HEIMAT WAS IST HEIMAT? WAS VERBINDEN WIR MIT HEIMAT? WIR HABEN NACH GEFRAGT UND UNS UMGEHÖRT - Rheinfelden

Die Seite wird erstellt Holger Thomas
 
WEITER LESEN
HEIMAT WAS IST HEIMAT? WAS VERBINDEN WIR MIT HEIMAT? WIR HABEN NACH GEFRAGT UND UNS UMGEHÖRT - Rheinfelden
Das Kultur- und Stadtmagazin beider Rheinfelden

                                  65 | Juli/August 2019 | gratis erhältlich

SCHWERPUNKT
HEIMAT
WAS IST HEIMAT?
WAS VERBINDEN WIR
MIT HEIMAT?
WIR HABEN NACH­GEFRAGT
UND UNS UMGEHÖRT…
                                                              en
                                                        Brückionen
                                                            t
                                                       Sensa.–25.
                                                          23 st
MIT DEN VERANSTALTUNGSTIPPS                               Augu
IM JULI UND AUGUST
HEIMAT WAS IST HEIMAT? WAS VERBINDEN WIR MIT HEIMAT? WIR HABEN NACH GEFRAGT UND UNS UMGEHÖRT - Rheinfelden
Anzeige

    im Solebad- Eintritt
    inbegriffen

     Achtsamkeitsgarten                                                                Hotel EDEN im Park ****
     mit Heilkräutern und Kneipp-Pfad                                                  Rheinfelden, hoteleden.ch

Anzeige

                     DIE LUSTIGEN
                  WEIBER
                    VON WINDSOR
                       EINE KOMISCHE OPER
                       VON OTTO NICOLAI     18.10.
                                            24.1 1.2019
                                            BAHNHOFSAAL RHEINFELDEN

                                                    Gastrozelt   +41 (0)61/831 51 51
    www.fricktalerbuehne.ch                                      www.zaraz.ch

          REGIE : BETTINA DIETERLE • MUSIKALISCHE LEITUNG : CASPAR DECHMANN

2
HEIMAT WAS IST HEIMAT? WAS VERBINDEN WIR MIT HEIMAT? WIR HABEN NACH GEFRAGT UND UNS UMGEHÖRT - Rheinfelden
Rheinfelden
                    Lebenswert. Liebenswert.

IMPRESSUM
                                                           Susanna Schlittler

Herausgeber
Stadt Rheinfelden (Schweiz), Stadt Rheinfelden (Baden)
                                                             Liebe Leserin, lieber Leser
Redaktion Heft 65
Brigitte Brügger, Michelle Geser, Claudius Beck,
                                                             „Heimat entsteht in der Fremde“ schreibt der Schweizer Autor Walter
Stephanie Braun, Peter Löwe                                  Ludin – dem kann ich nur zustimmen. Ich bin zwar in der Schweiz geboren,
                                                             verbrachte jedoch meine Kindheit in Südamerika und besuchte dort in den
Fotos Inhalt Autoren, wenn nicht anders vermerkt             ersten sieben Schuljahren sechs verschiedene Schulen in vier Ländern. Mein
Titelfoto Fotolia.com (anela47)                              Vater baute als Bauingenieur Kraftwerke in Peru, Argentinien und Bolivien.
                                                             Umzüge waren für uns Kinder ganz normal.
Realisation Peter Löwe, www.Loewe-Werbeagentur.com
Druck Effingermedien AG Brugg                                Als jemand, der in einer fremden Kultur gross geworden ist, werde ich immer
                                                             wieder mal gefragt, wo denn meine Heimat sei? In Südamerika, wo ich
Auflage 6.000 Exemplare
                                                             aufgewachsen bin, oder im Land wo ich geboren bin und nun seit über 40
ISSN 1664-4778
                                                             Jahren lebe? „Für mich ist Heimat da, wo mein Lebensfaden verankert ist
Verteilung
                                                             und den habe ich vor 28 Jahren definitiv in Rheinfelden festgemacht.“
Auslage in Gemeindeverwaltungen, Geschäften,
Bibliotheken, Schulen und Kultureinrichtungen
                                                             Neben dieser örtlichen Verwurzelung bin ich überzeugt, dass nur derjenige
Bezug im Abo möglich: Infos auf der vorletzten Seite
Rheinfelden (Schweiz): Verteilung an Abonnenten
                                                             der „bei sich selbst zu Hause“ ist, in tiefer Verbundenheit mit anderen leben
der Neuen Fricktaler Zeitung                                 kann. Dieses Gefühl der Verbundenheit bedeutet für mich auch ein Stück
                                                             Heimat und hat bei mir seinen Ursprung in meiner Familie, in meinem
Kontakt für Redaktion und Inserate in Rheinfelden/D          Freundeskreis und in meinen sozialen und politischen Netzwerken.
Kulturamt der Stadt, Claudius Beck,
Rathaus, Kirchplatz 2, D-79618 Rheinfelden                   Trotzdem ist mir das Gefühl des Heimwehs fremder als das des Fernwehs. Ich
c.beck@rheinfelden-baden.de, Tel.: +49 7623 95-237           reise sehr gerne. Da ich mehrsprachig aufgewachsen bin, fühle ich mich, ohne
Kontakt Kalender Rheinfelden/D:                              die Sprachbarrieren, auch in der Fremde schnell zuhause. Was wäre aber das
s.braun@rheinfelden-baden.de                                 Reisen ohne das Heimkommen. Wie wunderbar ist es doch durch s`Städtli
                                                             zu gehen und immer mal bekannte Gesichter zu sehen oder ein freundliches
Kontakt für Redaktion, Kalender in Rheinfelden/CH
                                                             Grusswort zu geben oder zu hören. Gerade das ist Heimat für mich!
Stadtbüro/Kulturbüro, Brigitte Brügger
Rathaus, Marktgasse 16, CH-4310 Rheinfelden
                                                             Seien Sie nun gespannt auf die Beiträge, Interviews und Statements in
2xrheinfelden@rheinfelden.ch, Tel.: +41 61 835 51 11
                                                             dieser Ausgabe, die das Thema „Heimat“ aus philosophischer, soziologischer,
Kontakt für Inserate in Rheinfelden/CH                       politischer und gesundheitlicher Sicht beleuchten. Ein bunter Strauss der uns
Fricktaler Medien AG, Frau Karin Stocker,                    motivieren kann gemeinsam mit den nächsten Generationen den Prozess
Baslerstrasse 10, 4310 Rheinfelden                           der Verwurzelung in unserem Rheinfelden fortzusetzen – denn wer gut
karin.stocker@fricktalermedien.ch, Tel. +41 61 835 00 52     verankert ist, kann sich weit hinauslehnen.

Inserate- und Redaktionsschluss für die Ausgabe
September/Oktober: 31. Juli 2019                             Susanna Schlittler,
                                                             Stadträtin Rheinfelden CH

Schwerpunkt: Heimat                                                                                                       EDITORIAL          3
HEIMAT WAS IST HEIMAT? WAS VERBINDEN WIR MIT HEIMAT? WIR HABEN NACH GEFRAGT UND UNS UMGEHÖRT - Rheinfelden
«Wer Heimat als einen in sich stimmigen, fixen Ort sucht, sucht wohl vergeblich.»

                            Heimat – eine Annäherung
            Wenn ich an Heimat denke, kommt mir Max Frisch in den Sinn. Er verstand Heimat als einen Ort,
           an dem niemand Angst haben muss. Daran lässt sich anknüpfen. Was ist Heimat? Der Schriftsteller
            bezog sich auf „Gastarbeiter“ und Vertriebene. Heute zwingt die Klimaerwärmung immer mehr
                             Menschen zur Flucht. Sie suchen eine neue Heimat. Und wir?

    Foto: Eleni Kougionis

4     TITELTHEMA
HEIMAT WAS IST HEIMAT? WAS VERBINDEN WIR MIT HEIMAT? WIR HABEN NACH GEFRAGT UND UNS UMGEHÖRT - Rheinfelden
I       n meinem roten Pass stand bis-
        lang: Heimatort Agriswil (FR). Die-
        se Gemeinde ist mir vertraut. Sie
zählt 150 Leute. Unsere Familienausflüge
führten ab und zu dorthin. Unser Vater
zeigte uns, auf welchem Hof er aufge-
wachsen war. Inzwischen fusionierte
                                              schaftliche Wandel vollzieht sich rasch.
                                              Und das Geld durchdringt schier sämt-
                                              liche Lebenswelten. Das beflügelt neue,
                                              teilweise flüchtige Diskurse über Heimat,
                                              rückwärts- und vorwärts gewandt.
                                                 Die einen wollen sich, hier arg verkürzt
                                              dargestellt, ins Schneckenhaus verkrie-
                                                                                               Ihre Umsetzung verlangt gerechte Struk-
                                                                                               turen. Dazu gehören eine demokratische
                                                                                               Politik, ein fairer wirtschaftlicher Aus-
                                                                                               tausch, soziale Sicherheiten und ein sorg-
                                                                                               samer Umgang mit Ressourcen. Wenn wir
                                                                                               uns auf Kosten der Natur oder anderer
                                                                                               Menschen bereichern, verschlechtern wir
mein Heimatort mit einer anderen Ge-          chen und ihr Gärtchen pflegen. Eine mög-         deren und letztlich auch unsere Lebensbe-
meinde. Seither steht in meinem Pass:         lichst homogene Bevölkerung soll ihre ge-        dingungen. Heimat benötigt faire Voraus-
Heimatort Ried. Diese Gemeinde ist mir        sittete Ordnung schützen. Eine verhärtete        setzungen. Sie gedeiht im sozialen Mitei-
fremd. Näher sind mir Sissach und Basel,      provinzielle Position bewirtschaftet diese
geographisch und emotional. Da ver-           Konzeption. Eine andere Option kommt                «Heimat duldet keine Aus­
brachte ich meine Jugend und Arbeitszeit.     super liberal daher. Sie tritt für eine Offen-   grenzung. Sie fordert uns heraus,
Und jetzt wohne ich schon ein paar Jahre      heit ein, die alles offen lässt und gläubig       uns selbst kritisch auf uns und
in Rheinfelden. Hier fühle mich allmäh-       dem Markt anvertraut. Die forcierte Kon-               andere einzulassen.»
lich zuhause: in der Altstadt, im Park, im    kurrenz soll das Wachstum steigern und
Gartenbad. Ja, sogar auf dem Friedhof.        die flexibilisierte Heimat permanent op-         nander. Vertrautheit kommt auf, wenn
Hier ruhte bis vor wenigen Wochen ein         timieren. Die rückwärts- und die vorwärts        sich alle auf Augenhöhe begegnen und
Schulfreund. Nun ist sein Grab aufgeho-       gewandte Variante sind Kehrseiten einer          möglichst geborgen, sicher und frei füh-
ben. Das ist gut verständlich, aber für       ausgrenzenden Heimat. Alternativen sind          len können. Heimat duldet keine Ausgren-
mich ein Verlust. Wie die Gemeinde ihren      gefragt.                                         zung. Sie fordert uns heraus, uns selbst
einzigartigen Wald-Friedhof umgestalten                                                        kritisch auf uns und andere einzulassen.
will, debattierte sie im Dezember 2018 an     Soziales Miteinander                             So entsteht eine demokratische (Streit-)
einer eindrücklichen Versammlung. Da          Wer Heimat als einen in sich stimmigen,          Kultur respektvoller Auseinandersetzung,
kamen Fragen zu unserer Endlichkeit, zu       fixen Ort sucht, sucht wohl vergeblich. Es       die Halt und Wärme vermittelt. Sie fördert
Nähe und Distanz, zu Ruhe und Hektik          gibt keine Vertrautheit, die in der warmen       ein lebendiges (Zusammen-)Leben und
und dazu auf, was eigentlich wichtig ist      Stube auf uns wartet oder sich ein für alle      bringt uns einer Heimat näher, in der alle
im Leben. Am Schluss stand ein erstritte-     Mal einrichten lässt. Heimat findet nach         möglichst wenig Angst haben müssen.
ner Kompromiss. Er vereinbart persönli-       neueren soziologischen Ansätzen in so-                                          Ueli Mäder
che und öffentliche Anliegen. Eine demo-      zialen Prozessen und Vereinbarungen
kratische Kultur der Auseinandersetzung       statt. Aber ist es überhaupt sinnvoll, den
ermöglichte ihn. Sie passt zu meinem Ver-     zwiespältig überhöhten Begriff weiter zu
ständnis von Heimat.                          verwenden? Ich finde ja. Er ist zu wichtig,
                                              um ihn jenen zu überlassen, die ihn für
Rückwärts- und vorwärts gewandt               eigene Zwecke vereinnahmen. Heimat
Frühere Konzepte definierten Heimat als       realisiert sich annäherungsweise, wenn
örtliche Geborgenheit. Zur gemeinschaft-      wir sie mitgestalten und weiter führende
lichen Stallwärme gehörten klare Vorstel-     Prozesse miteinander vereinbaren. Wohl
lungen darüber, wer teilhaben darf. Enge      wissend, unterwegs zu bleiben. Heimat
Kontrollen und Normen dominierten die         ist weder Mittel noch Zweck. Sie ist auch
                                              kein Heil. Heimat lebt auf, wenn wir ge-
    «Heimat lebt auf, wenn wir                meinsam versuchen, freiheitliche Gebor-
 gemeinsam versuchen, freiheit­               genheit für alle zu verwirklichen. Und das
  liche Geborgenheit für alle zu              gelingt uns immer nur beschränkt. Wobei
         verwirklichen.»                      die erwähnte Erfahrung gesellschaftlicher
                                              „Coolness“ auch die Bereitschaft fördern
scheinbare Idylle. Das bewegte besonders      kann, aus freien Stücken wieder verbind-
Junge dazu, aus fest gezurrten Verhältnis-    lichere Beziehungen eingehen zu wollen.
sen aufzubrechen. Sie suchten eine andere     Das ist eine Chance. Sie lässt sich emanzi-
Heimat mit mehr Freiheit in der Anony-        pativ aufnehmen. Aber wie?                       Zum Autor dieses Textes: Ueli Mäder ist Soziologe,
                                                                                               emeritierter Professor der Universität Basel.
mität. Die erstrebte „Coolness“ erwies sich      Grund- und Menschenrechte helfen,
aber bald als zu „cool“. Denn der gesell-     die Heimat als Gut für alle anzugehen.

                                                                                                                           TITELTHEMA               5
HEIMAT WAS IST HEIMAT? WAS VERBINDEN WIR MIT HEIMAT? WIR HABEN NACH GEFRAGT UND UNS UMGEHÖRT - Rheinfelden
Eveline Klein, Ortsvorsteherin, Historikerin und Vorsitzende des Fördervereins, inmitten der historischen bäuerlichen Exponate im Dinkelbergmuseum in Minseln.

                       Das Dinkelbergmuseum in Minseln bewahrt ein Stück Heimatgeschichte

                      Wie das bäuerliche Leben
                        ANNO DAZUMAL war

U
        m vier Uhr morgens gingen die                    als das Dorf und die umliegenden Orte noch                   Bauernhäuser abgerissen wurden, kam die
        Männer mit scharf gedengelten                    vorwiegend von Landwirtschaft geprägt                        Initiative auf, die Utensilien, Dinge und Ge-
        Sensen zu den Wiesen und began-                  waren: ein Stück Heimatgeschichte wird                       rätschaften des bäuerlichen Alltagslebens
nen das Gras zu schneiden bis gegen neun                 bewahrt. Die Exponate geben ein authenti-                    aufzubewahren. Viele Bewohner gaben Ge-
Uhr. Gegen sieben Uhr brachten die Frau-                 sches Abbild des Bauernlebens anno dazu-                     räte, Mobiliar, Textiles und Gebrauchsgegen-
en das Morgenessen, meist eine Mehl-                     mal auf dem Dinkelberg.                                      stände ab, die den Grundstock für das Mu-
suppe. Die Frauen mussten jetzt das Gras                    Das alte Rathaus, in dem sich das Muse-                   seum bildeten. Der „Vater“ des Museums sei
„warben“...“. So berichtet Hermann Mai-                  um befindet, wurde 1824 als Schulhaus er-                    Ernst Spitz gewesen, erzählt Ortsvorsteherin
er aus Minseln, Jahrgang 1907, wie einst                 baut. Zeitweise waren Schule und Rathaus                     und Historikerin Eveline Klein, die Vorsit-
bei der Heuernte die Matten gemäht, das                  unter einem Dach untergebracht. Heute                        zende des Fördervereins. In ehrenamtlicher
Heu auf Leiterwagen aufgeladen und in                    hat die Ortsverwaltung hier ihr Domizil.                     Arbeit brachten sich die Vereinsmitglieder in
der Scheune von Hand auf den Heustock                    Im Dachgeschoss, das als Speicher und La-                    den Aufbau des Museums ein, seit damals
befördert wurde.                                         gerraum diente, wurde im Jahr 2000 das                       im Vorstand aktiv dabei ist Elmar Döbele.
   Wie das bäuerliche Leben früher war,                  Heimatmuseum Dinkelberg, wie es damals                          Das Dachgeschoss mit rustikalem Holz-
welche Gerätschaften die Bauersleute ver-                hieß, eingerichtet. Den rührigen Förderver-                  gebälk und Holzboden bietet das passende
wendeten: Das wird im Dinkelbergmuseum                   ein, der sich für das Heimatmuseum stark                     Ambiente für die Exponate aus der bäuer-
in Minseln anschaulich gemacht. Dort wird                gemacht hat, gibt es seit 1986. Vor dem                      lichen Lebens- und Arbeitswelt des 19. und
die Erinnerung an die Zeit wach gehalten,                Hintergrund, dass im Dorf immer mehr                         frühen 20. Jahrhunderts, die einen authen-

6    TITELTHEMA
HEIMAT WAS IST HEIMAT? WAS VERBINDEN WIR MIT HEIMAT? WIR HABEN NACH GEFRAGT UND UNS UMGEHÖRT - Rheinfelden
tischen Eindruck geben von der Arbeit auf        Sonn- und Feiertagen getragen wurde. Eine       Orts-Jubiläum von Nordschwaben wurden
Feld, Acker, in Stall und Gehöft. Die Dauer-     festliche Tracht in Schwarz ist zu bewundern,   im Museum dokumentiert.
ausstellung wurde so konzipiert, dass sie den    ebenso ein Gehrock um 1900, Zylinder, Körbe,        Vorführungen machen das bäuerliche
Kreislauf der Jahreszeiten und der bäuerli-      Hauben und Trachtentücher. Auch ein hand-       Leben greifbar: So wurde Butterherstellung
chen Tätigkeiten darstellt.                      gewebtes Leinenhemd aus dem 19. Jahrhun-        wie früher praktiziert, mit Hilfe der Dinkel-
   Der Rundgang beginnt beim Pflügen, Eg-        dert ist Teil dieser textilen Abteilung.        berger Landfrauen. Monika Haller rückte als
gen, Säen, der Feldarbeit im Frühjahr und           Zum bäuerlichen Alltag gehörte auch          „Wöschwiib“ mit Zuber, Waschbrett, Lauge
geht weiter über die Heuernte im Sommer          das Buttermachen. Milchkannen, Bottiche,        und Wurzelbürste an, um einen Wäschetag
bis zum häuslichen Bereich, der im Winter-       Milchsiebe, ein Holzbutterfass mit Hand-        wie zu Großmutters Zeiten vorzuführen. Im
halbjahr eine stärkere Rolle spielte. Histori-   kurbel, ein Butterstoßkübel zeugen davon.       Museumsschopf hinter dem Haus sind grö-
sche Fotografien aus Minseln, Nordschwa-         Auch Gerätschaften zum Schnapsbrennen           ßeres Gerät wie Egge, Pflug und Pritschen-
ben und Adelhausen machen sichtbar, wie          und Holzmachen haben in der Daueraus-           wagen untergebracht, im Museumsstübli
die Bauernfamilien bei der Ernte anpack-         stellung ihren Platz.                           ist eine historische Schuhmacherwerkstatt
ten, wie Ochsen, Kühe und Pferde als Zug-           In zahlreichen Sonderausstellungen wur-      und Wagnerei aufgebaut.
tiere eingesetzt wurden. Gerätschaften und       den lokale Themen aufgegriffen. So gab es           Seit 2018 können im Dinkelbergmuseum
Utensilien wie Polsterkummet, Stirnjoch,         Schauen über Streuobstwiesen, Wald- und         aus brandschutztechnischen Gründen keine
Egge, Pflug, Flachsbreche oder eine Seil-        Forstwirtschaft und die Geologie des Dinkel-    Ausstellungen mehr gemacht werden. „Das
drehmaschine verdeutlichen die schwere           bergs. Vorgestellt wurde altes Handwerk wie     Hauptproblem ist, dass wir keinen zwei-
ländliche Arbeit.                                die Schneiderei mit Utensilien aus der frü-     ten Rettungsweg haben“, schildert Eveline
   Zwischen Strohballen finden sich eine         heren Schneiderwerkstatt Josef Sailer und       Klein die Situation. Bis die Baumaßnahmen
Handdreschmaschine, Rechen, Heugabel,            alten Bügeleisen. „Vom Flachs zum Leinen“       für die nötige Rettungstreppe realisiert sind,
Dreschflegel, sogar ein Graswagen, ein alter     hieß eine andere Präsentation. Auch die         muss das Museum seine Aktivitäten und
Handwagen von 1900, auf dem Gras und             Markgräfler Tracht war ein Thema, ebenso        Veranstaltungen nach draußen in den Hof
Heu transportiert wurde. Auch Dengelstock        wie Bilderbücher und historische Poesieal-      und an andere Orte verlegen. Klein und
und Dengelhammer, Windfege und eine              ben. Aber auch künstlerisches Schaffen aus      ihre Mitstreiter hoffen, dass die Gelder für
Üselwanne, mit der die Spreu vom Korn ge-        dem Ort stand im Blickpunkt. So gab es zum      die Planung der Brandschutzmaßnahmen
trennt wurde, waren übliche Arbeitsgeräte.       Auftakt eine Hommage an den Malerpoe-           schon 2020 im Haushalt bereit stehen. In
In irdenen Töpfen stehen Roggen, Weizen,         ten, Holzschneider und Dichter Alban Spitz,     der Zwischenzeit behilft sich der Förder-
Dinkel, Hafer und man erfährt Interessantes      der ein echtes Minsler „Original“ war. Eben-    verein, indem er außer Haus Aktionen und
über die Getreideernte.                          so waren Werke des Grafikers und langjäh-       Veranstaltungen anbietet wie zuletzt eine
   In der kälteren Jahreszeit spielte sich       rigen Vorstandsmitglieds und Kurators Diet-     Grenzstein-Wanderung, eine Brunnenfüh-
das arbeitsame Tun in Küche und Stube ab.        mar Biermann und seiner verstorbenen Frau       rung und einen Blick in den ehemaligen
Dieser häusliche Bereich wird durch Klei-        Käthe zu sehen. Großen Publikumserfolg          Ortsarrest von Minseln.
dung, Stoffe, Strohfinken, einen Schrank         hatten die fünf Auflagen von „Dinkelberg            Beim Dorffest in Minseln wird am 14. Ju-
mit Decken, Spinnrad und einen alten Herd        kreativ-aktiv“, bei denen Kunstschaffende       li im Foyer der Alban Spitz-Halle eine Foto-
mit Töpfen und Pfannen, Waffeleisen und          vom Dinkelberg Malerei, Keramik, Objekte        aktion unter dem Motto „Wir setzen Ihnen
Schöpfkelle veranschaulicht. Im Blickpunkt       aus Pappmaché, Holzarbeiten und anderes         Hörner auf“ durchgeführt. Besucherinnen
steht die Markgräfler Tracht mit Hörner-         zeigten. Auch Vereinsjubiläen der Froschen-     können sich mit Hörnerkappe und Schulter-
kappe, Schultertuch und Schürze, die an          clique und des Gesangsvereins oder das          tuch der traditionellen Markgräfler Tracht
                                                                                                 ablichten lassen und das ausgedruckte Foto
                                                                                                 mitnehmen. Im Herbst öffnen sich bei ei-
                                                                                                 nem Aktionstag im Museumshof die Tore
                                                                                                 des Schopfes, wo die Großgeräte stehen, und
                                                                                                 des Stüblis mit den alten Schuhmacher- und
                                                                                                 Zimmermanns-Werkzeugen: altes Hand-
                                                                                                 werk zum Anfassen.
                                                                                                     Wie Eveline Klein betont, nimmt der
                                                                                                 Verein weiterhin alte Gerätschaften und
                                                                                                 historische bäuerliche Utensilien entge-
                                                                                                 gen, um die Dauerausstellung damit er-
                                                                                                 gänzen zu können.
                                                                                                                                 Roswitha Frey

                                                                                                   Fotoaktion beim Dorffest
                                                                                                   14. Juli in der Alban-Spitz-Halle Minseln
                                                                                                   Info: www.dinkelbergmuseum.de

Alter Herd aus einem Bauernhaus.
                                                                                                                         TITELTHEMA            7
HEIMAT WAS IST HEIMAT? WAS VERBINDEN WIR MIT HEIMAT? WIR HABEN NACH GEFRAGT UND UNS UMGEHÖRT - Rheinfelden
FRICKTALER MUSEUM, Marktgasse
                                12, 4310 Rheinfelden. Das Museum ist
                                jeweils Di, Sa und So von 14–17 Uhr ge-
                                öffnet. www.fricktaler-museum.ch

                 Kathrin Schöb und Ute W. Gottschall vor «ihrem» Museum
8   TITELTHEMA
HEIMAT WAS IST HEIMAT? WAS VERBINDEN WIR MIT HEIMAT? WIR HABEN NACH GEFRAGT UND UNS UMGEHÖRT - Rheinfelden
Das Fricktaler Museum hiess früher Fricktaler Heimatmuseum

                         Hier kommt man
                     DER HEIMAT AUF DIE SPUR
           Früher hiess das heutige Fricktaler Museum Fricktalisches Heimatmuseum. Nicht von ungefähr:
        Das Museum für naturkundliche und kulturgeschichtliche Gegebenheiten von Rheinfelden hat einiges
        mit Heimat zu tun. Es sind vor allem Menschen, Objekte und Geschichten von anno dazumal bis heute,

S
                     welche dazu beitragen, hier Heimat zu festigen oder vielleicht gar zu finden.

           chlendert man durch die ge-          im Museum ausgestellt werden, Prozes-           an der richtigen Adresse. Und gerade in
           schichtsträchtigen Räume im          se auslösen können, die dazu führen sich        Zeiten von Globalisierung und weltweiter
           herrschaftlichen Haus «Zur           heimisch zu fühlen. Das kann zum Beispiel       Vernetzung, Google und Facebook dürfte
Sonne» an der Marktgasse 12, wo sich das        eine antike Tasse sein, die einen ans Eltern-   das Nahe in Zukunft eher an Wichtigkeit
Fricktaler Museum heute befindet, so kann       haus erinnert. Menschen, Geschichten und        gewinnen, stillt es doch ein urmenschli-
das durchaus dazu beitragen, seine Heimat       Erinnerungen sind dabei ebenso wichtig          ches Verlangen nach Nähe, Geborgenheit
Rheinfelden zu festigen, zu entdecken oder                                                      und Vertrautem.
gar zu finden. Das Fricktaler Museum bietet         «Die ganze Welt ist für mich
anhand seiner zahlreichen Exponate, Ob-             meine Heimat, wenn meine                    Auch für Junge ist Heimat wichtig
jekte, Bilder, Themen und Geschichten eine               Familie dabei ist.»                    Fragt man Jugendliche, was ihnen Heimat
spannende Zeitreise von der Frühgeschich-                                                       bedeutet, so sind auch heute die Familie,
te übers Mittelalter bis hin zur Neuzeit. So-   wie Ereignisse oder Bilder von Hotels und       Freunde, die Schule und der Ort sehr wich-
eben zu Ende gegangen ist die erfolgreiche      Unternehmen, die es schon längst nicht          tige Komponenten. Lena Parschauer ist
Sonderausstellung «Rheinfelden – anno           mehr gibt. Eine Institution wie das Frickta-    Klassenlehrerin der 4. Klasse im Robersten-
dazumal und heute». Gezeigt wurden Ge-          ler Museum, wo genau dies zu sehen und          Schulhaus in Rheinfelden. Heimatliches ist
schichten, Menschen und Erinnerungen aus        zu erleben ist, kann dazu beitragen, Heimat     für sie sehr wichtig. Im Rahmen der «Hei-
verschiedenen Blickwinkeln. Es war eine         zu vermitteln.                                  matkunde» unternahmen sie mit ihrer
Ausstellung wider das Vergessen, welche an-                                                     Klasse ein ganz besondere Stadtführung
fangs dieses Jahres mit Bildern und Objekten    Fricktaler Museum – ein Besuch lohnt sich!      über die Geschichte Rheinfeldens und ins-
des einstigen noblen Kurhotel Krone ergänzt     Auch wenn die erwähnte Sonderausstel-           besondere der berühmten Sage vom listi-
wurde. Die ausgestellte Kabine des vorneh-      lung im Haus zur Sonne soeben zu Ende ge-       gen Schneider von Rheinfelden. Darüber
men «Stigler-Liftes» im Eingangsbereich des     gangen ist, lohnt sich ein Besuch im Frick-     hinaus machten sich die Schülerinnen und
Hotels lässt einen erahnen, wie gediegen es     taler Museum allemal. Die Sammlung ist          Schüler Gedanken zum Thema Heimat und
in Rheinfelden einst zugegangen ist.            vielfältig von archäologischen Bodenfun-        nannten ebenfalls ihr nächstes Umfeld, al-
                                                den aus der Frühzeit über mittelalterliches     so Familie, Freunde, Schule als Wichtigstes.
Reflektion über den Begriff Heimat              Handwerk mit heute ausgestorbe-
Aber was bedeutet eigentlich Heimat? Und        nen Berufen bis hin zu Reliquien                               Gwendolyn Peter bestätigt
wie findet man Heimat? Wo liesse sich           und Bildern der einst kaiserlichen                             dies: «Heimat ist, wo meine
diesen Fragen besser auf die Spur zu kom-       Habsburgerzeit. Das Spektrum der                               Familie ist. Heimat ist dort,
men als im Museum an der Marktgasse in          Themen rund um die Geschichte                                  wo es mir gut geht. Heimat
Rheinfelden. Für Kathrin Schöb, Leiterin        Rheinfeldens ist breit gehalten.                               ist, was ich vermisse, wenn
und Kuratorin des Museums gibt es darauf        Nebst Alltagsobjekten aus früheren                             ich weg bin.»
allerdings nicht nur eine Antwort. Jede und     Zeiten erfährt man viel Wissens-
                                                                                                               Tim Derrer spannt den Bo-
jeder definiert es etwas anders und aus         wertes, zum Beispiel über das Woh-
                                                                                                               gen etwas weiter: «Die gan-
ganz persönlicher Sicht. Sich wohl- und da-     nen, das Musizieren oder die einsti-
                                                                                                               ze Welt ist für mich meine
heimfühlen hat zweifellos viel mit Heimat       ge Salmen-Fischerei. Bewusst wird
                                                                                                               Heimat, wenn meine Fami-
zu tun, so Kathrin Schöb. Für Ute W. Gott-      darauf geachtet, dass die Themen
                                                                                                               lie dabei ist.»
schall, stellvertretende Leiterin/Kuratorin     allgemein verständlich und alles
des Museums kann sich Heimat im Laufe           andere als verstaubt daherkom-
eines Lebens durch das Erlebte durchaus         men. Wer eine lebendige Zeitreise                                          Stephan Schöttli
auch verändern. Einig ist man sich, dass        durchs einstige und heutige Rheinfelden
Objekte aus vergangenen Zeiten, wie sie         erleben möchte, ist im Fricktaler Museum

                                                                                                                      TITELTHEMA          9
HEIMAT WAS IST HEIMAT? WAS VERBINDEN WIR MIT HEIMAT? WIR HABEN NACH GEFRAGT UND UNS UMGEHÖRT - Rheinfelden
WAS IST und bedeutet HEIMAT,
                 was verstehen die Menschen
                       unter Heimat?
               Heimat ist vielleicht ein altmodischer Begriff, doch Heimat ist gerade heute in unserer
             heutigen schnelllebigen Zeit sehr wichtig“, hat kürzlich der frühere Ministerpräsident von
             Baden-Württemberg Erwin Teufel in einem Vortrag gesagt. Und mehr noch: „Heimat liefert
                Orientierung, Austausch und bietet Halt“, erklärte er. Wir haben uns in Rheinfelden
                                    mal ein wenig umgehört zum Begriff Heimat.

„Heimat – das ist für mich der Dinkelberg,     „Heimat, als Begriff, bezieht sich auf Din-
unsere liebenswerten Orte und Men-             ge, Sprache, Religion usw. indem sich das
schen, unsere Sprache, der Geruch der          Individuum, als „geistige Heimat“ erkennt
Landschaft“, sagt Ewald Lützelschwab aus       und mit dem es sich identifiziert“, weiß
Minseln. „Heimat, das ist ganz einfach da,     Gustav Fischer. „Heimat bezeichnet also
wo man sich hingezogen und geborgen            nicht immer einen konkreten Ort. Erst
fühlt, wo man gerne da ist“, fügt er hinzu.    beim Nachdenken darüber, warum ver-
„Für mich ist Heimat der Lebensort, in         binden sich diese Abstrakta mit Gefühlen,
dem ich zu Hause bin, wo ich lebe, wo ich      mit Empfindungen, angesiedelt zwischen
meine Familie und meine Bindungen ha-          Schmerz und Freude, wird der Begriff Hei-
be, mich wohlfühle und mich einbringen         mat gegenständlicher.
kann“, lässt Karin Reichert-Moser wissen. In
Degerfelden lebe ich seit meiner Geburt,
aufgewachsen in trautem Umfeld einer                                                            Arlind Krasniqi

Mehrgenerationenfamilie und der Dorfge-
meinschaft. Meine Identität, meine Vita,                                                      Ähnlich denkt auch Arlind Krasniqi aus dem
meine aktive Lebensgestaltung haben sich                                                      Kosovo. Er ist zwar hier und in der Schweiz
von hier aus entwickelt. Glücklich, zufrie-                                                   aufgewachsen, lebt seit vielen Jahren hier,
den und dankbar bin ich, hier zu Hause zu                                                     ebenso wie auch seine Eltern. Ihm gefällt es
sein und wo mir die Möglichkeit gegeben                                                       hier, er fühlt sich mit seiner eigenen klei-
wurde, mich in meiner Heimat auf unter-                                                       nen Familie wohl. „Doch meine Heimat ist
schiedliche Weise einzubringen.“                                                              Kosovo“, macht er deutlich. Das spüre er
                                                                                              stets bei seinen mehrmaligen Besuchen im
„Heimat ist das, was wir zurücklassen,                                                        Jahr dort, wo er ursprünglich herstammt.
wenn wir unser Elternhaus verlassen“,                                                         „Dort sind meine Verwandten und Freun-
sagt Annette Lohmann, aufgewachsen                                                            de“, sagt er – und eines Tages will er auch
in Nordrhein-Westfalen und seit 1977 in          Sirwan Rasho                                 in den Kosovo zurückkehren.
Rheinfelden. „Heimat meiner Kindheit ist
heute nur noch ein Gefühl. Flüchtlinge an-     „Mir geht es gut in Deutschland und mir        Es ist dieser Ort in dem man geboren und
dererseits sehnen sich immer nach ihrem        gefällt es in Rheinfelden“, sagt Sirwan Ras-   aufgewachsen ist. Der Ort an dem man sich
oft zerstörten Zuhause und den Menschen,       ho aus dem Irak. „Doch meine Heimat ist        durch den ständigen Aufenthalt zu Hause
mit denen sie zusammen gelebt haben.           der Irak, da ist mein Blut, dort sind meine    fühlt. Die enge Verbundenheit gegenüber
Heimat ist für mich das Zusammenge-            Wurzeln“, erklärt er. Dorthin fühlt er sich    der Landschaft und den Menschen, mit de-
hörigkeitsgefühl, das mir meine Familie        verbunden, sind die Menschen, die er gut       nen man durchs Leben geht, die zum Teil
geschenkt hat. Heimat ist hier, wo ich mit     kennt, sind seine Freunde und seine Fa-        nicht mehr unter uns weilen, die einem
meiner Familie in Frieden lebe. Und: Hei-      milie, die ihm viel bedeuten und Heimat        aber, für den Rest des eigenen Lebens, ge-
mat ist überall dort, wo Freunde und Men-      sind. „Und ich hoffe, dass ich dorthin ir-     prägt haben. Kurz, Heimat ist jener Schmerz,
schen sind, die mich mögen.“                   gendwann einmal wieder zurückkehren            der sich einstellt, wenn ich an unsere beide
                                               kann“, sagt er.                                Städtli denke und kann nicht da sein.“
                                                                                                                               Gerd Lustig

10    TITELTHEMA
Stadtführerin Ulrike Maunz liebt ihren Job und die Stadt

                            „Schon damals gab es
                            nachhaltige Planung.“

W                 er Stadtführungen
                  machen will, der
                  muss sich in sei-
ner Stadt gut auskennen. Schließ-
lich gehe es bei den Trips ja nicht
                                                                                                               Führungen aber auch, den Leuten
                                                                                                               zu zeigen, wie schön Rheinfelden
                                                                                                               eigentlich ist“, sagt sie. Immer wie-
                                                                                                               der stelle sie fest, dass Viele den
                                                                                                               Wert und das Schöne in der Stadt
allein um die bloße Info, sondern                                                                              nicht so richtig schätzten. „Doch
auch gerne um die Story und die                                                                                wer mal bei einer Führung dabei
Geschichte dahinter. Dabei muss                                                                                war, denkt ein bisschen anders“, ist
die Person nicht zwangsweise aus                                                                               sie sich sicher. Zwar sei in der noch
Rheinfelden selbst stammen. En-                                                                                jungen Kommune schon Einiges an
gagement, Wissensdurst und Be-                                                                                 Historischem wieder abgerissen
geisterung vorausgesetzt, können                                                                               worden. „Doch es ist auch viel Tol-
Stadtführungen auch von Men-                                                                                   les, Spannendes, Nachhaltiges ent-
schen, die zugezogen sind, span-                                                                               standen“, betont sie.
nend und informativ gestaltet und
angeboten werden.                                                                                              Spannend ist für die Stadtführerin
                                                                                                               auch, dass es hier mal einen gro-
                                                                                                               ßen Planer in den 1950er Jahren
»Wichtig ist mir bei meinen                                                                                    gab, nämlich Eduard Steffen, dessen
Führungen aber auch, den                                                                                       Ideen vielfach in die Entwicklung
Leuten zu zeigen, wie schön                                                                                    der (Innen)Stadt eingeflossen sind.
Rheinfelden eigentlich ist.«                                                                                   Spannend ist für sie überdies, dass
                                                                                                               bereits der Flächenutzungsplan von
Eine davon ist Ulrike Maunz. Seit                                                                              1957 viele und wesentliche Grund-
gut einem Jahrzehnt lebt die Archi-             Ulrike Maunz ist Stadtführerin in Rheinfelden (Baden).         züge der aktuellen Planungen auf-
tektin aus dem schwäbischen Raum                                                                               wies. „Schon damals gab es nach-
mit ihrer Familie in der Großen Kreisstadt     eigentliche Keimzelle der Stadt, das alte                 haltige Planung“, freut sich Ulrike Maunz.
und ihrer liebenswerten Umgebung. Sie          Flusskraftwerk. Und was ihr besonders
fühlt sich hier sehr wohl, ja mehr noch:       gut gefällt: „Wir, die insgesamt sieben                   »Ich laufe stets mit offenen Augen
Die Stadt ist zu ihrer zweiten Heimat ge-      Stadtführerinnen, sind ein tolles Team“,                  durch die Stadt, da sieht und
worden.                                        schwärmt sie. Das seien alles wunderba-                   bemerkt man immer Neues und
                                               re Frauen, die jede auf ihre Art Spannen-                 Interessantes..«
Und ein kleines bisschen hat das auch          des und Informatives bei den Touren zu
mit den Stadtführungen zu tun. Vor et-         erzählen haben. Einmal im Monat trifft                       Und die Weiterbildung einer Stadtfüh-
wa sieben Jahren nahm sie mal an einer         man sich. „Da tauschen wir uns aus, war-                  rerin?“ „Wir lernen ständig neu dazu“,
Stadtführung für Zugezogene mit Gabri-         ten gespannt darauf, was es wieder Neues                  erklärt sie uns und meint dabei natürlich
ele Zissel teil. Und spontan beschloss sie,    gibt“, so Maunz.                                          Lesen, Gespräche mit interessanten Men-
ebenfalls Stadtführerin zu werden. Sie                                                                   schen, den Austausch mit den anderen
absolvierte einen Einführungskurs – und        Klar, dass sie als Architektin, also qua-                 Stadtführerinnen und – last but not least:
schon ging’s los.                              si vom Fach, die Baugeschichte der noch                   „Ich laufe stets mit offenen Augen durch
                                               jungen Stadt, die jüngere Entwicklung hin                 die Stadt, da sieht und bemerkt man im-
Bedingt durch ihren Beruf als Architek-        zur Stadt mit Fußgängerzone und Aufent-                   mer Neues und Interessantes.“
tin, kristallisierten sich schnell spezielle   haltsqualität sowie auch die Entstehung                                                  Gerd Lustig
Themen dabei heraus, nämlich die Bau-          der Gemeinde durch den Kraftwerksbau
geschichte Rheinfeldens oder auch die          interessieren. „Wichtig ist mir bei meinen

                                                                                                                              TITELTHEMA         11
«Der HEIMATBEGRIFF ist oft
                 mit SEHNSUCHT nach etwas
                 Vergangenem verbunden.»
                            Wir sprechen mit Hanspeter Flury, Chefarzt und Klinikdirektor
                    bei der Klinik Schützen in Rheinfelden, wie wichtig Heimat den Menschen ist
                             und welche Relevanz sie bei psychischen Erkrankungen hat.

Herr Flury, was bedeutet für Sie             dann auch sich selber gegenüber fremd.           fest oder an einem Schwingfest anzutref-
Heimat?                                      Bei gewissen psychischen Krankheiten             fen? Wenn überhaupt nur an speziellen
                                             erlebt man die Veränderung nicht bei             Anlässen. Auch das, was wir im Souvenir-
Heimat ist ein Gefühl, die eigenen Wur-      sich, sondern in erster Linie in der Aus-        Shop finden, ist nicht wirklich das, was
zeln zu spüren, des Vertrautseins, der       senwelt. Zum Beispiel im Rahmen einer            uns selber Heimat bedeutet.
Zugehörigkeit und des Geborgenseins.         Entwicklungskrise oder einer schweren            Faktisch ist die Schweiz mit ihren vier
Interessanterweise geht es mir wie den       Verwirrung. Auch wer sich plötzlich nicht        Sprachen noch immer ein multikulturel-
meisten Leuten: am besten kann ich mei-      mehr gleich eingebettet fühlt wie vorher,        les Land. Wir Schweizer waren es schon
ne Heimat beschreiben, wenn ich in der       ob dies partnerschaftlich, familiär, gesell-     immer gewöhnt, uns mit Fremden zu ar-
Fremde bin. Als Schweizer fühle ich sie am   schaftlich oder beruflich ist, verliert in ge-   rangieren und zusammenzufinden.
stärksten im Ausland.                        wisser Weise seine Heimat.
                                                Letztlich ist der Heimatbegriff oft mit       Trotzdem, auch ohne Kühe,
Gibt es weitere Beispiele?                   Sehnsucht nach etwas Vergangenem ver-            Schwingen und Jodeln, können
                                             bunden. Man sieht die Vergangenheit              wir doch, wo auch immer wir ge­
Wenn jemand den Wohnsitz wechselt,           verklärt, hat das Gefühl, dass früher alles      rade sind, Heimat verspüren?
fühlt er sich häufig heimatlich stärker      besser war.
mit dem Herkunftsort verbunden, als mit                                                       Ja. Heimat spüren wir dort, wo wir mit
dem neuen Wohnort. Oftmals trägt man         Heimat ist eigentlich ein schwie­                dem Umfeld in guter, stimmiger Verbin-
dann innere Bilder des Heimatorts mit        riger Begriff. Sobald man meint,                 dung stehen. Wo wir uns wohl fühlen und
sich, die nicht mehr der Realität entspre-   Heimat zu spüren, ist sie schon                  so sein können, wie wir sind.
chen, weil man in der Erinnerung vieles      entglitten?
verklärt, und sich am Herkunftsort in der                                                     Apropos Multikulti: Welche Be­
Zwischenzeit einiges verändert hat.          Ja, das stimmt. Das Gefühl von Gebor-            wandtnis haben unterschiedliche
                                             genheit und Vertrautheit brauchen wir            Kulturen in der Psychiatrie?
Inwiefern hat das Thema «Hei­                jeden Tag, wir nehmen es häufig nur un-
mat», respektive «Fremdsein»                 terschwellig war. Wenn dies nicht mehr           In der Psychiatrie sind Kulturunterschie-
eine Bedeutung bei psychischen               selbstverständlich, fast unausgesprochen         de ein grosses Thema, insbesondere in Zu-
Krankheiten?                                 da ist, beginnen wir es mit Sehnsucht und        sammenhang mit Migration. Migranten
                                             Unbehagen als Verlust zu vermissen, zu           werden häufig ausgegrenzt, offen oder
Viele psychische Krankheiten gehen mit       beklagen oder zu suchen.                         indirekt, und leiden darunter. Doch auch
einer gewissen Selbstentfremdung oder                                                         ihnen selbst stellt sich die Frage: Wie stark
Weltentfremdung einher. Ein depressiver      Heute wird ja der Begriff Heimat,                will, kann und soll ich mich an eine frem-
Mensch zum Beispiel hat keinen Zugang        auch bei uns in der Schweiz, stär­               de Kultur anpassen? Neben Ausgrenzung
mehr zu seiner Freude, zu seiner Energie     ker gelebt. «Swissness» ist in, und              durch andere gibt es auch das Phänomen,
oder zu seiner Zuversicht. Das Selbst-       typisch schweizerische Brauchtü­                 dass viele Migranten sich selber stärker
vertrauen, über das er normalerweise         mer, wie zum Beispiel Schwingen                  ausgegrenzt erleben, als sie es wirklich
verfügt, fehlt. Oder jemand hat plötzlich    und Jodeln, sind populär.                        sind, weil sie der Tatsache, dass sie von
Panik, sich unter Menschen zu begeben.                                                        ortsfremder Abstammung sind, übergros-
Diese Menschen erleben bei sich etwas,       Aber wie oft im Leben sind Schweizer wie         se Bedeutung zumessen.
das ihnen fremd ist, und fühlen sich         Sie und ich tatsächlich an einem Jodler-            Die Frage der Zugehörigkeit beschäf-

12   TITELTHEMA
tigt nicht nur die erste Generation von        leicht muss man sich auch selber verän-      Leiden heute mehr Menschen an
Menschen mit Migrationshintergrund,            dern, und nicht nur die Aussenwelt. Dann,    einer psychischen Krankheit im
sondern auch die zweite. Auch wenn es          wenn man sich selber verändert, kann es      Vergleich zu früher?
dann nur noch der Name oder vielleicht         sein, dass man anderen Menschen, denen
die Hautfarbe sind, welche anders sind.        man zuvor vertraut war, fremd wird. Und      Früher hatten die Menschen weniger
Viele sind übermässig verunsichert und         in der nächsten Phase gilt es, die nötigen   Möglichkeiten, sich zu verändern. Wenn
fühlen sich heimatlos. Sie fühlen sich hin-    Veränderungen auszuprobieren, umzuset-       jemand zum Beispiel Bäcker gelernt hatte,
und hergerissen, weder der Ursprungshei-       zen und zu verankern.                        blieb er Bäcker, ob ihm das Spass machte
mat ihrer Eltern noch der neuen «Heimat»                                                    oder nicht. Er überlegte nicht, daran et-
wirklich zugehörig zu sein.                    Ist es nicht immer so, dass der              was zu verändern. Das hatte Nachteile,
   Bei vielen psychischen Krankheiten          Mensch mit dem Vertrauten am                 aber auch Vorteile. Heute ist der Verän-
sind Menschen im Wandel und erleben            stärksten verbunden ist?                     derungs- und Leistungsdruck auf allen
sich selber ganz anders als früher. Man-                                                    Ebenen grösser, und Menschen stehen
che gehen dann weg, zum Beispiel auf           Ja, es kann sein, dass man wieder zum        viel mehr unter Druck, sich darauf einzu-
Wanderschaft, und stellen fest, dass sie       Vertrauten zurückkehrt. Aber manchmal        stellen und zu optimieren. Früher litten
sich auch am neuen Ort nicht finden. Sie       geht es auch darum, aufzubrechen, sich       die Menschen auch unter gewissen Situ-
gehen weg, um vor der eigenen Verände-         etwas Neuem zu stellen und herauszufin-      ationen, nahmen dies aber viel weniger
rung, die sie als nicht stimmig erleben,       den, was einem wirklich wichtig ist. Man     bewusst wahr als Menschen dies heute
zu flüchten. Sie versuchen sich, dieser        kann auch eine neue Geborgenheit und         tun. Heute sind leidende Menschen eher
Unstimmigkeit zu entziehen, nehmen sie         Vertrautheit finden, die man selber mitge-   bereit, bei Problemen Unterstützung und
aber mit. Wenn einem nicht die Neugier-        staltet hat. Vielleicht eine Mischung aus    Hilfe anzunehmen, während sie sie früher
de wegtreibt, sondern die Flucht vor der       dem, was bisher war, und etwas Neuem,        beispielsweise mehr in Sucht zu erträn-
eigenen Veränderung, kann der Plan des         das uns zusätzlich wichtig geworden ist.     ken versuchten. Und wir haben heute die
Weggehens schiefgehen. Insbesondere,                                                        Möglichkeit, ihnen diese Unterstützung
wenn ein Mensch stark verunsichert ist.        Ist es wichtig, dass der Mensch              und Behandlung zu bieten – zum Glück
                                               mitgestalten kann?                           für alle.
Haben Burnout-Erkrankungen                                                                                              Janine Tschopp
auch mit Entfremdung sich selber               Ja, jeder Mensch will mitgestalten, von
gegenüber zu tun?                              Natur aus. So macht es Sinn, herauszu-
                                               finden, was eine eigene Umgebung heu-
Burnout ist primär ein Krankwerden an          te ausmachen könnte, damit man sich
einer Belastung durch die Aussenwelt, vor      genügend zu Hause fühlt? Doch obschon
allem in der Arbeitswelt. Man probiert, ge-    es unsere Spezies auszeichnet, dass wir
gen eine anhaltende äussere Überbelas-         anpassungsfähig sind, ist es oft – gerade
tung anzustemmen, und brennt aus, auch         bei grossen und schnellen Veränderungen
am inneren Anspruch. Man fühlt sich in         – schwierig, sich immer wieder auf Neues
der Rolle in Partnerschaft, Familie oder Be-   einzustellen.
ruf nicht mehr wohl und stellt fest: «Das
bin nicht mehr ich.» Man wird sich selber      Nochmals zurück zum Begriff
fremd, versucht dagegen anzukämpfen,           «Heimat». Gibt es Patienten,
verliert aber kontinuierlich Energie und       die aufgrund des Verlusts ihrer
Zuversicht, und Ängste kommen auf.             Heimat zu Ihnen in Behandlung
                                               kommen?
Wie können Patienten geheilt
werden, welche an dieser Krank­                Es kommt nie jemand zu mir und sagt:
heit leiden?                                   «Ich suche meine Heimat.» Was jedoch si-
                                               cher ein Thema ist, sind fehlende Gebor-
Wichtig ist, dass diese Menschen wie-          genheit, Vertrautheit oder Stimmigkeit.
der zu ihren Kräften kommen, die ihnen         Wichtig für eine soziale Gemeinschaft
bei einem ausgeprägten Burnout fehlen.         und dass Menschen sich darin wohl füh-       Dr. med. Hanspeter Flury,
                                                                                            Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, ist
Danach beginnt eine Phase von Neu-             len, sind genügend Vertrautheit und Si-      Chefarzt und Klinikdirektor bei der Klinik Schützen in
orientierung. Wo soll in Zukunft meine         cherheit, aber auch Raum und Freiheit für    Rheinfelden.

Heimat sein? Welche Umgebung, welche           jedes einzelne Individuum. Freiheit und
Menschen sind gut für mich? Inwiefern          Zugehörigkeit also. Gerade Menschen mit      «Wer sich plötzlich nicht mehr gleich eingebettet fühlt
                                                                                            wie vorher, ob dies partnerschaftlich, familiär, gesell-
kann ich auf die bestehende Umgebung           psychischen Problemen dürfen nicht aus-      schaftlich oder beruflich ist, verliert in gewisser Weise
Einfluss nehmen, damit sie mir eher            gegrenzt oder «entheimatet» werden. Ihr      seine Heimat», sagt Hanspeter Flury.

entspricht, damit ich mich dort eher zu        würdiger Platz in der Gesellschaft ist für
Hause fühle, dass es für mich passt? Viel-     sie sehr wichtig.

                                                                                                                         TITELTHEMA                  13
14   TITELTHEMA
Heimatgefühl aus vielen Facetten

        Wo ich FAMILIE UND FREUNDE habe
     „Zur Gartenarbeit gehört auch mal mit meinen Gartennachbarn zusammenzusitzen, mit denen ich die
   Parzelle teile. Das macht Spaß, sich einfach zusammenzusetzen, ein Bier trinken oder auch zu grillen“, sagt
     Heinz Thoma, der in seinem Schrebergarten Salat und Gemüse zieht oder mit den Enkelkindern spielt.

D
        er Schrebergarten liegt nur unweit von seiner Wohnung         Durchgangsverkehr als störend. „Aber dass lässt sich wohl nicht
        in Nollingen. Wenn die Enkel wollen geht es auch auf den      ändern. Darunter leiden auch die Geschäfte.“ Er bedauert, dass es
        Abenteuerspielplatz in die Stadt. Thoma wurde 1947 im         nicht mehr das gastronomische Angebot wie früher gibt. Lange
Hotzenwald geboren und hat die längste Zeit in Rheinfelden ver-       Zeit die Stadt prägende Restaurants wie das Café Asal, das Café
bracht, wohin seine Eltern zogen, als er zwölf Jahre alt war. Trotz   Paul, das Gasthaus Sängerhalle oder das Hotel-Restaurant Danner
Ruhestand ist er alles andere als inaktiv und der gelernte Indust-
riekaufmann ist immer noch für ein Start-Up in Lörrach ein biss-
chen in der Akquise tätig. „Das macht mir Spaß, mit Jüngeren zu
arbeiten und zu sehen, dass man noch gebraucht wird.“

Ein Heimatgefühl besteht für Thoma aus vielen Facetten. „Hei-
mat ist da, wo ich mich wohl fühlen, wo ich aufgewachsen bin,
wo ich Familie und Freundeskreis habe. Das bedeutet das Gefühl
von Heimat für mich.“ Seine Ausbildung hatte er in Wehr-Brennet
gemacht. Außer seinem zweijährigen Bundeswehrdienst bei der
Marine in Flensburg, wohnte er noch ein paar Jahre in Freiburg,
bevor er 1972 wieder zurück nach Rheinfelden kam, um als Einkäu-
fer für ein Maschinenbau-Unternehmen in der Schweiz zu arbei-
ten. 1977 wechselte er als Einkäufer in die deutsche Niederlassung,
dann wurde er Kundendienstleiter und schließlich Betriebsleiter.
Thoma heiratete eine Nollingerin. Die zwei Söhne schenkten den
beiden dann fünf Enkelkinder, von denen das älteste neun Jahre
alt ist. „Die verwöhnen wir gerne.“ Familie ist einer der Akzente,
die Heimat ausmachen, und den Großeltern ist der Kontakt zu
ihren Kindern und Enkelkindern, die in der erweiterten Region
leben, wichtig.
                                                                      gibt es nicht mehr oder haben auf internationale Küche umge-
Als weiterer Aspekt des Heimatgefühls gelten für Thoma die            stellt. „Für badische Küche muss man immer aus der Stadt raus.
Freunde. „Die Kontakte aus der Schule haben wir aus der Klasse        Das würden wir auch gerne zu Fuß oder mit dem Fahrrad machen,
heraus sehr gepflegt. Wir waren immer eine verschworene Ge-           aber das gibt es in Rheinfelden gar nicht mehr.“
meinschaft und sind als Teenager immer viel unterwegs gewe-
sen.“ Aus diesem Grund hat Thoma nie den Bezug zu Rheinfelden         Bei schönem Wetter geht es raus aus der Stadt. Die Natur gehört
verloren. Thoma hatte sich schon vor seiner Bundeswehrzeit in der     ebenso zum Heimatgefühl und Thoma ist mit seiner Ehefrau oder
Fasnachtsclique Höllhooge Bruet eingebracht und war einer der         in der Gruppe gerne auf Wanderungen. Im Schwarzwaldverein ist
Mitbegründer des Judoclubs Rheinfelden. 1973 gehörte er zu den        er auch Wanderführer und organisiert Wanderwochen. Allerdings
Gründern der Dinkelberg-Schrate. „Ich habe überall Spuren hin-        nicht in der Heimat, sondern im vergangenen Jahr auf Mallorca
terlassen, aber nichts zu Ende geführt“, sagt Thoma, denn Familie     und im diesjährigen Juni in den Dolomiten in Südtirol. 18 Personen
und Freundeskreis gewannen mehr und mehr an Bedeutung ge-             haben sich angemeldet. Mit der Nordic Walking Gruppe des Ver-
genüber dem Vereinsleben.                                             eins ist er regelmäßig in der Gegend unterwegs. Auch mit den En-
                                                                      kelkindern geht es in den Wald, zur Fliehburg bei Degerfelden oder
„Ich gehe heute noch immer gerne in die Stadt.“ Der Innenstadt-       zum Eigenturm zwischen Degerfelden und Herten. Den Adelberg
bereich hat sich gut entwickelt und zum Flanieren gefällt Thoma       und den Rheinuferweg empfindet Thoma ebenso als reizvoll, und
das Dreieck aus Zähringer, Kapuziner und Karl-Fürstenberg-Straße      im Sommer geht es mit den Enkelkindern dorthin zum Schwim-
gut, obgleich einzelne alte Gebäude nicht ins moderne Straßenbild     men oder Steinewerfen.
passen. „Die Fußgängerzone in der Kapuzinerstraße sollte man                                                               Horatio Gollin
noch zu Ende denken.“ In der Friedrichstraße empfindet er den

                                                                                                                   TITELTHEMA         15
HEIMAT-VER

i
       Das Wort „Heimat“ ruft den Ort in Erinnerung, an dem wir aufgewachsen sind und sozialisiert wurden.
Mit dieser Erinnerung sind starke Gefühle verbunden, deren Kraft aus der gewachsenen Vertrautheit mit Geräuschen,
         Gerüchen, Räumlichkeiten, Dingen, sprachlichen Lauten und nahe stehenden Menschen stammt.

      m Netz vielfältiger Sinneseindrücke       te, Krankheiten, Schmerzen, lebensbedrohli-     bilden sie mit Menschen gleicher Herkunft
      und Beziehungen hat sich unsere In-       che Risiken, Mord und Tod. Diesem Szenario      kleine Ghetto-Inseln im Acker des abgelehn-
      dividualität herausgebildet. Die Aus-     einer heimatlos gewordenen menschlichen         ten Andersartigen.
      einandersetzungen mit der Umwelt          Existenz begegnet man auch heute weltweit
und den Wertvorstellungen der Mitmen-           wieder – mit dem entscheidenden Unter-          Wer umgekehrt jeden Krümel Heimat-
schen haben nicht nur unsere Entwicklung        schied, dass ein machtgieriger Potentat die     erde abstreift in der Hoffnung, sich umso
und Umgangsformen nachhaltig geprägt,           Stelle Gottes für sich beansprucht und um       schneller im neuen Boden einwurzeln zu
sondern vor allem unsere Selbstpositionie-      seines Machterhalts willen das Volk durch       können, erlebt oft das genaue Gegenteil.
rung im Schoss eines Kollektivs gefördert,      willkürliche Gewaltakte in die Flucht treibt.   Einerseits wirkt der Verlust der ersten Hei-
das Schutz und Geborgenheit bot.                                                                mat schmerzhaft nach und erschwert die
                                                Eine Pflanze kann man versetzen, indem          Bildung einer neuen Identität. Andererseits
Dass die Heimat nicht naturgegeben ist,         man sie mitsamt ihren Wurzeln ausgräbt          erfolgt seitens der Ersatzheimat, die sich ih-
sondern ein stets gefährdeter und mit allen     und an einer anderen Stelle wieder eingräbt.    rerseits gegen die Fremdheit des Neulings
Kräften zu bewahrender Lebensraum, ist in       Sie wird jedoch verkümmern, wenn ihre           zur Wehr setzt, eine Abstossungsreaktion.
christlichen Kulturen die Botschaft des Al-     Wurzeln im neuen Boden nicht heimisch           Der Integrationsprozess, in dessen Verlauf
ten Testaments, das vom Trauma des ersten       werden, weil sie nicht die gewohnte Erde        es gelingen soll, neue Wurzeln zu schlagen,
Heimatverlustes erzählt. Aus ihrer ursprüng-    vorfinden, aus der sie ihre Nahrung bezo-       ohne dass Altgewohntes und Liebgewon-
lichen Heimat, dem Paradies, wurden Adam        gen. So ergeht es auch Menschen, wenn sie       nenes gänzlich preisgegeben werden muss,
und Eva vertrieben, weil sie sich als der Ge-   gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen,       erfordert von allen Beteiligten die Bereit-
meinschaft mit dem Schöpfergott nicht wür-      und auf fremdem Boden Wurzeln schlagen          schaft, Andersheit nicht nur als Bedrohung
dig erwiesen hätten. Die Bibel beschreibt all   sollen. Bringen sie zu viel Heimaterde mit,     zu betrachten, sondern sich einfühlsam, mit
die schlimmen Folgen, mit denen die aus         schotten sie sich gegen die neue Boden-         Neugier und Respekt darauf einzulassen,
dem Garten Eden Ausgestossenen nach ih-         beschaffenheit ab, so dass sie ihnen fremd      darum wissend, was es heisst, seine Heimat
rer Entwurzelung zu kämpfen hatten: Ängs-       bleibt. Um sich trotzdem heimisch zu fühlen,    verloren zu haben.

16    TITELTHEMA
BUNDENHEIT
Auch wer freiwillig die Heimat verlässt,      Je weiter man sich vom ursprünglichen           lich und freundschaftlich miteinander ver-
wird oft von Heimweh geplagt. Die Mobili-     Heimatort entfernt, desto ausgedehnter er-      kehren. Heimat muss daher ständig neu als
tät der Menschen bringt häufige Ortswech-     scheint er mit zunehmendem Abstand. Von         Oase erschaffen werden – durch Gestaltung
sel mit sich und verhindert Sesshaftigkeit.   einem anderen Kontinent aus betrachtet          unserer Umwelt und unseres Lebensraums.
An die Stelle der ursprünglichen Heimat       verwandelt sich das Herkunftsland als Gan-      Geteilte Wertvorstellungen und die Zunei-
tritt dann das jeweilige Zuhause, das als     zes ins Heimatland. Wer auf einer Raumsta-      gung zu anderen Menschen dienen dabei
Heimat auf Zeit dient: als Studentenbude,     tion im Weltall unterwegs ist und die Erde      als Orientierungshilfe. Nur wo wir uns geis-
als WG, als Hotelzimmer, als Appartement.     von oben erblickt, empfindet den blauen         tig, körperlich und seelisch rundum wohl
Man wohnt dort vorübergehend, versucht        Planeten insgesamt als Heimat. Die umge-        fühlen, sind wir wirklich daheim.
                                              kehrte Erfahrung macht man hin und wie-                                    Annemarie Pieper
                                              der bei einem Besuch der alten Heimat, die
   «Wer auf einer Raumstation
                                              plötzlich geschrumpft zu sein scheint: alles
  im Weltall unterwegs ist und
                                              so eng, so klein, so rückständig, sogar dann,
 die Erde von oben erblickt, emp­
                                              wenn Altes verschwunden ist und Neuem
   findet den blauen Planeten
                                              Platz gemacht hat. Man vermisst gleichsam
      insgesamt als Heimat.»
                                              das Heimatliche der alten Heimat, nach
                                              dem man sich in der Ferne sehnte.
jedoch die Räumlichkeit für die Dauer des
Aufenthalts so herzurichten, dass man sich    Im verklärenden Rückblick wird vieles aus-
darin heimisch fühlt, in dem Bewusstsein,     geblendet, was im früheren Leben als be-
dass es sich nur um ein Provisorium han-      drückend und entmutigend erfahren wur-
delt, um eine Etappe auf dem Weg zum          de. Jene Heimat, die wir uns als eine durch     Zur Autorin: Annemarie Pieper ist Philosophin,
                                                                                              war Professorin für Philosophie an der Universität Basel
zukünftigen Garten Eden als der wieder        und durch heile Welt, als einen unüberbiet-
                                                                                              und moderierte beim Schweizer Fernsehen die Sendung
gewonnenen, nie mehr verloren gehenden        baren Glücksort vorstellen, existiert nicht     „Sternstunde Philosophie“.
Heimat. Jedes Zuhause soll ein Ort sein, an   wirklich – ausser in mythischen Berichten
                                                                                              Voraussichtlich im Juli 2019 erscheint ihr 3. Roman „Frag
dem Heimatgefühle die Sehnsucht nach ei-      über unsere vorgeschichtlichen Anfänge in       nicht, wo die Blumen sind“ – ein ebenso unterhaltsamer
nem bleibenden Zuhause wach halten, das       einem Paradies oder Goldenen Zeitalter und      wie nachdenklich stimmender Entwicklungsroman vol-
                                                                                              ler Lebenserfahrung, dessen philosophische Dimension
dauerhaft zur Heimat wird.                    in utopischen Entwürfen einer posthistori-      sich im Verlauf der Handlung ohne jegliche Aufdringlich-
                                              schen Weltgemeinschaft, in der alle fried-      keit entfaltet.

                                                                                                                          TITELTHEMA                17
Um anzukommen, muss man offen sein

Wo Knoblauch und Tomaten wachsen

D               er Teich ist abgedeckt, damit
                sich nicht ein Reiher über
                die Fische hermacht. Bee-
te sind mit Steinen angelegt. Kräuter und
Zierpflanzen wuchern der Sonne entgegen.
Mit Stein- und Metallfiguren ist der Garten
                                                der Familie, weder Eltern noch Geschwister
                                                wohnen heute noch dort. Auch Brauer zog es
                                                nach dem Zivildienst aus dem Osten auf der
                                                Suche nach Arbeit, und wegen der Gewalt-
                                                bereitschaft und Fremdenfeindlichkeit in
                                                der dörflichen Region, die dort während sei-
                                                                                                  entschied er sich, den Meister zu machen,
                                                                                                  um unterrichten zu können. Er unterrichte-
                                                                                                  te als Kursleiter im Berufsvorbereitendem
                                                                                                  Jahr in Bad Säckingen, aber aufgrund der
                                                                                                  schlechten Verdienstmöglichkeiten ging
                                                                                                  er nach einem Jahr nach Schweden, um die
dekoriert, ein kleiner Elefant sitzt zwischen   ner Jugendzeit existierten. Mit 20 Jahren zog     dortigen Arbeitsmöglichkeiten auszuloten.
einer Riesenschnecke und einer Schildkrö-       er zum Arbeiten nach Freiburg im Breisgau,        „Auch dort ist das Malerhandwerk ein har-
                                                                                                  tes Brot“, stellt Brauer fest, dem auch das
                                                                                                  Leben in der Großstadt nicht gefiel.

                                                                                                  Seine Freundin kam aus Bad Säckingen und
                                                                                                  er kam wieder zurück an den Hochrhein.
                                                                                                  Die beiden verschlug es nach Rheinfelden.
                                                                                                  Mit der Gründung des eigenen Malerbe-
                                                                                                  triebs endete vor elf Jahren die Phase der
                                                                                                  Rastlosigkeit, auch wenn es ihm da noch
                                                                                                  nicht bewusst war. Die beiden bekamen
                                                                                                  ein Kind. Freundschaften entstanden. Den
                                                                                                  Gedanke, wieder fortzugehen, hat Brauer ir-
                                                                                                  gendwann verworfen, als er merkte, dass er
                                                                                                  in Rheinfelden Heimat gefunden hatte. „Wir
                                                                                                  haben uns hier halt festgesetzt, aber wenn
                                                                                                  ich schon hier bin, möchte ich zur Entwick-
                                                                                                  lung in der Stadt beitragen“, erklärt Brauer,
                                                                                                  der nach einem Lehmbaulehrgang auch ein
                                                                                                  Mitbegründer des Vereins Stroh Paille Pag-
                                                                                                  lia ist, der sich in Deutschland, Frankreich,
Frank Brauer auf seiner Terrasse.
                                                                                                  Italien und der Schweiz für ökologische und
                                                                                                  gesunde Bauweisen einsetzt.

te. Afrikanischen und asiatischen Holzmas-      allerdings begann damit eine lange Phase          Und natürlich bringt er sich auch in der
ken hängen im Terrassenbereich. Insekten        der Rastlosigkeit. In Freiburg fand er keinen     Kommune ein. „Es gibt verschiedene We-
schwirren durch den Garten im Nollinger         Anschluss und zog wieder nach Dresden, wo         ge anzukommen. Man muss einfach offen
Oberdorf. Frank Brauer hat mehrere Insek-       er Arbeit als Maler fand. In der Firma hielt es   sein.“ An der Realschule gibt er Lehmbau-
tenhotels selbst gebaut. „Als ich hierher       ihn nicht lange und im Alter von 23 Jahren        unterricht. Im Stadtgärtle und am Nollin-
gekommen bin und die Industrie und das          pendelte er für eine Leiharbeiterfirma unter      ger Spielplatz hat er geholfen, die Lehmöfen
Drumherum gesehen habe, dachte ich: Hier        der Woche in die Niederlande, wo er für ver-      zu bauen. Auch politisch engagiert er sich,
bleibe ich nicht. Mein erster Eindruck war      schiedene Malerfirmen tätig war.                  zuletzt als unabhängiger Kandidat auf der
grauenvoll“. Ein Gefühl von Zuhause stellte                                                       Liste der Grünen bei der Gemeinderatswahl.
sich für Brauer lange nirgendwo ein, aber       Vor 16 Jahren kam Brauer nach Rheinfelden,        „Ich tu alles auch mit Hinblick auf mein
Heimat hat er schließlich doch in Rheinfel-     wo er kurz bei einer Firma in Herten anheu-       Kind und der nachfolgenden Generation,
den gefunden.                                   erte und dann in der Schweiz arbeitete. „Da       die mit dem leben muss, was wir hinter-
                                                habe ich das erste Mal in meinem Leben            lassen.“ Umweltschutz liegt ihm besonders
Brauer wurde 1976 im sächsischem Neu-           richtig Geld verdient. Das war ein gutes Ge-      am Herzen. „Heimat ist da, wo man sich
stadt geboren und lebte bis nach der Wende      fühl, aber nach ein paar Jahren dachte ich,       wohlfühlt“, sagt Brauer. „Da, wo man es sich
in Neugersdorf. Aus Mangel an Alternati-        dass das auch nicht das Ende der Fahnen-          schön machen kann, wie in meinem Garten,
ven trat er in die Fußstapfen seines Vaters     stange sein kann.“ Brauer wollte sich be-         wo Knoblauch und Tomaten wachsen.“
und erlernte das Maler-Handwerk. Gehal-         ruflich weiterentwickeln und da er immer
ten in Neugersdorf hat es aber keinen aus       einen guten Draht zu Jugendlichen hatte,                                         Horatio Gollin

18      TITELTHEMA
Sie können auch lesen