STRUKTUREN - Themenpapier: Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus - DGAP Policy Brief
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik Nr. 15 September 2021 BERICHT InFoEx Workshop, 30. September – 1. Oktober 2020 Themenpapier: Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus von Sofia Koller mit einem Beitrag von Prof. Tore Bjørgo VERANTWORTUNG DATENSCHUTZ ROL STRUKTUREN TERTI PRÄVE ZIVILGESELLSCHAFT FALLKONFERENZEN VERTRAUEN SICHERHEIT TEAM INFORMATIONSAUSTAUSCH VERTR ZUSAMMENARBEIT JUGENDAMT HAFT STAATLICH TERTIÄRPRÄVENTION SICHERHEITSÜBERPRÜFUNG JUGEN MULTI-AGENCY ZIVILGES SICHERHE INFORMATIONSAUSTAUSCH HAFT & DATENSCHUTZ BEWÄHRUNG TERTIÄRPRÄVENTION
2 Nr. 15 | September 2021 Themenpapier: Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus BERICHT ÜBER DAS PROJEKT INTERNATIONAL FORUM FOR EXPERT EXCHANGE ON COUNTERING ISLAMIST EXTREMISM (INFOEX) InFoEx ist ein Gemeinschaftsprojekt der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und des Forschungszentrums für Migration, Integration und Asyl des Bundes- amtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). InFoEx trägt bewährte Praktiken und wis- senschaftliche Erkenntnisse aus der Tertiärprävention im In- und Ausland zusammen. Ziel des Projekts ist es, empirische Befunde zu Radikalisierungs- und Deradikalisie- rungsprozessen zu erheben, wobei der Schwerpunkt auf der praktischen Anwendbar- keit für die Präventionsarbeit liegt. Zu diesem Zweck hat die BAMF-Forschungsstelle ein Netzwerk von wissenschaftlichen Mitarbeitenden initiiert, die bei den bzw. über die lo- kalen Partner-Beratungsstellen der BAMF-Beratungsstelle „Radikalisierung“ sowie bei verschiedenen Forschungseinrichtungen angestellt sind. Zusammen mit den Beraten- den der lokalen Beratungsstellen bilden diese wissenschaftlichen Mitarbeitenden den Kern von InFoEx. ÜBER DEN WORKSHOP AM 30. SEPTEMBER UND 1. OKTOBER 2020 Der 7. InFoEx-Workshop im Herbst 2020 befasste sich mit der Zusammenarbeit mit staatlichen Einrichtungen zur Tertiärprävention von islamistischem Extremismus. Auf- grund von Einschränkungen wegen der COVID-19-Pandemie wurde der Workshop dig ital organisiert. Unter den 30 Teilnehmenden waren Netzwerkpartner der BAMF- Beratungsstelle Radikalisierung aus zivilgesellschaftlichen und staatlichen Institutio- nen sowie Praktiker und Praktikerinnen und Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Belgien, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Norwegen. Um den Work- shop auf die Bedürfnisse seiner Akteure abzustimmen, teilten die in Beratungsstellen und Forschungseinrichtungen in Deutschland eingebetteten wissenschaftlichen Mit arbeitenden – in Absprache mit den Beratenden in ihren lokalen Beratungsstellen – vor dem Workshop ihre spezifischen Informationsbedürfnisse und Fragen mit. Relevante ex terne Expertinnen und Experten wurden entsprechend eingeladen. Die Teilnehmenden hatten bei dem Workshop die Gelegenheit, ihre Erfahrungen zur Zusammenarbeit von zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren sowie Beispiele von bewährten Prakti- ken zu teilen. KONTAKT Sofia Koller, Projektleiterin InFoEx, E-Mail: koller@dgap.org Forschungszentrum Migration, Integration und Asyl
Nr. 15 | September 2021 3 BERICHT Themenpapier: Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus Inhalt Zusammenfassung 4 Empfehlungen 4 Einleitung 5 Dimensionen der Zusammenarbeit in der Tertiärprävention 7 Klarheit über Ziele und Rollen 7 Zusammenarbeit und Informationsaustausch 8 Individuelle oder strukturelle Zusammenarbeit 9 Vertrauen schaffen 10 Zusammenarbeit mit religiösen Einrichtungen 11 Herausfordernde Zielgruppen 12 Forschung und Evaluierung 12 Bewährte Praktiken übertragen 14 Multi-Agency-Zusammenarbeit in der Praxis 16 VVSG: ein vertrauensstiftender Dachverband in Belgien 16 NeDiS: ein Netzwerk für den Strafvollzug in Deutschland 16 Das Safety House: ein ganzheitlicher Ansatz in den Niederlanden 17 Fazit 18 Literaturverzeichnis 19 Literaturhinweise 21
4 Nr. 15 | September 2021 Themenpapier: Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus BERICHT Zusammen Empfehlungen fassung In der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus werden Personen, die sich aus extremistischen Milieus und Ideologien lösen wollen, durch zivilgesellschaftliche oder 1 Bringen Sie Akteure, die gemeinsam an Fällen arbeiten, regelmäßig zu einem Austausch über ihre Bedürfnis- se und Erwartungen zusammen, um die Ad-hoc-Zusam- staatliche Ausstiegsprogramme unterstützt. Zugleich zielt menarbeit zu verbessern, neue Multi-Agency-Strukturen die Arbeit der Sicherheitsbehörden darauf, mögliche Si- zu etablieren und existierende zu stärken. cherheitsrisiken zu erkennen und zu verhindern. Die er- folgreiche Reintegration einer Person in die Gesellschaft hängt auch von praktischen Elementen wie der Suche nach einer Unterkunft und einem Arbeitsplatz sowie dem Zugang 2 Entwickeln Sie gemeinsame Handreichungen für Arbeitsdefinitionen, Ziele und Verantwortlichkeiten, um die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zum Gesundheitssystem ab. Von entscheidender Bedeutung (einschließlich der Datenschutzaspekte) zwischen Institu- ist, dass zivilgesellschaftliche und staatlichen Akteure ein- tionen zu regeln. schließlich der Regelstrukturen, die diese Leistungen er- bringen, hier effektiv zusammenarbeiten. Allerdings bringt diese Zusammenarbeit einige Herausforderungen mit sich. 3 Fördern Sie existierende und gut funktionierende An- sätze, die Akteuren beim Auf bau neuer Kooperations- strukturen als Vorbilder dienen können. Vor diesem Hintergrund veranstaltete die Deutsche Gesell- schaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Kooperation mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Herbst 2020 einen internationalen virtuellen Workshop zur Rolle 4 Bauen Sie Vertrauen auf und fördern Sie den Aus- tausch von bewährten Praktiken, indem Sie den (in- ter-)nationalen Wissensaustausch zwischen vergleichbaren der Regelstrukturen und der behördenübergreifenden Zu- Akteuren stärken und berufsgruppenübergreifende lokale sammenarbeit in der Tertiärprävention von (gewaltbereitem) Netzwerke und Hospitationsangebote auf bauen. islamistischem Extremismus. Dieser Workshop fand im Rah- men des International Forum for Expert Exchange on Coun- tering Islamist Extremism (InFoEx) statt, um staatlichen und zivilgesellschaftlichen Netzwerkpartnern des BAMF die Ge- 5 Stärken Sie das Fachwissen und die Fähigkeiten von Mitarbeitenden, die in Strukturen im Bereich der Ju- gendhilfe oder des Gesundheitswesens arbeiten, durch be- legenheit zu geben, mit externen Experten über Herausfor- darfsgerechte und zielgerichtete Schulungen, zum Beispiel derungen und bewährte Praktiken zu diskutieren. Zu den zu (De-)Radikalisierungsprozessen. Stellen Sie zusätzliche Themen gehörten die verschiedenen Dimensionen der Mul- Ressourcen bereit, um die Arbeitsbelastung dieser Mit- ti-Stakeholder-Kooperation (wie zum Beispiel Aufgabentei- arbeiter zu verringern. lung, Informationsaustausch und Vertrauensbildung), die Übertragbarkeit von bewährten Praktiken sowie einige kon- krete Beispiele von Multi-Agency-Strukturen in Belgien, Deutschland und den Niederlanden. 6 Fördern Sie eine Kultur des Lernens aus Fehlern, zum Beispiel, indem Sie sich aktiv für interne und externes Monitoring und Evaluierung einsetzen. Wichtig ist auch, dass Sie das Verständnis von Multi-Agency-Zusammenar- Auf der Grundlage der Diskussionen während des Work- beit als einem kontinuierlichen Prozess fördern. shops wurden die folgenden Empfehlungen für Praktiker, staatliche Akteure im Multi-Stakeholder-Umfeld und poli- tische Entscheidungsträger formuliert:
Nr. 15 | September 2021 5 BERICHT Themenpapier: Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus Einleitung In der Tertiärprävention von islamistischem Extremis- von der Regierung finanziert wird, aber bei dem eine zivilge- mus 1 werden Personen (und ihre Familien), die sich von sellschaftliche Organisation die Leistungen erbringt). (Koller gewaltbereiten extremistischen Gruppen lösen und von 2019, S.5) Schließlich gibt es in einigen Ländern Ausstiegs- extremistischen Ideologien distanzieren wollen, durch zi- programme, die von zivilgesellschaftlichen oder staatlichen vilgesellschaftliche und staatliche Ausstiegsprogramme Akteuren geleitet werden, die fallweise mit anderen rele- unterstützt. Wichtig ist in einigen Fällen, dass die Sicher- vanten Akteuren zusammenarbeiten. In Deutschland arbei- heitsbehörden einbezogen werden, um Risiken zu verhin- ten zivilgesellschaftliche und staatliche Akteure im Rahmen dern, beispielsweise dass diese Menschen sich selbst und von Fallkonferenzen gemeinsam an individuellen Fällen, blei- andere verletzen. Zur Ausstiegsarbeit und der erfolgrei- ben aber organisatorisch getrennt. Ein weiteres Beispiel aus chen Reintegration in die Gesellschaft gehören aber auch Deutschland ist das Modellprojekt „Rückkehrerkoordina- ganz praktische Elemente, die von kommunalen Akteuren, tion“, das auf ressortübergreifender Zusammenarbeit basiert öffentlichen Dienstleistern und zivilgesellschaftlichen Or- und für ausländische Kämpfer und ihre Familien zuständig ganisationen bereitgestellt werden: Hilfe bei der Arbeits- ist, die aus Syrien und dem Irak zurückgekehrt sind (S.10).4 suche, vor allem nach der Entlassung aus dem Gefängnis, Unabhängig von der spezifischen Herangehensweise sind Zugang zu Gesundheitsleistungen und Unterstützung für häufig auch Regelstrukturen wie Jugend- und Kinderämter, die Kinder durch die Jugendhilfe. Unbedingt erforderlich Strafvollzug und Bewährungshilfe oder Einrichtungen des ist, dass die zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteu- öffentlichen Gesundheitswesens, die der Allgemeinheit die- re, einschließlich der Regelstrukturen2, effektiv zusammen- nen, an der Arbeit an den Fällen beteiligt. arbeiten. Allerdings bringt diese Zusammenarbeit einige Herausforderungen mit sich. Die verschiedenen Kooperationsmodelle zwischen unter- schiedlichen Akteuren und Institutionen haben zwar ihre Die europäischen Staaten haben unterschiedliche Ansät- spezifischen Vor- und Nachteile; doch sind allen auch gewis- ze für die Zusammenarbeit in der Tertiärprävention eta- se Herausforderungen gemein. Es braucht zum Beispiel Zeit, bliert, wobei es hilfreich ist, zwischen drei Hauptansätzen um sich auf ein gemeinsames Ziel zu einigen und Vertrauen zu unterscheiden: Einige Länder haben landesweite ‚Mul- in die Beziehung aufzubauen, und beides ist jedoch für eine ti-Agency-Kooperationen‘ oder ‚Multi-Agency-Workings‘ effektive Zusammenarbeit unerlässlich. Außerdem erschwe- eingerichtet, bei denen dauerhafte Strukturen geschaf- ren ethische und datenschutzrechtliche Fragen den beteilig- fen wurden, die es den meist staatlichen Akteuren ermög- ten Akteuren oft den Informationsaustausch über relevante lichen, in allen Gemeinden oder Regionen bei individuellen Fälle. Darüber hinaus kann es vorkommen, dass ein Vertreter Fällen zusammenzuarbeiten. Beispiele hierfür sind die Safe- des öffentlichen Gesundheitswesens nicht über das relevan- ty Houses in den Niederlanden (S.16) oder die so genannten te Wissen über (De-)Radikalisierungsprozesse verfügt, oder LIVC-R-Einheiten in Belgien (S.15). In einer solchen Konst- dass ein Ausstiegsberater nicht in der Lage ist, ein psychi- ruktion ist die Tertiärprävention nicht ganz so sehr von zi- sches Problem zu diagnostizieren. Insgesamt jedoch lässt der vilgesellschaftlichen Einrichtungen abhängig. Einen anderen wachsende Erfahrungsschatz aus der gemeinsamen Arbeit Ansatz stellen Einzelprojekte dar, die es nur in einer oder an Fällen vermuten, dass der berufsgruppenübergreifende mehreren Städten gibt, die aber ebenfalls auf einer Mul- Ansatz dazu beitragen kann, die Tertiärprävention effekti- ti-Agency-Kooperation beruhen. Beispiele hierfür sind das ver zu gestalten. Einige Forscher weisen auch auf die Vorteile Aarhus-Modell in Dänemark (das sich auf die Polizei und der Multi-Agency-Arbeit hin, denn „wenn es diesen Akteuren kommunale Akteure stützt) oder PAIRS3 in Frankreich (das gelingt, in vertrauensbasierten Netzwerken zusammenzu- 1 Im Kontext von InFoEx werden unter tertiärer Prävention von (gewaltbereitem) islamistischem Extremismus alle Maßnahmen verstanden, die (gewaltbereite) Extremisten und Extremistinnen in der Haft und der Gesellschaft bei der Herauslösung aus ihren Milieus, der Deradikalisierung, Entkriminalisierung und Resozialisierung unterstützen sollen. Unter Regelstruktur wird eine von einer gesetzgebenden Körperschaft eingerichtete Institution verstanden, die die rechtliche Befugnis hat, in einem bestimmten Bereich zu 2 handeln, und die Bürger in einem bestimmten Bereich dauerhaft unterstützt. Beispiele für gesetzliche Körperschaften oder Partner im Bereich Extremismusprävention sind Bildungs- und Gesundheitsdienste, Sozialdienste, Kinder- und Jugendhilfe und Bewährungshilfe. 3 PAIRS (Programm zu individualisierten Unterstützung und sozialen Wiedereingliederung) sind besondere Distanzierungs- und Reintegrationsprogramme, die seit 2018 in mehreren französischen Städten existieren (Hecker 2021). 4 Siehe beispielsweise Europäische Kommission 2021a.
6 Nr. 15 | September 2021 Themenpapier: Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus BERICHT kommen, sind sie in der Lage, eine Reihe nützlicher Fähigkei- Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Norwe- ten und Ressourcen zu mobilisieren, die von der Vermittlung gen diskutierten gemeinsam über ihre Erfahrungen mit der eines Arbeitsplatzes bis zum Angebot religiöser Beratung rei- Zusammenarbeit in der Tertiärprävention. Das erste Kapi- chen“ (Dalgaard-Nielsen 2016). Die zuständigen staatlichen tel gibt Einblicke in die unterschiedlichen Dimensionen die- Behörden und Einrichtungen können somit helfen, lang ser Zusammenarbeit, einschließlich der Herausforderungen fristige Bedürfnisse der Klienten zu erfüllen. und bewährten Praktiken. Das zweite Kapitel befasst sich mit den Bedingungen für eine erfolgreiche Übertragung Dieses Themenpapier fasst die Ergebnisse eines InFo- bewährter Praktiken auf andere Länder und Kontexte. Im Ex-Workshops aus dem Herbst 2020 zusammen. Prak- letzten Kapitel werden drei Beispiele für konkrete Koope- tikerinnen und Praktiker, Wissenschaftlerinnen und rationsmodelle in Belgien, den Niederlanden und Deutsch- Wissenschaftler sowie Behördenvertreter aus Belgien, land vorgestellt. Umgang mit Regelstrukturen Distanzierungs- Angebot Justiz Sicherheits- Standes- amt Aus- & behörden Fortbildung Schulen Jugendamt CASE FALL MANAGEMENT MANGEMENT Kitas Schulden Agentur Existenz- für Arbeit sicherung Medizinische Versorgung Psychosoziales Beratungs- angebot Wohnen Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)
Nr. 15 | September 2021 7 BERICHT Themenpapier: Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus Dimensionen ratungsstellen – zu entwickeln, um die Arbeit in der Tertiär- prävention nachhaltiger zu gestalten. der Zusammen Als schwierig könne es sich auch erweisen, ein gemeinsa- mes Verständnis davon zu entwickeln, was Kooperation und Partnerschaft bedeuten. Ein Teilnehmer sagte, zwar könn- arbeit in der ten sich alle mit der Grundidee von Partnerschaften leicht anfreunden, die Umsetzung einer solchen Partnerschaft in die Praxis bleibe aber schwierig. Wichtig sei aber die Frage, Tertiär ob und wie (neben dem anlassbezogenen Austausch) lang- fristige Multi-Agency-Partnerschaften aufgebaut werden können. Ein bei einer zivilgesellschaftlichen Organisation prävention tätiger (deutscher) Wissenschaftler ergänzte, es sei eine Herausforderung, eine bestehende gute Zusammenarbeit in verlässliche und verbindliche Strukturen zu überführen. Eine andere deutsche Wissenschaftlerin einer zivilgesell- schaftlichen Organisation fragte, inwieweit Kooperations- Die Zusammenarbeit in der Tertiärprävention kann von modelle den Klienten „Kontrollerfahrungen“ ermöglichten, anlassbezogenen Diskussionen zu einzelnen Fälle wie bei also zum Beispiel Erfahrungen von Zugehörigkeit und Sinn. Fallkonferenzen in Deutschland bis hin zu vollwertigen Mul- Ihrer Einschätzung zufolge sind einige staatliche Akteu- ti-Agency-Workings reichen, wie sie in fast allen Gemein- re außerstande, Hilfe zu leisten, da Klienten ein hohes Maß den in Belgien, den Safety Houses in den Niederlanden und an Fremdbestimmtheit erleben können, wenn Auflagen und im Infohouse im dänischen Aarhus üblich sind. Dieses Kapi- Entscheidungen ohne die Indexperson beschlossen bzw. tel gibt Einblicke in die verschiedenen Dimensionen der Zu- getroffen wurden. sammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus. Jedes der folgenden Unterkapitel enthält eine Auch organisatorische Veränderungen in staatlichen Ein- kurze Beschreibung der wichtigsten Herausforderungen, richtungen können zu Problemen führen. Teilnehmer be- mit denen sich die Teilnehmenden konfrontiert sehen, und richteten von einem Amt, das entschieden hatte, gewisse listet dann bewährte Praktiken auf, die sie in ihrer täglichen Informationen nicht mehr weiterzugeben und bestimmte Arbeit identifiziert haben, um diesen Herausforderungen Mitarbeitende nicht mehr zu den Fallgesprächen zu schi- und Bedürfnissen gerecht zu werden. cken. Außerdem führte beispielsweise die hohe Arbeitsbe- lastung in der Kinder- und Jugendhilfe dazu, dass sich die Fallakten häuften und das Personal nicht genügend Zeit für KLARHEIT ÜBER ZIELE UND ROLLEN Fortbildungen habe. Schließlich sagte eine deutsche Minis- terialbeamtin, die Kommunikation über die Finanzierung Eine der wichtigsten Herausforderungen besteht nach Ein- zwischen der lokalen und der Bundesebene stelle weiter- schätzung der Teilnehmenden darin, ein gemeinsames hin eine Herausforderung dar, da bisher kein Format für die Verständnis der Probleme zu schaffen und sich darauf zu Zusammenarbeit von Kommunen mit dem Bund existiere.5 einigen, welches Problem überhaupt gelöst werden soll. Mehrere Teilnehmende wiesen darauf hin, dass sich die Per- Workshop-Teilnehmer berichteten von den folgenden spektive der involvierten Akteure (beispielsweise von Zivilge- bewährten Praktiken, um diesen Herausforderungen zu sellschaft und Sicherheitsbehörden) unterscheidet und dies begegnen: die Zusammenarbeit erschweren kann. Trotz möglicherwei- se unterschiedlicher Aufträge muss also ein gemeinsames • S prechen Sie beim Aufbau einer neuen Multi-Agentur- Interesse gefunden werden. Die Teilnehmenden berichte- Struktur oder -Kooperation mit allen Beteiligten über ten auch, dass sich die Evaluierung von Präventionsarbeit in ihre Bedürfnisse und Erwartungen, damit diese in Struk- einem Multi-Agency-Kontext als schwierig erweisen könne, turen und Regeln berücksichtigt werden können. wenn keine klare Zielsetzung vereinbart worden sei. Zudem • Ermutigen Sie alle Akteure, auf eine klare Definition und sei es notwendig, ein ähnliches Verständnis des jeweiligen Akzeptanz der verschiedenen Rollen hinzuarbeiten: Die Falles – beispielsweise zwischen Bewährungshelfern und Be- Akteure müssen sich der unterschiedlichen Sichtweisen von Radikalisierung und den Zielen einer Intervention be- 5 Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) unterstützt bis Ende 2021 sechs Kommunen bei der Erprobung und Weiterentwicklung der kommunalen Deradikalisierungsarbeit im Rahmen des Projekts „Modell Kommunale Deradikalisierung“ (MoDeRad). Das Ziel ist, dass die Kommunen ihre Erfahrungen auf Bundesebene einbringen und austauschen und so die effektive kommunale Deradikalisierungsarbeit stärken (BMI 2020).
8 Nr. 15 | September 2021 Themenpapier: Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus BERICHT wusst sein. Sie sollten herausfinden, „wer welches Ver- für den internen Umfang mit Informationen hätten, die be- ständnis von der Zielsetzung hat, und wer was von wem teiligten Gemeinden jedoch Schwierigkeiten hätten zu ent- erwartet“, wie eine deutsche wissenschaftliche Mit- scheiden, welche Informationen sie bei externen Akteuren arbeiterin von einer zivilgesellschaftlichen Organisation anfragen sollten. In diesem Zusammenhang sagte ein staat- betonte. Transparenz in Bezug auf Ziele und Verantwort- licher Ausstiegsberater, nach seiner Einschätzung stelle die lichkeiten helfe auch, Vertrauen zwischen Akteuren aus Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ebenen (lokal, verschiedenen Institutionen aufzubauen, weil auf diese kommunal, föderal und Zivilgesellschaft) die größte Her- Weise zum Beispiel klar werde, dass einer der anwesen- ausforderung dar. den Behördenvertreter nicht die gesamte Regierung ver- trete, sondern nur bestimmte Präventionsaufgaben. Ein anderer deutscher Teilnehmer sagte, die Vorgaben für • Entwickeln Sie gemeinsame Arbeitsdefinitionen, auch den Informationsaustausch zwischen Regierungsstellen sei- für den weit gefassten Begriff „Zusammenarbeit“. Manche en nicht klar genug. In diesem Zusammenhang wurde auch verstehen darunter, einfach mit anderen Akteuren zu re- die Frage von Sicherheitsüberprüfungen diskutiert: Staat- den, während andere Zusammenarbeit als eine Beziehung liche Akteure bestanden darauf, dass eine Sicherheitsüber- verstehen, die zum Beispiel auch finanzielle Erwartungen prüfung lediglich ein administrativer Prozess sei, um den beinhalten kann. Zugang zu Verschlusssachen zu ermöglichen. Es geht nicht • Verfolgen Sie einen bedarfsorientierten Ansatz: Eine darum, den Charakter einer Person zu beurteilen. Allerdings deutsche Ministeriumsvertreterin berichtete, dass sie in erhalte nach Ansicht eines anderen Teilnehmenden nur die ihrem Team bestimmte Fragen stelle, um die Ziele ihrer Person eine Sicherheitsfreigabe, die sich glaubwürdig für Arbeit festzulegen: „Was sind die Bedürfnisse auf lokaler die demokratische Grundordnung Deutschlands einsetzt. Ebene? Was funktioniert gut und was nicht? Wie können Staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure waren sich ei- wir als staatlicher Akteur helfen?“ nig, dass eine Sicherheitsüberprüfung zwar die formale Vo- • Stellen Sie zusätzliche Ressourcen zur Verfügung: Meh- raussetzung für den Austausch von Informationen sei, aber rere Teilnehmenden werteten personelle Diskontinuität nicht automatisch auch persönliches Vertrauen herstelle. als besondere Schwierigkeit. Zivilgesellschaftliche Orga- nisationen seien meist von projektbezogener Finanzierung Schließlich ist es nicht immer hilfreich, über so vie- abhängig, was zu einer recht hohen Fluktuation führte. le Informationen wie möglich zu verfügen. Ein zivilgesell- Um Reibungsverluste zu vermeiden, sollten Projekte der schaftlicher Akteur sagte, er finde es schwierig, ohne ein Tertiärprävention eine längerfristige Perspektive erhalten. vorgefasstes Bild auf einen Klienten zuzugehen, wenn er be- reits bestimmte Dinge über ihn wisse. Ein anderer Teilneh- mer stellte fest, jeder Beratende müsse für sich entscheiden, ZUSAMMENARBEIT UND ob er oder sie die von der Polizei zur Verfügung gestellten INFORMATIONSAUSTAUSCH Akten einsehen wolle. Eine weitere Schwierigkeit liege in der Erfassung und Verwaltung von (persönlichen) Daten und Der Austausch und der Umgang mit Informationen stellen Informationen. Es wurde erwähnt, dass zum Beispiel der eine besonders wichtige Herausforderung dar. Verschiede- Gesundheitsbereich nicht ausreichend digitalisiert sei. ne Akteure mit unterschiedlichen Zielen müssen Wege fin- den, um Vertrauen aufzubauen und es für alle attraktiv zu Workshop-Teilnehmende berichteten von den folgenden machen, Informationen zu teilen. Als Beispiel wurde ge- bewährten Praktiken, um diesen Herausforderungen zu nannt, dass Sicherheitsbehörden ein professionelles Inte- begegnen: resse daran haben, Einzelfälle geheim zu halten, während Jugendämter gesetzlich verpflichtet sind, die Vertraulich- • E ntwickeln Sie gemeinsame Vorgaben für die Zusam keit zu wahren, aber auch mögliche Sicherheitsrisiken zu menarbeit zwischen Institutionen: In Hessen zum Bei- melden. Für beide Akteure sei es somit schwierig, Informa- spiel erlaubt die Gesetzgebung zum Datenschutz und tionen voneinander zu erhalten. Diese Probleme wurden als zum Strafvollzug den Austausch von Daten. Dennoch, besonders akut angesehen, wenn ein Netzwerk neu gegrün- so eine Teilnehmerin, holten die Beratenden oft die Zu- det wurde, denn das persönliche Vertrauen, das nötig ist, stimmung ihrer Klienten zur Weitergabe von Informa- um offen miteinander zu sprechen, stelle sich erst mit der tionen ein, da dies als wichtig für die Vertrauensbildung Zeit ein. angesehen wird. Seit 2015 gibt es gemeinsame Richt- linien des Innenministeriums, des Justizministeriums Auch können unterschiedliche Ebenen der Zusammenarbeit und des Sozialministeriums, die detailliert beschreiben, unterschiedliche Ebenen der Kommunikation erfordern. Es welche Informationen wie ausgetauscht werden kön- wurde zum Beispiel erwähnt, dass die niederländischen Sa- nen und welche Rechte und Pflichten die beteiligten Ak- fety Houses (siehe S.16) eine klar definierte Verantwortung teure haben. Nach Einschätzung einer Teilnehmerin hat
Nr. 15 | September 2021 9 BERICHT Themenpapier: Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus sich die Zusammenarbeit seit Einführung dieser Richt- • G ehen Sie offen mit den Spannungen zwischen poli linien kontinuierlich verbessert. Zwischen den Akteu- zeilichen und nicht-polizeilichen Partnern um und ren gebe es nun ein hohes Maß an Informationsfluss und entschärfen Sie sie durch klare Vereinbarungen: Ein Vertrauen ebenso wie ein größeres Verständnis für die Teilnehmer sagte, es sei wichtig, einen Ort zur Verfü- unterschiedlichen Perspektiven. Ein weiteres Beispiel gung zu stellen, an dem Treffen ohne Beteiligung von Si- schilderte ein deutscher Praktiker, der bei einer zivilge- sellschaftlichen Beratungsstelle tätig ist und mit Perso- nen arbeitet, die als „Gefährder“ eingestuft werden. Nach seiner Einschätzung ermöglicht es das klare Bewusstsein DIE ENTWICKLUNG VON der unterschiedlichen Rollen, verschiedene Perspekti- PRAXISLEITFÄDEN IN DEUTSCHLAND ven zu berücksichtigen und Synergieeffekte zu schaffen. Für ihn sei es wichtig zu verstehen, dass Vertreter der Si- Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) cherheitsdienste „objektive Fakten“ benötigten, die über- hat zwei Praxisleitfäden entwickelt, um die Zusammen- prüf bar und vor Gericht verwertbar seien. Im Gespräch arbeit und den Informationsaustausch in der Tertiär- mit einem Klienten gebe es dagegen nur „subjektive Fak- prävention zu verbessern. So erklärte eine deutsche ten“. Deshalb sei in der Datenschutzvereinbarung der wissenschaftliche Mitarbeiterin einer zivilgesellschaft- Beratungsstelle geregelt, dass außer im Fall einer akuten lichen Beratungsstelle, ein „Übermittlungsleitfaden“ sei Bedrohung keinerlei Informationen aus dem Beratungs- in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteu- prozess weitergegeben werden dürften. Zudem habe er ren und Sicherheitsbehörden entwickelt worden (bpb Fallkonferenzen als nützlich empfunden, an denen ent- 2020). Obwohl der Leitfaden selbst nicht öffentlich weder der Klient selbst teilnahm oder die nach einem zugänglich sei, stelle er eine sehr gute Arbeitsgrund- Gespräch mit dem Klienten stattfanden. Unter solchen lage dar, da er auf der aktuellen Gesetzeslage basiere Rahmenbedingungen habe man mit der Zeit Vertrauen und Akteuren verstehen helfe, welche Informationen gefasst. sie wann weitergeben müssten, zum Beispiel über das Zeugnisverweigerungsrecht. Das BAMF veröffent- • V ereinbaren Sie klare Regeln für das Datenmanage lichte außerdem eine überarbeitete Fassung seiner ment, den Informationsaustausch und die Zusammen Handreichung „Standards in der Beratung des sozialen arbeit mit Dritten und halten Sie sie schriftlich fest: Umfelds (mutmaßlich) islamistisch radikalisierter Auch wenn schriftliche Regeln womöglich kreative Lö- Personen“ (BAMF 2020). Es wurde vom Violence Pre- sungen behindern, kann das Fehlen von Regeln zu proble- vention Network (VPN) in enger Zusammenarbeit mit matischen halblegalen Situationen führen, insbesondere dem Netzwerk zivilgesellschaftlicher und behördlicher beim Datenaustausch. Akteure des BAMF entwickelt, um ein gemeinsames • Erwägen Sie den Aufbau von Strukturen zur Erleichte Verständnis (zum Beispiel zu grundlegenden Arbeits- rung des Informationsaustausches: Ein wissenschaftli- begriffen wie Extremist, Radikalisierung und Deradika- cher Mitarbeiter berichtete, dass die Beratungsstelle, wo lisierung) zu ermöglichen und Grundlagen, Methoden er arbeite, sich das Büro mit einer Regierungsbehörde tei- und Abläufe für die gemeinsame Arbeit zu schaffen. le. Dadurch werde der Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden und der Beratungsstelle erleich- tert. Beide Seiten hielten monatliche Treffen ab, um über konkrete Fälle sowie die allgemeine Situation zu sprechen. cherheitsakteuren stattfinden können. Diese sollten aber • Anonymisieren Sie Informationen über konkrete Fälle: kein negatives Image erhalten, damit man sie bei Bedarf Um zu vermeiden, dass sensible persönliche Daten weiter- zu einem späteren Zeitpunkt in die Diskussion einbezie- gegeben werden, können die Beteiligten beschließen, Fäl- hen könne. le in anonymisierter Form zu besprechen. Dies kann sich jedoch als unmöglich erweisen, wenn der Fall bereits öf- fentlich bekannt ist und in den Medien thematisiert wurde. INDIVIDUELLE ODER STRUKTURELLE • Erklären Sie dem Klienten, warum es wichtig ist, In ZUSAMMENARBEIT formationen weiterzugeben: Ein deutscher wissen- schaftlicher Mitarbeiter einer zivilgesellschaftlichen Die Workshop-Teilnehmenden diskutierten auch die Vor- Beratungsstelle sagte, er empfinde es als hilfreich, dem und Nachteile von struktureller Multi-Agency-Koopera- Klienten klar zu vermitteln, was das Ziel von Datenschutz tion im Vergleich zu Ad-hoc-Kooperationen im Einzelfall. sei und warum es dennoch wichtig sein könne, Informa- Strukturelle Kooperation eigne sich, um jeden Tag unter- tionen an andere weiterzugeben. schiedliche Perspektive zusammenzuführen. Ad-Hoc-
10 Nr. 15 | September 2021 Themenpapier: Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus BERICHT Treffen könnten aber für die Arbeit auf Einzelfallbasis ausreichend sein. BEWÄHRTE PRAKTIK RÜCKKEHRKOORDINATION • G estalten Sie die Zusammenarbeit nach Bedürfnissen: Ein Teilnehmer berichtete, er habe es als nützlich emp- Um mit den aus Syrien und dem Irak nach Deutschland funden, manche Fälle mit Psychologen oder Angestellten zurückkehrenden Männern, Frauen und Kindern eines Jugendamtes zu besprechen. Ein anderer Teilneh- besser umgehen zu können, hat das BAMF das mer sagte, er habe gute Erfahrungen mit einem „System Modellprojekt „Rückkehrkoordination“ eingerichtet. der Ebenen“ gemacht, was bedeute, dass die Sicherheits- Es umfasst Stellen in sieben Bundesländern, die behörden erst auf der letzten Ebene und nur im Falle von Vertreter aus unterschiedlichen Institutionen Sicherheitsproblemen einbezogen würden. zusammenbringen, um Informationen über • Fördern Sie gute Beispiele und den Peer-to-Peer-Aus Fälle von Rückkehrenden auszutauschen und tausch: Ein Vertreter der deutschen Gesundheitsbehör- ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln. den sprach sich dafür aus, Aspekte der Tertiärprävention auch zwischen Gesundheitsämtern und Jugendämtern zu (European Commission 2021a, Koller 2020, S.9) besprechen. Es würden mehr Beispiele bewährter Prak- tiken gebraucht, um zu zeigen, wie die Zusammenarbeit aussehen könne. So fördere das BAMF eine Clearingstel- le 6, die lokale Beratungsstellen und Jugendämter zum VERTRAUEN SCHAFFEN Austausch von Fachwissen und Informationen ermutigen solle. Auch Strukturen wie InFoEx wurden als gute Prak- Als weitere Herausforderung wurde fehlendes Vertrauen7 tik genannt, da sie es ermöglichen, verschiedene Akteure zwischen verschiedenen Akteuren sowie unterschiedliche zusammenzubringen und ihre Neugierde auf eine engere Institutionskulturen genannt. Ein Teilnehmer argumen- Zusammenarbeit zu wecken. tierte, Vertrauen hänge von kulturellen Merkmalen ab, zum • Erwägen Sie die Trennung von strategischen und opera Beispiel davon, wie man die Polizei und andere staatliche tiven Aufgaben: In etablierten Multi-Agency-Strukturen Vertreter wahrnehme. Eine Vertreterin eines deutschen hat es sich als hilfreich erwiesen, wenn manche Akteure Landesjustizministeriums ergänzte, dass auch die Zusam- auf strategische Aspekte eingehen, um zum Beispiel einen menarbeit mit Beamten des Strafvollzugs besondere He- Überblick über lokale Trends zu erhalten, während ande- rausforderungen aufwerfen könne. Zivilgesellschaftliche re Akteure operative Aufgaben wahrnehmen. In Belgien Akteure hätten möglicherweise Schwierigkeiten, Zugang zu zum Beispiel werden die meisten Multi-Agency-Workings diesem geschlossenen System zu erhalten. Ein deutscher von Bürgermeistern geleitet. In der Praxis ist er oder sie wissenschaftlicher Mitarbeiter einer zivilgesellschaftlichen nicht an der Diskussion der Fälle auf operativer, sondern Beratungsstelle sagte, starre Hierarchien und organisato- nur auf strategischer Ebene beteiligt (siehe S.15). rische Identitäten könnten die Zusammenarbeit generell • Fördern Sie die Bildung von Netzwerken und das Peer- behindern. In Bezug auf Deutschland wurde auch auf die to-Peer-Lernen: Mehrere Teilnehmer wiesen auf die Not- institutionellen Herausforderungen in der Zusammenarbeit wendigkeit hin, Möglichkeiten zur Vernetzung und zum zwischen Bund und Ländern verwiesen. Teilnehmende be- Peer-to-Peer-Lernen auf lokaler und kommunaler Ebene richteten über die folgenden bewährten Praktiken, um die- zu schaffen, beispielsweise indem Jugendämter vernetzt se Herausforderungen zu bewältigen: werden, um sich über bewährte Praktiken auszutau- schen. Die Teilnehmenden sagten, dass generell mehr lo- • U nterstützen Sie Maßnahmen zur Vertrauensbildung: kale Netzwerke benötigt würden, um geeignete Partner in Vertrauen lässt sich am besten in der Zusammenarbeit staatlichen Strukturen zu identifizieren und Kooperatio- herstellen. Zum Beispiel arbeiten die Mitarbeitenden der nen zu begründen, zum Beispiel in Bezug auf Rückkehrer. niederländischen „Safety Houses“ seit etwa 2013 zusam- men. Der Prozess der Vertrauensbildung kann jedoch auch durch andere Mittel unterstützt werden. Wie ein Teilnehmer erklärte, verlangt beispielsweise eine deut- sche Multi-Agentur-Struktur von allen externen Mit- arbeitenden eine Sicherheitsüberprüfung. Es wurden 6 Die Clearingstelle Radikalisierungsprävention an den Schnittstellen des SGB VIII verbindet die Beratungsstelle des BAMF und dessen Netzwerk aus lokalen Beratungsstellen mit Akteuren aus der Kinder- und Jugendhilfe. 7 In diesem Zusammenhang diskutierten die Teilnehmenden auch über die Frage des Vertrauens zwischen Ratsuchenden und Beratungsstellen. Eine deutsche wissenschaftliche Mitarbeiterin einer zivilgesellschaftlichen Beratungsstelle sagte, eine Ausstiegsberatung durch staatliche Einrichtungen könne für Ratssuchende wegen ihrer Vorbehalte gegen diese Akteure möglicherweise eine höhere Hürde darstellen. Siehe z. B. Ostwaldt 2018 zur „Senkung der psychologischen Schwelle für Unterstützungsbedürftige durch die Ausbildung von Ressourcenpersonen zu Gatekeepern“ (S.242).
Nr. 15 | September 2021 11 BERICHT Themenpapier: Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus Als weitere bewährte Praktik wurde die Benennung von HEXAGON, EIN PÄDAGOGISCHES Stellvertretern genannt, so dass der Kontakt zu einer In- WERKZEUG ZUR ANALYSE stitution auch dann aufrechterhalten und die Kontinuität VON FALLSTUDIEN gesichert werden kann, wenn die verantwortliche Person krank ist oder die Stelle verlässt. Die Stadt Straßburg hat das Multi-Agency-Spiel • Stärken Sie den Sinn für Verantwortung: Ein deutscher Hexagon erprobt, das 2018 vom Canadian Centre for Behördenvertreter sagte, seine Erfahrung zeige, dass bei the Prevention of Radicalization Leading to Violen- Akteuren, die sich verantwortlich fühlten und auch so ce (CPRLV) auf Basis wissenschaftlicher Literatur handelten, mit der Zeit das Vertrauen wachse und sich und der von CPRLV bearbeiteten Fällen (RAN 2019, die Zusammenarbeit auf lokaler und subnationaler Ebe- CPRLV 2018) entwickelt wurde. Das Schulungstool ne verbessere. Hexagon, das die Zusammenarbeit zwischen • Sorgen Sie dafür, dass auch zwischen mehreren Akteu mehreren Institutionen trainiert, ermöglicht es ren Vertrauen hergestellt wird: Mehrere Teilnehmende Teilnehmenden mit unterschiedlichem Hintergrund waren sich einig, was die zentrale Bedeutung von Ver- (z. B. Lehrern, Psychosozialarbeitern, Polizisten trauen betrifft. Sie alle sagten aber auch, dass dessen und Jugendarbeitern), gemeinsam Informationen Auf bau eine Zusammenarbeit über einen längeren Zeit- zu einer bestimmten Fallstudie aus verschiedenen raum erfordert. Eine vertrauensbildende Übung oder ein Perspektiven zu betrachten. Neben dem Erlernen Training mit mehreren Akteuren könne das Verständnis von Fertigkeiten ist das Ziel, die Trainingserfahrung für die Bedürfnisse und Schwierigkeiten der anderen ver- zu teilen, sich gegenseitig kennen zu lernen und bessern, Interesse wecken und helfen, Erwartungen zu Vertrauen zu entwickeln. Obwohl das Tool seine steuern. Praktiker aus verschiedenen Institutionen, die Grenzen hat – zum Beispiel kann nur über bereits unter normalen Umständen nur während einer akuten vorhandene Informationen diskutiert werden – hat Krise miteinander sprechen, würden von einem sicheren es bereits gezeigt, wie nützlich es ist. Nach Angaben Raum profitieren, in dem sie sich ohne Zeitdruck kennen- eines französischen Teilnehmers ist es Hexagon zu lernen können. verdanken, dass die Stadt Straßburg sich bei dem • Bieten Sie Job-Hopping und Work-Shadowing an: Eine Terroranschlag im Dezember 2018 als recht gut Behördenvertreterin wies darauf hin, dass viele staatli- vorbereitet erwies. che Bedienstete ihre Arbeit schon sehr lange tun. Es wä- re von Vorteil, Mitarbeitenden aus anderen Sektoren zu gewinnen, die neue Perspektiven einbringen und die Zu- sammenarbeit zwischen Regierungsbehörden und der auch detaillierte Vereinbarungen erstellt, die Details über Zivilgesellschaft verbessern können. Ein Vorschlag war, die Bedürfnisse jedes Akteurs enthalten. Job-Hopping-Formate zu etablieren: Regierungsmitarbei- tende würden einen Monat lang bei einer NGO arbeiten, • E ntscheiden Sie sich für einen neutralen Akteur oder während Mitarbeitende der Zivilgesellschaft (mit Sicher- Vermittler: Einer Beobachtung zufolge wurde der VVSG in heitsfreigabe) für eine begrenzte Zeit in die Arbeit öffent- Belgien, der als Dachorganisation für die zivile Verwaltung licher Dienststellen hineinschnuppern würden. Natürlich und die Polizei dient, als vertrauenswürdiger Akteur wahr- eignet sich nicht jede Institution für ein solches Format. genommen. In Deutschland sei die BAMF-Beratungsstelle in der Lage, zwischen Zivilgesellschaft und Sicherheitsak- teuren zu vermitteln. Generell könnten staatliche Akteure ZUSAMMENARBEIT MIT außerhalb der Sicherheitsbehörden ein gutes Standing als RELIGIÖSEN EINRICHTUNGEN Vermittler haben. Auch die „Safety Houses“ in den Nieder- landen wurden als neutrale Räume angesehen. Teilnehmende aus mehreren Ländern berichteten von • Sorgen Sie für Kontinuität: In Frankreich arbeiteten eini- Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit religiösen ge Akteure in einer Gemeinde bereits mehr als zehn Jahre Einrichtungen. Staatliche oder nichtstaatliche Institutio- lang im Bereich der Kriminalitätsprävention zusammen, nen müssten entscheiden, wie sie eine solche Zusammen- bevor sie sich mit Problemen der Radikalisierung befass- arbeit organisieren wollten und welche Rolle ihnen in der ten. Sie besaßen daher schon eine klare Struktur und Tertiärprävention zukommen solle. In einem deutschen ein Regelwerk, was zu einer guten Partnerschaft führte. Bundesland wurde die Zusammenarbeit mit religiösen Or-
12 Nr. 15 | September 2021 Themenpapier: Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus BERICHT ganisationen als eines der kritischsten Themen für staatli- zivilgesellschaftliche Akteure bräuchten einen effektiven che Akteure in der Arbeit der Tertiärprävention genannt.8 Informationsaustausch, um rechtzeitig auf beobachtete Ein niederländischer Behördenvertreter sagte, in seinem Veränderungen reagieren zu können. Wenn relevante In- Land sei noch keine wirkliche Zusammenarbeit zustande formationen nicht geteilt würden – was oft am Fehlen einer gekommen. Einer der Gründe sei die Auseinandersetzung Rechtsgrundlage für den Informationsaustausch liege – um die Finanzierung von Moscheen durch ausländische, könnten Extremisten die Akteure gegeneinander ausspie- undemokratische Länder. In Frankreich hätten die Mo- len. Auch könnten unvollständige Informationen zu einer scheevereine nach Angaben eines Behördenvertreters falschen Einschätzung des Radikalisierungsgrades und des Angst, für die Radikalisierung von Extremisten verantwort- potenziellen Sicherheitsrisikos führen. Bei Personen mit lich gemacht zu werden. Von den Workshop-Teilnehmen- multiplen Problemen sei außerdem das Etikett „radikali- den wurde es als wichtig erachtet, dass Imame sowohl siert“ nicht zielführend, da es andere Probleme überdecken einen Hintergrund in islamischer Theologie als auch in So- und eine angemessene Behandlung verhindern könnte. zialarbeit haben, um für den Umgang mit Radikalisierung kompetent zu sein – dieses Profil sei aber schwer zu fin- • R ichten Sie berufsgruppenübergreifende Arbeitsgrup den. Ein Sozialarbeiter betonte gleichzeitig, es gehe bei den pen ein: Ein Teilnehmer sagte, es gebe erste Bemühun- Schwierigkeiten nicht um Religion. gen, berufsgruppenübergreifende Arbeitsgruppen für den Umgang mit IS-Rückkehrenden in Deutschland einzurich- • O rganisieren Sie gemeinsame Schulungen für die Akteu ten. Es sei noch zu früh, um dies als gute Praxis zu emp- re: Das „Hybrid Training with Religious Community Lea- fehlen, aber es sei klar, dass diese Art der Zusammenarbeit ders“ (FHAR) an der Universität von Straßburg in Frankreich sowohl auf struktureller als auch auf inhaltlicher Ebene wurde als gute Praktik erwähnt (Europäische Kommission gestärkt werden sollte, einschließlich beispielsweise des 2021b). Seit etwa 2015 bringt FHAR Sozialarbeiter und reli- Gesundheitssektors, da sie großes Potenzial habe. giöse Akteure zusammen, um gemeinsam neue Formen von • Unterstützen Sie den Aufbau neuer Kompetenzen: Mit- Trainings zu entwickeln. Dahinter stehen zwei Überlegun- arbeitende von Regelstrukturen wie pädagogischen gen: Beobachtungen zeigen, dass sowohl soziale als auch Institutionen, Jugend- und Sozialämtern und Kinder- religiöse Akteure auf tieferer Ebene mit Klienten arbeiten schutzdiensten haben generell einen großen Bedarf, wollen. Außerdem baut FHAR auf der Arbeitshypothese auf, mehr über Radikalisierung und den Umgang mit gefähr- dass es für Präventionsbemühungen hilfreich sein kann, so- deten Jugendlichen im Kontext von islamistischem und zialpädagogische Praktiken zu kombinieren. anderem Extremismus zu lernen. Für den Gesundheits- • Konzentrieren Sie sich auf die lokale Ebene: Da sich Ra- bereich beispielsweise sei der Umgang mit Radikalisie- dikalisierung vor Ort vollziehe, so ein Teilnehmer, müsse rung grundsätzlich „Neuland“. Weitere wichtige Themen Präventionsarbeit die lokale Zivilgesellschaft einbeziehen seien die Stärkung der interkulturellen Kompetenz und und Verbindungen zu regionalen Strukturen schaffen. die Auseinandersetzung mit Islamophobie und Rassismus. • Sprechen Sie Ihre Zielgruppen an: Die Teilnehmenden be- tonten die Notwendigkeit, potenzielle Klienten auf die An- HERAUSFORDERNDE ZIELGRUPPEN gebote der Tertiärprävention aufmerksam zu machen. Gleichzeitig wurde erwähnt, dass die Arbeitsbelastung von Schließlich berichteten die Teilnehmenden, dass es zu zu- Beschäftigten in der Sozialarbeit, in der Schule und im Ge- sätzlichen Schwierigkeiten kommen kann, weil Menschen sundheitswesen bereits sehr hoch ist. Es bedürfe zusätz- Angst vor der Zielgruppe haben oder sie nicht verstehen. licher Anreize, um sie zu ermutigen, auf die Zielgruppen Nach Angaben eines deutschen Behördenvertreters haben zuzugehen und sich in der Prävention engagieren zu wollen. beispielsweise manche Mitarbeiter im Gesundheitssek- tor Angst vor Rückkehrenden aus dem sogenannten Islami- schen Staat in Syrien und Irak (IS). Da solche Ängste daraus FORSCHUNG UND EVALUIERUNG resultieren können, dass es den Mitarbeitenden an Wis- sen über die Arbeit mit dieser Zielgruppe mangelt, könn- Die Teilnehmenden waren sich einig, dass es der Tertiär- te sich eine engere Verbindung zwischen Beratenden und prävention nutzt, wenn Akteure unterschiedliche Perspek- den Beschäftigten im Gesundheitswesen als hilfreich erwei- tiven einbringen. Deren Bedürfnisse müssten jedoch genau sen. Hinzu kommt, dass der Umgang mit extremistischen analysiert werden, um effektive Formate entwickeln zu Straftätern ein sehr sensibler Bereich sei; behördliche und können. Dazu gab es die folgenden Empfehlungen: 8 Zum Beispiel soll das BAMF Projekt „Muslime und Polizei im Dialog: Kooperationsnetzwerk - Sicher Zusammenleben (KoSiZu)“ die Zusammenarbeit, den Dialog und den Vertrauensaufbau zwischen Sicherheitsbehörden und muslimischen Akteuren stärken. Zu diesem Zweck wird der Aufbau eines bundesweiten Netzes von Ansprechpersonen bei Sicherheitsbehörden und in der muslimischen Community, z.B. bei Moscheen oder kulturellen Vereine, unterstützt (BAMF 2021). Zu den Themen gehören religiös begründeter Extremismus, Muslimfeindlichkeit und die Sicherheit von Moscheen.
Nr. 15 | September 2021 13 BERICHT Themenpapier: Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus • V erbessern Sie die Wissensgrundlage: Eine Teilnehmerin sagte, es würden mehr Daten zu Fragen der psychischen Gesundheit benötigt, zum Beispiel in Bezug auf relevan- te Krankheitsbilder. Es sei wünschenswert, dass Akteure der (forensischen) Psychiatrie eine bessere Datengrund- lage schafften. Weiterer Forschungsbedarf bestehe in Be- zug auf die Entwicklung von Kindern in salafistischen Familienstrukturen. • Sorgen Sie für gutes Datenmanagement: Die Teilneh- menden sprachen über die Notwendigkeit, die Dokumen- tation von Fällen und den Austausch von Informationen besser zu organisieren, nicht nur, um die Zusammen- arbeit effektiver zu gestalten, sondern auch zu Evalua- tionszwecken. Multi-Agency-Kooperationen sollten evaluiert werden, um Strukturen weiterzuentwickeln. • Etablieren Sie eine „Fehlerkultur“: Eine Teilnehmerin aus einer zivilgesellschaftlichen Einrichtung betonte die Notwendigkeit, offen über Fehler zu sprechen. In Berich- ten werde oft zu viel über Erfolge geschrieben, um die weitere Finanzierung zu sichern. Eine Kultur, die dazu er- mutige, mit Fehlern umzugehen und aus ihnen zu lernen – zum Beispiel, was zu tun ist, wenn etwas schiefläuft – führe zu viel besseren Ergebnissen. • Reflektieren Sie Ihre Erfahrungen: Eine Teilnehme- rin berichtete, sie habe sich während der Sitzungen kei- ne Notizen gemacht, weil der Stress zu groß gewesen sei. Erst später sei ihr klar geworden, dass Notizen ihr ge- holfen hätten, ihre Erfahrungen zu reflektieren und ihre eigenen Erwartungen zu überprüfen.
14 Nr. 15 | September 2021 Themenpapier: Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus BERICHT Bewährte sind einige der Fragen, die wir in einem laufenden For- schungsprojekt mit dem Titel „Nordic Multi-Agency Ap- proaches to Handling Extremism: Policies, Perceptions Praktiken and Practices (HEX-NA)“ gestellt haben. Das Projekt hat das übergeordnete Ziel, die Unterschiede zwischen den Institutionen der nordischen Länder und ihren Ansät- übertragen zen zur Bekämpfung von gewaltbereitem Extremismus zu vergleichen und die Voraussetzungen für erfolg- reiche Multi-Agency-Zusammenarbeit zu erforschen, und zwar mit Hilfe von drei Teilprojekten: Politiken bzw. Policies (ein länderübergreifender Vergleich der Teilnehmende verschiedener Nationalitäten und institu- rechtlichen Rahmenbedingungen und institutionellen tioneller Hintergründe betonen, wie wertvoll der Blick auf Strukturen); Wahrnehmungen (ein länder- und berufs- andere Länder ist, um von deren Erfahrungen in der Zu- gruppenübergreifender Vergleich der Wahrnehmungen sammenarbeit zwischen verschiedenen Institutionen, ins- von Stakeholdern und der Öffentlichkeit, bei dem es um besondere mit Regelstrukturen zu lernen. Die Übertragung Vertrauensbildung und die Bereitschaft zur Weiterga- von bewährten Praktiken in einen anderen Kontext kann je- be sensibler Informationen geht) sowie Praktiken (län- doch schwierig sein, insbesondere bei Unterschieden im der- und städteübergreifender Vergleich der Praktiken institutionellen Auf bau oder der Gesetzgebung. Ein be- und der Umsetzung). Bislang wurde nur das Teilprojekt hördlicher Teilnehmer betonte, es sei wichtig, mehrere Ein- Politiken abgeschlossen und der entsprechende Bericht richtungen zu besuchen und ihre Ansätze zu vergleichen, veröffentlicht (Sivenbring & Malmros 2019). Einige we- bevor man eine bewährte Praktik mit aller Sorgfalt an einen sentliche Ergebnisse sind: anderen lokalen Kontext anpasse. Jüngste Untersuchungen in den nordischen Ländern lassen ebenfalls vermuten, dass • D ie Politiken in den nordischen Ländern unterschei- es viele Gemeinsamkeiten geben muss, damit ein Transfer den sich stärker voneinander als erwartet. von bewährten Praktiken gelingen kann. • Die behördenübergreifende Zusammenarbeit ist in Dänemark und Norwegen weitaus stärker entwickelt, umfangreicher und stärker institutionalisiert als in “COPY AND PASTE” VON BEWÄHRTEN Finnland. In Schweden ist sie es am wenigsten. PRAKTIKEN? VORAUSSETZUNGEN • Die Polizei ist in Schweden weniger in die behörden- FÜR EINE ERFOLGREICHE MULTI- übergreifende Zusammenarbeit eingebunden als in AGENCY-ZUSAMMENARBEIT GEGEN den anderen nordischen Ländern. GEWALTBEREITEM EXTREMISMUS Wie lassen sich diese Unterschiede erklären? Die nor- von Tore Bjørgo, Direktor des Center for Research on Ex- dischen Länder haben sehr unterschiedliche rechtliche tremism (C-REX), Professor an der Universität Os- Rahmenbedingungen für behördenübergreifende Zu- lo und der norwegischen Polizeihochschule, Leiter des sammenarbeit und Informationsaustausch. In Dänemark HEX-NA-Projekts. erlaubt (und regelt) die Gesetzgebung den Austausch sensibler personenbezogener Daten zur Kriminalprä- Multi-Agency-Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Prä- vention zwischen den Behörden. In den übrigen nor- vention von gewalttätigem Extremismus umfasst min- dischen Ländern sind die Bestimmungen zum Umgang destens zwei Dimensionen: 1) die Koordination zwischen mit vertraulichen Daten restriktiver. Die Polizeigesetze den Akteuren bzw. Behörden bei Aktionsplänen und in Dänemark und Norwegen sind stärker auf Prävention Interventionen auf nationaler und lokaler Ebene sowie und die Zusammenarbeit mit anderen Behörden ausge- auf strategischer und operativer Ebene und 2) den In- richtet. Daher wird die Polizei dort eher proaktiv und formationsaustausch zwischen Behörden und Praktikern vorbeugend tätig als in Schweden und Finnland, wo der über problematische Themen und Herausforderungen Stil der Polizeiarbeit eher reaktiv ist. sowie über gefährdete Personen. Es gibt auch Unterschiede in den Organisationsmodel- Inwieweit kann eine erfolgreiche Praktik der Multi- len für die behördenübergreifende Zusammenarbeit. Agency-Zusammenarbeit kopiert und in einem ande- Das SSP-Modell für die Zusammenarbeit zwischen ren Umfeld eingesetzt werden? Oder, anders gefragt, Schule, Sozialdienst und Polizei, das ursprünglich Mit- welche Bedingungen müssen vergleichbar sein, damit te der 1970er Jahre in Dänemark entwickelt wurde, ist der Transfer einer guten Praktik erfolgreich ist? Dies in den nordischen Ländern auf recht unterschiedliche
Sie können auch lesen