Initiative Anti-Burn-out - wenn Arbeit Spaß macht

 
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Initiative Anti-Burn-out - wenn Arbeit Spaß macht
Initiative Anti-Burn-out –
                             wenn Arbeit Spaß macht
                             Genug von Burn-out, Stress und Frust? Dann sind Sie hier richtig: Wir widmen uns
                             dem Spaß im Leben, der Arbeit. Denn wer sagt, dass Arbeit nicht Spaß sein kann? Ar-
                             beit macht nicht zwangsläufig krank, sondern kann – wenn richtig gewählt – auch das
                             Gegenteil bewirken und glücklich machen. Vielleicht aber sitzen Sie im falschen Büro?
                             Oder stimmen die Rahmenbedingungen nicht? Vielleicht macht der Job so viel Spaß,
                             dass man doch Gefahr läuft, andere Lebensinhalte zu vernachlässigen? Hier ein paar
                             Anlässe zur kritischen Selbstreflexion – mit literarischem Abschluss bzw. Ausblick ...

                             Redakteure des Radiosenders NDR1 Welle Nord            können Sie sich auch noch Ihre Lieblingshits wün-
                             machen sich für die Sendung „Mehr Spaß am Ar-          schen!“ Wunderbar. Haben Sie sich schon gefragt,
                             beitsplatz“ regelmäßig auf den Weg, um Menschen zu     was Ihnen an Ihrer Arbeit gefällt? Oder worüber Sie
                             ihrer Arbeit zu befragen: „Vormittags kommen wir zu    sich zuletzt besonders gefreut haben? Und wie viel
                             Ihnen – ins Büro, in die Bäckerei, in den Friseursa-   Platz hat der Lieblingshit – also der Spaß – in Ihrem
                             lon und in die Werkstatt. Was gefällt Ihnen an Ihrer   Arbeitsalltag? Arbeit muss nämlich nicht zwangsläu-
                             Arbeit? Haben Sie sich über etwas besonders gefreut    fig krank machen und zum Burn-out führen, sondern
                             oder vielleicht auch geärgert? Erzählen Sie uns über   kann auch Glück bringen und Sinn stiften. Dafür sind
                             Ihre Arbeit, lassen Sie Ihrem Ärger über die zuletzt   natürlich verschiedene Voraussetzungen notwendig,
Text: Ulrike Delacher
Fotos: iStockphoto, BLICK-   missratene Dauerwelle freien Lauf oder bedanken Sie    einen großen Teil können wir aber auch selbst zu un-
FANG photographie            sich einfach mal bei Ihren netten Kollegen. Und dazu   serem Glück beitragen.

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Carpe vitam!
Wofür wir uns im Leben alles Zeit nehmen: Für 23
Jahre Schlaf, 7 Jahre für Nahrungsaufnahme, 4,1
Jahre verbringen wir mit Körperpflege und 2 Jahre
sitzen wir in der Badewanne. 1,45 Jahre vertelefo-
nieren wir (140 Tage davon hängen wir in der War-
teschleife), Männer widmen 380 Tage ihres Lebens
ihren Hobbys, Frauen 152 Tage. Gemeinsam aber
lachen wir durchgehend 11 Tage lang. Insgesamt 7
Jahre verbringen wir in der Arbeit, 8 Monate davon
werfen wir Spam-Mails in den Papierkorb. Etwa 13
Prozent unserer Arbeitszeit verbringen wir mit Su-
chen, das sind durchschnittlich 6 Wochen im Jahr
für die Suche nach Notizen, Rechnungen, Schriftstü-
cken, E-Mails usw. So gefunden auf der Website love
your life. Das gibt zu denken. 140 Tage Warteschleife
und 8 Monate Spam-Mails vernichten – da kann man
nicht von einem erfüllten Zeitvertreib sprechen. Die
viel zitierten Zeiträuber sind Stressverursacher und
schnellstens zu vermeiden, dafür allerdings müssen
sie erst einmal ins Bewusstsein rücken. „Das beginnt
mit der Selbstwahrnehmung: Was stresst mich?
Menschen im Hamsterrad müssen erkennen, dass
Dinge veränderbar sind und gar nicht unbedingt ein
Jobwechsel notwendig ist, um manches zu ändern“,
erklärt Coach und Supervisorin Mag. Christina Ar-
nold. „Je mehr wir unter Termindruck stehen, desto
mehr fühlen wir uns getrieben und umso mehr haben           dem ich mich selbst besser kennenlerne, und dazu
wir das Gefühl, keine Zeit zu haben – für uns selbst,       gehört, manche Dinge einfach auszuprobieren, eigene
für Wesentliches, fürs Leben. Wir können nur eines          Erfahrungen zu machen“, erklärt Christina Arnold.
dagegen tun: langsamer werden. Eine alte Weisheit
formuliert es so: ‚Wenn Du es eilig hast, gehe lang-        Entscheidungsfindung im System

                                                                                                                                     eco.gesundheit
sam’.“ Die Expertin gibt praktische Tipps, die jeder        Steht eine berufliche Entscheidung an, arbeitet sie
einhalten kann: „Finden Sie Ihre Tagesstruktur, in-         als zertifizierte systemische Beraterin auch mit der
dem Sie Pausen machen, sich für körperliche Bedürf-         Methode der systemischen Aufstellung in der Grup-
nisse wie für die Toilette auch die Zeit nehmen, legen      pe: „Bei dieser Art der Aufstellung nehmen andere
Sie eine fixe Mittagspause ein. Wenn Sie zu sehr ins        Personen verschiedene Positionen für meine Ent-
Gedränge kommen, gehen Sie auch mal außer Haus              scheidungsmöglichkeiten ein: Jemand aus der Grup-
für kurze Zeit, das alles hilft dabei, die Hektik zu ver-   pe stellt sich für das eine – z.B. Arbeiten im Labor
langsamen.“                                                 – auf, eine andere Person steht für das andere – z.B.
                                                            ins Ausland gehen –, jemand repräsentiert ‚Keines von
Der Weg zur erfüllenden Arbeit                              beiden‘, eine vierte Person steht für ‚das ganz andere‘.
Der Traumjob setzt schon als Begriff hohe Maßstäbe.         Die Personen werden zu Stellvertretern für bewusste
Voraussetzung dafür allerdings ist, dass man selbst es      und unbewusste Gedanken und Gefühle gemacht
erst einmal für möglich hält, eine Tätigkeit zu finden,     und geben wertvolle Rückmeldung, wie sich die je-
die zufrieden macht. Jeder kennt Beispiele von Men-         weilige Berufswahl anfühlt. Daraus kann ich dann
schen, die eine erfüllende Arbeit gefunden haben.           Rückschlüsse für meine Entscheidung ziehen.“
Vielleicht ist es die Selbständigkeit, vielleicht muss
man zuerst einige Arbeitsplätze ausprobieren bis zum        Gesundheitsfördernde Arbeitsplatzkultur
richtigen, oder aber man verändert im bestehenden           „Stellen Sie sich vor, die Mehrheit Ihrer Mitarbeiter
Job so lange kleine und große Dinge, bis man zufrie-        würde folgender Aussage vollkommen zustimmen:
den ist.                                                    ‚Ich freue mich, in die Arbeit zu kommen.‘ Bei den be-
„Auf dem Weg zur erfüllenden Arbeit treffen wir zu-         sten Arbeitgebern ist das so!“, behauptet Great Place
erst einmal die Entscheidung zur Ausbildung – also          to work, ein Forschungs- und Management-Bera-
welche Tätigkeit liegt mir überhaupt? – und später          tungsunternehmen mit Niederlassung in Österreich.
die Entscheidung, welchen Platz im Unternehmen              Seit 1980 hat das Institut eine Vielzahl von Mitar-
ich einnehmen möchte, um mich optimal entfalten zu          beitern interviewt und Arbeitgeber untersucht, um
können. Für Ersteres gibt es verschiedene Tests, die        zu verstehen, was einen ausgezeichneten Arbeitsplatz
ein realitätsnahes Bild der persönlichen Kompetenzen        ausmacht. „Wir wissen, dass Vertrauen zwischen
und Neigungen zeichnen und daher zur Orientierung           Mitarbeitern und Management die Grundvoraus-
gut geeignet sind. Meine Berufung entdecke ich, in-         setzung eines jeden ausgezeichneten Arbeitsplatzes

                                                                                                                       eco.nova 89
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ist. Manager glauben, dass ihre Mitarbeiter gute         gends geschrieben steht, in welchem Verhältnis die Din-
              Leistungen erbringen wollen, und ermutigen diese,        ge zueinander zu stehen haben. (...) Zum anderen spiegelt
              sich an der Entwicklung des Unternehmens zu be-          Work-Life-Balance die falsche Vorstellung, es handle
              teiligen. Die Mitarbeiter wiederum begeistern sich       sich bei Arbeit und Leben um zwei feindliche, einander
              für ihre Arbeit und den Auftrag des Unternehmens.“       abstoßende Pole.“ Dabei ist Arbeitszeit ebenso Lebens-
              Managing Director Dr. Erich Laminger kommen-             zeit. Allerdings ist Abschalten und Batterien aufladen
              tierte dazu im Wirtschaftsblatt: „Das Geheimnis          durchaus angeraten: „So sehr der Job auch Spaß macht,
              solcher Unternehmen liegt in ihrer Organisations-,       es gibt im Leben keine 100 % Sicherheit, dass der Zu-
              Interaktions- und Prozesskultur. Es herrscht ein of-     stand fortbesteht. Schon alleine deshalb sind die Pflege
              fenes, konstruktives Grundklima des respektvollen        von Freundschaften auch außerhalb des Betriebes, eine
              Miteinanders – einschließlich der offenen Chefzim-       persönliche Tagesstruktur und eine fixe Urlaubsplanung
              mertür. Die Abläufe im Unternehmen sind für alle         notwendig. Die Erfahrung zeigt mir, dass, je höher der
              Beteiligten transparent, die Mitarbeiter können sich     Termin- und Leistungsdruck im Berufsleben ist, desto
              einbringen und erleben ihre Arbeit als für das Ge-       länger dauert es, im Urlaub ‚herunterzukommen’. Das ist
              samte bedeutungsvoll, sie sind stolz auf ihre eigene     kaum innerhalb einer Woche möglich, planen Sie drei
              Tätigkeit und das Unternehmen. Teamarbeit und            Wochen zur Erholung ein. Je stärker der Stress, desto
              Kooperation werden gefördert, die Mitarbeiter ha-        länger dauert die Regenerationsphase. Dies gilt auch für
              ben Spaß an der Arbeit und feiern dann und wann          die Wochenenden: Wenn mich Arbeitsplatzthemen ins
              auch miteinander. Auch während des normalen Ta-          Wochenende begleiten und ich mich am Sonntag schon
              gesgeschäfts spüren die Mitarbeiter Wertschätzung,       wieder auf die Herausforderungen der kommenden
              sie erhalten sehr viel häufiger Lob als Kritik. Eine     Woche vorbereite – wann bleibt Zeit, zu mir selbst zu
              solche Arbeitsplatzkultur ist gesundheitsfördernd,       kommen? Der Erholungswert ist hier sehr gering“, er-
              gesund fürs Unternehmen und seine Entwicklung,           klärt Supervisorin Arnold. Sie rät zum Innehalten mit
              aber auch gesundheitsfördernd für die dort arbei-        selbstreflexiven Fragen wie: „Möchte ich das noch bzw.
              tenden Menschen und deren persönliches Umfeld.“          möchte ich so weitermachen bis zur Pensionierung? Wie
                                                                       gelingt es mir, abzuschalten?“
              Vereinbarkeit von Arbeit und Leben
              Essayist Helmut A. Gansterer entlarvt die „sprachlich    Ein besonderes Beispiel für Work-Life-Balance hat
              interessante, musikalisch harmonische und doch gefähr-   Heinrich Böll bereits vor 50 Jahren in seiner Anekdote
              liche Wortschöpfung“ der Work-Life-Balance auf zwei-     zur Senkung der Arbeitsmoral beschrieben – und auch
              erlei Weisen: Zum einen „suggeriert das Wort Balance     wenn man es kaum glauben mag, die Anekdote ist aktu-
              eine wünschenswerte Gleichgewichtigkeit, obwohl nir-     eller denn je ... Und Ihnen noch viel Spaß bei der Arbeit!

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später dann ein. Ein Beispiel: Kürzlich kontaktierte
                                                           mich ein Informatiker in Führungsposition von einem
                                                           großen Unternehmen. Nach einem bereits erlittenen
                                                           Herzinfarkt und der Drohung seiner Frau, ihn zu ver-
                                                           lassen, wollte er sich innerhalb kürzester Zeit ändern
                                                           und sich besser von der Arbeit abgrenzen. Gleichzeitig
                                                           spielten aber Gefühle wie der Erste sein zu wollen und
                                                           unersetzbar zu sein mit in den Prozess hinein. Er hatte
                                                           sich seine Identität über den Beruf geschaffen, und da ist
                                                           es sehr schwer, sich zurückzunehmen und seine Bedürf-
                                                           nisse nach Macht und Einfluss nicht mehr zu stillen.
                                                           Der Rückzug wird oft als narzisstische Kränkung erlebt
                                                           und nicht rechtzeitig vollzogen. Im Gegensatz zum Po-
                                                           litiker Pröll beispielsweise, der sich ganz klar für seine
                                                           Gesundheit entschieden hat.

                                                           Ein gutes Klima am Arbeitsplatz ist einer der häu-
                                                           figsten Wünsche bei Mitarbeiterbefragungen. Was
                                                           sind Ihrer Erfahrung nach die häufigsten Störfaktoren?
                                                           Am häufigsten sind es irgendwelche Konflikte, die uns
                                                           am Spaß bei der Arbeit hindern. Diese rauben allen
                                                           Betroffenen Energie und beeinträchtigen das Arbeits-
                                                           klima. Konflikte auf persönlicher Ebene lassen sich
                                                           am besten lösen, indem man offen miteinander spricht.
                                                           Konflikte auf der systemischen Ebene sind oft sehr subtil
                                                           und die Zusammenhänge unklar. Hier kann eine syste-
                                                           mische Aufstellung Klarheit bringen. Der Mitarbeiter
                                                           erkennt dabei vielleicht, dass der Chef nichts gegen ihn
Mit System zum positiven Arbeitsklima                      persönlich hat, sondern ihn sogar schätzt und er das
                                                           bisher nur nicht wahrgenommen hat. Auch auf Team­
> Im Gespräch mit Mag. Christina Arnold, Coach,            ebene birgt die Ignoranz von systemischen Ordnungen

                                                                                                                                      eco.gesundheit
Systemische Aufstellungen, Supervisorin                    viel Konfliktpotential. Kommt zum Beispiel ein neuer
                                                           Mitarbeiter, ist es für ihn nicht immer einfach, im Team
Das Institut für systemische Weiterbildung in Birgitz      Fuß zu fassen, selbst wenn er die Tätigkeit gerne ausübt
hat sein Angebot unter anderem auf die Herausfor-          und qualifiziert dafür ist. Das kann systemische Ursa-
derungen des beruflichen Alltags zugeschnitten: Se-        chen haben: Vielleicht wurde der Wunschkandidat des
minarthemen lauten „Beruf & Berufung – Berufung            Teams für die Position nicht berücksichtigt. Vielleicht
entdecken, authentisch leben“, „Zeitmanagement“ und        hat dieses neue Teammitglied die bisherigen Leistungen
„Burn-out-Prophylaxe“. Interessiert hat uns auch die       des Teams nicht gewürdigt. Oder der Neuankömmling
Methode der Organisationsaufstellung als Mittel für        respektiert nicht, dass die anderen Teammitglieder be-
effiziente Unternehmensführung. Wir haben bei In-          reits länger da sind und ältere Rechte haben als er. Nega-
stitutsleiterin Mag. Christina Arnold nachgefragt. Die     tiv wirkt sich auch aus, wenn z.B. bei Teilzeitangestell-
Arbeitsschwerpunkte der zertifizierten systemischen        ten im Team deren Recht auf Zugehörigkeit geringer
Beraterin liegen im Coaching, in der Supervision und in    eingestuft wird.
systemischer Aufstellungsarbeit.
                                                           Wie kann der Arbeitgeber sich einbringen, um ein posi-
eco.nova: Was ist förderlich für den Spaß an der Arbeit,   tives Arbeitsklima zu schaffen?
und was zählt zu den Spaßbremsen?                          Der Arbeitgeber kann sehr viel tun. Angefangen bei ei-
Mag. Christina Arnold: Wichtig ist, dass mir die Tä-       ner positiven inneren Haltung gegenüber den Mitarbei-
tigkeit grundsätzlich gefällt, dass die Verantwortung,     tern über lebensfreundliche Rahmenbedingungen (flexi-
die ich im Job zu tragen habe, mich weder über- noch       ble Arbeitszeiten, angenehme Räumlichkeiten, gesunde
unterfordert. Dann spielt das soziale Umfeld eine ganz     Arbeitsbedingungen, Weiterbildungsangebote usw.) bis
wesentliche Rolle: nette Kollegen und Kolleginnen und      hin zu guten Begrüßungs- und Abschiedsformen.
Vorgesetzte sowie ein angenehmes Betriebsklima. Dazu       Diese haben aus systemischer Sicht sehr große Bedeu-
kommt, dass ich mir bewusst mache, dass auch für die       tung für das Betriebsklima. Die persönliche Vorstellung
Arbeit – so gut sie mir gefällt – keine 100%ige Sicher-    eines neuen Mitarbeiters durch den Chef signalisiert sein
heit gegeben ist und ich mir Kontakte und Aufgaben         Vertrauen in den „Neuen“, seine Akzeptanz. Die Loya-
auch außerhalb suche. Auch das effiziente Aufladen der     lität des Teams muss ja vom Vorgänger übertragen wer-
Batterien hilft. Viele können nämlich gar nicht richtig    den, eine Ernennung und Bekanntgabe mittels E-Mail
abschalten – und da bremst sich der Spaß früher oder       ist nicht zielführend. Auch die Verabschiedung von Pen-

                                                                                                                        eco.nova 91
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Heinrich Böll: Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral
 In einem Hafen an einer westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter Mann in
 seinem Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist legt eben einen neuen Farbfilm
 in seinen Fotoapparat, um das idyllische Bild zu fotogra­fieren: blauer Himmel, grüne See
 mit friedlichen schneeweißen Wellenkämmen, schwarzes Boot, rote Fischermütze. Klick.
 Noch einmal: klick, und da aller guter Dinge drei sind und sicher sicher ist, ein drittes Mal:
 klick. Das spröde, fast feindselige Geräusch weckt den dö­senden Fischer, der sich schläf-
 rig aufrichtet, schläfrig nach einer Zigarettenschachtel angelt; aber bevor er das Gesuchte
 gefunden, hat ihm der eifrige Tourist schon eine Schachtel vor die Nase gehalten, ihm die
 Zigarette nicht gerade in den Mund gesteckt, aber in die Hand gelegt, und ein viertes Klick,
 das des Feuerzeuges, schließt die eilfertige Höflichkeit ab. Durch jenes kaum messbare, nie
 nachweisbare Zuviel an flinker Höflichkeit ist eine gereizte Verlegenheit entstanden, die
 der Tourist – der Landessprache mächtig – durch ein Gespräch zu überbrücken ver­sucht.
 „Sie werden heute einen guten Fang machen.“
 Kopfschütteln des Fischers.
 „Aber man hat mir gesagt, dass das Wetter günstig ist.“
 Kopfnicken des Fischers.
 „Sie werden also nicht ausfahren?“
 Kopfschütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen. Gewiss liegt ihm das Wohl
 des ärmlich gekleideten Menschen am Herzen, nagt an ihm die Trauer über die
 verpasste Gelegenheit.
 „Oh, Sie fühlen sich nicht wohl?“
 Endlich geht der Fischer von der Zeichensprache zum wahrhaft gesprochenen Wort über.
 „Ich fühle mich großartig“, sagt er. „Ich habe mich nie besser gefühlt.“ Er steht auf, reckt
 sich, als wolle er demonstrieren, wie athletisch er gebaut ist. „Ich fühle mich phantastisch.“
 Der Gesichtsausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nicht
 mehr unterdrücken, die ihm so­zusagen das Herz zu sprengen droht: „Aber warum fahren
 Sie dann nicht aus?“
 Die Antwort kommt prompt und knapp: „Weil ich heute morgen schon ausgefahren bin.“
 „War der Fang gut?“
 „Er war so gut, dass ich nicht noch einmal auszufahren brauche, ich habe vier Hummer in
 meinen Körben gehabt, fast zwei Dutzend Makrelen gefangen ...“
 Der Fischer, endlich erwacht, taut jetzt auf und klopft dem Touristen beruhigend auf die
 Schultern. Dessen besorgter Gesichts­ausdruck erscheint ihm als ein Ausdruck zwar
 unangebrachter, doch rührender Kümmernis.
 „Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug“, sagt er, um des Fremden Seele
 zu erleichtern. „Rauchen Sie eine von meinen?“
 „Ja danke.“
 Zigaretten werden in Münder gesteckt, ein fünftes Klick, der Fremde setzt sich kopf-
                                                                                                  sionisten mit der entsprechenden Wertschätzung seitens
 schüttelnd an den Bootsrand, legt die Kamera aus der Hand, denn er braucht jetzt beide
 Hände, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen.                                                    der Führungsebene wirken sich auf die bleibenden Mit-
 „Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mischen“, sagt er, „aber stellen    arbeiter und das Klima aus. Besonders starken Einfluss
 Sie sich mal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal    haben beispielsweise ungut Gekündigte auf die verblei-
 aus und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht sogar zehn Dutzend Makrelen fangen ...
                                                                                                  benden Mitarbeiter: Unterschwellige Angst kann sich
 stellen Sie sich das mal vor.“
 Der Fischer nickt.                                                                               breit machen, „das könnte mir genauso passieren“. Hier
 „Sie würden“, fährt der Tourist fort, „nicht nur heute, sondern morgen, übermorgen, ja, an       wird oftmals aufgrund von Unwissenheit viel Energie im
 jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal ausfahren – wissen Sie, was               zwischenmenschlichen Bereich verschleudert, die dann
 geschehen würde?“
                                                                                                  woanders im Unternehmen fehlt.
 Der Fischer schüttelt den Kopf.
 „Sie würden sich in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein
 zweites Boot, in drei oder vier Jahren könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit    Welchen Tipp können Sie Unternehmen zur Burn-out-
 zwei Booten oder dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen - ei­nes Tages würden          Prophylaxe mitgeben?
 Sie zwei Kutter haben, Sie würden ...“, die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augen-
                                                                                                  Die Unternehmen in Tirol sind großteils sehr gut auf-
 blicke die Stimme, „Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später
 eine Marinadenfa­brik, mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme             gestellt im Hinblick auf gesundheitsfördernde Arbeits-
 ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anwei­sung geben. Sie könnten die Lachsrechte er-           platzbedingungen: Möglichkeiten der Entspannung,
 werben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris          Vorträge über gesunde Ernährung, neue Architektur
 exportieren – und dann ...“, wieder verschlägt die Begeisterung dem Fremden die Sprache.
                                                                                                  mit Platz für Kommunikation. Man schaut auf die Mit-
 Kopfschüt­telnd, im tiefsten Herzen betrübt, seiner Urlaubsfreude schon fast verlustig, blickt
 er auf die friedlich hereinrollende Flut, in der die ungefangenen Fische munter springen.        arbeiter und setzt mit Maßnahmen beim Individuum
 „Und dann“, sagt er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die Sprache.                        an. Aber was oft noch fehlt, sind die Maßnahmen auch
 Der Fischer klopft ihm auf den Rücken, wie einem Kind, das sich verschluckt hat. „Was            auf systemischer Ebene. Burn-out ist nicht nur ein indi-
 dann?“, fragt er leise.
                                                                                                  viduelles Problem, sondern hat immer auch eine soziale
 „Dann“, sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, „dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen
 sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken.“                                Komponente. Daher wäre es kein Verlust, sich zu fra-
 „Aber das tu ich ja schon jetzt“, sagt der Fischer, „ich sitze beruhigt am Hafen und döse,       gen, warum es zum Beispiel in manchen Bereichen viele
 nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.“                                                         Krankenstände gibt oder so viele Frühpensionierungen.
 Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn früher hatte
 er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen,
 und es blieb keine Spur Mitleid mit dem ärmlich geklei­deten Fischer in ihm zurück, nur ein
                                                                                                  Denn dabei geht unbewusst enorm viel Energie verloren,
                                                                                                  die woanders gebraucht wird.                          .
  wenig Neid.     			                                                                                             Infos unter: www.christina-arnold.at
                                                             (aus Böll: Erzählungen 1950-1970)
                                                                                                                Institut für Systemische Weiterbildung

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