Pflege in Zeiten ohne Zeit - aok-bw-presse.de
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1/2020 AOK BADEN-WÜRTTEMBERG REPORTAGE Pflege in Zeiten ohne Zeit Wie schaffen wir es, uns gut um unsere Älteren zu kümmern? Ein Besuch in Tuttlingen, das Modellkommune werden will 12 GESUNDHEIT & Über Qualitätsverträge mit Kliniken 26 WIR HABEN EINEN sagt Sozial- und Gesundheitsminister VERSORGUNG und ein echtes Entlassmanagement KLAREN KOMPASS Manfred Lucha im Interview
Seite 2 INHALT 08 16 20 04 TREFFPUNKT Nachrichten, Positionen, Meinungen aus dem Gesundheitswesen 08 SEISMOGRAF Pflege in Zeiten ohne Zeit: Was man in Tuttlingen richtig macht 12 GESUNDHEIT & VERSORGUNG Über Qualitätsverträge mit Kliniken und ein echtes Entlassmanagement 14 HIER UND JETZT Beim Impfen liegt der Südwesten hin- ten. Bei innovativer Versorgung vorn 16 STANDPUNKT Warum Sie dieses Heft Der Verwaltungsrat der AOK Baden- Württemberg bezieht Stellung in den Händen halten 18 PRÄVENTION & INNOVATION Im Fokus: Krebsberatungsstellen Leben heißt Veränderung. Gerade in diesem Jahr ist uns das schmerz- und Psychische Gesundheit lich wie lange nicht vor Augen geführt worden – von einem mikrosko- pisch kleinen Virus, das die ganze Welt auf den Kopf gestellt hat. Für 20 VERSORGUNG & IT mich persönlich ist dieses Jahr auch in einem guten Sinne besonders. Die elektronische Patientenakte Es ist das erste, in dem ich zusammen mit meinem Kollegen Alexander kommt. Und was danach? Stütz die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung von mehr als 4,5 Millionen Versicherten in Baden-Württemberg übernommen habe. 22 ALTER & PFLEGE Schon 2019 haben wir entschieden, dass die AOK Baden-Württemberg Homosexualität und die Verbindung von Reha, Pflege und Prävention ihre gesundheitspolitischen Inhalte auf ein neues Gerüst stellt. Un- ter dem Label #AgendaGesundheit können Sie zukünftig nicht 24 RECHT & GESUNDHEIT nur dieses Magazin erwarten. Auch der Unternehmensbericht Über Fehlverhalten im Gesundheits- und unsere mehrmals jährlich laufenden Diskussionsveranstal- wesen und das Apothekengesetz tungen haben diese Überschrift. Unser Anspruch ist es, ein realistisches Bild der H erausforderungen der Gesundheits 26 REDE & ANTWORT versorgung im Südwesten zu zeichnen. Lösungsvorschläge Sozial- und Gesundheitsminister und Best-Practice-Beispiele inklusive. Lassen Sie uns wissen, Manfred Lucha im Interview Bild: AOK was Ihnen am neuen Magazin gefällt oder vielleicht auch nicht gefällt: agendagesundheitmagazin@bw.aok.de 28 GESUNDHEIT & WIRTSCHAFT Die neue Generation der Ihr Arzneimittelrabattverträge ist grün 30 WEBSNACKS & TERMINE Was macht eigentlich die Monopol- Johannes Bauernfeind kommission der Bundesregierung? Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg 31 AUS UND EINSICHT Landschaftsgärtner Joachim Knöpfle hat das AOK-Rückenkonzept geholfen IMPRESSUM Herausgeber und verantwortlich für den Inhalt: AOK Baden-Württemberg, Presselstraße 19, 70191 Stuttgart; Verlag: K omPart Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Rosent haler Straße 31, 10178 Berlin; Geschäftsführer: Frank Schmidt, Martin Gosen; C reative D irector: Sybilla Weidinger; Redaktionelles UF6 Konzept: Robin Halm, Anne Wäschle; Koordination: Stefan Rösch; Redaktionsleitung: Anne W äschle (awa), Telefon: 030 22011 121; Redaktion: Stephan Funk (stef), Grit Horn (gh), Ines Körver (ik), Fabian Obergföll (fob), S ilvia Dahlkamp (sd), Stefan Rösch (srö); Grafisches Konzept und Umsetzung: Katharina Doering; Nachdruck oder Weiterverwendung von Inhalten nur mit Genehmigung des Herausgebers. Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 01/2020 war der Dieses Druckerzeugnis wurde mit 13. Oktober 2020. Nächster Redakt ionsschluss: 12. Januar 2021. Adressänderungen per E-Mail an agendagesundheitmagazin@bw.aok.de IDENT.-NR . 20 - 0628 dem Blauen Engel ausgezeichnet. 1/2020
Seite 3 EINBLICK Bild: curevac Wann kommt Die Forscher von CureVac sind vorn mit dabei im Rennen um einen Impfstoff gegen Covid-19. Die Wirkstoff-Entwicklung aus Baden-Württemberg hat die ersten klinischen Tests hinter sich. Im der Impfstoff? vierten Quartal werden nun in der nötigen Massenstudie 30.000 Probanden geimpft. Spätestens Mitte 2021 soll der Impfstoff verteilt werden können, heißt es aus dem Hauptsitz in Tübingen. (Aus Baden-Württemberg) Damit es schnell geht, wenn die Zulassung vorliegt, wird schon seit Ostern vorproduziert. 1/2020
Seite 4 TREFFPUNKT MENSCH MIT MISSION S P Ä TA U S L E S E »Enorm wertvoll« UNZENSIERTER GEDANKEN Weltweit wird unter Hochdruck ein Medikament gesucht, das bei Covid-19 hilft. Professor Harald Klüter will testen, ob das Blutplasma ehemaliger Erkrankter das kann »Man kann die »Bei erneuten Diese Studie macht Hoffnung: „Blutplasma ehemaliger Zukunft nicht Erkrankungs- Covid-19-Patienten ist eine mögliche Behandlungsop- voraussagen, tion im Kampf gegen das neuartige Coronavirus SARS- wellen können wir diese CoV-2“, sagt Professor Harald Klüter. Die Antikörper man kann nur können schwer Erkrankte dabei unterstützen, die Krank- Behandlungs- heit zu überwinden. Das Institut für Transfusionsmedi- gut vorbereitet option schnell zin in Mannheim hat mit dem DRK-Blutspendedienst Ba- sein. Zu berück- den-Württemberg-Hessen im April eine bundesweite einsetzen und erproben« Initiative gestartet und sucht ehemalige Erkrankte, die sichtigen sind sich für eine Plasmaspende eignen. Die Landesbehörden haben die Erlaubnis zur Herstellung dieses Plasma-Medi- dabei histori- kamentes erteilt. Klüter ist überzeugt, dass dieses Plasma Prof. Harald Klüter Direktor des Instituts für Transfusionsmedizin und wertvoll sein kann: „Da es bislang an zugelassenen Me- sche Trends. Immunologie der Universitätsmedizin Mannheim dikamenten zur Behandlung fehlt, ist das Blutplasma ge- Ich stelle drei sundeter Covid-19-Patienten eine Option.“ Über 1.000 potenzielle Spender hat das Institut ge- Begriffe vor, meinsam mit weiteren Instituten des DRK-Blutspende- welche die dienstes angesprochen und auf ihre Tauglichkeit über- prüft. Über 130 Spendewillige wurden in Mannheim Megatrends und der Umgebung rekrutiert. Das so gewonnene Blut- plasma wird bei Patienten mit mittelschweren und betreffen: schweren Erkrankungsverläufen eingesetzt. Die Wirk- Globalisierung, samkeit wird derzeit weltweit in klinischen Studien ana- lysiert. Das Institut in Mannheim beteiligt sich an der Individualisie- Bild: UMM Capsid-Studie des DRK-Blutspendedienstes. Die deutsch- rung und landweit erste und größte multizentrische randomisier- te Studie läuft auch in in Ulm, Tübingen, Freiburg, Stutt- New Work« gart und Karlsruhe. Außerdem wird an der Möglichkeit gearbeitet, die Antikörper aus den gewonnenen Plasmen anzureichern und als passives Impfserum ein Hyper- Immunglobulin zu gewinnen FÜR DIE STUDIE BEWERBEN: und auch einzusetzen. srö blutspende.de/rkp Prof. Harald Klüter Matthias Horx Soziologe, Journalist, Der Arzt und Apotheker Prof. Harald Klüter leitet das Trend-Forscher, gründete 1996 das „Zukunftsinstitut“ Institut für Transfusionsmedizin und Immunologie der Universitätsmedizin Mannheim und des DRK-Blut- spendedienstes Baden-Württemberg-Hessen. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Bun- desärztekammer sowie des Vorstands der Deut- schen Gesellschaft für Transfusionsmedizin und Immunhämatologie, außerdem Herausgeber der Bild: Klaus Vyhnalek Zeitschrift „Transfusionsmedizin“. 1/2020
Seite 5 TREFFPUNKT UMFRAGE Z E M E N T I E RT D I E C O R O N A PA N D E M I E D I E K R A N K E N H A U S L A N D S C H A F T ? Die Coronakrise hinterlässt auch bei den Kliniken Spuren und hat die Diskussionen um die Krankenhausstrukturen in Deutschland weiter verschärft. Welche Lehren sollte der stationäre Sektor aus der Pandemie ziehen? Vieles wurde schon erreicht Jetzt erst recht eine Reform Wieso eine Zementierung? Die Konzent- Zu Beginn der Krise konnte der Eindruck ration und die Spezialisierung vorantrei- entstehen, dass sich jede Diskussion mit Bild: BWKG/KD Busch ben, ohne die flächendeckende Versor- einer Zentralisierung von Kapazitäten zu- Bild: TU Berlin gung zu vernachlässigen – das ist und gunsten Qualität erübrigt habe. Das hat bleibt auch die Maxime bei der Struktur- sich als falsch herausgestellt, denn schwer entwicklung der Krankenhäuser in Ba- kranke Patienten mussten aus personell Detlef Piepenburg den-Württemberg. Vieles wurde bereits Prof. Reinhard Busse und technisch inadäquaten Häusern ver- Vorstandsvorsitzender der Professor für Management im Baden-Württembergischen erreicht und hat sich in der Pandemie Gesundheitswesen an legt werden. Konzentration auf weniger Krankenhausgesellschaft der TU Berlin mehr als bewährt. und bessere Häuser wäre besser! Die Landschaft muss sich ändern Mehr Personal ist nötig Die Krankenhausversorgung hat während Die Pandemie führt vielfach kritisier- der Pandemie gut funktioniert, weil al- te Systemfehler deutlich vor Augen. Ich Bild: Marburger Bund len klar ist, dass sehr gute Versorgungs- hoffe daher, dass seit Langem notwendi- qualität nur dort möglich ist, wo Expertise ge Reformen als Lehre aus der Pandemie Bild: AOK vorliegt und Fachgebiete ihr Know-how tatsächlich angegangen werden. Im Kern gemeinsam nutzen. Die Krankenhaus- geht es darum, dass medizinische Erwä- landschaft wird sich weiter verändern Nadia Mussa gungen Vorfahrt vor ökonomischen Prin- Dr. Frank J. Reuther Leiterin des Fachbereichs 1. Vorsitzender des Marburger müssen, da der notwendige Strukturwan- Krankenhausversorgung bei der zipien haben müssen und ausreichend Bundes Baden-Württemberg AOK Baden-Württemberg del noch nicht abgeschlossen ist. Personal zur Verfügung gestellt wird. FALSCH NACHRICHTEN Führen Rabattverträge zu Versorgungsengpässen? Ja, behauptet Dr. Hans-Georg Feldmeier, Vorsitzender des Bundes verbands der Pharmazeutischen Industrie. Doch das stimmt nicht Das Redaktionsnetzwerk Deutschland sprach im Juli mit Hans-Georg Feldmeier, CEO von Dermapharm, über Lieferengpässe bei Medikamen- ten. Als Grund dafür nannte er unter anderem den extremen Spardruck der Pharmaindustrie durch die Rabattverträge der Krankenkassen. Der führe dazu, dass die Produktion zunehmend ins Ausland verlagert wer- de. „Problematisch sind vor allem die Exklusivverträge“, sagt Feldmeier. Sie würden zu einer Konzentration der Anbieter führen und damit die Gefahr von lebensgefährlichen Versorgungsengpässen erhöhen. Das Gegenteil ist der Fall, stellt Johannes Bauernfeind, Vorstands- vorsitzender der AOK Baden-Württemberg und Chefverhandler für die bundesweiten AOK-Arzneimittelrabattverträge, klar. „Bislang kann al- lein die Mechanik der Rabattverträge zur Verhinderung von Liefereng- pässen beitragen“, so Bauernfeind. Sie machten die Versorgung pla- nungssicherer, stellten Transparenz her und verfügten über wirksame Bild: iStock.com © katrink03 Sanktionierungsinstrumente. „Zum Beispiel verpflichten wir die Arznei- mittelhersteller mit unseren Rabattverträgen, als Absicherung gegen Produktions- oder Lieferausfälle dauerhaft Arzneimittelreserven für drei Monate anzulegen“, so Bauernfeind (mehr dazu auf Seite 29). gh 1/2020
Seite 6 TREFFPUNKT KREUZVERHÖR TAT E N & TAT S A C H E N KREUZ VERHÖR 2021 setzt sich der Ein großes Risiko Gesundheitsfonds etwas Der Suchtmittelkonsum stellt ei- anders zusammen als bisher nes der ganz zentralen Gesund- heitsrisiken dar. „Mit über 100 Das Milliarden-Finanzloch der Kassen will Jens Spahn auf Suchtberatungsstellen und 20 umstrittene Weise stopfen. Frank Plate kommt damit klar Fachkliniken erhalten abhängige Menschen in Baden-Württem- Der Bundeszuschuss wird berg kostenlos umfangreiche erhöht, die Kassen müssen an Hilfen“, erklärt Christa Niemeier. ihre Rücklagen, die Versicher- Christa Niemeier Die Suchthilfeangebote reichen Referentin für Sucht- ten zahlen höhere Zuzahlun- fragen und Prävention von niedrigschwelligen Kontakt- bei der Landesstelle für gen: Stabilisiert Spahns Paket Suchtfragen der Liga der angeboten bis hin zur ambulan- die gesetzliche Krankenversi- freien Wohlfahrtspflege ten Suchttherapie, erfolgreichen in Baden-Württemberg Bild: BAS/Jürgen Schulski cherung nachhaltig? Frühinterventionsprogrammen Durch die vom Gesetzgeber ergrif- sowie Vermittlung in Reha. fenen Maßnahmen haben bereits suchtfragen.de viele Leistungserbringer im Ge- sundheitswesen Finanzhilfen er- Arm bleibt oft arm »Die GKV ist halten, die zu einem großen Teil In Baden-Württemberg ist immer eine Solidar durch das Bundesamt für Soziale noch fast jedes fünfte Kind von gemeinschaft« Sicherung ausgezahlt wurden. Die Armut bedroht. „Diese bestimmt von der Bundesregierung für das aber nicht nur die Gegenwart Frank Plate Jahr 2021 beschlossenen Maßnah- von Familien, sie schränkt auch Präsident des Bundesamtes men tragen der Ausnahmesituati- die Chancen von Kindern in der für Soziale Sicherung on Rechnung. Eine weitergehen- Zukunft ein“, erklärt Ursel Wolf- de Prognose ist zum jetzigen Zeitpunkt schwierig. Die Entwicklung gramm. Und die Gefahr ist groß, muss beobachtet werden. dass aus Kindern armer Eltern Ursel Wolfgramm Vorstandsvorsitzende auch die Eltern von armen Kin- des Paritätischen Baden-Württemberg Die Krankenkassen sind entsetzt, dass sie ihre Rückla- dern werden. Auf einem Video gen opfern sollen. Berechtigte Kritik oder Lobbygetöse? kongress im Oktober wurden Ich kann nachvollziehen, dass Krankenkassen die geplante Regelung daher Strategien gegen die Kin- als Eingriff in die Haushaltsautonomie der Selbstverwaltungen emp- derarmut im Land ausführlich dis- finden. Es darf aber nicht übersehen werden, dass wir es hier immer kutiert (mehr dazu auf S. 14). noch mit einer Ausnahmesituation zu tun haben. Die GKV ist trotz des Wettbewerbsgedankens in erster Linie eine Solidargemeinschaft. Wichtige dritte Säule In welcher Weise der Gesetzgeber seine Gestaltungsmöglichkeiten in Die Coronapandemie offenba- diesem Sinne einsetzt, ist letztlich eine politische Entscheidung. re in aller Deutlichkeit, dass Seu- chenbekämpfung komplex, der Schon im September hat Jens Spahn verkündet, die Ein- Erfolg unsicher und vor allem nahmen aus den Zusatzbeiträgen müssten 2021 um drei der öffentliche Gesundheits- Milliarden Euro angehoben werden. Degradiert er mit sol- dienst unverzichtbar ist. Brigit- chen Aussagen den Schätzerkreis zum Erfüllungsgehilfen? te Joggerst: „Aber es ist klar- Dass auf der Grundlage erster Einschätzungen die Eckpunkte für ein geworden, dass Jahrzehnte der Maßnahmenpaket beschlossen werden, war mit Blick auf den zeitli- Dr. Brigitte Vernachlässigung Spuren im öf- Joggerst chen Vorlauf von gesetzgeberischen Abläufen notwendig. Dadurch Vorsitzende des Ärzte- fentlichen Gesundheitsdienst verbandes öffentlicher wurden gerade die Rahmenbedingungen festgelegt, die für die Ver- Gesundheitsdienst hinterlassen haben und wenig anschlagung der Einnahmen des Gesundheitsfonds benötigt werden. Baden-Württemberg Zeit bleibt, nachzusteuern. Wir Die Annahmen der Bundesregierung haben sich übrigens durch die brauchen dringend qualifiziertes Schätzung des Schätzerkreises, jedenfalls aus Sicht des Bundesge- Fachpersonal, insbesondere feh- sundheitsministeriums und des Bundesamtes für Soziale Sicherung, len Ärztinnen.“ bestätigt. Die Festsetzung der tatsächlich zu erhebenden Zusatzbei- Bilder: Privat träge obliegt im Übrigen weiterhin den Krankenkassen. ink 1/2020
Seite 7 TREFFPUNKT ZEITSPRUNG Die Pille wird 60 Jahre. Geburtstag mit Nebenwirkungen Im August 1960 kam in den Wissenschaftlichen Instituts der USA die erste Pille zur Schwan- AOK zeigt: Der Anteil der Pillen- gerschaftsverhütung auf den verordnungen bei den gesetz- Markt. Ein Jahr später verkaufte lich versicherten Mädchen und die Schering AG das erste orale Frauen erreichte im Jahr 2010 Kontrazeptivum in der Bundes- mit 46 Prozent seinen Höchst- republik. Was damals eine ge- stand und sank vor allem in den sellschaftliche Revolution aus- vergangenen vier Jahren bis auf löste – Frauenrechte, sexuelle 31 Prozent im Jahr 2019 – und Befreiung, Miniröcke –, ist bis das, obwohl die Altersgrenze Bild: iStock.com © VectorMine heute nicht unumstritten. Denn für die Verordnung der Anti-Ba- auch 60 Jahre nach Marktreife by-Pille auf GKV-Kosten vergan- können durch das Hormonprä- genes Jahr von 20 auf 22 Jahre parat schwere Nebenwirkungen angehoben worden ist. wie Thrombosen und Embolien Immer noch ist die Geburt Beachtung der Risikofaktoren klärung. Demnach erfreut sich auftreten, vor allem in Kombi- die häufigste Todesursache bei der sicherste und beste Weg. das Kondom wieder wachsen- nation mit Risikofaktoren wie Frauen weltweit. Auch ande- Trotz allem steigt das gesell- der Beliebtheit. Zuletzt lag der Übergewicht und Rauchen. re Verhütungsmittel haben Ri- schaftliche Bewusstsein dafür, Anteil der Präservativ-Benut- Generationen von Frau- siken. Man denke an die Ei- dass die Pille kein Lifestyleprä- zer bei 46 Prozent. Um Infekti- en haben das mehr oder min- leiterschwangerschaft bei der parat ist. Darauf deuten auch onskrankheiten zu vermeiden, der klaglos in Kauf genommen. Spirale. Im Vergleich dazu ist die kontinuierlich stattfinden- empfiehlt es sich ergänzend Doch diese Zeiten sind offenbar die richtig ausgewählte Pil- den Umfragen der Bundeszen- übrigens immer, ein Kondom vorbei. Die aktuelle Analyse des le bei guter Beratung und der trale für gesundheitliche Auf- zu benutzen. awa PRO KONTRA Hat die Coronakrise die Gesellschaft Prof. Heinz Bude Prof. Matthias Groß Professur für Makrosoziologie, Leiter Department Stadt- und Universität Kassel Umweltsoziologie, Helmholtz-Zentrum positiv verändert? für Umweltforschung Bild: Uni Kassel Bild: Privat »Wechselseitige Hilfe« »Ohne eine Vision« Wie wir versucht haben, Covid-19 in den Griff zu bekommen, Die Gesellschaft hat im Virus einen gemeinsamen Feind gefun- hat unsere Gesellschaft zum Positiven verändert. Die Leute ha- den, der für eine gewisse Zeit Solidarität und Zusammenhalt ben nicht panisch reagiert. Es gab das Hamstern von Toiletten- gestiftet haben mag. Außerdem hat die Zeit des Lockdowns papier, aber die meisten haben nachsichtig mit sich selbst und zur Wertschätzung der Natur oder des Waldes als Rückzugsor- den anderen darauf reagiert, weil man darin einen tiefsitzen- te und zur Aufwertung des Sonntagsspaziergangs oder dem den Ausdruck von Vorratshaltung in der Gefahrenlage erkann- Radfahren geführt. Eine Zeit der Rückbesinnung auf das, was te. Wichtiger für die Selbstbesinnung waren vorsichtige, tas- zählt, war ein Thema, das im Bekanntenkreis gelegentlich dis- tende Versuche wechselseitiger Hilfe. Man kam sich näher in kutiert wurde. Darüber hinaus scheint es wenig Hoffnung auf Distanz. Siegerlachen auf Winner-take-all-Märkten hatte aus- langfristig positive Veränderung zu geben, da es keine Vision gedient und war lächerlich geworden. Damit wurde auf ruhige des Danach gibt. Anders als bei früheren Katastrophen oder und selbstverständliche Weise ein Schlussstrich unter ein halbes heute beim Klimawandel, bei dem auf erneuerbare Energien Jahrhundert der Ichfeier und der Selbstbefeuerung gezogen. als Lösung verwiesen werden kann, gibt es bei Corona durch Außerdem haben die meisten mit einem Mal ihre Staatsphobie die Mutationsfähigkeit des Virus einen nie endenden Dauerzu- verloren. Man kommt gemeinsam nicht weiter, wenn man die stand als Horizont und keine Vision einer Lösung, die das Virus öffentlichen Güter verachtet und den Staat schlecht redet. ausrotten und die damit verbundene Krise beenden könnte. 1/2020
Seite 8 RUBRIKNAME Versorgt und vernetzt: In Tuttlingen kümmert sich eine ganze Kommune um Senioren wie Gertrud Müller. Nicht nur Tochter Ulrike Pflege in Zeiten ohne ZeitFotos: Elke Rauls / AOK 1/2020
Seite 9 SEISMOGRAF Die Pflege zu organisieren, ist nicht Aufgabe des Einzelnen, sondern der gesamten Gesellschaft. Dort, wo der Fürsorge und ihrer Planung gebührend Zeit eingeräumt wird, funktioniert es. So wie im Landkreis Tuttlingen, der sich anschickt, eine Modellkommune für die Pflege zu werden S ie haben geredet im intelligente Konzepte, damit ältere Men- kreise Konzepte einreichen. Jetzt, kurz vor Ort. Gertrud Müller, schen so lange wie möglich in der ver- der Entscheidung, sind nur noch zwei Be- 83, weiß es genau. trauten Umgebung leben können, selbst werber dabei: Karlsruhe und Tuttlingen – Wer immer hier ge- wenn Krankheit, Hilfe- und Pflegebe- ein Landkreis, der zwischen Stuttgart und lebt hat, kennt das Ge- dürftigkeit eintreten. Deshalb hat der Ge- dem Bodensee liegt, und in dem 136.000 schwätz der Leute: „Hab’s scho‘ g‘hört, setzgeber im dritten Stärkungsgesetz die Einwohner in 35 Kommunen leben – auch die Gertrud, die steckt die Agathe weg.“ „Modellkommune Pflege“ verankert. Da- Gertrud Müller in Spaichingen. Und „weg“, das klang so, als hätte sie ihre hinter steht die Idee der sich „kümmern- Mutter weggesperrt und nicht ins Alten- den Kommune“, die eine Infrastruktur für SPAICHINGEN, 12.000 EINWOHNER, KARLSTRASSE heim gebracht. Die Stimme der Rentne- die Pflege- und Altenhilfe schafft. Bundes- rin bricht: „Was hätt‘ ich denn tun sol- weit konnten kreisfreie Städte und Land- Freundin Doris, 79, hat angerufen. Sie geht len?“ Schlaganfall. Demenz. Pflege. In den ins Heim, weil ihre 24-Stunden-Pflegekraft Augen der alten Frau stehen Tränen: „Ich zurück nach Polen muss. „Sch... Coro- hab’s nimmer packt.“ »Im Kopf bin na.“ Gertrud Müller grübelt: „Mein Gott, Schweigen in der Wohnstube in Spai- ich fit, aber in den wie wird es weitergehen, auch bei mir?“ chingen, einer Kleinstadt am Rand der Knochen steckt die Sie ist die letzte von ihren Freundinnen, die Schwäbischen Alb, wo Schrank und An- noch zu Hause lebt. Es klingelt. Die Rent- Arthrose« richte noch den Charme der Wirtschafts- nerin steht auf, schnauft: „Alles Arthrose, wunderzeit verströmen: braun, mit dün- ich bring‘ die Arme kaum noch ruff.“ Das Gertrud Müller nen Beinchen. Doch wie früher ist hier 83 Jahre, pflegebedürftig, Knie ist kaputt. In der Schulter steckt ei- nichts mehr. Nicht in dem großen Haus, lebt allein zu Hause ne Prothese. Sie hat o ffene Beine. Als sie in dem Gertrud Müller allein lebt, seit ihr Paul vor drei Jahren gestorben ist. Nicht PFLEGEBEDÜRFTIGE IN BADEN-WÜRTTEMBERG NACH ART DER PFLEGE*) im Ort, wo man heute klagt, dass die Pfle- ge die Ersparnisse auffrisst. 421.000 Der demografische Wandel verändert die Gesellschaft. Es gibt weniger Gebur- 328.297 ten, aber immer mehr ältere Menschen. In 209.000 Pflegegeldempfänger zehn Jahren werden in Baden-Württem- + 23 % 170.104 berg mehr als 800.000 Senioren leben, die bereits ihren 80. Geburtstag gefeiert ha- 87.000 Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg ambulant Gepflegte ben – 56.000 mehr als im Jahr 2000. Wer 66.116 + 32 % wird sich um sie kümmern, wenn das Le- vollstationär Gepflegte 125.000 92.077 + 36 % ben beschwerlicher wird? Nicht unbedingt die eigenen Kinder, weil die oft gar nicht 2015 2030 mehr vor Ort wohnen. Auch die drei Kin- der von Gertrud Müller sind weggezogen. *) Status-Ouo-Rechnung. Nachbarschaftshilfen, Beratungsstel- Realistische Entwicklung: Im Jahr 2015 waren in Baden-Württemberg insgesamt 328.297 Menschen len, Treffpunkte der Begegnung, betreu- pflegebedürftig. 2030 werden es voraussichtlich 421.000 Pflegebedürftige sein. Das entspricht einer Zunahme te Wohngemeinschaften – es braucht von 28 Prozent. Der Anteil der Pflegebedürftigen an der Gesamtbevölkerung läge dann bei 3,8 Prozent. 1/2020
Seite 10 SEISMOGRAF Längst sind die Rechnungen vieler Alten froh, dass Tochter Ulrike ihr bei den Rech- heime höher als die deutsche Durch- nungen hilft, die sie bei Kranken- und schnittsrente, die zwischen 767 Euro Pflegekasse einreichen muss: 275 Euro für (Frauen) und 1.187 Euro (Männer) liegt. Wundpflege, 120 Euro für Betreuungs- Getrud Müller hat Glück. Ihre Tochter Ul- nachmittage, sechs Fahrten zum Arzt. Sie rike, 55, arbeitet in der Fachstelle für Pfle- hat Pflegegrad II, darf 689 Euro für Pfle- ge- und Selbsthilfe in Tuttlingen, sie hat gesachleistungen ausgeben. Außerdem den Alltag der Mutter organisiert. Die gibt es einen Entlastungsbetrag über 125 sagt: „Ohne ihre Hilfe tät‘ ich vielleicht Euro und: „Mhm, was war noch Verhin- auch im Heim sein.“ derungspflege?“ Genau das meint Marianne Thoma mit TUTTLINGEN, FACHSTELLE FÜR PFLEGE- Wirrwarr. „Die Menschen blicken nicht UND SELBSTHILFE, GARTENSTRASSE mehr durch.“ Als Thoma vor sechs Jahren In einer Seitenstraße der Fußgängerzo- hier anfing, war sie allein, inzwischen sind ne steht ein weiß verputztes Geschäfts- sie zu siebt. Vor drei Jahren trat das neue haus. Marianne Thoma, 58, hat keine Zeit. Pflegestärkungsgesetz II in Kraft, aus drei Die Leiterin der Fachstelle für Pflege und Pflegestufen wurden fünf Pflegegrade. Selbsthilfe beim Landratsamt Tuttlingen Seitdem klingelt im Stützpunkt manchmal muss sich darum kümmern, dass alle Se- 50-mal am Tag das Telefon. Wie wird Pfle- gegeld beantragt? Wer verschreibt Hilfsmit- »30 Prozent der tel? Gibt es Zuschüsse? Etwa zum Badum- Heimplätze werden bau, für eine Putzfrau, zur Tagespflege? Ihr Team beantwortet alle Fragen, hält außer- von Steuergeldern dem Vorträge, leitet Pflegekurse, macht bezahlt. Die Zahl steigt von Jahr zu Jongleur der Zahlen: Das Sozialamt, das Hermann Jahr« Ristau leitet, bearbeitet jedes Jahr eine steigende Anzahl Anträge auf Hilfe zur Pflege Hermann Ristau, Leiter des Sozialamts Tuttlingen z urückkommt, hat sie sich gefasst: „Dann telefonieren wir halt.“ Gerade ist ihr „Es- nioreneinrichtungen im Landkreis Corona sen auf Rädern“ gekommen: Schnitzel mit Schnelltests ordern können. Eine hal- Gurkensalat. Vormittags hat Marina die be Stunde später liegt das Konzept beim Wohnung geputzt. Sie kommt vom Ver- Kreis-Dezernenten für Arbeit und Sozia- ein MiKaDo – Mithilfe und Kontakte im les. Die Wege in Tuttlingen sind kurz. Man Dorf. Davor hat Birgit vom Roten Kreuz ihr kennt sich und alle kennen die grauhaari- mit den Kompressionsstrümpfen geholfen. ge Frau mit dem Pagenschnitt. Spitzname: Später ist der Betreuungsnachmittag der „Mrs. Google der Pflege“. Caritas. Hoffentlich machen sie Gedächt- Turnschuhe, Jeans, sportliche Bluse: nistraining. Beim letzten Mal hat die Leite- „Mrs. Google“ hat auch das Konzept für rin ein Bild gezeigt, auf dem ein Kind in ein das Modellvorhaben „Modellkommune Bein beißt. Müller hat den Oberbegriff so- Pflege“ geschrieben. Wenn man mit ihr fort gewusst: „Wadenbeißer.“ Sie tippt an an einem Tisch sitzt, kommt schnell die den Kopf: „Hier bin ich fit.“ Frage: „Wo wollen Sie leben, wenn Sie äl- Als der damalige Sozialminister Norbert ter werden?“ Und egal, wen sie fragt, al- Blüm 1995 die Pflegeversicherung ins Le- le antworten: Zu Hause, wenn es geht. Al- ben rief, war Gertrud Müller 57 Jahre alt. so kümmert sich Thoma darum, dass alle Das Thema hat sie kaum interessiert. Heu- möglichst lange zu Hause bleiben können. te – 25 Jahre später – ist sie eine von 2,9 Aber wie? Sie sagt: „Wir brauchen keine Millionen Pflegebedürftigen in Deutsch- neuen Gesetze, sondern müssen nur das land, von denen ein Viertel im Heim lebt. Wirrwarr ordnen.“ Baustelle Pflegeheim: Im Elias-Schrenk-Haus müssen „Wie bezahlen die das?“, fragt sie sich, Auch Gertrud Müller in Spaichingen aus Zweitbett- jetzt Einbettzimmer werden. Haus- leiterin Karen Winterhalter plant mit 17 Millionen wenn sie in der Zeitung von „Preisexplosi- ist verwirrt. Sie hat fast 40 Jahre lang als Euro Umbaukosten. Die Zuzahlung für die Bewohner onen“ liest. Buchhalterin gearbeitet. Trotzdem ist sie werden steigen müssen 1/2020
Seite 11 SEISMOGRAF Hausbesuche und stößt neue Projekte an. kommt. Neue Vollzeitstellen sollen entste- Erst heute Morgen hat Thoma eine betreu- hen. Kräfte, die Menschen wie Gertrud te Wohngemeinschaft besichtigt. Sie soll Müller beraten sollen, wie sie durch den im November eröffnet werden. Vier gibt Alltag des Alters kommen, Dienste vor Ort es jetzt im Kreis, drei sind in Planung. Das koordinieren, Pflegekurse anbieten oder Projekt „Tagesbetreuung in Gastfamilien“ Angehörigen helfen, die eine Pause brau- ist ihr wichtig und der „Bewegte Mittags- chen – sich eben um alle kümmern, die tisch“ und ... Das Telefon klingelt wieder. Hilfe brauchen. Und wenn es zu Hause Die Zeit reicht nicht, um alles zu erzählen. gar nicht mehr geht, vielleicht in die Pfle- Nur noch so viel: Sie rechnet sich gute ge-Oase ziehen. Chancen aus, dass Tuttlingen tatsächlich „Modellkommune“ wird. In anderen kreis- PFLEGEHEIM ELIAS-SCHRENK-HAUS, NORDSTADT freien Städten und Landkreisen war das In- teresse eher gering. Warum? Thoma kann Karen Winterhalter, 54, die Heimleiterin im nur raten: „Vielleicht, weil es verdammt Elias-Schrenk-Haus, sieht müde aus. Die viel Arbeit ist.“ zweite Welle Corona steht vor der Tür. Sie hat gerade Schnelltests besorgt. Sie sagt: LANDRATSAMT TUTTLINGEN, SOZIALAMT, „Wenigstens das klappt.“ Sie will nicht BAHNHOFSTRASSE jammern, „aber gerade ist wirklich viel Sozialamtsleiter Hermann Ristau, 64, ist los“. Weil die Landesheimbauverordnung besorgt. Er sitzt in seinem Büro und stu- keine Zweibettzimmer mehr erlaubt, muss diert eine Statistik, auf der 44 Balken in das 70er-Jahre-Seniorenwohnheim kom- die Höhe schießen. Jeder Balken steht plett saniert und erweitert werden – und für einen Stadt- oder Landkreis in Ba- das bei laufendem Betrieb. den-Württemberg. Tuttlingen ist gelb mar- kiert: 12.714 Euro. Ristau erklärt: „So viel zahlte das Amt 2018 im Schnitt für einen »Wir brauchen Mrs. Google der Pflege: Marianne Thoma ist schnell bei Recherche und Umsetzung, wenn es darum geht, Heimbewohner, der Anspruch auf ,Hil- nicht noch mehr die Pflege in Tuttlingen voranzubringen fe zur Pflege‘ hatte.“ Er seufzt: „Die Zahl neue Gesetze, der Anträge nimmt seit Jahren zu und erst Umbau kosten. Das bedeutet, dass auch recht, seit im Januar das Angehörigen-Ent- sondern müssen die Zuzahlung für die 97 Bewohner steigt lastungsgesetz gilt.“ Kinder, die weniger nur das – auf über 3.000 Euro im Monat. Plus Ta- als 100.000 Euro verdienen, müssen sich Wirrwarr ordnen« riferhöhung, die die Gewerkschaften ge- nicht mehr an den Pflegekosten ihrer El- rade für die Pflegekräfte ausgehandelt ha- tern beteiligen. Ristau fragt: „Was meinen Marianne Thoma, ben. Winterhalter hofft, dass die stationäre Sie, wie viele Menschen hier auf dem Land Leiterin des Pflegestützpunkts Pflege bald auf 700 Euro gedeckelt wird, Tuttlingen 100.000 Euro verdienen?“ Er gibt selbst so wie es gerade diskutiert wird: „Das ist die Antwort: „Fast keiner.“ Im ersten Stock kann man sehen, wie es die einzige Möglichkeit, dass zumindest ein 22.315 Heimplätze wurden bereits mal werden soll: hell, freundlich – ein Zu- Teil der Kosten für die Bewohner nicht wei- 2018 in Baden-Württemberg aus Steu- hause. Im August sind Anneliese, 94, Inge, ter davongaloppiert.“ ergeldern bezahlt, 30 Prozent. Auch in 77, Willi, 84, und drei andere Senioren mit Tuttlingen kann sich inzwischen jeder Demenz in die Pflege-Oase gezogen – eine SPAICHINGEN, KARLSTRASSE Dritte kein Heim mehr leisten. Deshalb Art Wohngemeinschaft im Heim. Räucher- Gertrud Müller bekommt eine gute Ren- haben sie sich im Landratsamt bereits vor stäbchen verbreiten Rosenduft. Alle sitzen te. Aber so viel auch wieder nicht. Sie sagt: fünf Jahren gefragt: Gibt es andere We- am Tisch. Anneliese wirft ein grünes Tuch „Fürs Heim ist es zu früh.“ Jetzt will sie im ge? Eine Arbeitsgruppe hat ein „Senio- in die Luft, lacht. Willi blättert eine Zeitung, Keller die Wäsche aufhängen. Sie nennt renpolitisches Rahmenkonzept“ mit sechs die er nicht mehr lesen kann. Eine Pflegerin das „Fitness“. Am Samstag kommt Sohn Handlungsempfehlungen erstellt. Tenor: zeigt auf ein Bild: „Ist das ein Hund?“ Willi Klaus. Sonntag bringt der Kommunion Wir müssen die kommunale Daseinsvor- sagt: „Ja.“ Winterhalter lächelt, als sie die helferdienst eine Hostie. Donnerstag hat sorge stärken. 2018 haben sie sich beim Szene beobachtet: „Auf dem Wohnbereich sie einen Dauerwelle-Termin. Egon, 75, Vorhaben „Modellkommune Pflege“ be- ist Willi unruhig hin- und hergelaufen, hat von der Nachbarschaftshilfe fährt sie. So worben. jahrelang kein Wort gesagt. Seitdem er hier kann es gehen. Aber was, wenn sie nicht Es ist Ristaus letztes Projekt, bevor er ist, spricht er manchmal.“ mehr gehen kann? Die Zukunft der Pflege, nächstes Jahr nach 46 Dienstjahren in Doch die neuen Wege in der Pflege ha- kommt sie noch rechtzeitig für die Zukunft Rente geht. Er hofft, dass bald das „Go“ ben ihren Preis: 17 Millionen Euro soll der von Gertrud Müller? Die Zeit läuft. sd 1/2020
Seite 12 GESUNDHEIT & VERSORGUNG Bild: Adobestock © peterschreiber.media Hüftgelenk: Das Einsetzen eines Implantats erfordert Könnerschaft Nahtlose Betreuung vom Orthopäden bis zur Reha Erster Qualitätsvertrag der AOK garantiert Patienten hohe Sicherheit sowie gute Vor- und Nachsorge bei Hüftimplantationen P atienten, die in einer die s tandardisierten Abläufe in den be- herum passiert. Die AOK setzt auf nahtlose Klinik mit weniger als handelnden Kliniken eine entscheiden- Betreuung bei höchster Qualität: Versicher- 45 Hüftimplantationen de Rolle“, sagt Professor Heiko Reichel, te, die eine neue Hüfte brauchen, können im Jahr behandelt wer- Ärztlicher Direktor der Orthopädischen auch im Facharztvertrag Orthopädie und den, haben nach einer Universitätsklinik Ulm am RKU. Er und sei- an dem spezialisierten Rehabilitationskon- Studie des Wissenschaftlichen Instituts der zept A OK proReha teilnehmen. AOK (WIdO) ein mehr als 30 Prozent hö- »Für den Erfolg Fast 60 Prozent der Hüft-Endopro heres Risiko für Komplikationen als jene, thetik-Patienten sind über 70 Jahre alt. Um die in Kliniken mit über 200 Fällen ope- einer Hüft-OP deren Sicherheit zu erhöhen, schreibt der riert werden. Ein wichtiger Schritt zum En- spielen Erfahrung Qualitätsvertrag zudem gezielte Maßnah- de der Gelegenheitschirurgie bei Hüftope- und Routine der men zur Reduzierung von Risiken im Zu- rationen ist der erste Qualitätsvertrag, den Operateure eine sammenhang mit Operationen und dem die AOK Baden-Württemberg jetzt mit Einsatz von Narkosemitteln verpflichtend entscheidende den Universitäts- und Rehabilitationsklini- vor. Weitere wichtige Maßnahmen sind ken Ulm (RKU) geschlossen hat. Rolle« die Delir-Prävention, die Optimierung der Ab dem 1. April 2021 werden die ers- Arbeitsabläufe, eine vorsichtige Sedierung ten Patientinnen und Patienten in der Do- Prof. Heiko Reichel sowie eine adäquate Schmerztherapie. Ärztlicher Direktor der naustadt nach dem neuen Konzept be- Orthopädischen Universitätsklinik Ulm Krankenhäuser, die mit der AOK Ba- handelt, das die AOK Baden-Württemberg den-Württemberg einen Qualitätsvertrag gemeinsam mit Operateurinnen und Ope- ne Kolleginnen und Kollegen implantieren für die Hüft-Endoprothetik abschließen rateuren aus ganz Deutschland entwickelt jährlich mehr als 400 Hüft-Endoprothesen. wollen, müssen ihren Sitz in Baden-Würt- hat. Ziel des Vertrages ist es, die Qualität „Insofern ist der geschlossene Vertrag ein temberg haben, als Endoprothetik-Zen- der Eingriffe zu steigern und mit den qua- wichtiger Schritt hin zu höherer Behand- trum der Maximalversorgung zertifiziert lifiziertesten Kliniken Standards für die Re- lungsqualität und mehr Sicherheit für alle sein und pro Jahr mindestens 200 OPs im gelversorgung von morgen zu setzen. Patienten“, so Reichel. Bereich der Hüft-Endoprothesen-Erstim- „Für den Erfolg einer Hüft-OP spie- Ebenso entscheidend wie die Operation plantation sowie 25 Wechseloperationen len die Erfahrung der Operateure und selbst ist für deren Erfolg auch, was rund- vorweisen können. stef 1/2020
Seite 13 GESUNDHEIT & VERSORGUNG Schmerz an der Schnittstelle S TA N D P U N K T Wie weiter nach Krankenhaus oder Reha-Klinik? Das regeln die Rahmenverträge für Entlassmanagement, die in der Praxis nicht so gut funktionieren wie auf dem Papier Sabrina Straub M Rehabilitations- und al angenommen: Im aber wenn das S ystem so aufgesetzt wä- Pflegemanagement, Bild: privat Februar hat Vater einen re, wie es vom Gesetzgeber vorgesehen AOK Baden-Württemberg schweren Unfall, bricht ist, dann hätte es nicht dazu kommen sich einen Halswirbel, wird operiert und müssen.“ ENTLASSMANAGEMENT kann nach Aufenthalt in Krankenhaus Laut der Rahmenverträge stimmen und Reha-Klinik nicht nach Hause, weil die Patientinnen und Patienten erst ei- er nicht alleine atmen oder aufstehen nem Entlassmanagement zu, dann wer- »Alle müssen kann – und dann ist Corona. Neben den ihre Bedürfnisse und die Notwen- vielen anderen Herausforderungen digkeit von verschreibungspflichtigen sich kümmern« bringt die Pandemie einen Aufnahme- Nachsorgeleistungen analysiert. Ein Ent- stopp in Pflegeeinrichtungen mit sich. lassplan beschreibt den Versorgungs- Das Thema ist keinesfalls leicht. Klar Was nun? Seit 2015 sind Krankenhäuser bedarf, erforderliche Maßnahmen und wurde mir das spätestens, als die und Reha-Kliniken gesetzlich verpflichtet, benennt beteiligte Leistungserbringer. Schiedsverhandlungen zum Rahmen- für eine lückenlose Weiterbehandlung Erst danach erfolgt die Entlassung. „Die vertrag Entlassmanagement nach ihrer Patientinnen und Patienten nach der Verständigung zwischen Arzt, Patient Krankenhausbehandlung liefen. Ne- Entlassung zu sorgen. Die Krankenkassen und Angehörigen, Leistungserbringern ben dem Spitzenverband der Kran- sollen sie dabei unterstützen. Details re- und Krankenkasse ist komplex“, so För- kenkassen saßen die Kassenärztliche geln die Rahmenverträge Entlassmanage- schner. Oft hake es, weil das Kranken- Bundesvereinigung und die Deut- ment nach Krankenhausbehandlung (seit hauspersonal den Papierverkehr neben- sche Krankenhausgesellschaft mit am 2017) und nach stationärer Rehabilitation her erledigen müsse oder Ärztinnen und Tisch. Gestritten wurde unter ande- (2019). Doch schon in normalen Zeiten ist Ärzte aus Regresssorgen zögerlich bei rem, ob und wie die Arzneimittel für der Übergang von der Klinik zur Folgeein- der Medikamentenverordnung sind. die Übergangsphase verordnet wer- richtung schwierig. Auch das Nebeneinander von ana- den können. Dafür – und auch für „Im Frühjahr haben wir erlebt, dass loger und digitaler Dokumentation und die weiteren Streitpunkte – wurden Pflegebedürftige im Krankenhaus regel der Einsatz verschiedener IT-Systeme schließlich Lösungen gefunden. Doch recht geparkt wurden, weil niemand sich führe zu Verzögerungen. „Außerdem mehr als drei Jahre nach Inkrafttre- um ihren Verbleib kümmern beobachten wir, dass vie- ten sieht die Realität noch immer an- konnte“, berichtet Li- le Krankenkassen ihrer ders aus. Wenn Klinikärzte Rezep- sa Förschner, die Verpflichtung nur un- te schreiben, dann gilt auch für sie bei der AOK Ba- zureichend nach- das Wirtschaftlichkeitsgebot. Doch den-Württemberg kommen“, sagt För- wenn sie verordnen, ohne zu wissen, für das Thema schner. „Die AOK ob es dafür Arzneimittelrabattverträ- Entlassmanage- geht mit ihren Ver- ge gibt, weil die Krankenhaussoft- Bild: iStock.com © vDraw ment zuständig sorgungsmanagern ware das nicht abbilden kann, dann ist. „Sicher ist das bewusst einen an- läuft dieses Gesetz ins Leere. Dassel- eine Extremsituation, deren Weg.“ awa be passiert, wenn die zuständigen Sozialarbeiter der Kliniken nicht die Ressourcen haben, rechtzeitig zum Entlasstermin einen Nachsorgeplan So macht es die AOK Baden-Württemberg auf die Beine zu stellen, und diese Aufgabe an die Krankenkassen ab- In jeder ihrer 14 Bezirksdirektionen beschäftigt die AOK Baden-Württemberg eine Ver- wälzen. Aber auch die Kassen müs- sorgungsmanagerin oder einen Versorgungsmanager. Diese besonders qualifizierten sen sich an die eigene Nase fassen. Ansprechpartnerinnen und -partner für Entlassmanagement beraten nicht nur Versi- Versicherten eine Telefonnummer zu cherte und Kliniken, sie unterstützen bei allen Fragen und Anliegen in Zusammenhang geben, reicht nicht. Es muss sich auch mit der Entlassung und weiteren Versorgung. Sie helfen individuell und passgenau, jemand Qualifiziertes kümmern am beispielsweise wenn Anträge notwendig sind oder mehrere Verordnungen vorliegen. anderen Ende der Leitung. Außerdem informieren sie über Versorgungsmöglichkeiten in der Region vor Ort. 1/2020
Seite 14 HIER & JETZT MELDUNGEN MODELLPROJEKTE & ERFAHRUNGEN Beiträge begrenzen Sozialversicherung. Die Belastung von Löh- nen und Gehältern könnte bis 2040 deut- lich auf rund 50 Prozent steigen. Das hat eine Kommission der Bundesvereinigung der Deut- schen Arbeitgeberverbände (BDA) errechnet. Sie hat Vorschläge erarbeitet, wie sich die Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung auf Dauer unter 40 Prozent halten lassen. Um den Gesamtsozialversicherungsbeitrag trotz der demografischen Entwicklung wirksam zu begrenzen, müsse ein zum Teil unbequemer Reformkurs eingeleitet werden, heißt es im Abschlussbericht. Dazu zählt für die Kommis- sion auch eine weitere Verlängerung der er- werbsaktiven Lebensphase. Diese hätte nicht nur günstige Auswirkungen auf Beitrags- Bild: iStock.com © Geber86 satz und Sicherungsniveau der Rentenver- sicherung, sondern könnte auch eine große Breitenwirkung für die Finanzen der anderen Sozialversicherungszweige und für die Ge- Unbequeme Erkenntnis: Wenn die Versicherungslast nicht steigen soll, müssen wir laut BDA alle länger arbeiten samtwirtschaft entfalten. Erfolgreich gegen Versorgung vor Ort gestalten Kinderarmut Forsa-Ergebnisse. Gut 81 Prozent der Baden-Württemberger sind mit der Gesund- heitsversorgung in ihrem Bundesland zufrieden, zeigt eine aktuelle Forsa-Studie im Sozialprojekte. 2019 benannte Baden- Auftrag der Gesundheitskasse. Allerdings sind die Bewohner in kleinen Gemeinden Württembergs Sozialminister Manfred Lucha unzufriedener als die Bewohner in den größeren Städten. Besonders die Zufrieden- Kinderarmut als einen seiner Arbeitsschwer- heit mit Krankenhäusern und Fachärzten ist in kleinen Gemeinden deutlich geringer punkte für 2020, nun zog er eine erste Bi- als in den größeren Städten. Die AOK-Gemeinschaft reagiert auf den Handlungs- lanz. Auf dem Online-Kongress „Ein starkes bedarf und hat die Initiative „Stadt. Land. Gesund“ auf den Weg gebracht. Dabei Land braucht starke Kinder!“ im Oktober er- wurden schon im vorigen Jahr über 100 Projekte in Deutsch- klärte er, im laufenden Jahr seien 50 ent- land identifiziert, die dazu beitragen, dass notwendige medi- sprechende Projekte an den Start gegangen. zinische Angebote vor Ort erhalten bleiben. Digitale Lösungen Diese seien mit zwei Millionen Euro aus Lan- und Delegationsansätze sorgen dafür, dass bei der Behand- desmitteln und 2,5 Millionen Euro aus dem lung räumliche Distanz überwunden wird und Patienten einen europäischen Sozialfonds finanziert worden. schnelleren Zugang zur Versorgung bekommen. Zusätzlich seien 150.000 Euro Soforthilfe aus Landesmitteln zur Unterstützung von Familien in prekären Verhältnissen bei der Bewältigung der Coronaeinschränkungen gezahlt worden. Das Beste aus zwei Welten Dabei ging es vor allem um Homeschooling. Psychotherapie. Eine innovative Behandlungsform soll die psychotherapeutische Auf dem Erreichten will sich das Sozialminis- Versorgung von Patientinnen und Patienten mit depressiven Erkrankungen und terium nicht ausruhen. In ihrem Schlusswort Angsterkrankungen verbessern. Das vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bun- sagte Luchas Staatssekretärin Bärbl Mielich: desausschusses geförderte Modellprojekt „PsychOnlineTherapie“ verbindet die psy- „Wir brauchen eine Strukturpolitik, die sich chotherapeutische Behandlung mit Online-Behandlungselementen. Der persönliche dieses Themas annimmt, und müssen auf al- Kontakt bleibt erhalten. Durch die Online-Elemente können aber einzelne Bestand- len politischen Ebenen Maßnahmen entwi- teile der Therapie in den Alltag der Patienten ausgelagert werden. So wird die The- ckeln.“ Das Sozialministerium hat außerdem rapie auch zeitlich und örtlich flexibler. Die neue Behandlungsform wird unter Be- ein Fachkonzept für eine Kindergrundsiche- teiligung der AOK Baden-Württemberg im Rahmen des AOK-FacharztProgramms rung erarbeitet. Die Idee wird von vielen Bun- in der Praxis erprobt und von der Universität Ulm und der Friedrich-Alexander-Uni- desländern unterstützt. versität Erlangen-Nürnberg wissenschaftlich untersucht. psychonlinetherapie.de 1/2020
Seite 15 HIER & JETZT Zu lange ungeschützt Seit März gibt es die Impfpflicht gegen Masern. Von einer hinreichenden Impfquote ist man in der Regelversorgung im Südwesten jedoch noch weit entfernt HAMBURG 88 % BREMEN SCHLESWIG-HOLSTEIN 84,1 % 88 % MECKLENBURG-VORPOMMERN 85,8 % BERLIN 88,1 % NIEDERSACHSEN 86,6 % BRANDENBURG Alle Daten stammen aus der Regelver- sorgung. Zahlen aus der Selektivversor- SACHSEN-ANHALT 87 % gung sind nicht mit eingerechnet. NORDRHEIN-WESTFALEN ** 87,2 % *Für die 2. Masern-, Mumps-, Röteln- und Varizellenimpfung ist in Sachsen ein höheres Impfalter empfohlen **Es gibt keine Impfquoten in den KV- Regionen Hessen und Westfalen-Lippe, da hier keine validierten Abrechnungs- SACHSEN daten zur Auswertung vorlagen HESSEN ** THÜRINGEN 74,5 %* 83,4 % RHEIN- LAND-PFALZ HAMBURG 85,5 % BREMEN 76 % 67 % BERLIN SCHLESWIG-HOLSTEIN 73 % 76,7% MECKLENBURG-VORPOMMERN SAARLAND BAYERN 68,4 % 88,5 % 82,1 % BADEN-WÜRTTEMBERG 75,6 % NIEDERSACHSEN 74,8 % BRANDENBURG GESAMT NORDRHEIN-WESTFALEN ** SACHSEN-ANHALT 69,7 % 83,5 % 70,6 % SACHSEN Nur Kleinkinder, die zwei Masernimpfungen erhalten, sind um- HESSEN ** THÜRINGEN 16,9 %* fassend geschützt. Aktuelle Zahlen des Robert Koch-Instituts zeigen 64 % jedoch: Die Impfserie wird oft nicht rechtzeitig abgeschlossen. RHEIN- Am schlechtesten schneidet Baden-Württemberg ab. Dort hatten LAND-PFALZ nur 75,6 Prozent der 15 Monate alten Kinder wie empfohlen die 72,8 % erste Impfung erhalten. Und nur 61,9 Prozent hatten im Alter von GESAMT 24 Monaten die Grundimmunisierung abgeschlossen. Immerhin: Bei den Schuleingangsuntersuchungen konnten 89,8 Prozent aller Kinder die Immunisierung vorweisen. Um Masern zu eliminieren, müssen mindestens 95 Prozent der Bevölkerung geimpft sein. SAARLAND 69,9 % Bisher hat Deutschland diese Quote nicht erreicht. Das soll sich mit dem Masernschutzgesetz ändern: Seit 1. März 2020 müssen Eltern 74 % BAYERN Quelle: Robert Koch-Institut, Impfquoten von Kinderschutzimpfungen nachweisen, dass ihre Kinder gegen Masern geimpft oder immun BADEN-WÜRTTEMBERG 68,2 % sind, wenn sie sie in einer Kindertagesstätte, einer Schule oder einer 61,9 % in Deutschland – Ergebnisse aus der RKI-Impfsurveillance Tagespflege anmelden. Sozialministerium und AOK rufen dazu auf, den Impfstatus zu überprüfen und insbesondere Kinder zwischen neun und 18 Jahren noch impfen zu lassen. (Epidemiologisches Bulletin 32/33 2020) mach-den-impfcheck.de 1. MASERNIMPFUNG 1/2020 2. MASERNIMPFUNG Grundimmunisierung abgeschlossen
Seite 16 STANDPUNKT D E S TA B I L I S I E RT E G K V Haltet die Diebe! Die Sozialversicherungsbeiträge bleiben unter 40 Prozent, hat die Regierung im Juni erneut zugesichert. Die Kassen freuten sich damals. Doch jetzt kommt es knüppeldick Kassen zu verteilen. Das ist ein tembergischen Gesundheitswe- Vertrauensbruch gegenüber den sen abzufließen. Beitragszahlern und bestraft gut Die Notwendigkeit der Maß- wirtschaftende Krankenkassen. nahmen mit der Coronapande- Es drängt sich der Verdacht auf, mie zu begründen, ist im Übri- dass die Beitragszahlerinnen und gen schlicht falsch – nicht nur, -zahler Wahlgeschenke finanzie- weil der Seuchenschutz und die ren sollen. Bewältigung von Pandemiefol- Die wiederholten politischen gen zu den Aufgaben des Staa- Eingriffe in die Finanzautonomie tes gehören. Ein Großteil der Fi- der Krankenkassen lassen lei- nanzierungslücke geht nämlich der ein Klima der Unsicherheit auf das Konto zahlreicher Ge- entstehen, in dem verantwor- setze vor der Coronapandemie. tungsvolle und weitsichtige Fi- Und: Es ist wahrlich ein Trep- nanzplanung und Investitionen penwitz, erst die Einhaltung der in Versorgung nicht mehr mög- 40-Prozent-Grenze zu verspre- lich sind. Denn wenn Rücklagen chen und dieses Versprechen aufgelöst werden, stehen diese dann dadurch einzuhalten, dass nicht mehr zur Begrenzung von für einige Adressaten das Ver- Bilder: (c) Matthias Schmiedel Zusatzbeiträgen zur Verfügung. sprechen nicht eingelöst wird. Das von der Bundesregierung geschnürte Maßnahmenpaket TEUERUNG DURCH GESETZ erfüllt kurzfristig seine Funktion Die Entscheidungen über Finan- »Entschei- E nde September: große Ernüchterung auf Kassenseite. als Beitragsbremse, das eigent- liche Problem ist aber nur nach hinten verschoben, denn die Fi- zen, Rücklagen und Beitrags- sätze gehören in die Hände der Beitragszahlerinnen und Bei- dungen über Das Bundeskabinett beschloss nanzierungslücke wird nicht tragszahler. Die Selbstverwal- Finanzen, im Zusammenhang mit dem dauerhaft geschlossen. tung beweist seit Jahren, dass Gesundheitsversorgungs- und Wenn die Sozialgarantie in sie selbstständig für hohe Qua- Rücklagen Pflegeverbesserungsgesetz ein diesem Jahr nicht ordnungspo- lität und Stabilität im System und Beitrags- Maßnahmenpaket zur Einhal- litisch sauber über einen ausrei- sorgt. Statt immer neue Löcher sätze gehören tung der sogenannten Sozialga- chenden Steuerzuschuss finan- im Nachhinein stopfen zu müs- rantie 2021. Damit soll ein ziert wird, ist vorprogrammiert, sen, sollte die Politik lieber im in die Hände 16,6 Milliarden Euro großes Loch dass die Krankenkassenbeiträ- Vorfeld ihrem Drang widerste- der Beitrags- in der gesetzlichen Krankenversi- ge ab Mitte 2021 geradezu ex- hen, das System mit immer neu- zahlerinnen cherung (GKV) gestopft werden, plodieren. Allein in Baden-Würt- en Gesetzen und damit verbun- und -zahler« um so die 40-Prozent-Marke bei temberg werden Versicherte und denen zusätzlichen Ausgaben zu den Sozialversicherungsbeiträ- Arbeitgeber mit mehr als 600 belasten. Ich wünsche mir, dass gen nicht zu überschreiten. Im Millionen Euro belastet. Gepaart der Gesetzgeber häufiger so fo- Prinzip ein guter Gedanke, wenn mit der geplanten sogenannten kussiert agieren würde, wie wir Peer-Michael Dick da nicht der vorgesehene Zugriff Regionalkomponente im Kran- es im Verwaltungsrat mit Blick Alternierender Vorsitzender des Verwaltungsrates der des Gesetzgebers auf die Rück- kenkassen-Finanzausgleich droht auf ein leistungsfähiges und AOK Baden-Württemberg, Arbeitgeberseite lagen erfolgreicher Kranken- allein 2021 mehr als eine Milli- dennoch finanzierbares Gesund- kassen wäre, um sie auf andere arde Euro aus dem baden-würt- heitswesen tun. 1/2020
Seite 17 STANDPUNKT MORBI-RSA Gute Versorgung belohnen Die sogenannte Regionalkomponente sorgt dafür, dass Baden-Württemberg künftig ineffiziente Strukturen in anderen Bundesländern subventioniert. Das ist ungerecht B aden-Württemberg ist das Bundes- land der ländlichen der aus Baden-Württemberg abgezogen, um ineffiziente Ver- sorgungsstrukturen in anderen trag erfüllen und keine Vor- kehr für die Zukunft treffen. Das darf nicht so bleiben. Nebenbei: »Die wirt- Räume. Regionalität, eine hohe Bundesländern zu subventionie- Die gesetzlichen Krankenkas- schaftlich Lebensqualität, wohnortnahe ren. In anderen Bundesländern sen (GKV) und ihre Versicherten erfolgreichen sowie innovative gesundheitliche lohnt es sich jetzt beispielswei- tragen große finanzielle Lasten und pflegerische Versorgungs- se, ineffiziente und aufgeblähte zur Bewältigung der Pandemie. Kassen strukturen prägen das Bundes- Strukturen im Gesundheitssys- Die private Krankenversicherung stehen als die land im Südwesten. Diese guten tem – zum Beispiel eine über- (PKV) macht sich dagegen einen Dummen da Versorgungsstrukturen sind jetzt höhte Zahl an Kliniken in Bal- schlanken Fuß und ist an we- durch Änderungen beim Finanz- lungsgebieten – zu erhalten oder sentlichen Maßnahmen wie der – das ist ein ausgleich der Krankenkassen in künstlich wiederaufzubauen. Coronapflegeprämie für Pfle- verheerendes Gefahr. Im Frühjahr dieses Jahres Bisher hatten die starken und gepersonal in Altenheimen und Signal für war mit dem Fairer-Kassenwett- den präventiven Testungen der bewerb-Gesetz unter anderem Bevölkerung nicht beteiligt. Es ist das System« beschlossen worden, im mor- »Die Regional- nicht nachvollziehbar, weshalb biditätsorientierten Risikostruk- komponente die Beitragszahler der GKV zur Monika Lersmacher turausgleich (Morbi-RSA) eine zieht Geld Kasse gebeten werden und die Alternierende Vorsitzende des Verwaltungsrates der AOK Baden-Württemberg, Versichertenseite sogenannte Regionalkomponen- aus effizient PKV hier außen vor bleibt. Das te einzuführen, um regionale ist dringend zu ändern! Unterschiede bei den Zuweisun- versorgten gen aus dem Gesundheitsfonds Regionen« auszugleichen – angeblich, um etwaige Risikoselektionsanreize wirtschaftlich erfolgreichen auf Basis des Wohnorts der Ver- Krankenkassen eine Vorbildfunk- sicherten zu reduzieren. tion für die übrigen. Jetzt ste- hen sie als die Dummen da. Wer VERHEERENDE WIRKUNG nachhaltig und vorausschauend Das ist eine falsche Einschät- wirtschaftet, sich dem Preis- und zung und nicht gut für das Land. Leistungswettbewerb stellt, da- Denn die nun vom Bundesamt für mit Ärzten, Krankenhäusern für soziale Sicherung beschlosse- und Therapeuten an guten und ne Umsetzung der Regionalkom- effizienten Strukturen arbeitet, ponente zieht Gelder aus Regio- weitsichtig Rücklagen bildet und nen mit qualitativ hochwertiger im Interesse der Beitragszahler und effizienter Versorgung ab auf Qualität und Stabilität setzt, – aus Baden-Württemberg ab dem nimmt man die monetären 2021 dauerhaft rund 450 Millio- Früchte seiner Arbeit – ein ver- nen Euro jährlich. heerendes Signal! Statt das hervorragend auf- Die Krankenkassen, denen gestellte Gesundheitswesen im die neuen Regeln zugute kom- Land weiter zu verbessern und men, sind diejenigen, die mit zum Beispiel digitaler zu ma- möglichst wenig Aufwand den chen, werden nun massiv Gel- gesetzlichen Versorgungsauf- 1/2020
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