehrere Kurse, Wiederholungskurse und Kontrollen mittels Testatheft nötig

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geworden. «Würde der Tarmed den Hausärzten mehr diagnostische Möglichkeiten zugestehen,
würde das den Job interessanter machen», ist Tomaschett überzeugt.
Aber: Auf die Bestimmungen und Vorschriften im Tarmed hat der Kanton keinen Einfluss. Wie Rudolf
Leuthold erklärt, wird der Tarmed in der Vernehmlassung zwar den Kantonen vorgestellt, aber der
Bundesrat beschliesst. A propos Tarmed: Tarmed definiert zusammen mit den sogenannten
Taxwertpunkten, wer welche medizinische Leistung wie abrechnen kann - ein weiterer Grund für die
Unattraktivität des Hausärzteberufes in Graubünden.

Tarmed bringt Besserung für Hausärzte, das Problem Peripherie bleibt
Kürzlich erklärte Bundesrat Alain Berset, dass die Grundversorger, sprich die Hausärzte, mit der
aktuellen Änderung des Tarmeds besser gestellt werden sollen.
Graubünden bleibt allerdings mit 83 Rappen pro Tarmedpunkt und fehlender Selbstdispensation (ein
weiterer Grund, der später erklärt wird) am unteren Ende der Schweizer Hausärzte-Nahrungskette.
Im Kanton Jura beispielsweise beträgt der Tarif 1,02 Franken, im Kanton Zürich 89 Rappen. Könnte
der Wert für Praxen in der Peripherie nicht erhöht werden, um den Job in den Regionen
aufzuwerten? Leider nein – Rudolf Leuthold nennt den Hauptgrund: «Das müsste kostenneutral
geschehen, also müsste man den Taxwertpunkt in den Städten dafür senken, und so viel Solidarität
ist dann doch nicht zu erwarten.»

Was Gemeinden tun… oder nicht
Zwar können die Gemeinden in der Peripherie nicht mit höheren Taxwertpunkten punkten, aber
trotzdem können sie – wenn sie wollen – attraktivere Bedingungen für Hausärztinnen und Hausärzte
schaffen. Ein paar Beispiele: Alvaneu hat den Deutschen Arzt Harald Jung, dessen Kinder jedes Jahr
das Zirkuslager besuchten, anlocken können – mit angenehmen Immobilienpreisen, guter Lage,
Primarschule und der Nähe zu Davos. Die Gemeinde habe sich zudem bei der Suche nach einem
geeigneten Wohnhaus behilflich gezeigt. In Safien hat die Gemeinde dem neuen Hausarzt Jeroen van
Amelsfoort aus Holland eine moderne Praxis eingerichtet. Auch in Vella baut die Gemeinde die neue
Praxis, die Bundi und Venzin mieten werden.
Aber es gibt auch Beispiele die zeigen, dass die Vorstellungen von Hausärzten und Gemeinde
auseinandergehen können. Hausärzte sind Privatwirtschafter – ihre Praxis ist ihr Geschäft, das
Gesundheitswesen ihr Markt. In Ilanz beispielsweise wollte die Gemeinde in den Räumen des
ehemaligen Spitals eine Gruppenpraxis einrichten. Das Projekt scheiterte, Gemeindepräsident
Aurelio Casanova vermutet Skepsis der Hausärzte gegenüber einer Praxis so nahe beim Spital (siehe
Interview unten).
In vielen Gemeinden sei die Situation (laut Angaben der Gemeinden), auch noch nicht akut. Wie
Rudolf Leuthold berichtet, habe der Kanton erst kürzlich bei den Gemeinden eine Umfrage zur
medizinischen Versorgung durchgeführt. Nur ein Drittel der Gemeinden habe angegeben, dass in
Zukunft Probleme auftreten könnten, «zwei Drittel der Befragten sind überzeugt, alles laufe bestens,
aber ich glaube, dass viele Gemeinden sich des Problems erst dann bewusst werden, wenn ein Arzt
aufhört».

Ein weiterer Grund: Keine Selbstdispensation – niedrigeres Einkommen
Selbstdispensation bedeutet, dass der Hausarzt dem Patienten Medikamente abgeben darf. Oder
eben nicht – in Ortschaften mit Apotheke darf der Arzt eben dies nicht tun (oder dann nur die
kleinste Packung). Ein Geschäft, das bis zu 20 Prozent des Einkommens von Hausärzten ausmacht. Im

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benachbarten St. Gallen verdient ein Hausarzt für die gleiche Arbeit also mehr, weil er Medikamente
abgeben kann. Diesem Umstand wollte letztes Jahr FDP-Grossrätin Anna-Margreth Holzinger-Loretz
mit einem parlamentarischen Vorstoss ein Ende bereiten und eine Neubeurteilung durchsetzen. Eine,
die sowohl die Anliegen der Ärzte als auch jene der Apotheker umfassen muss.

Der Notfalldienst – eine üble Pflicht?
Ebenfalls öfter gennant als Grund für den «Unreiz» des Hausärzteberufs ist der Notfalldienst. Jede
Hausärztin und jeder Hausarzt ist dazu verpflichtet, Notfalldienst zu leisten – vom Gesetz für
Medizinalberufe verordnet. Natürlich gibt es Ärzte, die genau aus diesem Grund den Beruf gewählt
haben: Tag und Nacht parat, ein Leben zu retten. Allerdings braucht es genug Leute für eine gute
regionale Abdeckung, je weniger es sind, desto mehr Pikett muss jeder Einzelne übernehmen, desto
mehr werden die Ärzte ausgelaugt. Martin Tomaschett bringt ein Beispiel: «Ich hätte für eine
Patientin einmal von Trun an einen laut Google 32 Minuten entfernten Ort fahren müssen. Mit zwei
Baustellen und Ampeln wurden es schon 37 Minuten. Sie hatte einen anaphylaktischen Schock und
bis ich dort gewesen wäre, wäre sie bestimmt gestorben. Ich habe dann den Rettungsdienst des
Spitals alarmiert und dieser war glücklicherweise rechtzeitig vor Ort.»

Besserung ist vorgesehen
Wie Marc Tomaschett, Geschäftsführer des Bündner Ärztevereins und ja, Bruder von Martin
Tomaschett, erklärt, steht mit der neuen Gesundheitsgesetzgebung ab Januar 2018 auch ein neues
Notfallkonzept auf dem Tisch, das die Arbeit zwischen dem Rettungsdienst der Spitäler, dem 144,
und den Hausärzten intensivieren soll. «Es ist vorgesehen, dass beispielsweise Rettungssanitäter
mehr Kompetenzen erhalten, sodass nicht immer der Hausarzt ausrücken muss». Und Rudolf
Leuthold ergänzt: «Unsere Spitäler sind gut auf die Regionen verteilt und jedes hat einen
Rettungsdienst. Im Notfall können wir in 90 Prozent der Fälle innerhalb vom 15 Minuten vor Ort
sein.»
Auch Hausarzt Martin Tomaschett kommt beim Thema «Neue Modelle für den Rettungsdienst» ins
Schwärmen: «Ich denke da an diese sehr kompetenten fliegenden Krankenschwestern in Australien,
oder dann gab es früher fast in jeder Gemeinde eine Hebamme. Wenn man den Pflegeberufen wie
Rettungssanitätern, Spitex, oder Praxisassistenten mehr Kompetenzen geben könnte, würde das die
Hausärzte etwas entlasten.» Und, ein Exkurs am Rande: Moderne Kommunikationsmittel könnten
ebenfalls unterstützend eingesetzt werden: Stichwort «Telemedizin». Was nach Mike Shiva mit
Stethoskop klingt ist nichts anderes, als ein Bildschirm mit Skype und Arzt am anderen Ende in
Hinterzimmern von Apotheken.
Etwas Ähnliches machen heutzutage die Spitex-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Tomaschett
übrigens ganz automatisch. «Ich bekomme manchmal eine Whats-App mit einem Bild von jemandem
von der Spitex, wo ich kurz nach Rat gefragt werde».
Auch die Kompetenzverteilung für Pflegeberufe werde momentan auf Bundesebene diskutiert, verrät
Rudolf Leuthold. «Advanced nursing practice» heissts und bedeutet, dass gut ausgebildetes
Pflegepersonal «Bagatellen» übernimmt. Allerdings sei es noch zu früh, um Konkreteres dazu zu
sagen.
Sowohl auf Bundesebene als auch kantonal und kommunal wird also bereits rege versucht, die
Schreckensdiagnose Hausärztemangel schon ihren Keimen zu ersticken. Das wichtigste Rezept: Eine
erhöhte Dosis Attraktivität für den Hausärzteberuf.

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Dr. Peter Flury, pensionierter Arzt, arbeitet Teilzeit im Medizinischen Zentrum «Gleis d» in Chur.

Man hat früher ein grösseres Pensum bewältigt. Den Entscheid, Hausarzt zu werden, habe ich bereits
während meines Studiums gefällt. Ich wollte mich nicht spezialisieren, mich interessiert die gesamte
Palette. Unser Beruf ist sehr bereichernd. Manche Menschen habe ich über 30 Jahre lang begleiten
dürfen, und die Abwechslung ist gross. Natürlich auch die Verantwortung! Eine der wichtigsten
Aufgaben des Allgemeinpraktikers ist das Erkennen potenziell gefährlicher Situationen.
Mehr als 20 Jahre lang habe ich meine Praxis alleine betrieben. Als ich in neue Räumlichkeiten
umzog, packte ich die Gelegenheit beim Schopf und gründete mit einer Kollegin und einem Kollegen
eine Gemeinschaftspraxis. Beide waren Eltern von kleinen Kindern, ich selber wollte ab 60 auch
etwas kürzer treten, so war das für uns eine ideale Lösung.
Nach meiner Pensionierung mit 66 habe ich zunächst über ein Jahr lang nicht gearbeitet. Dann wurde
ich vom Medizinischen Zentrum gleis d in Chur angefragt, ob ich bei ihnen mitarbeiten wolle. Das war
ein Glücksfall, denn ich bin noch fit und spielte ohnehin mit dem Gedanken, tageweise wieder als
Arzt tätig zu sein. Beim gleis d arbeite ich nun während zwei Tagen pro Woche und helfe gelegentlich
in meiner früheren Davoser Praxis aus.
Früher herrschte in der Schweiz kein Hausärztemangel, weil jeder ein viel grösseres Pensum
bewältigte. Meist waren es Männer, heute sind es mehrheitlich Frauen die sich für die
Grundversorgung entschliessen. Mit der Einschränkung, dass sie kein volles Pensum leisten können –
und auch nicht wollen!
Natürlich kann es in einem abgelegenen Bündner Bergdorf sehr problematisch sein, einen Nachfolger
zu finden. Aber die hauptsächlichen Gründe liegen woanders. Gemessen an der körperlichen und
seelischen Belastung, die ein Hausarzt in kleineren Ortschaften hat, ist der Lohn doch eher
bescheiden. Finanziell waren wir schon früher schlechter gestellt als viele Spezialisten, aber nicht in
diesem Masse wie heute. Es bleibt die Hoffnung, dass unser Beruf wieder attraktiver wird. Erste
Bestrebungen laufen, man versucht es mit anderen Ausbildungs- und Arbeitsformen sowie
Tarifverbesserungen. Aber es bleibt schwierig.

Prof. Dr. med. Ingo Kaczmarek, Hausarzt aus Deutschland in Vals.

Warum haben Sie in einer Bergregion eine Praxis übernommen?
Meine Frau und ich lieben die Berge, das Wandern, das Skifahren, die Natur. Wir haben schon oft
unseren Urlaub in der Schweiz verbracht. Ich hatte in meiner Anstellung als Oberarzt in einer Klinik in
München für diese Dinge schlicht keine Zeit mehr.
Wie sind Sie auf die Stelle aufmerksam geworden?
Durch ein Inserat im «Deutschen Ärzteblatt». Die Gemeinde hat mit dem Praxisvorgänger das Inserat
geschaltet, nachdem in der Schweiz in 2 Jahren kein Nachfolger gefunden werden konnte.
Was waren Ihre Bedenken bevor Sie die Stelle angenommen haben?
Die Horrormeldungen der Boulevardpresse, dass Deutsche in der Schweiz nicht willkommen seien.
Nach meiner Erfahrung kann ich das für Vals nicht bestätigen.

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Was hat Sie dann doch überzeugt?
Die Freundlichkeit der Menschen, die Hilfsbereitschaft der Gemeinde sowie jene meines Vorgängers
Dr. Stierli und die Wertschätzung der Hausarztpraxis im Dorf durch die Bevölkerung. Vielleicht sollte
man auch mal sagen, dass man als Hausarzt einen sehr vielseitigen Beruf hat, sehr intensiv mit den
Patienten arbeitet und sehr viel geben kann, was auch von den meisten Patienten mit Dankbarkeit
und Wertschätzung belohnt wird. Das kann man nicht mit Zeit und Geld aufrechnen.

Dr. med. Mario Venzin, stellvertretender Leitender Arzt im Regionalspital Ilanz, übernimmt ab 2021
die Hausarztpraxis in Vella.

Orda tgei motivs fageis Vus il pass dil spital en ina pratica da miedi da casa?
Il pli impurtont: per esser igl agen schef - per saver far la sort medischina che perschuada mei, per far
liber cu jeu vi, per saver tschentar ensemen miu agen team. Simplamein per esser independents.
Plinavon ves‘ins igl entir spectrum dalla medischina. E sco miedi da casa han ins era ina pli stretga
relaziun cun ils pazients.
Tgei dubis/retenientschas haveis Vus da surprender ina pratica?
Ins va en ina pli gronda resca finanziala che da restar emploiaus en in spital.
Bia cass interessants ston ins termetter vinavon en spital ni tier in specialist perquei ch‘ins sa buca
haver en pratica tut las pusseivladads, sco p. ex. Apparaturas ni plaz per survigilar pazients.
Con impurtont eis ei per Vus che la pratica ei moderna?
Plitost impurtont. Dad in maun ord motivs estetics - ins sesenta meglier sche ins lavura en ina biala
localitad. Da l‘auter maun denton era ord motivs higienics e tecnics. Per exempel ein praticas veglias
buca idealas per sistems dad EDV, certas ein gnanc accessiblas cun sutga da rodas.
Co savess la vischnaunca/il cantun porscher maun a giuvens miedis per ch'els vegnan pli tgunsch el
Grischun?
Per che miedis giuvens suprendien ina pratica el provediment da basa, savess il maun public forsa dar
ina segirtad finanziala. Jeu manegiel buca subvenziuns, gliez fa normalmein buc basegns, mobein
forsa in emprest per la partenza ni ina garanzia da deficit pils emprems tschun onns.

Dr. med. Simona Tam Schwarzen, Medizinisches Zentrum «Gleis d» in Chur

Warum haben Sie sich für den Beruf Hausärztin entschieden?
Unser Beruf ist sehr abwechslungsreich, kein Tag gleicht dem anderen – von jung bis alt, akut wie
auch chronisch, Prophylaxe bis Therapie, Unfall und Krankheit… Ausserdem ist man unabhängig und
selbstständig.

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Welche Vorteile hat es in einer Gemeinschaftspraxis zu arbeiten?
Es ist Teilzeitarbeit möglich. Ausserdem sind die Patienten auch versorgt, wenn ich abwesend bin. Ein
weiterer wichtiger Punkt: Die Teamarbeit mit Spezialisten und anderen Hausärzten ist sehr nützlich.
Beispielsweise können Geräte gemeinsam genutzt werden, und es findet ein reger Wissensaustausch
statt.
Ich habe eine eigene Praxis und bin selbständig, aber in einer Gruppe. Es werden nur die Geräte, das
Sekretariat und das Personal gemeinsam benutzt. Alleine würde sich eine eigene Infrastruktur für ein
50% Pensum niemals lohnen

Aurelio Casanova, Gemeindepräsident von Ilanz

Die Gemeinde Ilanz wollte im Jahr 2014 eine Gemeinschaftspraxis in den Räumen des Spitals
einrichten. Das Projekt wurde aber nicht realisiert…
Anfangs 2014 sind die Hausärzte auf die Gemeinde zugekommen und haben ihrer Sorge über die
medizinische Grundversorgung in der Region Ausdruck gegeben. Grund war die bevorstehende
Alterspensionierung mehrerer Hausärzte. Dabei wurde auch die Möglichkeit einer
Gemeinschaftspraxis diskutiert. Die Gemeinde hat in einer kleinen Arbeitsgruppe zusammen mit den
Hausärzten, mit Grisomed und dem Spital mögliche Wege geprüft. Im Personalhaus des Spitals
hätten kurzfristig Räumlichkeiten für eine Gemeinschaftspraxis bereitgestellt werden können. Dies
hätte auch die Möglichkeit für Synergienutzungen zwischen Spital und Hausärzten geschafft. Leider
konnte diese Idee dann doch nicht umgesetzt werden. Die genauen Gründe sind nicht so klar,
vermutlich hat es aber damit zu tun, dass die Hausärzte zwischenzeitlich eine Nachfolge für die
bestehende Praxis gefunden haben. Zudem war eine gewisse Skepsis der Hausärzte bezüglich einer
Praxis so nahe beim Spital zu spüren. Ich bin aber nach wie vor der Meinung, dass mittelfristig eine
Gemeinschaftspraxis in Ilanz sinnvoll wäre.
Was könnte denn die Gemeinde unternehmen, um Ärzte in die Region zu locken?
Ilanz ist das Zentrum der Region Surselva und in Ilanz und rund um Ilanz entsteht viel Wohnraum.
Auch Alterswohnungen sind in Ilanz geplant, so dass eigentlich genügend Potenzial für Hausärzte
vorhanden sein sollte. Die Gemeinde selbst kann wohl nur in bescheidenem Mass den Zuzug von
Hausärzten beeinflussen. Es ist einfach Fakt, dass es überall schwierig wird, Hausärzte zu finden. Die
Gemeinde ist nach wie vor bereit, an geeigneten Lösungen für künftige Praxisgemeinschaften
mitzuarbeiten und im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch nach geeigneten Lokalitäten zu suchen.

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