LAG - MAGAZIN FRAUEN IN ERINNERUNGSKULTUREN 24. FEBRUAR 2021 - LERNEN AUS DER GESCHICHTE

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LAG - MAGAZIN FRAUEN IN ERINNERUNGSKULTUREN 24. FEBRUAR 2021 - LERNEN AUS DER GESCHICHTE
LaG - Magazin

       Frauen
         in
Erinnerungskulturen
  24. Februar 2021
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Zur Diskussion
Vielfältige Geschichten ergeben erst die große Geschichte – Frauen in den Weltkriegen......4
Frauen in Ravensbrück – geschlechterhistorische Perspektiven............................................11
Detailliert, vielfältig und unmittelbar: Vergessene, frühe Zeugnisse weiblicher
Überlebender...........................................................................................................................15
Rotarmistin, Kriegsgefangene, Widerständlerin – und Aktivistin: die Ärztin Antonina
Konjakina-Trofimowa (1914-2004).......................................................................................20
Frauen als Kriegsopfer? Was ist mit ihrem Mut oder ihren Verbrechen?.............................25

Empfehlung Fachbuch
Erinnerung. Medien. Geschlecht............................................................................................28
Frauen    in    Konzentrationslagern.    Konzeption     eines   Führungstages                  unter
geschlechtsspezifischem Aspekt in der Gedenkstätte Bergen-Belsen....................................31
Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen
Genozids..................................................................................................................................34

Empfehlung Web
Blogparade #femaleheritage...................................................................................................38

                                                                                       Magazin vom 24.02.2021 2
Einleitung

Liebe Leser*innen,                             und dem französischen Nationalen Amt der
wir begrüßen Sie zum ersten LaG-Maga-          Kriegsveteranen und Kriegsopfer ausge-
zin im neuen Jahr, das erst im Februar er-     schrieben wird.
scheint. Das Fehlen der Januarausgabe          Wir bedanken uns bei den Autor*innen für
erklärt sich aus einer Lücke in den Förde-     die uns zur Verfügung gestellten Texte.
rungen, die wir für die einzelnen Nummern                             In eigener Sache
akquirieren müssen.
                                               Für die Mitarbeit bei „Lernen aus der
Das Magazin nimmt sich der anhaltenden         Geschichte“ suchen wir derzeit eine*n
Unterrepräsentation der Erinnerung an          studentische*n Mitarbeiter*in. Zur Aus-
Frauen im Ersten und Zweiten Weltkrieg         schreibung geht es hier.
an. Die Fachaufsätze zeigen dabei, dass die-
se Lücke nicht allein dem Forschungsstand
geschuldet ist.                                Das nächste LaG-Magazin erscheint am 31.
                                               März 2021. Es entsteht in Zusammenarbeit
Mehr als im Forschungsbereich zu den bei-
                                               mit der Landeszentrale für politische Bil-
den Weltkriege macht Constanze Jaiser eine
                                               dung Baden-Württemberg und thematisiert
anhaltende Skepsis in der pädagogischen
                                               die „Gedenkstättenlandschaft“ in dem süd-
Vermittlung über die Geschichte aus, sich
                                               westlichen Bundesland.
mit Geschlecht zu befassen. Die Autorin legt
mögliche Aspekte einer Erinnerungskultur
an Frauen im Krieg dar.                        Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre.
Insa Eschebach schreibt über den für Ra-
vensbrück in mehrfacher Hinsicht zentralen
                                               Ihre LaG-Redaktion
Charakter der Kategorie Geschlecht.
Zeugnisse von Überlebenden der NS-Ver-
nichtungspolitik existierten bereits früh.
Am Beispiel von Anna Haas zeigt Andrea
Rudorff ihre Bedeutung auf.
Am Beispiel der Biografie von Antonina
Konjakina-Trofimowa gehen Ruth Preusse
und Katja Seybold auf die Online-Ausstel-
lung "An Unrecht erinnern" ein.
Vasco Kretschmann stellt einen deutsch-
französischen Comic-Wettbewerb für Ju-
gendliche zu Frauen im Krieg vor, der vom
Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge

                                                        Magazin vom 24.02.2021 3
Zur Diskussion

Vielfältige Geschichten                                             allerdings zu kurz. Vielmehr wäre es ziel-
ergeben erst die                                                    führender, die jeweiligen Handlungsspiel-
große Geschichte –                                                  räume im „privaten“ und im „öffentlichen“
Frauen in den Weltkriegen                                           Raum zum Gegenstand der Untersuchung
                                                                    zu machen. Freilich entgeht man auch mit
Von Constanze Jaiser
                                                                    einer solchen Einteilung nicht zwangsläufig
Erinnerungskultur zu verknüpfen mit den                             einer beklagenswerten Bewertung in wich-
Ereignissen während der beiden Weltkriege                           tige (=männliche) und weniger wichtige
scheint noch immer häufig nur die Erinne-                           (=weibliche) Aspekte in der Geschichtsver-
rung an männliche Protagonisten und an                              mittlung zum Thema.
weibliche Opfer hervorzubringen.
                                                                    Was also tun? Entscheidend scheint mir
Natürlich ist insbesondere in der Frauen-                           zunächst die Einsicht, dass dichotome Ana-
und Geschlechterforschung in den vergan-                            lysemodelle den Blick auf geschichtliche
genen Jahrzehnten Vieles untersucht und                             Realitäten geradezu verstellen. Denn die
ins Blickfeld gerückt worden. Längst ver-                           Beschäftigung mit Frauen im Krieg ist in
bindet man mit Frauen und Weltkrieg nicht                           Wirklichkeit eine Auseinandersetzung mit
mehr nur die sogenannten „Trümmerfrau-                              Genderfragen, die keineswegs auf ein biolo-
en“, das „Mutterverdienstkreuz“ oder die                            gisches Geschlecht bezogen sind. Vielmehr
caritativ tätige Frau an der Heimatfront.                           waren und sind das Beziehungsgeflecht
Dennoch, zumindest in der pädagogischen                             zwischen Frauen und Männern und das
Vermittlung (und nicht nur dort!) geht eine                         Aushandeln von geschlechtsspezifischen
Hinwendung auf Frauen noch immer mit                                Handlungsräumen die Prämissen einer
der Skepsis einher, ob man denn dann auch                           fruchtbaren Auseinandersetzung mit dem
das „Eigentliche“ und „Wichtige“ vermitteln                         Themenfeld.
würde, oder ob man damit nicht lediglich
                                                                    Das notwendige Aufgeben einer dichotomen
einen zusätzlichen, mehr oder weniger in-
                                                                    Sichtweise erstreckt sich im Weiteren auch
teressanten Aspekt in den Unterrichtsstoff
                                                                    auf die Verflechtung von Kriegsfront und
hineinbringe.1
                                                                    Heimatfront; sie lässt sich in wirtschaftli-
Allein von Frauen und Männern zu spre-                              che und soziale Aspekte auffächern, spiegelt
chen, greift dabei aus meiner Sicht                                 sich aber auch – betrachtet man zum Bei-
1 Dieser Beitrag basiert auf einem Workshop im Rahmen der Ta-       spiel Plakate oder autobiographische Äu-
gung „Geschichte und Geschichtsbilder“ 2015, den ich für den        ßerungen – in Propaganda und Atmosphä-
Volksbund in Hessen gestaltet habe. Darüber berichtet wurde         re wider. Unter Extrembedingungen, wie
erstmals in Polis 57, Analysen – Meinungen – Debatten, hrsg. v.     Diktatur und Krieg, weicht die in der Regel
Monika Hölscher, Viola Krause, Thomas Lutz (Geschichte und Ge-     weiblich und männlich konnotierte Grenz-
schichtsbilder. Der Erste und Zweite Weltkrieg im internationalen   ziehung zwischen „privaten“ und „öffent-
Vergleich), Wiesbaden 2016.                                         lichen“ Räumen auf. Und der Verlauf des

                                                                             Magazin vom 24.02.2021 4
Zur Diskussion

jeweiligen kriegerischen Konfliktes hat, wie                       weitere Tätigkeitsfelder immer mehr in den
die Geschichte zeigt, erhebliche Auswirkun-                        Vordergrund, die mit der demographischen
gen auf Selbstbilder, Rollenverständnis und                        und wirtschaftlichen Situation der Kriegs-
Handlungsspielräume.                                               länder zu tun hatte. So wurden Frauen mehr
Im Folgenden möchte ich kursorisch auf ei-                         und mehr in typischen Männerberufen ak-
nige Beispiele eingehen, die belegen sollen,                       zeptiert, ja massiv angeworben. Ein typi-
wie vielfältig die Erinnerung an Frauen im                         sches Sujet auf Tausenden von Bildpostkar-
Krieg aussehen könnte. Welche Rollen und                           ten, wie sie im Wien-Museum gesammelt
Aufgaben füllten Frauen aus? Inwieweit                             wurden, waren Frauen als Briefträgerinnen,
deckten diese sich mit Geschlechterordnun-                         Straßenkehrerinnen, Schaffnerinnen, Ge-
gen der jeweiligen Zeit, oder eben nicht?                          müsebäuerinnen in den städtischen Park-
                                                                   anlagen oder als „Tramwayschienen-Reini-
       Aspekte einer Erinnerungskultur
                                                                   gerin“.
         an Frauen im Ersten Weltkrieg
                                                                   „Während den Männern eingetrichtert wur-
Beginnen wir mit Beispielen aus dem Ersten
                                                                   de, sie müssten Frauen und Kinder ‚in der
Weltkrieg. Frauen erschienen bereits früh
                                                                   Heimat’ mit ihrem Leben schützen, quasi
auf Bildpostkarten als Symbol der „Waffen-
                                                                   die bedrohte heile Welt daheim verteidigen,
brüderschaft“ und „Vaterlandstreue“.2
                                                                   bekamen die Frauen vermittelt, dass sie ih-
Eine ihrer konkreten Aufgaben bestand –                            ren Beitrag zu leisten hatten. Das Kriegsleis-
unter dem Begriff „Labedienst“ – darin,                            tungsgesetz, bereits 1912 eingeführt, ver-
Dienst an den Nächsten zu verrichten, sei                          pflichtete alle Untertanen des Kaisers zur
es das millionenfache Herstellen und Ver-                          Dienstleistung im Kriegsfall. Verbrämt war
senden von diversen „Liebesgaben“ für die                         das noch mit der reaktionären Botschaft,
Soldaten, sei es bei der Unterstützung von                         der Krieg werde ‚tiefer, echter Weiblichkeit’
kriegsbedingt arbeitslos gewordenen Frau-                          erst zum Durchbruch verhelfen.“4
en, der Sammlung von Geld und Materiali-
                                                                   Doch auch der steigende Bedarf von Ar-
en oder der Armen-, Mütter- und Kinderfür-
                                                                   beitskräften in der Rüstungsindustrie öff-
sorge.3
                                                                   nete Zugänge für Frauen. Waren Frauen vor
Im Verlauf des Krieges traten jedoch                               dem Krieg allenfalls in der firmeneigenen
2    Vgl.   hierzu     Christa    Hämmerle:      „Heimat/Front-    Kantine beschäftigt, so stellten sie zum Bei-
Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-      spiel im saarländischen Eisenwerk St. Ing-
Ungarn“, Böhlau Verlag, 2014.                                      bert/Differdingen im Ersten Weltkrieg 1917
3   Grundlagenpapier    österreichischer   Wissenschaftler*innen

aus Anlass des Gedenkens des Ausbruchs des Ersten Welt-            4 Petra Stuiber, Alltag und der Kampf der Frauen an der Hei-

krieges vor 100 Jahren, http://www.bmeia.gv.at/fileadmin/          matfront, in: Der Standard, 29.11.2013, http://derstandard.

user_upload/Zentrale/Kultur/Schwerpunkte/Grundlagenpa-             at/1385169370487/-von-einem-Weib-heimflennen- (letzter Zu-

pier_1914_-_2014.pdf (letzter Zugriff: 19.12.2020).                griff: 19.12.2020), darin auch eine Beispielpostkarte.

                                                                                 Magazin vom 24.02.2021 5
Zur Diskussion

22 Prozent der Belegschaft.5                                        ist die Rede von 30.000 bis 50.000 „weib-
In der Ausgabe vom 30. Dezember 1915 des                            lichen Hilfskräfte der Armee im Felde“, die
englischen Kriegsmagazins „The War Bud-                             durch ihren Einsatz die Soldaten für den
get“ erschien ein bebilderter Artikel über                          Fronteinsatz freistellen sollten.6
Frauen in der Kriegsindustrie. Unter dem                            Bekannt sind auch Frauen, die, freilich als
Titel                                                               Mann verkleidet, im Krieg als Soldatinnen
„The Girl behind the Gun“ sieht man Frau-                           kämpften. Viktoria Savs zum Beispiel war
en, die Sprengkapseln an Geschossen an-                             als Hans Savs im Krieg. Sie war 16 Jah-
bringen resp. ein ganzes Fließband, an dem                          re alt. Man ließ sie in Männerkleidern und
Frauen in Reih und Glied stehen, um die fer-                        unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu.
tigen Kartuschen zu montieren und zu kon-                           Erst als sie, inzwischen mit Medaillen deko-
trollieren.                                                         riert, eine schwere Verletzung erlitt, flog der
                                                                    Schwindel auf.7
Als Rote-Kreuz-Schwestern waren Frau-
en sowohl an der Heimat- als auch an der                            Dorothy Lawrence, eine englische Reporte-
Kriegsfront im Einsatz. Wurde die Figur                             rin, schlich sich im Ersten Weltkrieg an die
des Soldaten als Idealbild von Männlich-                            Front, um zu kämpfen und als Journalis-
keit propagiert, so war besonders die Figur                         tin über ihr Abenteuer zu berichten. In die
der Kriegskrankenschwester sein weibliches                          Schlacht zog die selbsternannte Reporterin
Äquivalent.                                                        per Fahrrad und verkleidet als Mann.8

Auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1915                                Schließlich sind auch Frauen zu nennen, die
sticht aus einer Gruppe von sechzehn Frau-                          nicht im oder für den Krieg tätig waren, son-
en interessanterweise lediglich eine deut-                          dern als politische Aktivistinnen gegen den
lich erkennbar als Kriegskrankenschwester                           Krieg kämpften. So hatten die bürgerlichen
hervor; alle anderen stecken in Ganzkörper-                         Frauenrechtlerinnen Anita Augspurg und
Schutzanzügen, in denen sie im Epidemie-                            Lida Gustava Heymann mit einigen gleich
spital in Troppau Dienst tun, und sind nicht                        gesinnten bürgerlichen Frauenrechtlerin-
mehr auf Anhieb als Frauen zu erkennen.                             nen aus Holland und England einen Inter-
Die von ihnen verrichtete Arbeit lediglich                          nationalen Frauenkongress für Frieden in
als weiblichen Hilfsdienst zu sehen, würde                          Den Haag geplant. Über 1.100 Frauen aus
ihren lebensgefährlichen Kriegseinsatz völ-
                                                                    6     Grundlagenpapier         http://www.bmeia.gv.at/fileadmin/
lig falsch einordnen.
                                                                    user_upload/Zentrale/Kultur/Schwerpunkte/Grundlagenpa-
Darüber hinaus waren weibliche Kräfte auch
                                                                    pier_1914_-_2014.pdf (letzter Zugriff: 19.12.2020).
in der Armee gefragt und damit direkt in die
                                                                    7 Vgl. http://www.dreizinnen.info/historisches/soldatin-viktoria-
Kriegsführung einbezogen. Für Österreich
                                                                    savs.asp (letzter Zugriff: 19.12.2020).

5   Vgl.   http://alte-schmelz.org/chronik/   (letzter   Zugriff:   8    http://www.spiegel.de/einestages/erster-weltkrieg-soldatin-

19.12.2020).                                                        dorothy-lawrence-a-951366.html (letzter Zugriff: 19.12.2020).

                                                                                   Magazin vom 24.02.2021 6
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zwölf Nationen, Europa und den USA tra-                            Ausnahme waren, so gestalteten sie doch
fen sich im April 1915 in Den Haag, zum                            die nationalsozialistische Gewaltherrschaft
Teil reisten sie unter widrigsten Umständen                        maßgeblich mit, wie ein Blick auf die traditi-
durch Kriegsgebiete an.                                            onell weiblich konnotierten Aufgaben zeigt.
Sie forderten u.a. allgemeine Abrüstung,                           Beispielsweise war die Rolle der Fürsorge-
dem Recht die Herrschaft über die Gewalt                           rinnen alles andere als ein „unpolitisches
zu verschaffen, die Gleichberechtigung der                         Helfen“, sondern ihre Arbeit nahm eine
Frau und einen internationalen Strafge-                            Schlüsselfunktion für die nationalsozialisti-
richtshof. Außerdem gründeten sie die „In-                         sche Diskriminierungs- und Ausmerzpolitik
ternationale Frauenliga für Frieden und                            ein.10 Überhaupt erfüllte die Sozialarbeit in
Freiheit“ und sandten im Anschluss Delega-                         der NS-Zeit wichtige Funktionen, sei es bei
tionen mit ihren Forderungen zu den einzel-                        der Erhebung von Lebensumständen und
nen europäischen Regierungen.9 Vier Jahre                          politischer Einstellung und der davon ab-
später, auf dem 2. Internationalen Frauen-                         hängigen Gewährung von Unterstützungen
friedenskongress in Zürich, benannten sie                          wie Ehestandsdarlehen oder Kinderbeihil-
das Internationale Frauenkomitee für dau-                          fen, sei es bei der Anwendung eugenischer
ernden Frieden in „Internationale Frauenli-                        Prinzipien und rassistischer Ideologie.11
ga für Frieden und Freiheit“ (IFFF) um.                            Auch überwiegend von Frauen ausgeüb-
         Handlungsräume von Frauen im                              te Bürotätigkeiten feiten keineswegs da-
                     Zweiten Weltkrieg                             vor, unmittelbar in die Vernichtungsma-
                                                                   schinerie einbezogen zu sein und hierin
Bezogen auf die NS-Zeit und den Zweiten
                                                                   eine aktive Rolle zu übernehmen. Am Bei-
Weltkrieg ist das Thema Frauen als Täterin-
                                                                   spiel des weiblichen Büropersonal, wie es
nen und Mittäterinnen inzwischen gut do-
                                                                   in den Heil- und Pflegeanstalten an den
kumentiert. Die Handlungsspielräume von
                                                                   NS-„Euthanasie“-Morden beteiligt war,
Frauen waren dabei häufig eingeschränkt
                                                                   zeigt sich wie die Frauen vor Ort nicht
resp. konnten sie die Karriereleiter nicht in
                                                                   nur einen sicheren Arbeitsplatz, sondern
derselben Weise erklimmen wie Männer.
                                                                   10 Esther Lehnert, Die Beteiligung von Fürsorgerinnen an der Bil-
Auch wenn die oberen Hierarchieränge für
                                                                   dung und Umsetzung der Kategorie „minderwertig“ im National-
Frauen und Mädchen in der Regel eher die
                                                                   sozialismus, Frankfurt am Main 2003.

9 Imogen Rhia Herrad, Frauenkongress. Ein Radiofeature des SWR     11 Vgl. z. B. Stefan Schnurr, Sozialpädagogen im Nationalsozia-

(2015), http://www.swr.de/-/id=15214204/property=download/         lismus, Weinheim und München 1997. In dem Zusammenhang

nid=660374/18pfvv1/swr2-wissen-20150428.pdf (letzter Zugriff:      verweise ich auch auf meine Vorlesung „Soziale Arbeit im Natio-

14.05.2016). Vgl. auch das Unterrichtsmaterial von Ute Kätzel,     nalsozialismus“, die ich im Oktober für Studierende an der Fach-

Es waren nur wenige, doch der Staat fühlte sich bedroht. Frauen-   hochschule Neubrandenburg (angesichts der Covid19-Pandemie

friedensbewegung von 1899 bis 1933, in: Praxis Geschichte, Heft    im virtuellen Raum) abhielt; sie ist mit diesem Link auf YouTube

3/97, S. 9–13, (letzter Zugriff: 19.12.2020).                      zugänglich: https://youtu.be/EiX8T0fXdE4.

                                                                                 Magazin vom 24.02.2021 7
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offenbar auch gute Bedingungen vorfanden,                         den SS-Ehefrauen) wäre das Morden, aber
den richtigen Mann für eine Eheschließung                         auch das Streben nach Karriere und Aner-
zu finden.12                                                      kennung für Männer ganz anders ausgefal-
Zumindest auf den zweiten Blick pädago-                           len.
gisch vielversprechend ist auch die Einbe-                        Aus der Perspektive der Verfolgten gilt es
ziehung von Frauen als Repräsentantin-                            natürlich ebenso, die verschiedenen mögli-
nen des NS-Staats, so zum Beispiel Magda                          chen Erfahrungsräume von Frauen sehen zu
Goebbels, die nicht nur als Vorzeigemutter,                       lernen. Dabei wäre es wünschenswert, wenn
sondern auch als enge Vertraute Hitlers und                       der Diskurs internationaler geführt werden
als eigenständig der nationalsozialistischen                      würde. Gerade sexuelle Gewalt und sexu-
Ideologie folgenden Täterin aktiv war.13                          alisierte Gewalt ist ein zentrales Struktur-
Durch den Film „Der Untergang“, der in vie-                       merkmal von Kriegsverbrechen, und diese
len Schulen zum gängigen Unterrichtsma-                           traf nicht nur Jüdinnen, Romnja und Sintize
terial gehört, kann sehr leicht an Vorwissen                      oder politisch Widerständige, sondern spiel-
angeknüpft werden, um dies dann multiper-                         te in großem Stil auch eine Rolle in asiatisch-
spektivisch zu vertiefen.                                         pazifischen Ländern.14 Die Herausforderung
Durch die Berücksichtigung der weiblichen                         bei diesem Thema freilich ist in der pädago-
Erfahrungswelt und Handlungsspielräume                            gischen Praxis nicht nur, Jugendliche nicht
kann es gelingen, die Alltagswirklichkeit                         zu überwältigen und ausreichend Raum für
von Krieg näher zu bringen; der Zugang                            Diskussion und Verarbeitung zu lassen, son-
ermöglicht eher eine Vorstellung als der                          dern auch wieder die Gefahr der Reproduk-
„ferne“ Krieg. Darüber hinaus kann nur so                         tion üblicher Viktimisierungsdiskurse.15
das Beziehungsgeflecht wahrgenommen                               14 Vgl. Rheinischen JournalistInnenbüro in Köln, Die Dritte Welt
werden, das immer eine Rolle spielt, zuge-                        im Zweiten Weltkrieg, 2. Auflage vom November 2012, zum Be-
spitzt bis hin zu etwas, dass die Historikerin                    stellen oder als frei zugängliches PDF (unter „Didaktisches/Un-
Lerke Gravenhorst einst als „Verbrechens-                         terrichtmaterialien) auf der Webseite der Herausgeber, http://
verbund Ehe“ bezeichnet hat. Ohne „die                            www.3www2.de.
Frau an seiner Seite“ (so ein Buchtitel zu                        15 Vgl. z.B. Helga Amesberger, Katrin Auer, Brigitte Halbmayr,

12 Die Untersuchung der Personalakten sowie Vernehmungspro-       Sexualisierte Gewalt. Weibliche Erfahrungen in Konzentrations-

tokollen führte zu dieser, auch mich überraschenden Erkenntnis,   lagern Wien 2004; Regina Mühlhäuser, Eroberungen. Sexuelle

vgl. meinen Beitrag „Das Büropersonal in der Euthanasie-Mord-     Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der

anstalt Bernburg. Möglichkeiten der Umsetzung des Themas          Sowjetunion 1941–1945, Hamburg 2010; zum Thema „Sexualität

‚Frauen als Täterinnen im NS’ in der Bildungsarbeit“, in: Doku-   im Gewaltverhältnis KZ“ vgl. auch meine Forschung zu „Reprä-

mentation der Tagung „Frauen als Täterinnen“ in der Gedenkstät-   sentationen von Sexualität und Gewalt in Zeugnissen jüdischer

te Bernburg, Halle 2007, S. 26–55.                                und nichtjüdischer Überlebender“, in: Gisela Bock (Hrsg.), Geno-

13 Vgl. z. B. Anja Klabunde, Magda Goebbels – Annäherung an ein   zid und Geschlecht im System der nationalsozialistischen Lager,

Leben, München 1999.                                              Frankfurt a. M. 2005, S. 123–148.

                                                                                Magazin vom 24.02.2021 8
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Fällt die Entscheidung auf den nach wie vor                      5,7 Millionen. Ein Drittel davon waren Frau-
gewinnbringenden biographischen Ansatz,                          en, die in überwiegender Zahl aus Osteuro-
um Geschichte zu vermitteln, so wäre es                          pa kamen (87 %, bei den Männern waren
beim Thema Frauen und Mädchen als Op-                            es 62 %).17 Die von den Nationalsozialisten
fer nationalsozialistischer Verfolgung auch                      vorgenommene rassistische und politisch-
gut, über die, wenn auch noch so geringen                        ideologische Einteilung der einzelnen Aus-
Handlungsspielräume der Verfolgten und                           ländergruppen korrespondierte mit dem
Geschundenen zu erzählen; die Person ge-                         wachsenden Frauenanteil. Bei den zivilen
rade nicht einfach als „Jüdin“, „Zigeunerin“,                    Kräften aus der damaligen Sowjetunion lag
„Asoziale“ zu klassifizieren (und damit die                      der Frauenanteil bei über 50 Prozent, beim
Stigmatisierung der Nazis gewissermaßen                          Bündnispartner Ungarn bei lediglich 3 % –
unfreiwillig mit zu reproduzieren). Vielmehr                     ein Phänomen, das, nach Cordula Tollmien,
könnte es in der Erinnerung darum gehen,                         mit dem rassistischen Menschenbild der
sie soweit wie möglich in einem Beziehungs-                      Nationalsozialisten und den behaupteten
geflecht darzustellen (Familie, Freunde,                         Hierarchien in der Wertigkeit korrespon-
Helfende, Verfolger, Profiteure, etc.). [vgl.                    dierte.
z.B. hier die Online-Ausstellung www.dubi-                       Ein spezielles, bis heute nur wenig beachte-
standers.de,16]                                                  tes Thema ist das der „Kinder von Zwangs-
Pädagogisch ist neben einem biographischen                       arbeiterinnen“. Im Internet existiert eine
Ansatz auch eine regionalgeschichtliche An-                      Datenbank mit über 400 Einträgen wo Ent-
bindung sinnvoll. Welche Orte kennen Sie                         bindungs- oder Säuglingslager bestanden,
in ihrer Gegend, in denen auch Frauen und                        bzw. mit Spuren zu Säuglingsgräbern oder
Mädchen eine Rolle spielten? Meist genügt                        Zeitzeuginnenberichte, die eine weitere Er-
heutzutage eine erste Recherche im Inter-                        forschung erfordern.18
net, um Hinweise und sogar Materialien zu                        Die Beispiele von Handlungsräumen von
erhalten.                                                        Frauen während des Ersten und des Zweiten
Zum Beispiel lassen sich beim Thema                              Weltkriegs mögen genügen, um deutlich zu
„Frauen und Zwangsarbeit“ ¬noch viele un-                        machen, wie vielfältig die Rollen von Frauen
terbelichtete Aspekte ortsbezogen vermit-                        und damit auch die Verflechtungsgeschichte
teln und erforschen. Nach Ulrich Herberts                        17 Vgl. Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Aus-
Studien zum Thema „Fremdarbeiter“ und                            länder-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches,
„Ausländer-Einsatz“ in der Kriegswirtschaft,                     Dietz-Verlag Berlin-Bonn 1985, S. 271.
lag die Zahl der registrierten ausländischen                     18 Vgl. http://www.krieggegenkinder.de; weitere Informationen
Zivilarbeiter*innen im August 1944 bei                           zu Zwangsarbeiterinnen und ihren Kindern finden sich auf der

16 Hrsg. Von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Eu-   Webseite der Historikerin Cordula Tollmien unter http://www.

ropas, Redaktion: Nadja Grintzewitsch, Constanze Jaiser, Julia   cordula-tollmien.de/zwangsarbeiterinnen.html (letzter Zugriff:

Radtke, vgl. www.dubistanders.de.                                19.12.2020).

                                                                                Magazin vom 24.02.2021 9
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von Kriegs- und Heimatfront waren.
Mit Fotos, Dokumenten, Zeug*innen-
aussagen oder eigenen Entdeckungen in
                                                                             Über die Autorin
Stadt- und Firmenarchiven lässt sich die Er-
                                                     Dr. Constanze Jaiser arbeitet als Leiterin
innerungskultur da sicherlich noch um inte-          des Projekts zeitlupe. Stadt. Geschichte &
ressante Aspekte bereichern. Biographische     Erinnerung bei der Regionalen Arbeitsstelle für
                                                  Bildung, Integration und Demokratie (RAA)
und regionalgeschichtliche Ansätze sind aus                       Mecklenburg-Vorpommern.
meiner Sicht nach wie vor gut geeignet, um
in ein Thema zu führen. Bedeutsam scheint
mir daneben aber auch, methodisch-didak-
tische Wege zu gehen, bei denen einerseits
„Geschichte spannend erzählt wird“, ande-
rerseits ausreichend Möglichkeiten gegeben
werden, verschiedene Perspektiven kennen-
zulernen und eine eigene Werteklärung zu
erreichen.
Die Neigung zu Heroisierung (= männlich)
und Viktimisierung (= weiblich), die in der
Erinnerung an Kriege auch auf internatio-
naler Ebene zu beobachten ist, gilt es immer
wieder neu zu unterwandern. Solchen (ste-
reo)typisierenden geschlechtsspezifischen
Geschichtsbildern sollte mit Gegen-Bildern
begegnet werden, um eine Reflexion anzure-
gen über Fragen nach dem Wie und Warum
dieser Art von Erinnerungen.

                                                      Magazin vom 24.02.2021 10
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Frauen in Ravensbrück –                           Zentrum der Frauenforschung. (vgl. Sachse
geschlechterhistorische                           1997:31 sowie Lanwerd & Stoehr 2007: 47)
Perspektiven                                      In der Tat hat die Ravensbrück-Forschung
                                                  Anfang der 1990er Jahre einen Höhenflug
Von Insa Eschebach
                                                  begonnen und vieles ist seither geschehen.
Annika Bremell, Überlebende des Frauen-           Diese Entwicklung ist wesentlich von der
Konzentrationslagers Ravensbrück, berich-         historischen Frauen- und Geschlechterfor-
tet 2006 rückblickend Folgendes: Im April         schung befördert worden. Sie wurde aber
1945, als sie zum letzten Mal Appell stehen       auch begünstigt von der nationalen wie in-
musste, öffnete sich plötzlich das Lagertor       ternationalen Historiographie, die Konzen-
und „wunderschöne junge Männer“ kamen             trationslager jahrzehntelang als randstän-
herein, gekleidet in Uniformen des Schwe-         diges Phänomen betrachtet hatte, sich aber
dischen Roten Kreuzes. Es handelte sich um        seit den 1990er Jahren zunehmend auch der
die Busfahrer, die die Frauen nach Skandi-        nationalsozialistischen Lagerwelt zuwendet.
navien evakuieren würden. Annika Bremell,
                                                  Gleichwohl bleibt es im Grunde erstaunlich,
wie viele ihrer Mithäftlinge mehrfach kahl-
                                                  dass sich bei der Frage nach dem Geschlecht
geschoren, beschrieb, wie in diesem Augen-
                                                  der Blick stets erneut auf Ravensbrück rich-
blick ihre Hand spontan „nach oben ging“,
                                                  tet. Als ob das Frauen-Konzentrationsla-
um zu kontrollieren, ob ihre Haare säßen.
                                                  ger an sich schon auf die Existenz von Ge-
Und als sie diese Geste selbst bemerkte,
                                                  schlechterverhältnissen verweise, während
habe sie gedacht, sie sei eben doch immer
                                                  Lager für Männer für das Menschlich-Allge-
noch eine Frau, der es wichtig sei, wie sie für
                                                  meine zu stehen scheinen. Diese Asymme-
diese Männer aussehe.
                                                  trie hatte Simone de Beauvoir im Blick, als
Matthias Heyl, pädagogischer Leiter der Ge-       sie – wie später auch beispielsweise Pierre
denkstätte Ravensbrück, erzählt diese Ge-         Bourdieu, George L. Mosse, Judith Butler
schichte gelegentlich bei Führungen, wenn         – 1949 argumentierte: Die männliche Ge-
die Gruppen den ehemaligen Appellplatz,           schlechtsidentität gehe mit der Vorstellung
das Lagertor in Sichtweite, erreicht haben.       des Allgemeinen oder auch Universalen
Es geschieht, dass ihm beim Erzählen nun          einher, während das Weibliche, wenn über-
seinerseits seine Hand illustrierend „nach        haupt, dann stets explizit charakterisiert
oben“ geht. Gelingt ihm diese feminine Ges-       werden müsse (de Beauvoir 1972: 12): „Wie
te gut, berichtet er (Heyl 2015), kann es sein,   kommt es,“ schreibt sie, „dass zwischen den
dass er bei manchen Jungen auf eine gewis-        Geschlechtern […] Wechselseitigkeit nicht
se Abwehr trifft. Spontane Kommentare wie         hergestellt worden ist, dass der eine der bei-
„voll schwul“ seien aus dem Off zu hören.         den Begriffe sich als der allein wesentliche
Seit der deutschen Vereinigung steht das          behauptet hat und mit Bezug auf seinen Ge-
Konzentrationslager   Ravensbrück     im          genbegriff jede Relativität ablehnt, indem

                                                            Magazin vom 24.02.2021 11
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er diesen schlechthin als ‚das Andere’ defi-    dem Zweiten Weltkrieg Geborenen. Schon
niert?“                                         die Überlebenden versuchten mit ihrer Ver-
                                                bandspolitik nach 1945, mit dem auf ein
Noch in der Kennzeichnung der Konzent-
                                                reines Frauenlager verkürzten Ravensbrück
rationslager zeigt sich der Bedarf expliziter
                                                „eines der wenigen Terrains zu behaupten,
Charakterisierung: Als „FKL“, so die histori-
                                                in dem sie ohne männliche Dominanz tätig
sche Abkürzung, unterschied sich das „Frau-
                                                sein konnten“. Susan Hogervorst weist dar-
en-Konzentrationslager“ von den „KL“, den
                                                auf hin, dass die Frauen „ihr“ Ravensbrück
Konzentrationslagern, die keines weiteren
                                                hatten, während sich die Männer unter den
geschlechtsspezifischen Ergänzungsbuch-
                                                Namen anderer Lager organisierten (Ho-
stabens bedurften, weil sie für Männer
                                                gervorst 2008: 214). Auch die Gedenkstätte
waren. Während mit der männlichen Ge-
                                                Ravensbrück heute wird immer wieder als
schlechtsidentität das Allgemeine par ex-
                                                „Ort der Frauen“ wahrgenommen und ist in
cellence angesprochen ist, sind Frauen im
                                                dieser Bedeutung zentraler Referenzpunkt
Wesentlichen mittels ihres Geschlechts de-
                                                geschlechterhistorischer und feministischer
finiert. So bleibt auch Ravensbrück ein Son-
                                                Initiativen.
derfall im System nationalsozialistischer
Konzentrationslager wie auch im bundes-         Für das Frauen-Konzentrationslager Ra-
deutschen Netz der KZ-Gedenkstätten: Ein        vensbrück als ein Schauplatz des Ausschlus-
Zusatz, ein Außerdem, ein Die-gibt-es-ja-       ses, extremer sozialer Kontrolle und Gewalt
auch-noch.                                      ist die Kategorie Geschlecht in mehrfacher
                                                Hinsicht von zentraler Bedeutung:
Die – andauernde – Asymmetrie der Ge-
schlechter ist vermutlich ein Grund dafür,      Erstens hinsichtlich der Geschlechterpolitik
warum die Thematisierung der Geschich-          des „Dritten Reiches“, die sich sowohl in den
te des Frauen-Konzentrationslagers stets        Organisationsstrukturen des SS-Personals
erneut mit Forderungen nach vermehrter          und der geschlechtsspezifischen Konzepti-
politischer, religiöser und/oder sozialer       on und Betreibung des Lagers manifestiert,
Teilhabe von Frauen verknüpft wird. Sozi-       als auch in der Konstruktion sozial, poli-
ale Bewegungen konstituieren und legiti-        tisch und rassistisch definierter Feindbilder.
mieren sich selbst, indem sie sich eine ei-     Misogynie, Homophobie und Konstruktio-
gene Geschichte geben. Dementsprechend          nen devianter Weiblichkeit sind in der Ge-
wird auch Ravensbrück immer wieder aus          schichte dieses Lagers ohne Ende aufzufin-
identitätspolitischen Interessen heraus in      den. Um nur ein Beispiel zu nennen: Für die
Anspruch genommen: Die Geschichte der           strafrechtliche Verfolgung von Frauen im
„Frauen von Ravensbrück“ wird häufig als        Nationalsozialismus und damit auch für die
Vorgeschichte des eigenen politischen, so-      NS-Geschlechterpolitik waren mindestens
zialen oder auch religiösen Handelns wahr-      vier Maßnahmen symptomatisch: Die No-
genommen. Dies gilt nicht nur für die nach      vellierung des Abtreibungsparagrafen, das

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„Blutschutzgesetz“, die „Wehrkraftschutz-      von     Ausstellungen und Gedenkräumen,
verordnung“ vom November 1939 sowie die        der Dramaturgie öffentlicher Gedenkfeiern
„Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie        und der Ravensbrück-Filme, sei es das Feld
und Mutterschaft“ vom März 1943 (Roth          der Memoirenliteratur, der politischen Re-
2009: 109–140). Die entsprechenden Straf-      den und der nationalen wie internationalen
prozessakten der in Ravensbrück inhaftier-     Verbandsgeschichte.
ten Frauen dokumentieren Bilder vermeint-      Last but not least spielt die Kategorie Ge-
lich minderwertiger – und deshalb häufig       schlecht eine zentrale Rolle in der Bildungs-
auch sexualisierter - Weiblichkeit im „Drit-   arbeit der Gedenkstätte, die von Haus aus
ten Reich“ in Fülle.                           mit einer schwierigen Erwartungshaltung
Geschlechterhistorische Untersuchungsan-       konfrontiert ist: Der Erwartung nämlich,
sätze sind aber auch zentral für Studien zur   der Gedenkstättenbesuch Jugendlicher
„Häftlingsgesellschaft“ (Maja Suderland) im    könne diesen zu einer „Marienerschei-
weitesten Sinn: Seien es Themenfelder wie      nung“ verhelfen (Heyl 2005), so als stünde
die der Häftlingsgruppen, der Verfolgungs-     an „moralisch hoch aufgeladenen Geden-
kontexte und der Biografien oder Unter-        korten“ wie Ravensbrück, gewissermaßen
suchungen über die Lagergeschichte, über       am „Tiefpunkt der Zivilisation die Orien-
Zwangsarbeit, kulturelle und soziale Praxen,   tierung für das richtige und angemessene
Repressionsmaßnahmen bis hin zu Hinrich-       Verhalten zur Verfügung“, wie Astrid Mes-
tungspraktiken, die ohne die Kategorie Ge-     serschmidt schreibt (Messerschmidt 2016:
schlecht nicht adäquat zu fassen sind.         32). „Kritische Erinnerungsbildung“, fährt
Hinzu kommt – drittens – die Nachge-           sie fort, kann „keine ungebrochenen Bezie-
schichte: „Seit der kulturalistischen Wen-     hungen zwischen den NS-Verbrechen und
de“, so Carola Sachse, dominiere in den        der Gegenwart herstellen, jedoch auf Ver-
geschlechterhistorischen Arbeiten zum Na-      wandtschaften zu heutigem Denken und zu
tionalsozialismus „die Auseinandersetzung      heutigen gesellschaftlichen Praktiken auf-
mit Geschlechterbildern und Formen der         merksam machen.“ Dass ideologische Mus-
Sexualisierung, die in den vergangenheits-     ter, rassistische Zugehörigkeitsphantasmen
politischen Bearbeitungen des National-        und tradierte Geschlechterbilder fortwirken
sozialismus, seinen geschichtspolitischen      können, ist bekannt. Wie die eingangs er-
Repräsentationen und den Inszenierungen        zählte Geschichte von Annika Bremell und
von Erinnerung und Gedenken identifiziert      Matthias Heyl deutlich macht, ist Ravens-
werden konnten.“ (Sachse 2012: 7). In der      brück ohne Gendersensibilität nicht denk-
Tat ist auch dieser Untersuchungsansatz        bar.
für die Nachgeschichte von Ravensbrück
ausgesprochen ergiebig, sei es auf dem
Feld der Denkmalskunst, der Konzeption

                                                        Magazin vom 24.02.2021 13
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                                     Literatur      Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschun-
                                                    gen, Innsbruck, Wien, Bozen 2007, S. 22-68.
Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht.
Sitte und Sexus der Frau, übersetzt von Eva Re-     Astrid Messerschmidt, Postkoloniale Selbstbil-
chel-Mertens, Reinbek bei Hamburg 1972.             der in der postnationalsozialistischen Gesell-
                                                    schaft, in: FKW// Zeitschrift für Geschlech-
Matthias Heyl, Erziehung nach Auschwitz, In-
                                                    terforschung und visuelle Kultur, 59/2016, S.
terview zum Gedenktag für die Opfer des Nati-
                                                    024-037.
onalsozialismus, 19. Januar 2005.
                                                    Thomas Roth, „Gestrauchelte Frauen“ und „un-
Matthias Heyl, Gender als Kategorie in der
                                                    verbesserliche Weibspersonen“: Zum Stellen-
gedenkstättenpädagogischen Praxis der Ge-
                                                    wert der Kategorie Geschlecht in der nationalso-
denkstätte Ravensbrück – ein Werkstatttext,
                                                    zialistischen Strafrechtspflege, in: Elke Frietsch/
in: Annette Dietrich und Ljiljana Heise (Hg.),
                                                    Christina Herkommer (Hrsg.), Nationalsozialis-
Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozi-
                                                    mus und Geschlecht. Zur Politisierung und Äs-
alismus. Formen, Funktionen und Wirkungs-
                                                    thetisierung von Körper, „Rasse“ und Sexuali-
macht   von   Geschlechterkonstruktionen      im
                                                    tät im „Dritten Reich“ und nach 1945, Bielefeld
Nationalsozialismus und ihre Reflexion in der
                                                    2009, S. 109–140.
pädagogischen Praxis. Frankfurt am Main 2015,
S. 275-284.                                         Carola Sachse, Frauenforschung zum National-
                                                    sozialismus. Debatten, Topoi und Ergebnisse
Insa Eschebach, Zur Einleitung: Kontexte und
                                                    seit 1976, in: Mittelweg 36, H. 2/1997, S. 24-36.
Entwicklungen der Ravensbrück-Forschung, in:
Dies. (Hg.), Das Frauen-Konzentrationslager         Carola Sachse, Wissenschaft und Geschlecht in
Ravensbrück. Neue Beiträge zur Geschichte und       der NS-Medizin. Überlegungen zur Verbindung
Nachgeschichte. Berlin 2014, S. 7-27.               wissenschafts-    und    geschlechterhistorischer
                                                    Untersuchungsansätze, in: Insa Eschebach und
Susan Hogervorst, Erinnerungskulturen und
                                                    Astrid Ley (Hg.), Geschlecht und „Rasse“ in der
Geschichtsschreibung. Das Beispiel Ravens-
                                                    NS-Medizin. Berlin 2012, S. 7-16.
brück, in: Opfer als Akteure. Interventionen
ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit,
hrsg. v. Katharina Stengel (Jahrbuch des Fritz
Bauer Instituts, Bd. 12, Frankfurt a.M. 2008), S.
197–215.

Susanne Lanwerd, Irene Stoehr, Frauen – und                                           Über die Autorin
Geschlechterforschung zum Nationalsozialis-                  Dr. Insa Eschebach ist Lehrbeauftragte am
mus seit den 1970er Jahren. Forschungsstand,           Institut für Religionswissenschaft der FU Berlin
                                                       und freie Publizistin. Von 2005 bis 2020 war sie
Veränderungen, Perspektiven, in: Johanna Geh-          Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück/Stiftung
macher, Gabriella Hauch (Hg.), Frauen- und Ge-                        Brandenburgische Gedenkstätten.

schlechtergeschichte des Nationalsozialismus.

                                                               Magazin vom 24.02.2021 14
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Detailliert, vielfältig und                     Als das Frauenlager in Birkenau im Herbst
unmittelbar: Vergessene,                        1944 sukzessive verkleinert wurde, teilte die
frühe Zeugnisse weiblicher                      SS Anna Haas einem Transport von 1.000
Überlebender                                    Frauen zu, der in das Außenlager Kurzbach
                                                im östlichen Niederschlesien gebracht wur-
Von Andrea Rudorff
                                                de, das unter der Verwaltung des Konzen-
Am 27. März 1945, sechs Wochen vor dem          trationslagers Groß-Rosen stand. In einer
Ende des Zweiten Weltkriegs, gab die 19-jäh-    Scheune untergebracht, mussten die Frauen
rige Jüdin Anna Haas im „Haus der Flücht-       dort bei Regen, Wind und Frost Panzergrä-
linge“ in Bukarest zu Protokoll, was ihr in     ben ausheben, die die östliche Reichsgrenze
den letzten zwölf Monaten passiert war.         vor dem Einmarsch der Roten Armee schüt-
Etwa ein Jahr zuvor hatte sie in ihrer Hei-     zen sollte. Als die Front bereits sehr nahe
matstadt Cluj in Siebenbürgen das Abitur        war, trieb die SS die Frauen im Januar 1945
abgelegt. Kurz darauf begann die Ghettoi-       zu Fuß zunächst ins Stammlager Groß-Ro-
sierung der jüdischen Bevölkerung aus den       sen. Wegen Trunkenheit der Begleitmann-
ungarisch besetzten Gebieten Rumäniens.         schaften gelang ihr dort die Flucht. Fernab
Anna Haas wurde mit ihrer Familie und 18        der Heimat und ohne Ortskenntnis kehrte
000 jüdischen Einwohner*innen von Cluj          sie zunächst an den Ort ihrer Gefangen-
in die städtische Ziegelei gepfercht, wo sie    schaft, in die Nähe des Außenlagers Kurz-
unter freiem Himmel, auf der bloßen Erde,       bach zurück. Einen Tag lang versteckte sie
nächtigen mussten. Drei Wochen später           sich in einem „polnischen Wirtshaus“, dann
wurden sie von dort nach Auschwitz-Birke-       marschierte die Rote Armee ein. Nach ei-
nau abtransportiert. Bei der Ankunft an der     ner Odyssee über Częstochowa, Kraków,
Rampe von Birkenau stuften SS und Lager-        Tarnów, Przemyśl, Lemberg und Kolomy-
ärzte Anna als „arbeitsfähig“ ein. Sie wurde    ja gelang es ihr sich bis Bukarest durchzu-
Häftling im Lager und entging auf diese Wei-    schlagen.
se dem grausamen Tod in der Gaskammer.
                                                Dort hatte die Hilfsorganisation Joint Dis-
Schon bald arbeitete sie als Läuferin für das
                                                tribution Committee im „Haus der Flücht-
Krankenrevier, später wurde sie Schreiberin
                                                linge“ in der Calea Moșilor-Straße 128 einen
im Block für Infektionskrankheiten. Dort
                                                Anlaufpunkt für Holocaust-Überlebende
sah sie täglich, wie kranke Häftlinge für den
                                                eingerichtet, die in der Stadt eintrafen. In
Tod in der Gaskammer ausgewählt wurden:
                                                der Regel hofften sie, eine Weiterreise nach
„Die einzige Aufgabe des Spitals war es, die
                                                Palästina organisieren zu können. Sie er-
Kranken hereinzulocken und je mehr Men-
                                                hielten Unterstützung und wurden gleich-
schen zu verbrennen. Es kam vor, dass man
                                                zeitig gebeten, ihre Verfolgungsgeschich-
auf einmal hundertzwanzig bis hundertfünf-
                                                te zu erzählen, die schriftlich festgehalten
zig Frauen wegführte. Natürlich wären sie
                                                wurde. Am Ende der Schilderung notierten
zu heilen gewesen.“

                                                         Magazin vom 24.02.2021 15
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die Protokollant*innen die Namen von An-        Viele von ihnen hatten, wie Anna Haas, die
gehörigen und Bekannten, mit denen die          letzte Kriegsphase in KZ-Außenlagern über-
Berichtenden gemeinsam deportiert worden        lebt. Der Anteil von jungen Frauen in dieser
waren und von deren Schicksal sie zu die-       Gruppe war hoch: ein Grund lag darin, dass
sem Zeitpunkt meist nichts wussten, aber        mit den Deportationen jüdischer Bevölke-
Schlimmes ahnten. Beim Durchstöbern             rung aus Ungarn und den ungarisch besetz-
der Aussagen fällt auf, wie viele Überleben-    ten Gebieten Rumäniens und der Tsche-
de schon zu diesem frühen Zeitpunkt, im         choslowakei seit Mai 1944 besonders viele
Frühjahr und Sommer 1945, Befürchtungen         Frauen nach Auschwitz-Birkenau kamen, da
äußerten, mit ihren Berichten über die Ver-     ein Großteil der ungarischen jüdischen Män-
brechen zu langweilen und Altbekanntes zu       ner – nämlich diejenigen, die die ungarische
wiederholen.                                    Armee zur Zwangsarbeit einsetzte – von den
                                                Deportationen ausgenommen war. Diese
Anna Haas` vierseitiger Bericht wurde un-
                                                Frauen wurden nun verstärkt zu Arbeitsein-
ter der Protokollnummer 35 abgelegt. Nüch-
                                                satzzwecken an die deutsche Rüstungsin-
tern schildert sie darin von dem Erlebten,
                                                dustrie verteilt. Dies führte zwischenzeitlich
nennt Namen von Tätern und Mitgefange-
                                                zu Irritationen bei der SS, im Rüstungsmi-
nen. Eine Leerstelle bleibt das Schicksal ih-
                                                nisterium und in den Unternehmen, die sich
rer Eltern und ihrer siebenjähriger Schwes-
                                                mehr junge Männer als Zwangsarbeitskräfte
ter Maria, die vermutlich bereits während
                                                erhofft hatten. Schon bald jedoch gehörte
der Eingangsselektion an der Rampe als
                                                der Einsatz von weiblichen KZ-Häftlingen
„arbeitsunfähig“ eingestuft und in der Gas-
                                                in der deutschen Industrie oder bei Schanz-
kammer ermordet wurden.
                                                arbeiten zur Normalität in Deutschen Reich.
Anna Haas muss vom fabrikmäßigen Mord           Im Januar 1945 waren 200.000 Frauen im
berichten, zu einem Zeitpunkt, als es noch      KZ-System gefangen: Ein Großteil von ih-
keinen Namen dafür gibt. Sie muss, wie viele    nen lebte in Außenlagern.
andere, neue, eigene Begriffe für das Unsag-
                                                Forschungen haben ergeben, dass die
bare finden. So beginnt sie die Beschreibung
                                                Sterblichkeit von weiblichen Häftlingen
vom Lager Auschwitz-Birkenau mit den
                                                in den Außenlagern der Rüstungsindust-
Worten: „Auschwitz macht im ersten Au-
                                                rie weitaus niedriger lag als die von Män-
genblick den Eindruck eines Narrenhauses.
                                                nern. Die größte Gefahr für die jungen
Es ist die Erfindung eines kranken phanta-
                                                Frauen und Mädchen entstand im Mo-
sievollen Gehirns, gründlich und präzis aus-
                                                ment der Lagerräumungen. Im Januar
gearbeitet und durchgeführt.“
                                                1945 begannen die Todesmärsche aus den
Tausende von jungen Jüdinnen legten be-         Lagern in den östlichen Teilen des Deut-
reits vor Kriegsende oder unmittelbar           schen Reichs, in denen sich Außenlager von
danach Zeugnis von ihrer Verfolgung ab.         Stutthof und Groß-Rosen befanden. Diesen

                                                          Magazin vom 24.02.2021 16
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Gewaltmärschen bei starkem Frost fielen         sammelte. Auch in DP-Lagern entstanden
viele Frauen zum Opfer. Sie verhungerten,       umfangreiche Projekte zur Dokumentation
erfroren oder wurden von den Begleitmann-       der Erfahrungen von Überlebenden, darun-
schaften erschossen, weil sie nicht schnell     ter die einzigartigen Tonbandprotokolle, die
genug liefen. Gleichzeitig erleichterte der     der Psychologieprofessor David P. Boder im
Umstand, dass auch die deutsche Bevölke-        August 1946 aufnahm.
rung aus diesen Regionen floh, den Frauen       In den letzten Jahrzehnten stieg sowohl in
und Mädchen die Möglichkeiten zu einer          Deutschland als auch an den heute polni-
Flucht. Leerstehende Häuser und Scheu-          schen Standorten ehemaliger KZ-Außenla-
nen boten Unterschlupf und in manchen           ger das Interesse an der Geschichte dieser
Küchen, Kammern und Kellern fanden sich         Lager, die in fast jeder Stadt und in vielen
gefüllte Lebensmittelmagazine. Niemand          Gemeinden errichtet worden waren. Initi-
war da, um sie zu bewachen und geflohene        ativen setzten sich zum Ziel, Spuren zu su-
KZ-Häftlinge den Behörden zu melden. An-        chen und etwas über die Häftlinge und ihre
gesichts der großen Gefahr, auf dem Todes-      Leidenszeit in Erfahrung zu bringen. Sie
marsch umzukommen, entschlossen sich            suchen nach Berichten von Überlebenden,
etliche Frauen und Mädchen, das Risiko ei-      da erst die Verbindung mit konkreten Bio-
ner Flucht einzugehen. Sie schlugen sich auf    graphien die Geschichte anschaulich und
oftmals abenteuerliche Weise in die befrei-     vermittelbar macht. Die Bekanntheit und
ten Gebiete durch. Dort fanden sie Unter-       Zugänglichkeit gerade der frühen Quellen
stützung bei jüdischen Hilfsorganisationen.     ist jedoch bisher so eingeschränkt, dass
In der Regel wurden dort die Erfahrungen        Geschichtsaktivist*innen oftmals nicht ein-
der Überlebenden schriftlich festgehalten.      mal ahnen, wie viele frühe Berichte über das
So bildeten sich in vielen Städten Polens jü-   entsprechende Lager in Archiven schlum-
dische Kommissionen, die rund 7.200 Be-         mern. Zwar schreitet die Digitalisierung
richte protokollierten. Die ungarische De-      vieler Bestände voran und immer mehr
portiertenfürsorge in Budapest sammelte         werden im Internet zugänglich. Der Bericht
seit Frühsommer 1945 bis zum April 1946         von Anna Haas jedoch liegt zusammen mit
rund 4000 Berichte. Auch in vielen anderen      800 weiteren Berichten aus dem Bukares-
europäischen Staaten bildeten sich ähnliche     ter „Haus der Flüchtlinge“, die alle aus dem
Initiativen. Um beispielsweise die Erfah-       Zeitraum Frühjahr bis Herbst 1945 stam-
rungen der 20 000 Konzentrationslager-          men, in einem kleinen Archiv des Pinkas La-
Überlebenden zu dokumentieren, die nach         von Instituts im Norden von Tel Aviv. Auf-
dem Krieg zur Erholung nach Schweden            grund ihrer schweren Zugänglichkeit sind
gebracht worden waren, gründete Zygmunt         sie wissenschaftlich kaum ausgewertet.
Łakociński in Lund das Polish Research
                                                Viele Überlebenden äußerten in ihren
Institute, das mehrere hundert Berichte
                                                letzten Lebensjahren die Befürchtung, dass

                                                         Magazin vom 24.02.2021 17
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ihre Erfahrungen und ihre Perspektive auf                Frühe Berichtesammlungen
das Geschehene in Vergessenheit geraten                                  (Auswahl)
könnte. Gedenkstätten und Erinnerungs-        Protokolle aus dem Haus der Flüchtlinge in
initiativen arbeiten daran, dass dies nicht   Bukarest, Archiv des Lavon-Instituts for La-
geschieht. Es bedarf gemeinsamer Anstren-     bour Research, Tel Aviv, Bestand L VII-123
gungen von Archiven, Historiker*innen         (digitalisiert im Archiv des United States
und Geschichtsaktivist*innen über Länder-     Holocaust Memorial Museum, RG-68151M).
grenzen hinweg, um vergessene Bestände
                                              Protokolle der Jüdischen Kommissionen
mit frühen Erlebnisprotokollen durch die
                                              in Polen, Żydowski Instytut Historyczny,
Erstellung von Findbüchern, Orts- und La-
                                              Warszawa, Bestand 301 (digitalisiert, nicht
gerregistern sowie Digitalisaten und Über-
                                              online abrufbar, publiziertes Findbuch:
setzungen zugänglicher zu machen. Die
                                              Marek Jóźwik (Hrsg.), Holocaust Survivors
Stimmen der Überlebenden sollten an den
                                              Testimonies Catalogue, 7 Bände, Warszawa
Orten ihrer Leidenserfahrungen gehört wer-
                                              1998-2011 sowie PDF-Findbuch auf der Sei-
den.
                                              te des Żydowski Instytut Historyczny und
                                              im Katalog des United States Holocaust Me-
                                              morial Museum).
                                              Protokolle der Deportiertenfürsorge in Bu-
                                              dapest (DEGOB), Magyar Zsidó Múzeum és
                                              Levéltár (www.degob.org bzw. www.degob.
                                              hu und teilweise im Online-Archiv von Yad
                                              Vashem, Bestand O.15).
                                              Protokolle des Polish Research Institute in
                                              der Lund University Library, teilweise on-
                                              line unter www.alvin-portal.org.
                                              Tonbandaufnahmen von David P. Boder,
                                              „Voices of the Holocaust“, temporär über
                                              folgende Plattform abrufbar: https://iit.avi-
                                              aryplatform.com/collections/231.
                                              Volltexte von derzeit 135 deutschsprachigen
                                              frühen Berichten der Lagerliteratur, Uni-
                                              versitätsbibliothek Gießen: https://digisam.
                                              ub.uni-giessen.de/ubg-ihd-fhl.

                                                       Magazin vom 24.02.2021 18
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                     Literatur (Auswahl)
Frank Beer/Markus Roth (Hrsg.), Von der
letzten Zerstörung. Die Zeitschrift „Fun let-
stn churn“ der Jüdischen Historischen Kom-                                     Über die Autorin
mission München 1946-1948, Berlin 2020.                  Dr. Andrea Rudorff ist wissenschaftliche
                                                       Mitarbeiterin des Fritz Bauer Instituts im
Regina Fritz/Éva Kovács/Béla Rásky                       Projekt »Polnische Strafverfahren gegen
(Hrsg.), Als der Holocaust noch keinen Na-       Angehörige der Lagerbesatzung von Auschwitz-
                                                  Birkenau«. Zuvor arbeitete sie im Projekt »Die
men hatte: zur frühen Aufarbeitung des NS-       Geschichte des Konzentrationslagers Katzbach,
Massenmords an den Juden, Wien 2016.              Frankfurt am Main« und war Bearbeiterin des
                                                      Bands 16 der Edition »Die Verfolgung und
Laura Jockusch, Collect and record! Jewish        Ermordung der europäischen Juden durch das
                                                  nationalsozialistische Deutschland 1933-1945«
Holocaust documentation in early postwar        des Instituts für Zeitgeschichte München/Berlin.
Europe, Oxford 2012.
Andrea Rudorff/Claus Füllberg-Stolberg,
Geschlechtsspezifische Mortalitätsraten in
Konzentrationslagern. Ursachen, Interpre-
tationen, Wahrnehmung, in: Janine Doer-
ry/Thomas Kubetzky/Katja Seybold (Hrsg.),
Das soziale Gedächtnis und die Gemein-
schaften der Überlebenden. Bergen-Belsen
in vergleichender Perspektive, Göttingen
2014, S. 35-48.
Andrea Rudorff, Frauen in den Außenlagern
des Konzentrationslagers Groß-Rosen, Ber-
lin 2014.

                                                        Magazin vom 24.02.2021 19
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Rotarmistin, Kriegsgefangene,                                     Dreifach beschwiegen
Widerständlerin – und                            Die Erfahrungen von Antonina Konjakina-
Aktivistin: die Ärztin                           Trofimowa, die mit schwerwiegenden ge-
Antonina Konjakina-Trofimowa
                                                 sundheitlichen Problemen aus Deutsch-
(1914-2004)
                                                 land zurückkehrt war, wurden aus weiteren
 Eine Biografie aus der neuen Online-            Gründen beschwiegen: Obwohl Stalin schon
   Ausstellung „An Unrecht erinnern.             unmittelbar nach dem Überfall auf die So-
         Auf den Spuren sowjetischer             wjetunion am 22. Juni 1941 Frauen für den
                   Kriegsgefangener“             Dienst in der Roten Armee angeworben und
                                                 später auch zwangsweise mobilisiert hat-
Von Ruth Preusse und Katja Seybold
                                                 te (und damit die einzige Kriegspartei mit
Im Oktober 1941 geriet die Zahnärztin Anto-      Frauen in der kämpfenden Truppe schuf),
nina Konjakina als Teil einer Sanitätskolon-     wurden diese im offiziellen Erinnern von
ne der Roten Armee in deutsche Kriegsge-         Anfang an marginalisiert. Die Heldenvereh-
fangenschaft. Sie überlebte die kommenden        rung mit Paraden, großen Denkmälern und
Jahre trotz der systematischen und rassis-       Zeremonien war eindeutig männlich kon-
tisch motivierten Unterversorgung durch          notiert. Nur einzelne Frauen schafften es,
die Wehrmacht. Nach Ende des Zweiten             durch spektakuläre Einsätze, Angriffe oder
Weltkriegs musste sie jedoch feststellen,        Rettungsaktionen im Kampf als „Held der
dass es in der sowjetischen Nachkriegsge-        Sowjetunion“ (sic!) ausgezeichnet zu wer-
sellschaft keinen Raum für Lebensgeschich-       den. Die Mehrheit der Rotarmistinnen wur-
ten wie die ihre gab und geben sollte.           de nach dem Krieg aus der Armee entlassen
Stalin wollte die Sieger*innen und               und ihr Einsatz fortan nicht mehr erwähnt.
Held*innen feiern und die Bevölkerung so         Darüber hinaus hatte die Medizinerin Din-
über die Millionen Toten hinwegtrösten.          ge getan und erlebt, die für uns heute zwar
Wer in Kriegsgefangenschaft geraten war,         eindeutig mutig und dem eigenen Land
galt schlimmstenfalls als Verräter*in, bes-      gegenüber solidarisch erscheinen, damals
tenfalls als feige. Für die offizielle Erinne-   aber bei den sowjetischen Behörden vor
rungskultur waren diese Männer und Frau-         allem Misstrauen erzeugten: Sie war Teil
en in jedem Fall ungeeignet. Weder die etwa      einer Widerstandsgruppe im Kriegsgefan-
3,3 Millionen Menschen, die in deutscher         genen-Mannschafts-Stammlager (Stalag)
Gefangenschaft aufgrund gezielter Morde          XI C (311) Bergen-Belsen gewesen. Überle-
und Verelendung den Tod fanden, noch die         benden, die sich „im Ausland aufgehalten
Überlebenden dieser Torturen wurden ge-          hatten“, wurde von offiziellen Stellen bei
würdigt, jahrzehntelang.                         ihrer Rückkehr regelmäßig unterstellt, mit
                                                 den Deutschen kollaboriert zu haben. Muss-
                                                 te das nicht besonders für solche gelten,

                                                          Magazin vom 24.02.2021 20
Zur Diskussion

die behaupteten, ein ganzes Netzwerk von       der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der
Widerständler*innen aufgebaut zu haben?        Wannsee-Konferenz und MEMORIAL In-
                                               ternational Moskau will einen Beitrag dazu
Doch Antonina Konjakina-Trofimowa wollte
                                               leisten, dieses Thema sichtbarer zu machen.
sich mit dieser Art der Kriegserzählung und
                                               In Kooperation mit einer ganzen Reihe wei-
-erinnerung nicht abfinden. Als Frührentne-
                                               terer Gedenkstätten und Initiativen, darun-
rin engagierte sie sich ab 1961 bis zu ihrem
                                               ter auch der Gedenkstätte Bergen-Belsen,
Tod als Zeitzeugin im Sowjetischen Komi-
                                               wurde eine auf ein jugendliches Publikum
tee für Kriegsveteranen (SKKV). Sie kämpf-
                                               zugeschnittene deutsch-russische Online-
te dafür, auch die Geschichte der Frauen
                                               Ausstellung entwickelt. Unter www.un-
in der Roten Armee, der Kriegsgefangenen
                                               recht-erinnern.info finden sich Biografien,
und der Widerständler*innen zu einem Teil
                                               Themen- und Ortstexte, die in leicht ver-
der post-stalinistischen Erinnerungskultur
                                               ständlicher Sprache nicht nur über die Ge-
zum Zweiten Weltkrieg werden zu lassen.
                                               schichte der sowjetischen Kriegsgefangenen
Ihr Erfolg, so muss man heute konstatieren,
                                               während des Krieges aufklären. Ganz zent-
war nicht sehr nachhaltig. Heute dominiert
                                               ral geht es auch um den Umgang mit dieser
in Russland wieder die Heldenerzählung in
                                               Geschichte nach 1945 in beiden deutschen
der Erinnerung an den „Großen Vaterländi-
                                               Staaten und der Sowjetunion bzw. dem wie-
schen Krieg“. Kriegsgefangene Frauen tau-
                                               dervereinten Deutschland und Russland,
chen allenfalls in Zusammenhang mit Akti-
                                               der Ukraine und Belarus. Schüler*innen
vitäten der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück
                                               sollen dazu angeregt werden, über Erinne-
auf, wo sie innerhalb der Häftlingsgesell-
                                               rungskultur nachzudenken: Wer trägt bei
schaft einen besonderen Platz einnahmen.
                                               und wieso, welche Funktionen soll sie er-
                Die Online-Ausstellung         füllen? Auch die Geschichte von Antonina
                „An Unrecht erinnern“          Konjakina-Trofimowa wird hier erzählt.
In Deutschland sind die Verbrechen an den                           Ein Leben in einem
sowjetischen Kriegsgefangenen zu keiner                          bewegten Jahrhundert
Zeit von der breiten Öffentlichkeit wirklich
                                               Antonina Konjakina wurde am 14. März 1914
wahrgenommen worden, obwohl sich eine
                                               in der Nähe von Zarizyn geboren. Zu ihren
kleine und sehr engagierte Gedenkstätten-
                                               Lebzeiten wurde diese Stadt zweimal um-
szene zum Thema entwickelt hat. Der Ort
                                               benannt: 1925 in Stalingrad, 1961 in Wolgo-
Bergen-Belsen beispielsweise ist bleibend
                                               grad. Seit einigen Jahren gibt es Initiativen,
wegen des später eingerichteten Konzent-
                                               die fordern, wieder zu dem Namen zurück-
rationslagers, nicht wegen des von 1940 bis
                                               zukehren, der so untrennbar mit der ersten,
Januar 1945 existierenden Kriegsgefangen-
                                               verlust-, aber letztlich siegreichen Schlacht
lagers bekannt.
                                               gegen die Deutschen verbunden ist: Stalin-
Ein binationales Projekt unter Leitung         grad. Auch hier geht es um Erinnerungskultur

                                                         Magazin vom 24.02.2021 21
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