TÄTIGKEITSBERICHT 2019 - Gewaltschutzzentrum NÖ
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Wir danken allen Kooperationspartnerinnen und Kooperationspartnern für die gute Zusammenarbeit! Das Team des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich 3100 St. Pölten 2700 Wr. Neustadt 3190 Zwettl 2
Inhalt 1. DER TAUCHER .................................................................................... 5 2. GEWALTSCHUTZZENTRUM NIEDERÖSTERREICH ................................ 7 a. Verein ........................................................................................ 8 b. Finanzierung ............................................................................... 8 c. Ziele und Aufgaben ...................................................................... 9 d. Kontakt .................................................................................... 10 3. 2019 IM ÜBERBLICK ........................................................................ 12 4. ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND VERNETZUNG ................................. 13 a. „20 Jahre GSZ und noch kein bisschen leise“ ................................. 13 b. Eine Zeitreise ............................................................................ 18 c. Evaluation Gewaltschutzzentrum Niederösterreich .......................... 21 d. Neue Wege der institutionellen Zusammenarbeit ............................ 28 e. 16 Tage gegen Gewalt ................................................................ 31 5. HERAUSFORDERUNGEN ................................................................... 35 a. Das „dritte Gewaltschutzgesetz 2019“ .......................................... 35 b. Schutz vor Gewalt durch die Zivilgerichte ...................................... 40 6. STATISTIK ÜBER DAS BERICHTSJAHR 2019 .................................... 45 a. Grafische Darstellung der Statistik 2019 ....................................... 59 b. Tötungsdelikte 2019 ................................................................... 64 7. TÄTIGKEITEN ZU KOOPERATION SOWIE SCHULUNGEN, VORTRÄGE, FORTBILDUNGEN UND ÖFFENTLICHKEITSARBEIT ................................. 68 3
1. DER TAUCHER1 „DER TAUCHER ist in jeder Hinsicht ein Film über unsere Psyche, über unsere Lügen, unser Schweigen, unsere Angst und Brutalität, aber auch über unsere Kraft Widerstand zu leisten und über unseren größten Wunsch: Lieben zu können und Liebe zu erfahren.“ GÜNTER SCHWAIGER (REGISSEUR) „Familiäre Gewalt, geschlechtsspezifische Gewalt oder intime Gewalt sind Ausdruck einer Tatsache: Trotz Zivilisation und Fortschritt sind die vom Partner oder Ex-Partner ausgeübten Übergriffe Alltag für hunderttausende Frauen in Europa. Der Film DER TAUCHER des österreichischen Filmemachers Günter Schwaiger (bekannt von MARTAS KOFFER) behandelt dieses Thema auf eindringliche Weise: Inmitten der scheinbaren Idylle einer mediterranen Insel erzählt DER TAUCHER die Geschichte eines Traumas aus den unterschiedlichen Perspektiven der vier Beteiligten. Ein Psychothriller über familiäre Gewalt, die Sehnsucht nach Liebe und die unbeugsame Kraft des Aufbegehrens.“2 1 Ein Film von Günter Schwaiger. 2 Mag.a Eva Baumgardinger, Filmladen, Online-Aussendung, 23.10.2019 5
Der Filmstart war am 29. November 2019 in den österreichischen Kinos. Im Rahmen der Kampagne „16 Tage gegen Gewalt an Frauen und Mädchen“ stellte der FILMLADEN Verleih das Thema in Kooperation mit Expert*innen aus ganz Österreich in den Mittelpunkt. Im Cinema Paradiso St. Pölten fand am 3. Dezember 2019 die Filmpremiere statt. Im Anschluss an den Film diskutierten der Leiter von NeuSTART/Niederösterreich und Burgenland DSA Alexander Grohs, MSc, die Geschäftsführerin vom Gewaltschutzzentrum Niederösterreich Mag.a (FH) Michaela Egger, MA und der Regisseur und Filmemacher Günter Schwaiger mit dem Publikum über den Film und das Thema häusliche Gewalt mit den damit verbundenen Auswirkungen. Foto Credit: Cinema Paradiso/V. Hagenow Von l. n. r.: Grohs, Egger, Schwaiger NÖ-Premiere: Der Taucher Weitere Infos unter: Website zum Film: https://www.filmladen.at/film/der-taucher Facebook: https://www.facebook.com/DerTaucherFilm 6
2. Gewaltschutzzentrum Niederösterreich Das Gewaltschutzzentrum Niederösterreich wurde 1999 als Interventions- stelle zur Unterstützung von Opfern häuslicher Gewalt nach Inkrafttreten des ersten Gewaltschutzgesetzes 1997 eröffnet. Im Laufe der Jahre hat sich die Interventionsstelle aufgrund ihrer vielfältigen Aufgaben zum Gewaltschutzzentrum entwickelt und ist für das gesamte Bundesland Niederösterreich zuständig. Durch die Gewaltschutzgesetze wurde festgelegt, dass Opfer von häuslicher Gewalt nicht länger flüchten müssen, sondern die Verursacher*innen haben die Wohnung, das Haus zu verlassen. Von häuslicher Gewalt sind vor allem Frauen und ihre Kinder betroffen. Diese geschlechtsspezifische Gewalt gründet in einem hierarchischen Geschlechterverhältnis, von dem unsere Gesellschaft nach wie vor geprägt ist. Laut Amnesty International (AI) stellt weltweit Gewalt gegen Frauen und Mädchen eine der an den häufigsten vorkommenden Verletzungen der Menschenrechte dar. Jeder Mensch hat das Recht auf ein Leben frei von Gewalt. Im Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA)3, von 2014 wird deutlich, dass es an der Zeit ist, dass politische Entscheidungsträger*innen weitere Maßnahmen gegen diese weit verbreitete Gewalt ergreifen und bestehende Instrumente weiterentwickeln. Wirkungsvoller Schutz vor häuslicher Gewalt kann jedoch nicht allein durch gesetzliche Maßnahmen praktiziert werden, sondern diese müssen in der Praxis umgesetzt und angewendet werden. Häusliche Gewalt betrifft uns alle. Sie beginnt nicht mit Schlägen, sondern meist mit der großen Liebe und zerstört in Folge Leben. Neben den staatlichen Schutzmaßnahmen mit Betretungs- und Annäherungsverbot (= BV&AV) gegen Gefährder*innen für zwei Wochen und einem längerfristigen Schutz durch zivilrechtliche Schutzverfügungen (= EV), bieten in allen österreichischen Bundesländern die Gewaltschutzzentren/ Interventionsstellen Gewaltopfern pro-aktive psycho-soziale und rechtliche Unterstützung.4 Die Polizei muss die Gewaltschutzzentren/die Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie über alle Einsätze von häuslicher Gewalt und Stalking- Anzeigen informieren. Mitarbeiter*innen der Gewaltschutzzentren/der Wiener 3 Weltweit größten Erhebung über Gewalt gegen Frauen, FRA 2014. 4 Die Interventionsstellen bzw. Gewaltschutzzentren sind gesetzlich verankerte Unterstützungseinrichtungen, die es in jedem Bundesland in Österreich gibt. 7
Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie kontaktieren in der Folge die Gewaltopfer aktiv, sie bieten ihnen Beratung und Unterstützung und setzen gewaltpräventive Maßnahmen. Um effektiven Schutz vor häuslicher Gewalt zu gewährleisten, arbeiten Polizei, Gerichte sowie Kinder- und Jugendhilfe mit den Gewaltschutzzentren/der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie eng zusammen. Die Kooperation ist im Interesse des Opferschutzes und der Gewaltprävention gesetzlich abgesichert. Zum Symbol dieser aufeinander abgestimmten und ineinandergreifenden Maßnahmen ist die Interventionskette geworden. a. Verein Träger des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich ist der gemeinnützige Verein, Gewaltschutzzentrum Niederösterreich, Verein für Gewaltprävention, Opferschutz und Opferhilfe (ZVR 185379172). Im Verein sind seit Jahren ehrenamtlich tätige Vorstandsfrauen5 engagiert, um gemeinsam mit der Geschäftsführung und den Mitarbeiterinnen des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich das Weiterbestehen des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich und die Weiterentwicklung der Gewaltschutzarbeit abzusichern. Das Team des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich ist multiprofessionell (vorwiegend Sozialarbeiterinnen und Juristinnen) zusammengesetzt und verfügt über vielfältige Kompetenzen in verschiedenen Bereichen (Sprachkenntnisse, interkulturelle Kompetenz, Zusatzqualifikationen zu der Grundausbildung, langjährige Berufserfahrung). Die Mitarbeiterinnen bieten muttersprachliche Beratung in Bosnisch/Serbisch/Kroatisch, bzw. wird zusätzlich Beratung in Türkisch, Rumänisch und Russisch angeboten. Auch werden Dolmetscher*innen in der Beratungsarbeit zur Unterstützung beigezogen. b. Finanzierung Das Gewaltschutzzentrum Niederösterreich ist eine gesetzlich verankerte Opferschutzeinrichtung, die vom Bundeskanzleramt – Sektion für Frauenangelegenheiten und Gleichstellung – und dem Bundesministerium für Inneres finanziert wird. Psychosoziale und juristische Prozessbegleitung für Opfer von Gewalt wird im Rahmen der Einzelfallförderung vom Bundesministerium für Justiz gefördert. 5 Vielen Dank für die jahrelange, ehrenamtliche Unterstützungstätigkeit im Gewaltschutzzentrum Niederösterreich. 8
c. Ziele und Aufgaben Ziele des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich sind es, den Schutz von Opfern häuslicher Gewalt und Stalking nachhaltig zu verbessern, ihre subjektive und objektive Sicherheit zu erhöhen und Gewalt zu verhindern. Die von Gewalt Betroffenen werden von den Mitarbeiterinnen des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich begleitet, damit sie Perspektiven für ein eigenständiges Leben frei von Gewalt entwickeln können. Die Unterstützungs- und Interventionsprozesse orientieren sich an den Bedürfnissen und Rechten der Betroffenen und sind den Standards der Gewaltschutzarbeit verpflichtet. Die Unterstützung ist kostenfrei und vertraulich. Das Gewaltschutzzentrum Niederösterreich bietet Beratung und Unterstützung für Gewaltopfer (bei häuslicher Gewalt, sexualisierter Gewalt und bei Stalking) unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft, Nationalität, Aufenthaltsstatus und Religion der Betroffenen. Es ist unerheblich, ob die Gewalterfahrungen mit einer Anzeige öffentlich gemacht wurden oder nicht. Um geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen in der Unterstützungsarbeit angemessen zu berücksichtigen, wird zur Prävention dieser Gewalt ein geschlechtsspezifischer Beratungsansatz praktiziert. Wir bieten rechtliche Beratung und psychosoziale Unterstützung, die Betroffene ermächtigen soll, fundierte Entscheidungen zu treffen und Wege aus der Gewalt einzuleiten. Ziel jeder Intervention ist Schutz und Sicherheit der Gewaltopfer. Daher zählen standardisierte Gefährlichkeitseinschätzungen und Sicherheitspläne zu unseren grundlegenden Unterstützungs- instrumenten. Die Betroffenen erfahren Unterstützung (bei Krisen, bei Stabilisierungs- prozessen, bei Gefährdungen, bei der Einbringung von Anträgen und Klagen, …), sie werden zu Zivil- und Strafgerichten wie auch anderen Institutionen begleitet. Im Rahmen der psychosozialen und juristischen Prozessbegleitung können sie auch Unterstützung/Entlastung/ Stärkung/Begleitung in Straf- und Zivilverfahren erhalten. 9
d. Kontakt Das Gewaltschutzzentrum Niederösterreich stützt sich auf eine dezentrale Struktur. Die drei fixen Standorte St. Pölten, Wiener Neustadt und Zwettl bilden gemeinsam durch die Mitarbeiterinnen das Gewaltschutzzentrum Niederösterreich: St. Pölten Wiener Neustadt Zwettl AM: Amstetten BA: Baden GD: Gmünd HL: Hollabrunn BL: Bruck/Leitha KS: Krems Stadt/Land KO: Korneuburg GF: Gänserndorf HO: Horn LF: Lilienfeld MI: Mistelbach WT: Waidhofen/Thaya ME: Melk MD: Mödling ZT: Zwettl St. Pölten (Stadt/Land) NK: Neunkirchen SB: Scheibbs WN: Wiener Neustadt TU: Tulln Stadt/Land WY: Waidhofen/Ybbs Nur durch diese Dezentralisierung ist in Niederösterreich, im flächenmäßig größten Bundesland von Österreich, eine flächendeckende Betreuung von Gewaltopfern gewährleistet. Zusätzlich bieten wir Unterstützung für Gewaltbetroffene in der Regionalstelle Amstetten, die sich in der Frauenberatung Mostviertel befindet, jeden Dienstag von 9 bis 12 Uhr. Weitere Beratungsangebote können Gewaltopfer anlassbezogen an folgenden Orten mit großer Regelmäßigkeit wahrnehmen: im Frauenhaus Mistelbach, in der Frauenberatungsstelle Lilith in Krems (meist einmal pro Woche) sowie in der BH Krems, in der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie (üblicherweise am Mittwoch nachmittags), in den Räumen des Psychosozialen Zentrums des Bezirkes Bruck an der Leitha und nach Vereinbarung in der Bezirkshauptmannschaft Tulln. Terminvereinbarungen für Unterstützung in der Regionalstelle Amstetten sowie anlassbezogene Beratung in den genannten Einrichtungen erfolgen über die Standorte St. Pölten, Wiener Neustadt und Zwettl. 10
St. Pölten Grenzgasse 11/4, 3100 St. Pölten Telefon 02742/319 66, Fax 02742/319 66-6 Mo, Di, Do, Fr von 9 – 17 Uhr; Mi 14 – 17 Uhr office.st.poelten@gewaltschutzzentrum-noe.at Wiener Neustadt Herrengasse 2a, 2700 Wiener Neustadt Telefon 02622/243 00, Fax 02622/24300-6 Mo, Do, Fr von 9 – 14 Uhr; Di 14 – 16 Uhr office.wr.neustadt@gewaltschutzzentrum-noe.at Zwettl Landstraße 42/1, 3910 Zwettl Telefon 02822/530 03, Fax 02822/53155 Mo, Do, Fr von 8 – 12 Uhr; Di 14 – 16 Uhr office.zwettl@gewaltschutzzentrum-noe.at Amstetten in der Frauenberatungsstelle Mostviertel Hauptplatz 21, 3300 Amstetten Telefon 02742/319 66 Di 9 – 12 Uhr und nach tel. Vereinbarung Krems Frauenberatungsstelle Lilith Telefon 02742/ 319 66 oder 02822/530 03 Nach tel. Vereinbarung Mistelbach Frauenhaus Mistelbach Telefon 02742/ 319 66 Bruck an der Leitha PSD – Psychosozialen Dienst Wiener Gasse 3/Stiege B/2.DG 2460 Bruck an der Leitha Telefon 02622/243 00 Selbstverständlich sind Terminvereinbarungen auch außerhalb der Öffnungszeiten des jeweiligen Standorts möglich. Anrufende werden außerhalb unserer Öffnungszeiten an die Frauenhelpline unter 0800 222 555 verwiesen. 11
3. 2019 im überblick Das Gewaltschutzzentrum Niederösterreich unterstützte im Auftrag der Fördergeber*innen, Bundesministerium für Inneres sowie Bundeskanzleramt, Sektion III – Frauenangelegenheiten und Gleichstellung 2.822 Opfer von häuslicher Gewalt und Stalking. Über 81% der Gewaltopfer waren weiblich, knapp 90% der gefährdenden Personen waren männlich. Im Jahr 2019 ordnete die Polizei in Niederösterreich 1.506 Betretungsverbote an und sprach 116 Mal erweiterte Schutzbereiche für Kinderbetreuungseinrichtungen oder Schulen aus. Den Mitarbeiterinnen des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich • gelang es in 92% mit der gefährdeten Person Kontakt aufzunehmen • führten mehr als 9.740 persönliche und telefonische Beratungsgespräche mit Klient*innen • unterstützten Klient*innen bei 463 Anträgen auf einstweilige Verfügungen • verfassten mehr als 3.780 Schriftstücke und Stellungnahmen an andere Institutionen • führten mehr als 5.700 Telefonate mit anderen Einrichtungen zum Schutz und zur Unterstützung der Klient*innen • unterstützten Gewaltopfer in 479 Straf- und Zivilverfahren • stießen die Mitarbeiterinnen, aufgrund der hohen Fallzahl und 14 Morde an Frauen an die Belastungsgrenze • unterstützten die Durchführung der Evaluation des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich • waren in MARAC-Bündnissen aktiv, um in multiinstitutionellen Fallbesprechungen den Schutz von Gewaltopfern in erhöhten Gefährdungssituationen zu verbessern • veranstalteten die Fachtagung 20-Jahre Gewaltschutzzentrum Niederösterreich 12
4. Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung a. „20 Jahre GSZ und noch kein bisschen leise“ Am 26. September 2019 feierte das Gewaltschutzzentrum Niederösterreich im Cityhotel D&C St. Pölten sein 20-jähriges Jubiläum. Mit zahlreichen Ehrengästen, Kooperationspartner*innen, Wegbegleiter*innen, Mit- arbeiterinnen und ehemaligen Mitarbeiterinnen wurde gefeiert, auf 20 Jahre zurückgeschaut und durch Gespräche und den fachlichen Austausch neue Wege in die Zukunft eingeschlagen. Bürgermeister Mag. Matthias Stadler, Bezirkspolizeikommandant Johann Neumüller, Landesrat Martin Eichtinger und Geschäftsführerin Michaela Egger bei der Jubiläumsfeier des Gewaltschutzzentrums.6 Ohne die engagierte Arbeit, und ohne die professionelle Haltung aller Mitarbeiterinnen des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich wäre das Gewaltschutzzentrum nicht möglich. Vielen Dank. 6 https://www.st-poelten.at/stp-konkret-at-archiv/9666-gewaltschutzzentrum-feiert-20-jaehriges-jubilaeum- 4843, Stand 12.03.2020. 13
Frau Mag.a (FH) Michaela Egger, MA Geschäftsführerin und Mag.a Barbara Prettner7 (Moderation) führten durch einen feierlichen Nachmittag im Stadtsaal des Cityhotels D&C St. Pölten und schafften einen Einblick in die Entwicklungen und das Fortbestehen des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich seit der Gründung im Jahr 1999. Nach den Eröffnungsworten von Michaela Egger, Landesrat Martin Eichtinger, in Vertretung der Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, Bürgermeister Matthias Stadler und dem Vertreter der Landespolizeidirektion Niederösterreich, Bezirkskommandant Oberstleutnant Johann Neumüller wurde auf die 20 Jahre des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich zurückgeblickt. 7 Vielen Dank für die jahrelange Vorstandstätigkeit im Gewaltschutzzentrum Niederosterreich und die Moderation bei unserer Veranstaltung. 14
Begrüßungsworte durch den Landesrat Martin Eichtinger in Vertretung von Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner Mit drei fachlichen und praxisnahen Beiträgen wurde der Nachmittag verfeinert: 15
Vortrag: „Männer, das gewalttätige Geschlecht? Wie Männergewalt entsteht und was wir dagegen tun können?“ – Ass.-Prof. Dr. Paul Scheibelhofer; Universität Innsbruck, Institut für Erziehungswissenschaft Vortrag: „Das dritte Gewaltschutzgesetz – zwei Schritte vor und einer zurück?“ – Ass.- Prof.in Mag.a Dr.in Katharina Beclin; Universität Wien, Institut für Strafrecht und Kriminologie Vortrag: Forschungsbericht: Evaluation Gewaltschutzzentrum Niederösterreich. Ein Projekt im Auftrag des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich - Maria Groinig, MA - Wissenschaftliche Mitarbeiterin; Alpen Adria Universität, Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung (IfEB), Arbeitsbereich Sozialpädagogik und Inklusionsforschung Der musikalische Beitrag: Mira Lu Kovacs8 Teilnehmer*innen an der Veranstaltung 8 https://de-de.facebook.com/miralukovacs/ Vielen Dank dir, Mira für deine Bereitschaft bei unserer 20 Jahr-Feier gegen häusliche Gewalt solo zu performen. 16
Mira Lu Kovacs Maria Imlinger, ehemalige Leiterin Frauenhaus St. Pölten, Marlies Leitner, ehemalige Geschäftsführerin GSZ Niederösterreich mit Vertretern der LPD Niederösterreich 17
b. Eine Zeitreise Im Gespräch, welches am 21.01.2020 zwischen Maria Reichartzeder9 (Sozialarbeiterin im Frauenhaus Amstetten) und Anna Sonnleitner, BA10 (Sozialarbeiterin im Gewaltschutzzentrum Niederösterreich) geführt wurde, wurde nochmals in die Vergangenheit geschaut. Es wurde in die Zeit vor 1999 geblickt. Maria Reichartzeder erzählte wie alles begonnen hat und der Grundstein des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich im Bezirk Amstetten gesetzt wurde. Nach Inkrafttreten des ersten Gewaltschutzgesetzes Mai 1997 kam es in Niederösterreich zur Projektvorbereitungsphase und zu Gesprächen darüber, welche Einrichtung die neue Aufgabe als Opferschutzeinrichtung erbringen könnte. Erste Bemühungen in Richtung einer damals bezeichneten Interventionsstelle sind vom Frauenhaus Amstetten vom 3. Mai 1998 zu verzeichnen. „Die Interventionsstelle Niederösterreich wurde Ende September 1999 in Betrieb genommen. Das Konzept der Niederösterreichischen Interventionsstelle wurde von den Frauenhäusern Amstetten, St. Pölten, Mistelbach, Wiener Neustadt, Neunkirchen und der Frauenberatungsstelle Zwettl erarbeitet. Es hat als Grundlage das Konzept der Wiener Interventionsstelle von Rosa Logar und Elfriede Fröschl (1996)“11. 9 Vielen Dank für die jahrelange Zusammenarbeit und dass du dir für die Reise in die Vergangenheit mit Anna Sonnleitner Zeit genommen hast. 10 Vielen Dank für deine engagierte Arbeit im Gewaltschutzzentrum Niederösterreich 11 Jahresbericht 2000/Seite 1 18
Als Ziel der Interventionsstelle wurde im Konzept für Niederösterreich bzw. Niederösterreich-West von Frau Reichartzeder 1998 angeführt: • „Opfer schützen, informieren, beraten, indem rechtl. und soziale Unterstützung und Information geboten werden. • Die Opfer schützen, indem rechtlich und soziale Maßnahmen gesetzt oder beantragt werden, die geeignet sind, den Misshandler vor weiteren Gewalttaten abzuhalten. • Die Opfer schützen, in dem die Arbeit der einzelnen, mit dem Fall befassten Institutionen koordiniert und aufeinander abgestimmt werden.“ Weitere Überlegungen in NÖ zu Interventionsstellen bezogen auf die Täter*innenarbeit und Gruppenarbeit flossen mit ein (drei Beispiele): • „[…] Ist der Beschuldigte in Haft, soll er auch dort von einer Mitarbeiterin der Interventionsstelle aufgesucht werden. […]“ • „Paargespräche mit dem Mann – nur auf Wunsch der Frau.“ • „Unterstützungsgruppen für Frauen. […]“ In diesem Konzept wurde bereits als Hauptbüro St. Pölten festgehalten. Außenstellen und mehrere Standorte schienen bereits von Beginn an, aufgrund des flächenmäßig großen Bundeslandes, unumgänglich. Nach allen Vorüberlegungen und Rücksprachen mit den Ministerien wurde folglich der Verein Gewaltschutzzentrum Niederösterreich 1999 gegründet und die Zentrale in St. Pölten eröffnet. Es folgte im selben Jahr die Gründung des Standortes Wiener Neustadt. Anfänglich benutzte DSAin Sabine Zehetner12 (Sozialarbeiterin im Frauenhaus Neunkirchen) die Räumlichkeiten des Frauenhaus Neunkirchen bis das erste Büro in Wiener Neustadt gefunden wurde. Laut dem ersten Tätigkeitsbericht des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich – damals Interventionsstelle Niederösterreich gegen Gewalt an Frauen und Kindern – wurden 407 Wegweisungen/Betretungsverbote an die sog. Interventionsstelle Niederösterreich übermittelt13. Im Jahr 2002 kam der Standort Zwettl hinzu. Im Jahr 2006 kam es zur Namensänderung in Gewaltschutzzentrum Niederösterreich. 2007 wurden weitere Regionalstellen in Amstetten, Bruck/Leitha, Waidhofen/Thaya und Wien ausgebaut. Das Konzept mit den Regionalstellen wurde im Laufe der Zeit neu organisiert. Die fixen Außenbüros wurden geschlossen, da durch Mitbenutzungsmöglichkeiten von Beratungsräumen der Kooperations- partner*innen in den Regionen Alternativen gefunden wurden. 14 12 Vielen Dank für die jahrelange Zusammenarbeit und dass du dir für die Reise in die Vergangenheit in der Vorbereitung der 20 Jahr-Feier Zeit genommen hast. 13 Jahresbericht 2000/Seite 19. 14 Vielen Dank für die jahrelange Zusammenarbeit und Kooperation. 19
Im Jahr 2007/2008 wurde durch den Vertrag mit dem Justizministerium der Aufgabenbereich durch die Prozessbegleitung erweitert. Das zweiten Gewaltschutzgesetz 2009 brachte ebenfalls Veränderungen in der Betreuung von Gewaltopfern mit sich. Die Wirkungsdauer des polizeilichen Betretungsverbot wurde von 10 auf 14 Tage und die Einstweilige Verfügung nach § 382b EO wurde von drei auf sechs Monate verlängert. Es wurde ein neuer Straftatbestand „Fortgesetzte Beeinträchtigung der körperlichen Integrität und der Freiheit“ geschaffen. D.h. es werden bei Gewalt in der Familie nicht nur Einzeltaten zur Beurteilung des Strafausmaßes herangezogen, sondern mehrere Taten, die z.B. in der Vergangenheit geschehen sind. Noch zu erwähnen ist, dass Opfer auch das Recht auf psychosoziale Prozessbegleitung im Zivilverfahren erhielten, sofern es ein anhängiges Strafverfahren mit Prozessbegleitung gibt. 2012 wirkte das Gewaltschutzzentrum bei der Gründung der Bundesarbeitsgemeinschaft opferschutzorientierter Täterarbeit mit und schloss 2014 mit dem Verein NeuStart und der Männerberatung (Caritas/Rat&Hilfe) eine Kooperationsvereinbarung.15Auch wenn das Gewaltschutzzentrum die Täter*innenarbeit, nicht wie im Grundkonzept zu den obig angeführten Überlegungen ausgestaltet und umgesetzt hat, wird eine enge Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen im Zuge der opferzentrierten Täterarbeit mit NeuStart und der Männerberatung Caritas/Rat&Hilfe geführt. Als Wunsch für die Zukunft für gewaltbetroffene Personen und zur Entwicklung des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich führt Frau Maria Reichchartzeder an: „Ich wünsche mir weniger Gewalt und, dass Betroffene von Gewalt und Opferschutzeinrichtungen Gehör finden. Ich wünsche mir, mehr öffentliches Auftreten des Gewaltschutzzentrums und dass jede Mitarbeiterin des Gewaltschutzzentrums ihren Beitrag zur Weiterentwicklung und Innovation leisten kann“. 15 Tätigkeitsbericht Gewaltschutzzentrum Niederösterreich 2017, gewaltschutzzentrum-noe.at. 20
c. Evaluation Gewaltschutzzentrum Niederösterreich Im Jahr 2012 erstellten die Gewaltschutzzentren Österreichs das Handbuch „Qualitätsrichtlinien der Gewaltschutzzentren Österreich“. Die Qualitätsrichtlinie stellt die qualitätspolitischen Grundlagenpositionen, die Qualitätsprinzipien, die Leistungen und die Qualitätskriterien der Gewaltschutzzentren Österreich dar. Die Gewaltschutzzentren sind laufend bestrebt, die bestehenden Angebote an die Klient*innenbedürfnisse anzupassen und die Qualität der Arbeit zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund wurde auf Initiative der Geschäftsführerin des Gewaltschutzzentrums Kärnten, Mag.a Roswitha Bucher und der teilnehmenden Gewaltschutzzentren Burgenland, Tirol und Niederösterreich eine Evaluationsstudie in Auftrag gegeben. Der Forschungsbericht für Niederösterreich wurde im Rahmen der „20 Jahr-Feier des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich“ durch Maria Groinig, MA einem breiten Publikum präsentiert. 21
Die Evaluierung von 4 Gewaltschutzzentren fand parallel in den Gewaltschutz- zentren Burgenland, Kärnten, Niederösterreich und Tirol statt. Im Zeitraum Februar 2018 - Mai 2019 wurde die qualitative Klient*innenbefragung durch offene Leitfadeninterviews durchgeführt. In allen teilnehmenden Gewaltschutzzentren ging es um die subjektiven Sichtweisen, Wahrnehmungen und Erfahrungen der Klient*innen im Hinblick auf die Arbeit und die Angebote der Gewaltschutzzentren. Jede/r zehnte Klient*in aus dem Verwaltungsprogramm wurde kontaktiert. Voraussetzung war, dass es keine aktuelle Betreuung gab, sondern der letzte Kontakt musste ein halbes Jahr zurückgelegen sein. Es wurde versucht eine große Streuung nach Geschlecht, Alter, erlebter Gewaltform, Selbstmelder*innen, proaktive Kontaktaufnahme, Migrationserfahrung, Region zu erfassen. Die Datenauswertung erfolgte nach der grounded theory16, unterstützt durch Datenanalyseprogramm MAXQDA17. Neben der Geschäftsführerin und dem gesamten Team waren vor allem drei Kolleginnen für die Evaluationsstudie verantwortlich. Ein besonderer Dank für diese großartige Zusammenarbeit gilt hier Mag.a Romana Reisenthaler (Mitarbeiterin Standort St. Pölten), Karin Melton (ehemalige Mitarbeiterin Standort Wiener Neustadt) und Mag.a Julia Schlesinger (ehemalige Mitarbeiterin Standort St. Pölten). Sie koordinierten die gesamte Logistik der Befragung und unterstützten Maria Groinig, MA in den beiden Interviewwochen. 16 Die Grounded Theory hat das Ziel, mittels Analyse von Interviews, Beobachtungen und anderen empirischen Daten eine neue Theorie zu formulieren. Dabei wechseln sich Datensammlung und Auswertung so lange gegenseitig ab, bis neue Auswertungen keine neuen Kenntnisse mehr erbringen. So entsteht ein theoretisches Modell, das das Forschungsthema vollständig erfasst. Begründet von Anselm Strauss und Barney Glaser. https://www.scribbr.de/methodik/grounded-theory/10.02.2020. 17 https://www.maxqda.de/ist-computergestuetzte-datenanalyse. 22
„Die Sichtweisen und die Wahrnehmungen der Klient*innen, die als Expert*innen ihrer Lebenswelt gesehen werden, stehen somit im Zentrum der Studie, während die Fragestellungen auf die Arbeit im Gewaltschutzzentrum und die Erfahrungen mit der Beratung fokussieren. Die forschungsleitenden Fragestellungen beziehen sich dabei auf drei Themenkomplexe: (1) Wahrnehmung der Kontaktaufnahme, des Erstkontaktes und des Erstbesuches: • Wie werden die Klient*innen auf das Gewaltschutzzentrum aufmerksam? • Wie wird die proaktive Kontaktaufnahme erlebt? • Welche Hürden gibt es für die Klient*innen im Hinblick auf die Kontaktaufnahme? • Welche Erwartungen haben die Klient*innen an die Angebote des Gewaltschutzzentrums? • Was war während der Kontaktaufnahme und dem Erstbesuch hilfreich, hinderlich oder störend? (2) Wahrnehmung der Beratung: • Welche Erinnerungen haben die Klient*innen an die Beratungsgespräche? • Wie beschreiben die Klient*innen den Kontakt zu den Beraterinnen? • Werden die Bedürfnisse der Klient*innen in der Beratung ausreichend berücksichtigt? • Haben die Klient*innen das Gefühl während der Beratung über belastende Themen sprechen zu können? • Welche Informationen oder Unterstützungsleistungen waren besonders hilfreich, hinderlich oder störend? • Gibt es Wünsche im Hinblick auf weitere Informationen oder Unterstützungsleistungen? • Wie wird die psychosoziale Prozessbegleitung erlebt? (3) Veränderungen durch die Beratung: • Gab es Veränderungen im Alltag durch die Beratung und Unterstützung des Gewaltschutzzentrums? • Gab es Veränderungen im Hinblick auf die Gewaltsituation? • Wie werden Schutz und Sicherheit von den Klient*innen wahrgenommen? • Gibt es Verbesserungsvorschläge für die Arbeit des Gewaltschutzzentrums? • Wie wird die öffentliche Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit des Gewaltschutzzentrums von den Klient*innen eingeschätzt? 23
Übergeordnetes Ziel der Analyse ist es, hilfreiche und hinderliche Aspekte im Hinblick auf die Angebote des GSZ zu ermitteln und etwaige Verbesserungsvorschläge abzuleiten.“18 • Wahrnehmung der Kontaktaufnahme, des Erstkontaktes und des Erstbesuches: Ein zentrales Element der Arbeit aller Mitarbeiterinnen des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich sowie aller Mitarbeiter*innen der Gewaltschutzzentren Österreichs und der Interventionsstelle Wien gegen Gewalt in der Familie ist die pro-aktive Kontaktaufnahme. Dieses Qualitätsmerkmal und die Aufklärung beim Erstkontakt über die Arbeitsweise und das Beratungsangebot vermittelt den Klient*innen Sicherheit und vermindert Ängste und Widerstände. Klient*innen wissen zumeist im Vorfeld weder über die Existenz noch über die Unterstützungsangebote des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich Bescheid. In den Interviews beschreiben Gewaltopfer ihre Situation als belastende Ausnahme- und Extremsituation, da die Alltagsroutine mit der Gewaltgeschichte zu bewältigen ist, und dies mitunter zur emotionalen und alltagspraktischen Überforderung führt. Die Gewalterfahrungen haben Auswirkungen auf die Lebensqualität und Leistungsfähigkeit von Menschen. Sie verursachen Krankheit, Arbeitsunfähigkeit und haben somit eine gesamtgesellschaftliche Auswirkung. „Weil es war einfach so, dass ich Tag und Nacht überwacht worden bin und alles (.). Ich hätte mich weder an irgendwen wenden können oder sonst irgendwas, ja. Und ich bin es auch gar nicht gewohnt, dass ich sage, ich kann aus diesem Käfig großartig heraus, weil das ist eine so eingeprägte Sache über die Jahre und alles (.), du (.), man hat die Kraft einfach nicht mehr (.), und man hat auch gar nicht mehr die Sichtweisen so (.). Man sitzt einfach im Gefängnis und sagt: ‘Ok. das ist jetzt so.‘“ (11_Elsa: 123f)19 In diesen Ausnahme- und Extremsituationen entwickeln Klient*innen mit Gewalterfahrungen eine Tendenz sich zurückziehen und sich nicht aktiv um Hilfe und Unterstützung zu bemühen. „Naja es ist halt (.), in der Situation ist es so, man ist emotional überfordert mit allem drum und dran, und da ist es schon ganz gut, wenn sich da wer meldet und mit dir gleich einen Termin ausmacht für verschiedene Sachen wie Wegweisung und dass das aufrecht erhalten bleibt und das ist (.), also ich wäre nicht in der Lage gewesen, dass ich irgendwas von diesen Dingen erledigen hätte können, und das war für mich sehr angenehm, dass da wer gekommen ist und mir unter die Arme gegriffen hat. (11_Elsa: 13f)20 18 Evaluation Gewaltschutzzentrum Niederösterreich, Forschungsbericht 2018/19, Seite 14-15. 19 Evaluation Gewaltschutzzentrum Niederösterreich, Forschungsbericht 2018/19, Seite 23. 20 Evaluation Gewaltschutzzentrum Niederösterreich, Forschungsbericht 2018/19, Seite 28. 24
• Wahrnehmung der Beratung: Des Weiteren beschreiben die Gewaltopfer, dass die Beratung im Gewaltschutzzentrum dazu beiträgt Klarheit über die je individuelle Situation zu gewinnen. Der akute Stress wird dadurch vermindert, was in weiterer Folge zu einer ersten Entlastung führt. Klient*innen erlangen ihre Handlungsfähigkeit und ihre Selbstsicherheit wieder und sind so wieder Entscheidungsfähig. „Also sehr positiv (.), also wie gesagt sehr schnell einen Termin (.), was in so einer Situation sehr positiv ist, weil man ja unter Stress steht (.). Es bringt einem Erleichterung das Erstgespräch (.). Man hat das Gefühl, da hilft mir jemand (.). Ich stehe nicht alleine auf dieser Welt gegen den Täter (.) und das war schon erleichternd (.). Ja und man hat auch das Gefühl, es packt auch jemand mit an, der sich auskennt, mit den rechtlichen Sachen, und da ist man als Laie verloren.“ (07_Jenske: 45f)21 Eine positive Anmerkung der Studienteilnehmer*innen war die Tatsache, dass die Beraterinnen, erleichternd, verständnisvoll, dem Tempo der Klient*in angepasst und zielorientiert agieren. „Es war einfach nur hilfreich, weil ich eben das Gefühl gehabt habe, es wird mir etwas abgenommen, weil ich habe mir gedacht um Gottes Willen, was da jetzt alles auf mich zukommt und wie schafft man das, was macht man da überhaupt, ja und das war natürlich schon also diese große Hilfe.“ (01_Helga: 152f)22 Qualitätsmerkmale, wie z.B. Empathie, Aspekte des Redens, Präsenz, die Fähigkeit des Zuhörens, jedoch nicht mitleidig, verurteilend oder bewertend handeln, das fachliche Wissen sind Auswahlkriterien in der Personalauswahl. Die Haltung und Arbeitsweise der Beraterinnen in den Beratungsgesprächen wurden als durchwegs positiv rückgemeldet. „Also die positivste Erfahrung war, dass ich so behandelt worden bin, wie ich bin, und dass nicht das Ganze halt nicht auf gepusht worden ist (.) … Also ich kann das halt ganz schlecht beschreiben, aber natürlich die Herzlichkeit und das Zuhören war für mich ganz wichtig, dass ich ernst genommen worden bin und dass im Hintergrund, weil ich kann in Menschen schon ein bisschen reinschauen und ich sehe, ob mich jetzt einer innerlich auslacht oder sagt oder sich denkt, du hast es eh verdient, du schaust eh so aus, als ob du es verdient hättest.“ (22_Herta: 197f)23 21 Evaluation Gewaltschutzzentrum Niederösterreich, Forschungsbericht 2018/19, Seite 26. 22 Evaluation Gewaltschutzzentrum Niederösterreich, Forschungsbericht 2018/19, Seite 54. 23 Evaluation Gewaltschutzzentrum Niederösterreich, Forschungsbericht 2018/19, Seite 47. 25
• Veränderungen durch die Beratung: Das Gewaltschutzzentrum versteht sich als Opferschutzeinrichtung und als tertiäre Präventionsmaßnahme in Hinblick auf häusliche Gewalt. Die Zielgruppe sind Personen die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass durch die Intervention der Mitarbeiterinnen ein Veränderungsprozess, z.B. in der Wahrnehmung von Gewalt bei betroffenen angeregt wird. „(.) ich habe einige Dinge (.), einige Dinge habe ich gar nicht als Gewalt wahrgenommen, wo ich gesagt habe, o.k., es ist halt so, das nimmst du halt so (.), aber es ist Gewalt, wenn dich einer permanent zu irgendwas (.) unterdrückt oder irgendwas verbietet oder sonst irgendwas. Das ist Gewalt, weil man hat kein freies Leben, wenn man fragen muss, ob man zu einer Freundin gehen darf (.), oder wenn ständig das Telefon von dir kontrolliert wird, ob irgendwer angerufen hätte, oder sonst irgendwas (.). Ob du ein Verhältnis hast oder sonst irgendwas, ich meine das ist (.), wenn deine Handtaschen durchsucht wird (.). […] Man nimmt es anders wahr, ja man nimmt mehr wahr (.), weil ich war schon so [unv.], dass ich nur mehr die ganz schlimmen Sachen als Gewalt wahrgenommen habe (.), es war für mich (.), die Alltagssachen waren für mich keine Gewalt mehr, das war natürlich,(.)“ (11_Elsa: 343f)24 Ein wichtiger Aspekt liegt darin, dass durch die Unterstützung durch das Gewaltschutzzentrums von Gewalt betroffene Personen bestärkt werden aktive Handlungen zu setzen, die dazu beitragen, z.B. aus Gewaltdynamiken aussteigen zu können. Des Weiteren wird der Polizeischutz von manchen Studienteilnehmer*innen als zentrale Maßnahme thematisiert, die Schutz- und Sicherheitsgefühle vermittelt. „Man wird selbstbewusster und man weiß, man muss sich nicht verstecken, weil das passiert ist (.), man muss es auch nicht jedem an die Nase binden (.),aber man weiß, man ist nicht alleine damit.“ (28_Nicole: 481f)25 Das Gewaltschutzzentrum trägt ebenso dazu bei, dass Klient*innen die soziale Isolation verlassen und im Zuge dessen das Schweigen ein Ende findet. Das Wissen, dass jemand über die Situation Bescheid weiß, hat einen zentralen Stellenwert. Durch das Verlassen von Ohnmacht und Hilflosigkeit werden Klient*innen wieder handlungsfähig. 24 Evaluation Gewaltschutzzentrum Niederösterreich, Forschungsbericht 2018/19, Seite 57. 25 Evaluation Gewaltschutzzentrum Niederösterreich, Forschungsbericht 2018/19, Seite 59. 26
„Das Leben an und für sich (.), dieses sich nicht mehr verstecken zu müssen (.), nicht mehr wie soll ich sagen. Man lebt auch jetzt wieder zu Hause (.), das ist das (.), wir haben ziemlich viel umstrukturiert daheim, … weil wir jetzt ja unser Leben leben und nicht an ihm ausgerichtet, in dem Sinn und freier nicht mehr in dieser Angst.“ (28_Nicole: 463f) In der Gesamtbetrachtung macht die Erhebung sichtbar, dass die Arbeit des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich von den Klient*innen überwiegend positiv und als äußerst notwendig eingeschätzt wird, was uns als Mitarbeiterinnen in der Arbeit mit Klient*innen motiviert und vorantreibt für die Durchsetzung ihrer Rechte einzutreten. 20 Jahre Gewaltschutzzentrum Niederösterreich und noch kein bisschen leise wird auch in Zukunft der Antrieb unserer Arbeit sein. Es gibt, schaut man sich die Verbesserungsvorschläge der Klient*innen an, noch viel zu tun. Alles werden wir nicht umsetzen können, aber wir werden nicht müde werden daran zu arbeiten - nicht leise sein, um die Perspektiven der Gewaltopfer sichtbar zu machen - nicht leise sein, um Häusliche Gewalt und die damit verbundenen Folgen und Auswirkungen zu enttabuisieren und das Thema gesellschaftsweit zu positionieren. 27
d. Neue Wege der institutionellen Zusammenarbeit Zu Beginn des Jahres 2019 wurden in Österreich 18 Frauen getötet. Gesamt hat Österreich 2019 als ernüchternde Gesamtbilanz 34 Frauenmorde zu verzeichnen. Polizeiliche Kriminalstatistik zu Frauenmorden (2014-2019)26: Jahr 2014 2015 2016 2017 2018 2019 Weibliche 19 17 28 36 41 34 Mordopfer In Niederösterreich starben fünf Frauen innerhalb eines Monats durch den Ehemann oder Ex-Lebensgefährten. Die Anzahl erhöhte sich im Laufe des Jahres in Niederösterreich auf 14 Frauenmorde. Diese unfassbare Zahl wird vom Jahr 2019 in Erinnerung bleiben und brachte die Mitarbeiterinnen des Gewaltschutzzentrums, aber auch Mitarbeiter*innen aus den Frauenhäusern und Frauenberatungsstellen, der Polizei, Justiz (Staatsanwaltschaft, Bezirks- und Landesgericht), Kinder- und Jugendhilfe, Bewährungshilfe um nur einige Stakeholder in der Arbeit mit häuslicher Gewalt aufzuzählen an die Belastungsgrenze. Die Mordfälle haben die Schlagzeilen der Medien beherrscht. Österreich hat 2013 die Istanbul-Konvention27 ratifiziert. Das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt gilt als das derzeit wichtigste Rechtsinstrument gegen Gewalt an Frauen28 in Europa. Durch das Übereinkommen wurden verbindliche Rechtsnormen gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt geschaffen. Unter anderem setzt die Konvention auf verbindliche Standards für die Verhinderung von häuslicher Gewalt an Frauen und den Schutz von Opfern. Das Übereinkommen legt „die Rechte des Opfers in den Mittelpunkt aller Maßnahmen“ (Art 7). Die Istanbul- Konvention sieht z.B. die institutionelle Zusammenarbeit bei der Analyse der Gefahren zum Schutz von Betroffenen als zentrale Maßnahme vor. Schon im Laufe des Inkrafttretens des Gewaltschutzgesetzes war die Kooperation zwischen den beteiligten Institutionen ein unverzichtbares Element für eine institutionelle Zusammenarbeit. 26 Bericht des Bundesministeriums für Inneres: Im Jahr 2019 wurden 34 Frauen, häufig von ihren (Ex-)Partnern oder Familienmitgliedern ermordet. Quelle: https://www.aoef.at/index.php/zahlen-und-daten. 27 Quelle: https://www.coe.int. 28 Der Begriff Frauen in der Konvention umfasst auch Mädchen 28
Seit Bestehen des Gewaltschutzzentrums wird diese Kooperation kontinuierlich gepflegt und weiter ausgebaut. Durch das Gewaltschutzzentrum wurden zwei Fallbesprechungen in St. Pölten als auch in Wiener Neustadt organisiert und abgehalten. Auf einer gegenseitig wertschätzenden Ebene wurde über eine Optimierung von Abläufen und strukturelle Gegebenheiten diskutiert. Auch das Land Niederösterreich lud am 22. Jänner 2019, auf Initiative der beiden Landesrätinnen, Christiane Teschl-Hofmeister und Ulrike Königsberger-Ludwig zu einem „Runder Tisch gegen Gewalt“ ein. Ziel dieser Expert*innen-Runden war und ist es, Strategien zur Verbesserung und Stärkung von Präventionsmaßnahmen zu arbeiten. Die „Runden Tische“ wurden im Laufe des Jahres durch Expert*innen aus dem Bildungswesen, Schulsozialarbeit, Männerberatung, Kinder- und Jugendhilfe erweitert und fanden im Sommer und Herbst 2019 statt. In Zukunft sollen die Bereiche Gesundheit, Bildung und Kinder- und Jugendarbeit in das gemeinsame und vernetzte Vorgehen gegen Gewalt an Frauen miteinbezogen werden. Quelle: http://www.stadtlandzeitung.com Nathalie Hörndler - 23. Januar 2019 Zudem wurde durch die zuständige Landesrätin auf politischer Ebene dahingehend interveniert, dass die Aufnahme von hoch gefährdeten Frauen auch Bundeslandübergreifend, durch Sicherstellung der Finanzierung möglich wird. 29
Ein Ergebnis dieser „Runden Tische“ ist der Folder „Du hast ein Recht auf ein … Gewaltfreies Leben“. Dieser wurde für die jeweiligen Viertel Niederösterreichs individuell gestaltet und großflächig aufgelegt. Die Informationsfolder liegen an Orten auf, die im Alltagsgeschehen von Frauen oft frequentiert werden, wie in Filialen von Supermärkten, aber auch in öffentlichen Einrichtungen wie Gemeinden, Kliniken und Arztpraxen. Auf der Homepage der Niederösterreichischen Landesregierung: http://www.noe.gv.at/noe/Frauen/Gewaltschutz.html können die Folder je nach Region auch als PDF heruntergeladen werden. Das Ziel der „Runden Tische“ ist es, alle Berufsgruppen die mit den Themen „Häusliche Gewalt“ und Gewalt an Frauen zu tun haben, an einen Tisch zu holen. Um Lücken in der Bekämpfung von häuslicher Gewalt aufzuzeigen und mit einem gemeinsamen vernetzten Vorgehen diese Lücken zu schließen. 30
e. 16 Tage gegen Gewalt Seit 1999 ist der 25. November auch von den Vereinten Nationen als offizieller internationaler Gedenktag anerkannt. Der Gedenktag geht auf die Ermordung der drei Schwestern Mirabal zurück, die am 25. November 1960 in der Dominikanischen Republik vom militärischen Geheimdienst nach monatelanger Folter getötet wurden. Weltweit finden im Kampagnenzeitraum zwischen dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen und dem Internationalen Tag für Menschenrechte Aktionen gegen Gewalt an Frauen und Mädchen statt. Seit vielen Jahren nehmen Kolleginnen des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich in vielen Regionen an Aktionen im Rahmen der „16 Tage gegen Gewalt“ teil. In Wiener Neustadt wurden mit dem traditionellen Fahne hissen „frei leben, ohne Gewalt“ die 16. Tage gegen Gewalt eingeleitet. Fotocredit "Stadt Wiener Neustadt/Pürer 31
Am 9. Dezember 2019 fand ein Gespräch anlässlich der Kampagne „16 Tage ohne Gewalt an Frauen“ im Gewaltschutzzentrum Niederösterreich mit den Niederösterreichischen Landesrätinnen Petra Bohuslav und Christine Teschl- Hofmeister sowie der Bezirkspolizeikommandantin Sonja Fiegl statt. An diesem Tag wurde der 14. Frauenmord in Niederösterreich bekannt. Landesrätin Petra Bohuslav betonte: „Wir dürfen nicht müde werden Zeichen gegen Gewalt an Frauen zu setzen, jede Frau hat ein Recht auf gewaltfreies Leben.“ Michaela Egger, Petra Bohuslav, Christiane Teschl-Hofmeister und Sonja Fiegl im Gespräch. Wir Niederösterreicherinnen29 Wie schon bei den drei „Runden Tischen gegen Gewalt“ wurde auch bei der Pressekonferenz im Gewaltschutzzentrum Niederösterreich betont, wie wichtig die Präventionsarbeit im Bildungsbereich ist und wie sehr ein guter Opferschutz auch nur funktionieren kann, wenn mit den Tätern gearbeitet wird. Seit 2015 besteht eine Kooperationsvereinbarung im Interesse des Opferschutzes zwischen dem Gewaltschutzzentrum Niederösterreich, der Männerberatung Caritas „Rat und Hilfe“ und NeuSTART. Vorgesehen ist, dass das Gewaltschutzzentrum Niederösterreich und die Bewährungshilfe, bzw. die Männerberatung Informationen zu Gefährlichkeitsfaktoren und zu gefährlichen Situationen austauschen und Sicherheitsmaßnahmen erarbeiten. 29 NÖN Artikel, Sophie Seeböck. Erstellt am 9. Dezember 2019. 32
Beide Einrichtungen bieten opferschutzorientierte Täterarbeit, nach den Standards der BAG-OTA30 was bedeutet, dass ein fallspezifischer Informationsaustausch zwischen Täterarbeit und Opferschutz gewährleistet ist. NeuSTART ist in ganz Niederösterreich tätig. Die Caritas- Männerberatung ist derzeit nur in St. Pölten und an neun weiteren Standorten (Amstetten, Gmünd, Horn, Krems, Scheibbs, Tulln, Waidhofen/Ybbs, Waidhofen/Thaya, Zwettl) vertreten. Weitere Aktionen an denen Mitarbeiterinnen des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich beteiligt waren tragen einen wichtigen Beitrag dazu bei, dass über das Thema Gewalt an Frauen und Mädchen gesprochen wird. Die Enttabuisierung und die Präventionsarbeit ist ein wichtiger Beitrag häuslicher Gewalt entgegenzutreten. Teilnehmerinnen am Hauptplatz Amstetten Am Hauptplatz in Amstetten wurde im Rahmen der 16. Tage gegen Gewalt parteiübergreifend und mit Vertreterinnen von NGOs eine Kundgebung: „Stimmen gegen Gewalt an Frauen“ veranstaltet. Gewalt ist immer eine Verletzung der persönlichen Grenzen, dagegen müssen wir geschlossen und konsequent auftreten und sichtbare Zeichen in der Gesellschaft setzen. 30 Bundesarbeitsgemeinschaft opferschutzorientierte Täterarbeit, gegründet 2012. 33
Die UN-Kampagne „Orange The World“ findet ebenfalls in den 16. Tagen gegen Gewalt statt. Weltweit erstrahlen Gebäude in oranger Farbe, um gemeinsam ein sichtbares Zeichen gegen Gewalt an Frauen zu setzen. Gewalt an Frauen sichtbar machen ist ein wichtiger öffentlicher Beitrag. Am 25. November stand die Evangelische Kirche in Gmünd ganz im Zeichen der Farbe Orange. Der Soroptimist-Club Waldviertel31 organisierte die Veranstaltung in der Evangelischen Kirche mit einem Vortrag von Elisabeth Eckhart32. Danach fand eine Podiumsdiskussion, mit dem Bezirkspolizeikommandant Wilfried Brocks, Sylvia Zwettler vom Gewaltschutzzentrum Niederösterreich, Standort Zwettl, der Spitalsärztin Julia Dlask, Nicole Mayerhofer, Mitarbeiterin der Frauenberatungsstelle, Bereich Frauennotwohnung sowie Christian Scheidl Männerberatung (Caritas/Rat&Hilfe) statt. In Österreich beteiligten sich 2019 rund 130 Gebäude, darunter erstmals auch 60 Krankenhäuser an der Aktion „Orange The World“.33 31 https://waldviertel-schrems.soroptimist.at/ 32 https://www.fbwv.at/ 33 https://www.unwomen.at/unserearbeit/kampagnen/orange-the-world/orange-the-world-2019/, Stand 12.05.2020. 34
5. Herausforderungen a. Das „dritte Gewaltschutzgesetz 201934“ Dem im vorliegenden Beitrag behandelten „dritten Gewaltschutzgesetz 2019“35 gehen zwei Gewaltschutzgesetze voraus. Das sogenannte „erste Gewaltschutzgesetz aus dem Jahr 1996“ 36 in Kraft getreten 1997, ist kein einheitliches Gesetzeswerk, vielmehr ist es eine Sammlung von einzelnen Bestimmungen in den diversen Gesetzen. Die zentralen Bestimmungen sind diejenigen im Sicherheitspolizeigesetz betreffend dem ursprünglich erlassenen „Rückkehrverbot“ (jetzt bekannt als „Wegweisung“) und dem dazu geregelten Antragsrecht auf die Erlassung einer einstweiligen Verfügung in der Exekutionsordnung. Ein zentraler Bestandteil war die gesetzliche Etablierung zur Schaffung von Interventionsstellen (so auch das jetzige Gewaltschutzzentrum Niederösterreich). Dem ersten Gewaltschutzgesetz gehen die Reformbestrebungen der Frauenhausbewegung voran. Das Tabuthema „häusliche Gewalt“ wurde durch die 37 vorangegangene autonome Frauenbewegung öffentlich diskutiert. Die Auswirkungen der häuslichen Gewalt gegen Frauen wurden kritisiert und Zufluchtsorte für betroffene Frauen wurden gefordert. In Österreich entstand das erste Frauenhaus in Wien im Jahre 1978.38 Im April 2009 wurde das „zweite Gewaltschutzgesetz 2009“39 erlassen. Es brachte insbesondere eine Ausweitung des polizeilichen Betretungsverbotes auf vier Wochen, Ausweitung der einstweiligen Verfügung nach § 382b EO auf sechs Monate, Ausweitung der einstweiligen Verfügung nach § 382e EO auf ein Jahr, einen verbesserten Schutz bei Stalking nach § 382g EO mit sich. Eine gesetzliche Grundlage findet die psychosoziale Prozessbegleitung und die abgesonderte Vernehmung nach § 73b ZPO und zudem die Geheimhaltung nach § 75a ZPO. Eingang in die österreichische Rechtsordnung bekommt der § 2 Z 10 und § 6a VOG, womit ein Anspruch auf Schmerzensgeld – als Pauschalbetrag – für eine schwere Körperverletzung gesetzlich verankert wird.40 Allen drei – bis dato von 1996 bis 2019 erlassenen – Gewaltschutzgesetzen liegt das gemeinsame Ziel: Schutz vor Gewalt im sozialen Nahraum zu Grunde. 34 BGBl I 2019/105. 35 Verfasst wurde der vorliegende Beitrag zum „dritten Gewaltschutzgesetz“ von der stellvertretenden Geschäftsführerin des Gewaltschutzzentrum Niederösterreich Mag.a Hanna Salicites. Vielen Dank 36 BGBl 1996/759 iZm BGBl 1996/759. 37 Siehe zur Frauenhausbewegung in Niederösterreich und deren umfassenden Beitrag zur Frauenhausbewegung eingehend „Punkt 4. b. Zeitreise“ im gegenständlichen Tätigkeitsbericht. 38 Eingehend dazu siehe Schwarz-Schlöglmann, in Deixler-Hübner/Fucik/Mayrhofer (Hrsg), Gewaltschutz und familiäre Krisen (2018), Einleitung, Rz2 ff; 39 BGBl I 2009/40. 40 Schwarz-Schlöglmann, in Deixler-Hübner/Fucik/Mayrhofer (Hrsg), Gewaltschutz und familiäre Krisen (2018), Einleitung, Rz 6 ff; Dearing, Das (Erste) Gewaltschutzgesetz – Rückblick und Bewertung, in Mayrhofer/Schwarz- Schlöglmann, Gewaltschutz (2017), 1 (1 ff). 35
Der Nationalrat fasste im September 2019 den Beschluss über das dritte Gewaltschutzgesetz. Eine Arbeitsgruppe, die sog. Task Force41 – bestehend ua. auch aus Expert*innen des Bundesverbands der Gewaltschutzzentren und Interventionsstelle Österreichs – erörterte im Vorfeld die Gesetzesentwürfe zum Gewaltschutzgesetz 2019.42 Das Betretungsverbot nach § 38a SPG43 fand eine Erweiterung durch das neu eingeführte „Annäherungsverbot“. Damit verbunden sind Änderungen im zivilrechtlichen Bereich bei Anträgen auf eine einstweilige Verfügungen nach den §§ 382b - g EO und Anträgen nach den §§ 382b in Kombination mit § 382e EO. Nunmehr steht es etwa der von der Gewalt betroffenen Person frei, zusätzlich ein Annäherungsverbot nach §§ 382e Abs. 1 Z. 3 oder 382g Abs. 1 Z. 8 EO zu beantragen, welches im jeweiligen Antrag seine inhaltliche Spezifizierung findet. Allein im flächenmäßig größten Bundesland Österreichs – Niederösterreich – belief sich die Gesamtzahl der durch das Gewaltschutzzentrum Niederösterreich beratenen Personen im Jahr 2019 auf 2.983 Personen (1.506 ausgesprochene Betretungsverbote und 116 erweitere Schutzbereiche für Kinderbetreuungs- einrichtungen und Schulen). Insgesamt wurden 60 Stellungnahmen zum „Dritten Gewaltschutzgesetz 2019“ iR des parlamentarischen Verfahrens eingebracht.44 Beclin45 führte als Kritik an, dass es keinen wissenschaftlich belegten Konnex zwischen der Erhöhung von Strafdrohungen und der Entfaltung einer abschreckenden Wirkung gebe. Vielmehr würden Opfer von Gewalt aufgrund einer höheren Strafdrohung von einer Anzeige absehen. Dies hänge mit der emotionalen oder finanziellen Abhängigkeit zum Täter zusammen. In der Stellungnahme der Gewaltschutzzentren Österreichs und Interventionsstelle für Betroffene des Frauenhandels46 wird die Schaffung eines Straftatbestandes des „fortgesetzten psychischen Gewaltausübung“ gefordert, damit eine jahrelange seelische Gewaltausübung – im familiären Kontext – bestraft werden könnte. Begrüßt wird in der eben genannten Stellungnahme47 die wesentliche Verbesserung des Opferschutzes mit der Novellierung des § 382b Abs. 2 Satz 2 EO. Das Gericht kann „zusätzlich die Dauer mit dem rechtskräftigen Abschluss des anhängigen oder eines binnen der angeordneten Dauer einzuleitenden Verfahrens in der Hauptsache festsetzen.“ 41 Zum Bericht der Taskforce umfassend https://www.bmi.gv.at/Downloads/files/Task_Force_Strafrecht_- _Bericht_Kommission_Opferschutz_und_Taeterarbeit.pdf (Stand 20.4.2020). 42 Mayrhofer, Das neue Annäherungsverbot: Änderungen im Sicherheitspolizeigesetz aus Sicht einer Opferschutzeinrichtung, iFamZ 2019, 372ff mwN. Die genannte Autorin Mag.a Mariella Mayrhofer, MA war als Juristin und psychosoziale Beraterin des Gewaltschutzzentrums Oberösterreichs eine Vertreterin der Task Force. 43 Aufgrund der Lesbarkeit wird auf die Anführung der jeweiligen Bundesgesetzblätter verzichtet und generell auf die Homepage ris.bka.gv.at (Stand 20.4.2020) verwiesen. 44 Siehe hier ausführlich alle Stellungnahmen: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/ME/ME_00158/index.shtml#tab-Stellungnahmen (Stand 12.5.2020). 45 https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/SNME/SNME_05059/imfname_758390.pdf (Stand 12.5.2020). 46 https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/SNME/SNME_04980/imfname_758053.pdf (Stand 12.5.2020). 47 https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/SNME/SNME_04980/imfname_758053.pdf (Stand 12.5.2020). 36
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