WEGE AUS DER KÄLTE Erfahrungen Schwarzer Deutscher, damals und heute Von Marion Kraft - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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WEGE AUS DER KÄLTE Erfahrungen Schwarzer Deutscher, damals und heute Von Marion Kraft - Rosa-Luxemburg-Stiftung
WEGE AUS DER KÄLTE
                  Erfahrungen Schwarzer Deutscher, damals und heute
ROSA
LUXEMBURG
STIFTUNG
NEW YORK OFFICE   Von Marion Kraft
Inhaltsverzeichnis

    Eine lange Geschichte des Rassismus. Von den Herausgebern...................................................1

    Wege aus der Kälte
    Erfahrungen Schwarzer Deutscher, damals und heute..........................................................2

    Von Marion Kraft

        Das Verschweigen der Geschichte..............................................................................................3

        Schwarze Kinder im Nachkriegsdeutschland............................................................................4

        Blinde Flecken im Bildungssystem.............................................................................................8

        Die Entstehung einer Bewegung...............................................................................................10

        Der Kampf gegen das N-Wort....................................................................................................11

        Racial Profiling und Gewalt.......................................................................................................12

        Transkulturelle Identitäten und Bündnisse............................................................................13

Veröffentlicht von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Büro New York, Juli 2014

Herausgeber: Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg
Adresse: 275 Madison Avenue, Suite 2114, New York, NY 10016
E-Mail: info@rosalux-nyc.org; Telefon: +1 (917) 409-1040

Gefördert mit Mitteln des Auswärtigen Amts

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine international tätige, progressive Non-Profit-Organisation für
politische Bildung. In Zusammenarbeit mit vielen Organisationen rund um den Globus arbeitet sie für
demokratische und soziale Partizipation, die Ermächtigung von benachteiligten Gruppen, Alternativen
zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und für friedliche Konfliktlösungen.

Das New Yorker Büro erfüllt zwei Hauptaufgaben: sich mit Themen der Vereinten Nationen zu befassen
und mit nordamerikanischen Linken in Hochschulen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der
Politik zusammenzuarbeiten.

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Eine lange Geschichte des Rassismus

Seit Jahrhunderten leben Schwarze Menschen in Europa, doch ihre Erfahrungen folgten unterschied-
lichen Entwicklungspfaden. Während Einwanderung aus den ehemaligen Kolonien die Gesellschaf-
ten Frankreichs, Großbritanniens und der Niederlande grundlegend verändert hat, gestaltet sich
die Situation in Deutschland anders. Denn da Deutschland seine Kolonien schon nach dem Ersten
Weltkrieg abtreten musste, gab es später auch keine Masseneinwanderung. Im Ergebnis machen
Schwarze heute weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes aus.

Der geringe Anteil Schwarzer Menschen in Deutschland bedeutet allerdings nicht, dass es weniger
Rassismus gäbe. Im Gegenteil, Rassismus hat in Deutschland eine lange Tradition. Insbesondere zur
Zeit des Deutschen Kaiserreichs (1871-1918) und des NS-Regimes (1933-1945) stellten weit verbreite-
te Rassentheorien Menschen afrikanischer Herkunft als minderwertig dar.

Ein Ursprung der rassisistischen Diskriminierung liegt in der populären Annahme, die deutsche Be-
völkerung sei ethnisch homogen – und weiß. Lange Zeit, und teilweise bis heute, waren viele Weiße
davon überzeugt, dass Schwarze prinzipiell nicht deutsch sein könnten, es Afro-Deutsche also gar
nicht gebe. Angesichts solcher und anderer Vorurteile sind die individuelle und strukturelle Diskrimi-
nierung und auch physische Gewalt noch immer Bestandteil des Alltags von Schwarzen.

Schwarze Menschen in Deutschland fallen in zwei Gruppen. Zur ersten zählen Schwarze Deutsche
bzw. Afro-Deutsche, die ganz überwiegend eine weiße Mutter und einen afrikanischen oder afro-
amerikanischen Vater haben und nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg geboren wurden. Die
zweite Gruppe besteht aus afrikanischen Asylsuchenden und Einwanderern, die in jüngerer Zeit
nach Deutschland kamen. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich beide Gruppen verändert;
vor allem aber gibt es inzwischen auch zunehmend gemeinsame Initiativen. Afrikanische Einwande-
rer protestieren etwa gegen diskriminierende Gesetze wie die sogenannte Residenzpflicht, die ihren
Wohnort festlegt, ohne ihre Präferenzen zu berücksichtigen. Währenddessen gründeten Schwarze
Deutsche, inspiriert von der afroamerikanischen Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde, die In-
itiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und verschaffen sich in der Gesellschaft immer
mehr Gehör.

Diese Studie vermittelt einen Überblick über die Geschichte Schwarzer Deutscher einerseits und den
anhaltenden und institutionalisierten Rassismus in Deutschland andererseits. Die Autorin, Marion
Kraft, ist selbst in der afro-deutschen Bewegung aktiv und hat sich als Lehrende und Literaturkriti-
kerin intensiv mit den Werken Schwarzer Frauen beschäftigt. Hier diskutiert sie auch die Frage, was
wir im Kampf gegen den Rassismus und für die Gleichberechtigung der Schwarzen in Deutschland
tun können.

                                                              Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg
                                                                   Leiter des Büros New York, Juli 2014

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Wege aus der Kälte
Erfahrungen Schwarzer Deutscher, damals und heute

Von Marion Kraft

                               Wie die scheinbar toten kalten Felsen trage ich Erinnerungen in mir, entstanden
                                   aus der Materie, die mich erschuf. Zeit und Raum sprechen daraus. Deshalb
                               solltest du etwas wissen über die Zeit und den Raum meiner Herkunft, damit du
                                                  die Ereignisse und die Wege meines Lebens verstehen kannst.
                                                            (Zora Neale Hurston, Dust Tracks on a Road, 1942)

Schwarze Menschen in Deutschland haben                          scher Konzeptualisierungen von „Rasse“ und
eine lange und vielfältige Geschichte,1 die bis                 Nation in Deutschland. Insbesondere die Ras-
ins 19. Jahrhundert und weiter zurückverfolgt                   senpolitik unmittelbar vor und während des
werden kann, und eine wachsende Anzahl                          Zweiten Weltkriegs, aber auch noch in den
von Afrikanern und Menschen afrikanischer                       frühen Nachkriegsjahren, hat die Vorstellung
Herkunft lebt heute in der Bundesrepublik.                      von Deutschland als ethnisch homogene Ge-
Schwarze Deutsche, von denen viele afro-                        sellschaft geprägt. Studien über Schwarze Ge-
amerikanische oder afrikanische und weiße                       schichte in Deutschland und Selbstdefinitionen
deutsche Wurzeln haben, gelten immer noch                       Schwarzer Deutscher begannen in den frühen
als die „Anderen“, als Fremde in ihrem Heimat-                  1980er Jahren, und die Visionen und Aktionen
land. Ihr Kampf gegen Rassismus und für die                     der Generationen der Nachkriegsjahre hatten
Anerkennung ihrer Identität durch die weiße                     einen starken Einfluss auf die Entwicklung ei-
deutsche Mehrheitsgesellschaft ist nicht nur                    nes Schwarzen deutschen kulturellen und poli-
eine Angelegenheit der Selbstpositionierung,                    tischen Bewusstseins.
sondern wirft ernsthafte Fragen auf über die
Gestalt nationaler Identität in einer multikultu-               Dies ist umso bemerkenswerter aufgrund der
rellen und multiethnischen Gesellschaft.                        Tatsache, dass als Schwarzer Mensch im Nach-
                                                                kriegsdeutschland aufgewachsen zu sein oft
Gegenwärtige Schätzungen der Zahl Schwar-                       eine traumatisierende Erfahrung bedeutete
zer Deutscher, die in Deutschland leben,                        und afrodeutsche Kinder als ein „nationales
schwanken zwischen 500 000 und 800 000, das                     Problem“ gesehen wurden. Trotz Hindernissen
sind etwa 0,6 bis 1 Prozent der Bevölkerung.                    und Exklusionen haben viele dieser Schwarzen
Ihre Marginalisierung und verschiedenen For-                    Deutschen wichtige Rollen im Bildungssystem,
men der Diskriminierung basieren weitgehend                     in den akademischen Strukturen, in der Lite-
auf den fortbestehenden Einflüssen histori-                     ratur, Kunst, den Medien, in der Politik und in
                                                                den Anfängen einer Schwarzen deutschen Be-
1   Für umfassendere Darstellungen vgl. May Opitz, Kat-
    harina Oguntoye und Dagmar Schultz (Hg.): Farbe be-
                                                                wegung eingenommen.
    kennen – Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer
    Geschichte, Berlin: Orlanda, 1986; Patricia Mazón und       Unter den jüngeren Generationen gibt es eine
    Reinheld Steingrövel (Hg.): Not so Plain as Black and
    White. Afro-German Culture and History 1890-2000,
                                                                Reihe von Künstlern, Autoren und anderen
    University of Rochester Press, 2009.                        Kulturschaffenden, die mittlerweile nationa-

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le und internationale Anerkennung gefunden                      Bedeutsam für die Entwicklung eines Schwar-
haben.                                                          zen deutschen Selbstbewusstseins waren
                                                                auch interkulturelle und transatlantische
Ungeachtet solcher Erfolge bestehen verschie-                   Verbindungen und das Studium von Theo-
dene Formen des alltäglichen Rassismus in der                   rien, Literaturen und Künsten der afrikani-
Sprache und in den Medien fort; auch Formen                     schen Diaspora. Insbesondere die verschie-
rassistisch motivierter Gewalt sind verbreitet.                 denen Schwarzen Frauenbewegungen und
Nach der Vereinigung Deutschlands wurden                        Forschungsarbeiten zur Geschichte der afri-
einige Gegenden im Osten für People of Color                    kanischen Präsenz in Europa waren wegwei-
so unsicher, dass sie zu „No-Go-Gebieten“ de-                   send für die Herausbildung einer Schwarzen
klariert wurden. Andererseits haben Schwar-                     deutschen Identität. Angesichts fortbeste-
ze Deutsche, die in der DDR geboren wurden,                     hender Stereotypen über Schwarze Men-
neue Perspektiven zu den verschiedenen Er-                      schen bleibt die Neudefinition ethnischer und
fahrungen der Black Community in Deutsch-                       nationaler Identitäten eine große Heraus-
land hinzugefügt.                                               forderung.

Das Verschweigen der Geschichte

1904 verübten deutsche Kolonialtruppen ei-                      Während dieser Teil der deutschen Geschichte
nen der brutalsten Völkermorde an den He-                       am Rande des politischen und akademischen
rero und Nama in ihrer Kolonie Deutsch-Süd-                     Diskurses in Deutschland bleibt, fehlt er in den
westafrika, dem heutigen Namibia. Vier Jahre                    Curricula unserer Schulen vollständig. Als ich
später schrieb ein deutscher Journalist in einer                vor einigen Jahren an einem deutschen Kolleg
liberalen Zeitung: „Der N***r ist ein halbes                    einen Kurs zur kolonialen und postkolonialen
Kind und die andere Hälfte Bestie“. 2 Deutsch-                  Geschichte und Literatur unterrichtete, konn-
lands Niederlage im Ersten Weltkrieg, die den                   ten die Studierenden zwar Informationen von
Verlust der Kolonien mit einschloss, war im                     diversen Websites einholen, fanden in deut-
Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft eng                       schen Schulbüchern jedoch nichts dazu. Die-
verbunden mit dem Gefühl von Schmach und                        ses Verschweigen von Deutschlands kolonialer
Schande. In jüngerer Zeit haben deutsche Po-                    Vergangenheit ist auch ein Resultat des fort-
litiker ihr Bedauern hinsichtlich der Opfer der                 bestehenden Irrglaubens, Deutschland habe
brutalen Unterwerfung des Aufstandes der                        keine Kolonien besessen – und es gäbe auch
Herero und Nama zum Ausdruck gebracht, es                       keine Schwarzen Deutschen. Im Gegensatz zu
jedoch versäumt, diese als Völkermord anzu-                     Frankreich oder Großbritannien betrachtet
erkennen, Verantwortung zu übernehmen und                       sich Deutschland nicht als ehemalige Koloni-
Forderungen nach materieller Kompensation                       almacht, zumal es aufgrund der Niederlage im
nachzukommen. 3                                                 Ersten Weltkrieg auch keine Massenimmigra-
                                                                tion aus den ehemaligen Kolonien gab.
2   Zitiert in: Martha Mamozai: Schwarze Frau, weiße Her-
    rin. Frauenleben in den deutschen Kolonien, Reinbek:
    Rowohlt, 1989, S. 57.                                       Die empfundene Demütigung durch die Sie-
3   Vgl. Rachel Anderson: Redressing Colonial Genocide          germächte wurde durch die Tatsache ver-
    Under International Law: The Hereros Cause of Action
    against Germany in: „California Law Review“, 93/2005,
                                                                stärkt, dass unter den Truppen der Alliierten
    Nr. 1155 (online).                                          auch Schwarze Soldaten waren – und umso

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mehr, als deren Kinder mit weißen deutschen                        Es bleibt daher nach wie vor eine wichtige
Frauen ein sichtbares Resultat der Niederlage                      Aufgabe für Wissenschaftler, Lehrer, Erzieher
waren. Unter der Nazi-Herrschaft wurden die-                       und politisch Aktive, insbesondere für die,
se Afro-Deutschen als „Rheinland-Bastarde“                         die Teil der Black Community in Deutschland
tituliert, diskriminiert, zwangssterilisiert und                   sind, solche historischen Fakten zu enthüllen,
in Konzentrationslager gesteckt.4 Die Kinder                       zu analysieren und zu vermitteln, auf welche
weißer Frauen und afrikanischer Diplomaten                         Art und Weise das Verschweigen dieses Teils
oder afroamerikanischer Geschäftsleute, die                        der Geschichte verbunden ist mit dem Ver-
in der Weimarer Republik nach Deutschland                          schweigen Schwarzer deutscher Erfahrungen
gekommen waren, wurden auf ähnliche Weise                          und den Konzeptualisierungen von „Rasse“
bedroht.5 Diejenigen, die sich relativ sicher in                   und Nation in Deutschland. Forschungsarbei-
Nazi-Deutschland fühlen konnten, wurden ver-                       ten zur Schwarzen deutschen Erfahrung sind
führt, in Propagandafilmen mitzuwirken, die                        inzwischen ein wichtiger Gegenstand im Wis-
die Masse der weißen Deutschen unterhalten                         senschaftsbetrieb der USA geworden, vor al-
und ihnen das Gefühl von Überlegenheit ver-                        lem in den Fächern Geschichte, Deutsch und
mitteln sollten – auf Kosten der Verspottung                       Diversity Studies, während in Deutschland
und Demütigung Schwarzer Menschen in der                           selbst, mit Ausnahme einiger Arbeiten von
Rolle minderwertiger, lustiger oder exotischer                     Schwarzen Deutschen, dieser Teil der deut-
Fremder.6 Auch dieses Kapitel deutscher Ge-                        schen Geschichte noch wenig Aufmerksamkeit
schichte fehlt in unseren Schulbüchern.                            erfährt.

Schwarze Kinder im Nachkriegsdeutschland

Im Juli 2013 initiierte das Innenministerium                       basierend auf dem Konstrukt von „Rasse“ 7und
Nordrhein-Westfalen eine Kampagne zur Ein-                         Nation „typisch deutsch“ Weiß-Sein bedeutet.
bürgerung. Werbeplakate zeigen People of Co-                       Solche weit verbreiteten Vorstellungen, dass
lor, meist Schauspielerinnen und Schauspieler.                     Deutsche phänotypisch von Nicht-Deutschen
Eine liberale lokale Zeitung, die sich für positi-                 unterschieden werden könnten, konterka-
ve Integrationspolitik einsetzte, kommentierte,                    rieren das deutsche Grundgesetz, in dem (in
dass häufig „weder ihre Namen noch ihr Aus-                        Artikel 116) festgeschrieben ist, dass ein Deut-
sehen typisch deutsch“ seien.7 Die offensicht-                     scher eine Person ist, welche die deutsche
lich zugrunde liegende Annahme ist hier, dass                      Staatsangehörigkeit besitzt. Nach dem Staats-
                                                                   angehörigkeitsgesetz von 1913 basierte diese
4   Vgl. Opitz, Oguntoye und Schultz, op. cit., S. 40-42 und       hauptsächlich auf der Abstammung von einem
    Tina Campt: Other Germans. Black Germans and the
                                                                   deutschen Elternteil, wohingegen die Gesetz-
    Politics of Race, Gender and Memory in the Third Reich,
    Ann Arbor: University of Michigan Press, 2005,                 gebung aus dem Jahre 2000 Einbürgerungsver-
5   Vgl. etwa Hans-Jürgen Massaquoi: Neger, Neger Schorn-          fahren für Ausländer, die in Deutschland woh-
    steinfeger. Meine Kindheit in Deutschland, München:
    Fretz und Wasmuth Verlag, 1999; Gert Schramm:
                                                                   nen oder hier geboren sind, vereinfacht hat.
    Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann. Mein Leben in               Ungeachtet der wachsenden Zahl deutscher
    Deutschland, Berlin: Aufbau Verlag, 2011; Theodor Mi-          Staatsbürger, die Schwarz oder People of Color
    chael: Deutsch Sein und Schwarz dazu. Erinnerungen
    eines Afro-Deutschen, München: dtv, 2013.
6   Vgl. u.a. Doris Reiprich und Ngambi Ul Kuo, in Opitz,          7   www.nw-news.de/owl/bielefeld/mitte/8840292_Gesich-
    Oguntoye und Schultz, op cit. S. 69-76.                            ter_einer_Kampagne einer Kampagne.html.

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sind, sind „typische Deutsche“ im Bewusstsein                    folgende Zitat zeigt, wie voreingenommen und
der Mehrheitsgesellschaft weiß. Diese vor-                       beeinflusst von rassistischen Annahmen einige
herrschende Einstellung der weißen Mehrheit                      dieser Forschungsarbeiten waren, nicht zuletzt
führt häufig zu verschiedenen Formen des all-                    auch im Sprachgebrauch:
täglichen und institutionalisierten Rassismus,
mit dem die Existenz und Identität Schwarzer                       Wenn wir in der Folge von „farbigen Kindern“ oder
deutscher Menschen in Frage gestellt wird.                         gelegentlich stattdessen von „Mischlingskindern“
                                                                   sprechen, so sind damit vor allem diejenigen ge-
                                                                   meint, die in ihrem Erscheinungsbild deutlich als
Solche Konstruktionen von „Rasse“ und die                          fremdartig von anderen deutschen Kindern unter-
Ausgrenzung des „Anderen“ waren in den frü-                        schieden sind. Diese deutliche Fremdartigkeit ist für
hen Nachkriegsjahren noch viel weiter verbrei-                     ihre Stellung in der Umwelt wichtiger als ihre mehr
tet. 1937 hatte das Nazi-Regime das deutsche                       oder minder starke Zugehörigkeit zu der einen oder
                                                                   anderen Rasse. Bei weitem die meisten von ihnen,
Staatsangehörigkeitsgesetz zu einem Werk-
                                                                   etwa 75 bis 80 Prozent, stammen jedoch von mehr
zeug seiner nationalsozialistischen Bevölke-                       oder weniger negroiden Angehörigen der amerika-
rungspolitik gemacht, dessen Neugestaltung                         nischen Streitkräfte ab. Der Fremdheitsgrad dieser
den Ausschluss deutscher Bevölkerungsgrup-                         Kinder ist keineswegs homogen. Während einige
pen – Juden, nationale Minderheiten und poli-                      von ihnen sofort, auch von weitem, den Eindruck
tisch Unbequeme – aus der „Rasse“ und Volks-                       eines kleinen N***rs machen, erkennt man bei an-
                                                                   deren die andersrassischen Züge nur, wenn man
gemeinschaft garantieren sollte.8 Weniger als
                                                                   darauf achtet. Wir haben vereinzelt auch Kinder
ein Jahrzehnt später war Hitler-Deutschland                        von „N***r“ genannten Vätern getroffen, bei denen
besiegt, und trotz des zunächst geltenden Fra-                     nichts Fremdartiges in der Erscheinung zu entde-
ternisierungsverbots wurden die ersten so-                         cken war.10
genannten Besatzungskinder geboren. Statt
in ihnen die Kinder der Befreier zu sehen,                       Aufgrund ihrer angenommenen „Fremdartig-
betrachteten viele Deutsche sie, ähnlich wie                     keit“ wurden Schwarze Kinder als ein „ natio-
schon nach dem Ersten Weltkrieg, erneut als                      nales Problem“ erachtet, wie es sich auch in ei-
Schande, insbesondere wenn sie Schwarze                          ner parlamentarischen Ausschussdebatte des
waren.                                                           Jahres 1952 zeigte:

In den 1950er und 60er Jahren erschienen                           Die verantwortlichen Stellen der freien Stellen und
                                                                   der behördlichen Jugendpflege haben sich bereits
zahlreiche soziologische Studien, welche die
                                                                   seit Jahren Gedanken über das Schicksal dieser
Situation von Schwarzen deutschen Kindern                          Mischlingskinder gemacht, denen schon allein die
analysierten und dabei oft das Ziel der Inte-                      klimatischen Bedingungen in unserem Lande nicht
gration und Inklusion sowie den Abbau von                          gemäß sind. Man hat erwogen, ob es nicht besser
Vorurteilen proklamierten. Demgegenüber                            für sie sei, wenn man sie in das Heimatland ihrer
hat Yara-Colette Muniz de Faria in ihrer Studie                    Väter verbrächte.11

über die Schwarzen deutschen sogenannten
Besatzungskinder das Ausmaß untersucht, in                       Tatsächlich wurden viele Mütter von deutschen
dem sozialwissenschaftliche und anthropo-                        Behörden überzeugt, ihre Kinder zur Adoption
logische Studien im Nachkriegsdeutschland                        durch afroamerikanische Familien freizugeben.
noch der Tradition von „Rassenanthropologie“
                                                                    und Ausgrenzung. Afro-deutsche „Besatzungskinder“ im
und „Rassenhygiene“ verhaftet waren.9 Das                           Nachkriegsdeutschland, Berlin: Metropol, 2002, S. 44-
                                                                    47.
8   Vgl. Dieter Gosewinkel: Staatsangehörigkeit, Inklusion       10 Klaus Eyferth, Ursula Brandt, und Wolfgang Hawel:
    und Exklusion. Zur NS-Bevölkerungspolitik in Europa.            Farbige Kinder in Deutschland. Die Situation der Mi-
    Diskussionspapier SPIV 2008-401. Wissenschaftszen-              schlingskinder und die Aufgaben ihrer Eingliederung,
    trum Berlin für Sozialforschung (WZB).                          München: Juventa-Verlag, 1960, S. 13.
9   Yara-Colette Lemke Muniz de Faria: Zwischen Fürsorge         11 „Das Parlament”, 19.3.1952.

                                                             5
MARION KRAFT
                                                                                               WEGE AUS DER KÄLTE

Nach Christian Führer12 hatten bis 1954 mehr                      haben einige Verbindungen zu der Black Com-
als 500 sogenannte Brown Babies eine neue                         munity in Deutschland hergestellt. Die Jah-
Heimat in den Vereinigten Staaten gefunden.                       restagungen der Black German Heritage and
Wie Heide Fehrenbach hervorhebt, hatten die                       Research Association waren bahnbrechend
Adoptionen mehr einen politischen als einen                       für die Dokumentation geteilter Erfahrungen
sozialen Hintergrund, da beide Seiten sie als                     Schwarzer Deutscher auf beiden Seiten des At-
eine Gelegenheit erachteten, die Humanität ih-                    lantik. Andere Schwarze deutsche Organisatio-
rer Nachkriegsgesellschaften zu propagieren.13                    nen, die hauptsächlich in sozialen Netzwerken
Für die Kinder bedeutete dies die Trennung von                    auftreten, sind u.a. The Society of Afro-Germans
ihren Herkunftsfamilien und die Verschickung                      in America and Germany und die Official Black
in ein Land, in dem Schwarze noch immer für                       German Cultural Society.
ihre Bürgerrechte kämpften. Diese Entwur-
zelung führte viele in späteren Jahren auf den                    Die Mehrheit der Schwarzen Kinder, die in
Weg einer schwierigen Suche nach ihrer Identi-                    den Nachkriegsjahren geboren wurden, blie-
tät. Rosemarie Pena, Präsidentin der Black Ger-                   ben jedoch in Deutschland und wurden dort
man Heritage and Research Association, erläutert                  weiterhin als „nationales Problem“ erachtet,
                                                                  das staatliche Behörden und Wohlfahrtsver-
  dass die tatsächliche Herkunft der Adoptierten ge-              bände oft dadurch zu lösen suchten, dass
  setzlich ausradiert worden war und die originalen               sie die Mütter der Kinder, manchmal mit Hil-
  Geburtsurkunden für immer unzugänglich bleiben
                                                                  fe deutscher Stiefväter, zu überzeugen such-
  sollten. Die Geburtsfamilien wurden durch fiktive
  ersetzt und persönliche und medizinische Unter-                 ten, sie in Waisenhäuser oder Kinderheime
  lagen blieben verschlossen. Die Immigration in die              zu geben. In ihrer Autobiografie beschreibt
  USA bedeutete darüber hinaus den Verlust der Mut-               Ika Huegel-Marshall anschaulich die täglichen
  tersprache und der Kultur des Herkunftslandes.                  Herausforderungen, denen sich diese Kinder
                                                                  stellen mussten, aber auch die bestärken-
Dass das Hauptinteresse des Herkunftslan-                         den Überlebensstrategien, die sie entwickel-
des darin bestand, sich dieser Kinder zu ent-                     ten.15 Einige Kinder wurden sogar in Heime
ledigen, wird durch die Tatsache deutlich, dass                   geschickt, die faktisch segregiert waren,16 wie
bereits in den frühen 1960er Jahren die Zahl                      das sogenannte Haus der Verstoßenen in ei-
der Adoptionen Schwarzer deutscher Kinder                         ner abgelegenen Gegend in der Nähe des
nach Dänemark die der Adoptionen in die USA                       Edersees. Aber die Tatsache, dass im Jahr 1960
überschritten hatte. Kurioserweise wurde Dä-                      mehr als 70 Prozent der sogenannten farbigen
nemark nicht als „zu kalt“ erachtet und von                       Besatzungskinder bei ihren Müttern lebten,17
deutschen Behörden ausgewählt, weil es dort                       widerlegt die vorherrschenden Annahmen je-
angeblich keine Rassenvorurteile gab.14                           ner Zeit, dass diese Frauen verantwortungslos
                                                                  und ungeeignet für die Erziehung ihrer Kinder
Von denen, die in die USA verschickt worden                       gewesen seien. In den meisten Fällen bedeu-
waren, haben viele als Erwachsene ihre Wur-                       tete das Leben zu Hause einen geschützten
zeln in Deutschland gesucht, um alle Teile ihrer                  Raum und eine sicherere Umgebung. Bärbel
Identität für sich zu beanspruchen. Gleichzeitig                  Kampmann beschreibt ihr Zuhause und die
                                                                  unmittelbare Nachbarschaft wie ein Kinderpa-
12 Christian Führer: Von Besatzungs- und Mischlingskin-
   dern, in: Memories of Mannheim. Die Amerikaner in der          radies oder eine Insel, aber die Welt außerhalb
   Quadratstadt seit 1945, Mannheim: Verlag Regionalkul-
   tur, 2013, S. 199.
13 Vgl. Heide Fehrenbach: Race after Hitler. Black Occupa-        15 Ika Huegel-Marshall: Daheim unterwegs. Ein deutsches
   tion Children in Postwar Germany and America, Prince-             Leben, Frankfurt am Main: Fischer, 2001.
   ton and Oxford: Princeton Univ. Press, 2005, S. 157-159.       16 Vgl. Fehrenbach, S. 157-159.
14 Ebd., S. 163.                                                  17 Vgl. Eyferth, Bandt und Hawel, op. cit., S. 36.

                                                              6
MARION KRAFT
                                                                                              WEGE AUS DER KÄLTE

dieser Grenzen war eine andere.18 Für Schwar-                  In den folgenden Jahrzehnten kam eine wach-
ze Kinder bedeutete sie oft die Konfrontation                  sende Anzahl Afrikaner nach Westdeutschland,
mit pejorativen Bemerkungen, Beschimpfun-                      die meisten als Studenten, Fachkräfte oder
gen oder schräge Blicke. In der Schule muss-                   Praktikanten. Gleichzeitig rekrutierte die DDR
ten sich viele mit feindseligen Lehrkräften, die               in den 1960er und 1970er Jahren etwa 1000
noch in Nazi-Deutschland ausgebildet worden                    Studenten, Facharbeiter und Gewerkschafter
waren, und mit verschiedenen Formen laten-                     aus 23 afrikanischen Ländern, die mit staatli-
ter und offener Diskriminierung auseinander-                   chen Mitteln gefördert wurden. 20 Während die
setzen. Eine Folge davon war, dass die Zahl                    DDR offiziell die Rekrutierung von Afrikanern
Schwarzer deutscher Kinder, denen eine hö-                     unter dem Banner der Internationalen Solidari-
here Schulbildung zuteil wurde, erschreckend                   tät propagierte, betrachtete Westdeutschland
gering ausfiel.19                                              dies als Entwicklungshilfe für Afrika.21 Obwohl
                                                               man von den afrikanischen „Gästen“ erwarte-
Ein anderer Aspekt des „nationalen Problems“,                  te, dass sie nach einer bestimmten Zeit in ihre
mit dem sich die Behörden befassten, war die                   Heimatländer zurückkehren würden, blieben
berufliche Zukunft Schwarzer deutscher Kin-                    einige in Deutschland. Ein Ergebnis war eine
der, insbesondere die der Mädchen. Sie wur-                    weitere Generation von Kindern afrikanischer
den nur als geeignet angesehen für unterge-                    Väter und weißer deutscher Mütter in beiden
ordnete Tätigkeiten, als Bedienstete, Köchin-                  Teilen Deutschlands. Die Diskriminierung die-
nen oder Fabrikarbeiterinnen – eine Annahme,                   ser Kinder sowohl im Westen als auch im Osten
die ironischerweise mit bestehenden Vorurtei-                  unterschied sich nur wenig von der vorausge-
len in der deutschen Gesellschaft gerechtfer-                  gangener Generationen von Afro-Deutschen. 22
tigt wurde. In ihrem späteren Leben haben vie-
le der als soziales Problem Bezeichneten diese                 In den späteren Jahren ist die Zahl der in
rassistischen Annahmen allen Widerständen                      Deutschland lebenden Afrikaner stetig gewach-
zum Trotz widerlegt. Dies ist umso bemerkens-                  sen. Im Westen basierte dies hauptsächlich
werter, da junge Schwarze Menschen in West-                    auf der Anwerbung von Studenten und Fach-
deutschland nicht nur mit Stereotypen über                     kräften und attraktiven Arbeitsmöglichkeiten,
sich selbst, verletzenden Bildern und beleidi-                 aber auch auf der Aufnahme von Flüchtlingen.
gendem Sprachgebrauch konfrontiert waren,                      Im Osten stieg – aufgrund zwischenstaatlicher
sondern auch mit rassistischen Darstellungen                   Wirtschaftsabkommen mit Kuba, Angola und
Schwarzer Menschen und von Afrikanern im                       hauptsächlich Mosambik – die Anzahl der Ver-
Allgemeinen. Die Bürgerrechtsbewegung in                       tragsarbeiter aus diesen Ländern von 15 000 im
den USA und die Befreiungskämpfe in Sim-                       Jahr 1989 auf 17 000 im Jahr 1990.
babwe und Südafrika – die breite Unterstüt-
zung durch die Studentenbewegung und Teile
                                                               20 Vgl. Ilona Schleicher: Elemente von entwicklungspoliti-
der politischen Linken in Deutschland erfuh-                      scher Zusammenarbeit von FDGB und FDJ, in: Hans-Jörg
ren – boten Afro-Deutschen eine Gelegen-                          Bücking (Hg.): Entwicklungspolitische Zusammenar-
                                                                  beit in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR.
heit, sich als Teil der afrikanischen Diaspora
                                                                  Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandfor-
zu sehen und Schwarze Vorbilder zu haben,                         schung, Bd. 62, Berlin: Duncker und Humblot, 1998,
die es aktiv ablehnten, in der Opferrolle zu                      S. 134-135.
                                                               21 Vgl. Website des Bundesministeriums für Wirtschaft-
verharren.                                                        liche Zusammenarbeit und Entwicklung/Länder und
                                                                  Regionen.
                                                               22 Vgl. Peggy Piesche: Schwarz und deutsch? Eine ostdeut-
18 Vgl. Harald Gerunde: Eine von uns. Als Schwarze in             sche Jugend vor 1989 – Retrospektive auf ein ‚nichtexis-
   Deutschland geboren, Köln: Peter Hammer, 2000, S. 24-          tentes‘ Thema in der DDR, www.heimatkunde.boell.
   28.                                                            de/2006/05/01; Vgl. Manuela Ritz: Die Farbe meiner
19 Vgl. Eyferth, Brandt und Hawel, op. cit., S. 53-72.            Haut, Freiburg: Herder, 2009.

                                                           7
MARION KRAFT
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Blinde Flecken im Bildungssystem

Waren Schwarze Kinder in den ersten Jahr-             auch eine Reihe nützlicher Links zu weiteren
zehnten nach dem Zweiten Weltkrieg nur                Informationen und Unterrichtsmaterialien. 23
vereinzelt in deutschen Klassenzimmern zu             Im selben Jahr haben Mitglieder der Initiati-
finden, so spiegeln inzwischen, nicht nur in          ve Schwarze Menschen in Deutschland (ISD)
den Metropolen, alle Schulformen die Viel-            das Each One Teach One Media Archive in Ber-
fältigkeit der gegenwärtigen Gesellschaft.            lin gegründet mit dem Ziel, eine bestehende
Diese Veränderungen haben jedoch noch kei-            Bibliothek von Werken Schwarzer Deutscher
nen angemessenen Ausdruck in deutschen                Autorinnen und Autoren, Aktivistinnen und
Schulbüchern und Lehrplänen gefunden.                 Aktivisten der Afrikanischen Diaspora zu er-
Folglich sehen nicht-weiße Kinder sich und            weitern, mit einem Schwerpunkt deutsch-
ihre Erfahrungen selten in Unterrichtsmate-           sprachiger oder ins Deutsche übersetzter
rialien reflektiert. Bilder Afrikas und Schwar-       Bücher. Ziel ist es, diese Materialien auch in
zer Menschen sind meist verbundenen mit               Schulen und anderen Bildungseinrichtungen
Darstellungen von Armut, Krieg, Flüchtlingen,         nutzbar zu machen. Solche Initiativen sind
Hunger und Verbrechen. Curricula für Eng-             wünschenswert und notwendig, auch hinsicht-
lisch in weiterführenden Schulen schließen            lich der Stundenkürzungen in sozialwissen-
zwar einige Aspekte von Kolonialismus, Skla-          schaftlichen Fächern und weitreichender Ein-
verei und Rassismus und der Realitäten heu-           schränkungen staatlicher finanzieller Mittel.
tiger multikultureller Gesellschaften mit ein,        In einem staatlichen Schulsystem sollte dies
dies indes vor allem am Beispiel Indiens, der         jedoch eine wichtige Aufgabe der Schulverwal-
Vereinigten Staaten oder Großbritanniens.             tungen sein, unterstützt durch die Erfahrun-
Aber in Deutsch- und Geschichtskursen sucht           gen Schwarzer Lehrer und Lehrerinnen, Wis-
man in der Regel vergeblich Hinweise auf die          senschaftler und Wissenschaftlerinnen und
deutsche Kolonialgeschichte oder die Ge-              Organisationen.
schichte Schwarzer Menschen in Deutschland
und erfährt so gut wie nichts über die Werke          Meine Erfahrungen als Lehrende für Deutsch,
Schwarzer Autorinnen und Autoren und die              Englisch und Frauenstudien, mit dem Schwer-
Beiträge Schwarzer Menschen zu Geschichte,            punkt Literatur von (Schwarzen) Frauen, an
Kunst und Politik. Aber selbst wenn es nützli-        verschiedenen Schulen, Colleges und Univer-
che Unterrichtsmaterialien zu diesen Themen           sitäten in den USA und in Deutschland haben
gibt, bedarf es informierter, bewusster und           mir gezeigt, wie sehr es Schwarze Lernende
engagierter Lehrkräfte, diese in die Praxis           und Studierende bestärken kann, Teile ihrer
umzusetzen. Dies sollte auch eine Herausfor-          Selbst und ihrer Geschichte im Spiegel der Li-
derung für die praktische Ausbildung von Leh-         teratur zu erfahren. Aber auch für die Mehr-
rerinnen und Lehrern sein.                            heit der weißen Lernenden kann ein solcher
                                                      Perspektivenwechsel nicht nur ihr allgemeines
2012 erschien eine Monatsausgabe der                  Wissen erweitern, sondern sie auch befähi-
GEW-Zeitschrift „Erziehung und Wissenschaft“          gen, die Vielfalt von Erfahrungen in ihrer eige-
unter dem Titel „Menschenrechte statt Rassis-         nen Gesellschaft und in anderen Kulturen zu
mus“. Das Heft beinhaltet mehrere Artikel, die        reflektieren und derart Fähigkeiten, Fertigkei-
sich mit rassistischer Diskriminierung Schwar-
zer Kinder durch Mitschüler, aber auch durch          23 „E&W – Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft Erziehung
Lehrende auseinandersetzten. Es enthält                  und Wissenschaft“, 12/2012.

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MARION KRAFT
                                                                                                 WEGE AUS DER KÄLTE

ten und Kompetenzen zu entwickeln, die für                         einer literarischen Diskussion Schwarzer weib-
fortschrittliches Handeln und Interaktionen                        licher Erfahrungen in vielerlei Hinsicht zu ent-
in einer sich verändernden Welt erforderlich                       ziehen schien.
sind. 24
                                                                   Ein anderer Aspekt war, dass seit den 1980er
Generell können Schwarze Erfahrungen am                            Jahren die Literatur Schwarzer Frauen in den
besten von Lehrenden vermittelt werden,                            USA eine Blüte erlebte, während sie in Deutsch-
die selbst diese Erfahrungen gemacht haben.                        land, selbst in feministischen Kreisen, margi-
Obwohl es in Deutschland inzwischen einige                         nalisiert blieb. Oft wurden Wissenschaftlerin-
Schwarze Lehrer und Professoren im Bildungs-                       nen und Studentinnen, die zu diesem Thema
system gibt, vor allem in den Geistes- und So-                     arbeiteten, nicht ernst genommen. In einem
zialwissenschaften, in Fächern wie Pädagogik,                      Vortrag auf einer antirassistischen Konferenz
Literatur und Psychologie, finden deren Erfah-                     in München im Jahr 2010 erinnert sich die af-
rungen, Forschungsergebnisse und Praxisbe-                         ro-deutsche Literaturwissenschaftlerin und
richte in der breiteren Öffentlichkeit noch zu                     Aktivistin Modupe Laja:
wenig Beachtung und haben noch kaum Ein-
gang in den Bereich öffentlicher Bildungsein-                        Während meines Studiums war ich die einzige
richtungen gefunden.                                                 Schwarze Studentin meines Studienfachs und Jahr-
                                                                     gangs und musste mir von einem Professor der
                                                                     Anglistik mit Schwerpunkt afro-amerikanische Li-
Demgegenüber besteht im englischsprachigen                           teratur, noch dazu vor meinen Kommilitonen, an-
Raum ein wachsendes Interesse an afro-deut-                          hören, dass das N-Wort ein passender Begriff für
schen Erfahrungen, das auch vielen Schwarzen                         Schwarze Menschen wie mich in Deutschland sei.
Deutschen die Möglichkeit bietet, ihre Arbeiten                      Seine Begründung, „da Sie ja hier im Gegensatz zu
                                                                     Amerika einer Minderheit angehören“, entbehrt
in englischer Sprache zu veröffentlichen. Kön-
                                                                     nicht nur jeder Logik, sondern disqualifiziert ihn
nen so auf der einen Seite Schwarze Deutsche                         auch als Experten seiner Disziplin.26
ihre Stimmen in internationalen Diskursen
hörbar machen, führen andererseits Sprach-                         Auch die weiße feministische Bewegung – in-
barrieren auch dazu, dass die notwendige Dis-                      und außerhalb akademischer Strukturen – hat
kussion über diese Themen in der deutschen                         sich bis heute, wenn überhaupt, nur halbher-
Gesellschaft erschwert wird. Ich selbst habe                       zig mit dem Problem des Rassismus oder den
meine Forschungsarbeit über afroamerikani-                         Werken Schwarzer Autorinnen und Autoren
sche Autorinnen vor fast zwei Jahrzehnten auf                      auseinandergesetzt. Folglich bezog sich die in
Englisch publiziert 25 – in erster Linie, weil dies                den 1980er Jahren entstehende Schwarze Be-
dem Gegenstand entsprach, aber auch um ei-                         wegung, insbesondere die Schwarze Frauen-
nen internationalen Diskurs zu erleichtern und                     bewegung, auf die Arbeiten Schwarzer Femi-
weil zu dieser Zeit die deutsche Sprache sich                      nistinnen in den Vereinigten Staaten, vor allem
                                                                   auf die Schwarze lesbische Autorin, Dichterin
24 Vgl. Marion Kraft: Kulturelle und fremdsprachliche Kom-
   petenz im Literaturunterricht. Black Women Writers              und Aktivistin Audre Lorde, deren Kontakte
   – Ein Unterrichtsbeispiel für die Sekundarstufe II, in:         mit Schwarzen Deutschen die Entwicklung
   „Englisch Amerikanische Studien. Zeitschrift für Unter-
                                                                   transatlantischer Verbindungen entscheidend
   richt, Wissenschaft und Politik“ (EAST) 2/86; vgl. Gisela
   Feurle, Marion Kraft und Ellen Thormann: Kompetenz-             vorantrieben.
   erwerb im fächerübergreifenden Unterricht am Ober-
   stufen-Kolleg, in: Das Zusammenspiel der Fächer beim
   Lernen, Immenhausen bei Kassel: Prolog-Verlag, 2011.
25 Marion Kraft: The African Continuum and Contempo-               26 Modupe Laja: Wie Rassismus (be-)trifft. Schlusswort zu
   rary African-American Women Writers. Their Literary                der Fachtagung Alltagsrassismus und rassistische Dis-
   Presence and Ancestral Past, Frankfurt am Main u.a.:               kriminierung – Auswirkungen auf die psychische und
   Peter Lang, 1995.                                                  körperliche Gesundheit. ANIGRA, München, 12.10.2010.

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Die Entstehung einer Bewegung

Afroamerikanischer Aktivismus und afroame-              von den wichtigen Forschungsarbeiten May
rikanische Musik und Literatur hatten für               Opitz‘ (May Ayim) zu der historischen Präsenz
Schwarze Deutsche bereits in den 1970er                 von Afrikanern und Menschen afrikanischer
und 1980er Jahren verschiedene Vorbildfunk-             Herkunft in Deutschland. Der Publikation die-
tionen. Die Popmusik dieser Jahre wurde von             ses Buches folgte die Gründung politischer
englischsprachigen Gruppen und afroame-                 Organisationen, vor allem der ISD (Initiative
rikanischen Musikern wie James Brown, The               Schwarze Menschen in Deutschland) und ADE-
Supremes, Aretha Franklin und vielen ande-              FRA (Afro-deutsche Frauen). In dem Doku-
ren dominiert. Positive Bilder Schwarzer Men-           mentarfilm „Audre Lorde – Die Berliner Jahre
schen wurden später auch in Übersetzungen               1984-1992“ 28 werden die Ursprünge dieser Be-
literarischer Werke von Autorinnen wie Maya             wegungen und Organisationen zurückverfolgt.
Angelou, Toni Morrison und Alice Walker ver-            In einer Anthologie aus dem gleichen Jahr stellt
mittelt. Hier wurden Schwarze nicht nur als             Peggy Piesche Gedichte, Erinnerungen und In-
Opfer, sondern als Kämpfer, Überlebende                 terviews Schwarzer deutscher Frauen Essays,
und Kreative, die sich auf eine lange kulturelle        Gedichten und Reden Audre Lordes gegenüber
Tradition stützen konnten, dargestellt. Jedoch          und hebt dabei die Bedeutung des transnatio-
führte das wachsende Selbstbewusstsein, das             nalen Erbes Lordes hervor, ihren bestärken-
mit solchen Bildern einherging, nicht direkt zu         den Einfluss auf die Bewegungen Schwarzer
einem kollektiven Bewusstsein. In den meisten           deutscher Frauen und Lesben. 29
Fällen blieben Schwarze Deutsche als Indivi-
duen isoliert und mussten sich der Herausfor-           Dieser grenzüberschreitende Diskurs basierte
derung stellen, sich in einem weißen Umfeld             auch auf dem Verständnis nicht nur von Ge-
selbst zu positionieren und gegen alltäglichen          meinsamkeiten, sondern auch von Unterschie-
Rassismus zur Wehr zu setzen.                           den zwischen afro-deutschen und afroameri-
                                                        kanischen Realitäten – und auf Lordes Vision,
Audre Lorde, die in den frühen 1980er Jahren            dass Verschiedenheit kreativ genutzt werden
eine Gastprofessur in Berlin hatte und dort             muss, um positive gesellschaftliche Verände-
eine Gruppe junger Schwarzer deutscher Frau-            rungen zu erreichen, 30 um voneinander zu ler-
en verschiedener Herkunft um sich versam-               nen, ebenso wie von den Erfahrungen und den
melte, initiierte in einem interkulturellen Dis-        Erfolgen Schwarzer Frauen weltweit. Eine Fol-
kurs einen Prozess der Gemeinschaftsbildung,            ge war auch das 1991 von mir und Helga Emde,
der zu einem Gefühl der Zusammengehörig-                einer der Autorinnen in „Farbe bekennen“, Ria
keit und neuem Selbstbewusstsein führte. Sie            Cheatom und einigen anderen ADEFRA-Frauen
ermutigte dazu, kollektiv die eigene Stimme zu          organisierte 5. Internationale Sommerinstitut
erheben. Die bahnbrechende Veröffentlichung             Schwarzer Frauen in Deutschland. Es brachte
des Buches „Farbe bekennen“ 27, welches auf             Schwarze Frauen und Women of Color aus der
dieser transatlantischen Beziehung basierte,            ganzen Welt zusammen zu einem Austausch
markierte den Anfang einer Schwarzen deut-
schen Bewegung. In diesem Buch werden die               28 Produziert von Dagmar Schultz in Zusammenarbeit mit
verschiedenen Lebensgeschichten Schwarzer                  Ria Cheatom und Ika Hügel-Marshall, Berlin 2011.
                                                        29 Peggy Piesche (Hg.): Euer Schweigen schützt euch nicht.
deutscher Frauen eingeleitet und umrahmt                   Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in
                                                           Deutschland, Berlin: Orlanda, 2012.
                                                        30 Vgl. Marion Kraft: Vom Nutzen der Verschiedenheit. Ein
27 Op. cit.                                                Interview mit Audre Lorde, in: Piesche, 2012, S. 216-227.

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über ihre Erfahrungen, Forschungen, Aktivitä-                       Rolle in den Charts der Popmusik in Deutsch-
ten und Zukunftsvisionen. 31                                        land eingenommen. Kevin John Edusei, ge-
                                                                    bürtiger    Bielefelder    deutsch-ghanaischer
Auch außerhalb solcher organisatorischer                            Herkunft, wurde 2013 zum ersten Dirigen-
Strukturen sind Schwarze Deutsche zuneh-                            ten der Münchener Philharmoniker ernannt.
mend sichtbar in der deutschen Gesellschaft.                        Schwarze Deutsche finden sich im Spitzensport
Um nur einige zu nennen: Die Theaterschau-                          verschiedener Disziplinen, vor allem im Fuß-
spielerin Miriam Goldschmidt, spanisch-jüdi-                        ball. Der in Berlin geborene Jerome Boateng,
scher und afrikanischer Herkunft und in Düssel-                     deutsch-ghanaischer Herkunft, spielt für Bay-
dorf aufgewachsen, wurde für ihre Darstellung                       ern München und die deutsche Nationalmann-
in Peter Brooks Inszenierung von Becketts „Der                      schaft. Die Torjägerin Célia Šašić, deren Eltern
Verwaiser“ bei den Ruhrfestspielen 2013 in den                      aus Kamerun und Frankreich stammen, wird
Feuilletons vieler großer deutscher Zeitungen                       oft der „Sonnenschein“ des deutschen Frauen-
und anderer Medien lobend gewürdigt. Nisma                          fußballs genannt. In der Politik ist Dr. Karamba
Cherrat, geboren in Marokko, aufgewachsen                           Diaby (SPD) aus Halle der erste Schwarze, der in
im Schwarzwald, spielte die Hauptrolle einer                        den Bundestag gewählt wurde.
afro-deutschen Polizistin auf der Suche nach
ihren Wurzeln in Ostdeutschland in Branwen                          Diese Beispiele zeigen nicht nur, dass Schwar-
Okpakos Film „Tal der Ahnungslosen“. Die jun-                       ze Deutsche verschiedener Herkunft und Ge-
gen begabten Schauspieler Thando Walbaum,                           nerationen sich in vielerlei Hinsicht in der Mit-
Steve-Marvin Dwumah und Luka Kumi spielten                          te der Gesellschaft verankert haben, sondern
hervorragend den jungen Hans-Jürgen Mas-                            auch die Diversität der Schwarzen deutschen
saquoi in der Verfilmung seiner Autobiografie                       Bevölkerung. Was diese Beispiele nicht zeigen
„Neger, Neger, Schornsteinfeger – Meine Kind-                       können ist, dass mit dieser Präsenz und diesen
heit in Deutschland“.32 Xavier Naidoo, dessen                       Errungenschaften Konzeptualisierungen von
Eltern indischer, südafrikanischer, irischer und                    Nation und „Rasse“ aus dem kollektiven Be-
deutscher Herkunft sind und der in Mannheim                         wusstsein der weißen Mehrheitsgesellschaft
lebt und aufgewachsen ist, hat eine führende                        verschwunden wären.

Der Kampf gegen das N-Wort

„Woher kommen Sie?“ „Wann gehen Sie wie-                            dem ausgrenzen, was im Allgemeinen von der
der zurück?“ „Woher sprechen Sie so perfekt                         Mehrheit unter deutscher Nation verstanden
Deutsch?“ Dies sind Fragen, welche Menschen,                        wird. Die meisten weißen Deutschen reagieren
die nicht „typisch“ deutsch aussehen, insbe-                        ablehnend, wenn sie mit dem zugrunde liegen-
sondere Schwarzen Menschen, fast täglich ge-                        den Alltagsrassismus solcher Fragen konfron-
stellt werden – Fragen, die sie als „Fremde“ von                    tiert werden, und verteidigen sich mit der Ver-
                                                                    sicherung, nicht rassistisch zu sein und nichts
                                                                    Böses gemeint zu haben, in der Regel mangels
31 Die Konferenz fand mit Unterstützung zahlreicher Ins-
                                                                    eines Bewusstseins von den oben ausgeführ-
   titutionen in Frankfurt/Main, Bielefeld und Berlin statt.
   Die Hauptbeiträge wurden später veröffentlicht in Ma-            ten historischen Konzeptualisierungen und de-
   rion Kraft und Rukhsana Shamim Ashraf-Khan (Hg.):                ren politischen Implikationen. Auch in diesem
   Schwarze Frauen der Welt, Europa und Migration, Ber-
   lin: Orlanda, 1994.
                                                                    Kontext zeigt sich erneut die Notwendigkeit
32 Massaquoi, 1999.                                                 antirassistischer Bildung.

                                                               11
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Ein schwerer wiegendes Problem stellt eine                    ma „wir“ versus die „Anderen“ konstituiert.
gewisse Haltung von Superiorität dar, die sich                Der Hinweis auf rassistische Haltungen führt
oft darin zeigt, dass weiße Menschen, auch ge-                demzufolge oft zu Strategien der Selbstvertei-
bildete Liberale, sich das Recht des Signifikan-              digung zum Beweis der Vorurteilsfreiheit. Der
ten in Diskursen über rassistischen Sprachge-                 Gebrauch verletzender Sprache, Stereotypisie-
brauch anmaßen. So wurden auf Initiative von                  rungen und selbst „black facing“ in deutschen
Schwarzen Deutschen im Jahr 2012 von den                      Theatern und Fernsehsendungen wird sodann
Herausgebern populärer Kinderbücher aus                       gerechtfertigt mit dem Hinweis auf einen histo-
den 1950er Jahren33 pejorative Begriffe wie das               rischen Sprachgebrauch und der Verteidigung
N-Wort durch neutralere Ausdrücke ersetzt.                    der Kunst als wertneutrale Ausdrucksform.
Dieser kleine, längst überfällige Schritt verur-              Der Kern solcher Einstellungen wird gebildet
sachte eine mediale Debatte über „political                   von der Negation der verschiedenen Facetten,
correctness“, in der den Bezeichneten von den                 die Kunst und Literatur konstituieren, und den
Bezeichnern vorgeworfen wurde, Zensur aus-                    verschiedenen Facetten, die Rassismus konsti-
zuüben, die deutsche Sprache ihrer kulturellen                tuieren. Schwerer wiegt noch die Arroganz und
Traditionen berauben zu wollen und die Freiheit               Selbstgerechtigkeit, mit der einige Weiße ihre
der Kunst zu gefährden. Wiederum wurde der                    Macht in den Medien nutzen, um die „Anderen“
historische, koloniale Kontext, auf dem rassis-               zu definieren. Auf der anderen Seite existieren
tische Wörter und Bilder in diesen Büchern ba-                jedoch Organisationen und Regenbogen-Koali-
sieren, ignoriert. Die zum Teil bizarre Debatte,              tionen, die solchen Einstellungen entgegenwir-
die sich dabei um den Gebrauch des N-Worts                    ken, und es gibt auch breite Aktionsbündnisse
entwickelte, kann vielleicht am ehesten ver-                  gegen Rassismus. Aber solange die Tatsache,
standen werden, wenn man in Betracht zieht,                   dass Deutschsein nicht gleichzusetzen ist mit
dass „Rasse“ im deutschen Sprachgebrauch                      Weißsein, das Bewusstsein der Mehrheits-
aufgrund der jüngeren deutschen Geschichte                    gesellschaft nicht erreicht hat, scheinen alle
ein Begriff ist, der gerne vermieden wird. Ras-               Beteuerungen und Beschwörungen eines an-
sismus wird auch oft gleichgesetzt mit „Frem-                 tirassistischen, multikulturellen Deutschlands
denfeindlichkeit“, was wiederum das Paradig-                  Lippenbekenntnisse zu sein.

Racial Profiling und Gewalt

Alltagsrassismus und Rassismus in den Medien                  Anlass ihrer Kontrolle (und in der Folge die
korrespondieren mit institutionellem Rassis-                  Festnahme des Klägers in einem Regionalzug)
mus. So ist racial profiling eine gängige Praxis              einzig seine Hautfarbe war; sie habe ihn „ver-
der Bundespolizei. Schwarze Menschen wer-                     dächtig“ gemacht. Vor dem Amtsgericht hatte
den häufig in Bahnen oder auf Flughäfen ohne                  der Student seinen Prozess noch verloren. Die
Anlass aufgrund ihrer Hautfarbe Passkontrol-                  nach diesem Vorfall von der ISD initiierte Pe-
len unterworfen. 2012 gewann ein Schwarzer                    tition an den deutschen Bundestag gegen die
deutscher Student seinen Prozess in zweiter                   Praxis des racial profiling fand große Unter-
Instanz, weil die Polizeibeamten zugaben, dass                stützung in der Bevölkerung. Viele der weißen
                                                              Unterstützer sagten aber auch, dass ihnen die
                                                              Existenz einer solchen Polizeipraxis vorher gar
33 Etwa Ottfried Preußler: Die kleine Hexe, Thienemann
   1957.                                                      nicht bekannt gewesen war.

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MARION KRAFT
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Ein noch weitaus ernsthafteres Problem ist die              lemen konfrontiert sind – unabhängig von ih-
Unkenntnis vieler weißer Deutscher darüber,                 rem nationalen oder ethnischen Hintergrund.
dass Schwarze Menschen in Deutschland in                    In Deutschland geboren zu sein, einen deut-
den vergangen Jahren oft Opfer rassistischer                schen Pass zu besitzen, in einer privilegierten
Gewalt wurden. Die schlimmsten Fälle sind                   Position zu sein, bietet keinen Schutz vor ras-
die von Antonio Melis und Oury Jalloh, beide                sistischer Gewalt. Man kann weiße Familien-
37 Jahre alt. Melis wurde 1997 von Neonazis                 mitglieder haben, in eine weiße Nachbarschaft
attackiert, geschlagen und in der Havel er-                 integriert sein, weiße Freunde, Studentinnen
tränkt. Jalloh verbrannte in einer Polizeizelle in          und Kolleginnen haben: Außerhalb dieser Welt
Dessau im Jahr 2005. Die diensthabenden Be-                 besteht ständig die Gefahr von Diskriminie-
amten wurden nicht schuldig gesprochen. Die                 rungen, Feindseligkeiten und sogar Gewalt.
Liste rassistisch motivierter Gewalt ist jedoch             Wie Audre Lorde schon vor mehr als zwan-
wesentlich länger. 34 In verschiedenen Publika-             zig Jahren bei ihren Lesungen in Deutschland
tionen, in Blogs, sozialen Netzwerken, Work-                betonte: „Rassismus in Deutschland muss als
shops und Diskussionsveranstaltungen hat die                Problem erkannt werden, und die Tatsache,
Black Community in Deutschland gegen diese                  dass ihr nicht People of Color seid, bedeu-
rassistischen Gewalttaten protestiert und die-              tet nicht, dass Rassismus keinen Einfluss auf
se einer breiten Öffentlichkeit überhaupt erst              alle Bereiche eures Lebens hat.“ 35 In diesem
bekannt gemacht.                                            Zusammenhang sind breite Koalitionen in
                                                            Deutschland erforderlich, mit dem Ziel, alle
Diese Vorkommnisse zeigen, dass Schwarze                    Formen von Diskriminierung und Gewalt zu
Menschen in Deutschland mit ähnlichen Prob-                 bekämpfen.

Transkulturelle Identitäten und Bündnisse

Die Black Community in Deutschland ist ein                  len Deutschlands gemacht. Einige sehen sich
wichtiger Katalysator im Kampf gegen Ras-                   selbst einfach als Deutsche, einige als Teil der
sismus auf allen Ebenen und für positive ge-                afrikanischen Diaspora, einige, wie die Wissen-
sellschaftliche Veränderungen. Es ist jedoch                schaftlerin, Dichterin und Aktivistin May Ayim,
wichtig festzuhalten, dass wir hier nicht von               legen stärkeren Wert auf ihr zweifaches kul-
einer Black Community sprechen können wie                   turelles Erbe. Diese Unterschiede zeigen sich
in den USA, in Großbritannien, Frankreich oder              auch in der Literatur, nicht nur in Autobiogra-
den Niederlanden. In Deutschland gibt es di-                fien, sondern auch in Fiktion und Dichtung. In
verse Schwarze kulturelle Zentren, aber keine               ihrem Gedicht „grenzenlos und unverschämt
Schwarzen Nachbarschaftsbezirke, und orga-                  – ein gedicht gegen die deutsche schein-heit“
nisatorische Formen des Zusammenschlusses                   schreibt May Ayim:
existieren hauptsächlich in einigen größeren
                                                              ich werde trotzdem
Städten. Darüber hinaus haben Schwarze Men-
                                                              afrikanisch
schen in Deutschland verschiedene kulturelle                  sein
Hintergründe und verschiedene Erfahrungen                     auch wenn ihr
zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Tei-                 mich gerne

34 Vgl. Noah Sow: Deutschland Schwarz Weiß, München:        35 In dem Film „Audre Lorde: The Berlin Years – 1984 –
   Bertelsmann, 2008; und ManuEla Ritz, 2009.                  1992“.

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  deutsch                                                             konstituiert der gemeinsame afrikanische Ur-
  haben wollt                                                         sprung nicht an sich die afrikanische Diaspora.
  und werde trotzdem
                                                                      Vielmehr basiert die Annahme, dass Schwarze
  deutsch sein
  auch wenn euch
                                                                      Menschen der Welt Teil einer Community sind,
  meine Schwärze                                                      primär auf einer geopolitischen Orientierung
  nicht passt36                                                       statt auf der tragfähigen Beibehaltung kultu-
                                                                      reller Traditionen. 38 Wie oben dargelegt, ha-
Ayim beansprucht damit ihr afrikanisches Erbe                         ben Schwarze Menschen in Deutschland und
und ihr Deutschsein. Die in London lebende                            Schwarze Deutsche unterschiedliche Familien-
afro-deutsche Autorin Olumide Popoola pub-                            geschichten, deren Wurzeln in Afrika, Amerika
liziert in Englisch und thematisiert eher dias-                       und in Europa liegen. Viele Schwarze Deutsche
porische Erfahrungen, die geopolitisch Afrika                         haben Verbindungen zu der afrikanischen
und Europa umspannen und, um einen Begriff                            Heimat ihrer Vorfahren hergestellt, anderer-
von Taiye Selasi zu entlehnen, „Afropolitan“                          seits haben viele gar keine Bezugspunkte zu
in einem weiteren Sinn sind. Demgegenüber                             Afrika. Darüber hinaus gibt es natürlich auch
schreibt die Schwarze deutsche Dichterin Raja                         Unterschiede hinsichtlich des Alters, des Ge-
Lubinetzki37, die in der DDR aufgewachsen ist,                        schlechts und der sozialen Klasse, der fami-
ausschließlich auf Deutsch über Themen wie                            liären Situationen, kulturellen und sexuellen
Entfremdung, Einsamkeit, Sprachlosigkeit und                          Präferenzen, politischen Standpunkte und des
Isolation und spielt gleichzeitig in ihren Dekon-                     politischen Engagements. Die Wahrnehmung
struktionen von Heimat und Identität mit der                          und Anerkennung dieser Vielfalt und deren
deutschen Sprache.                                                    kreative Umsetzung kann Prozesse gegenseiti-
                                                                      gen Verständnisses befördern und damit auch
Obwohl er in diesem Beitrag benutzt wird, soll                        Aktionen initiieren, die zur Durchsetzung ge-
hier auch auf die Problematik des Begriffes                           meinsamer positiver Ziele und zu notwendigen
„Afrikanische Diaspora“ hingewiesen werden.                           Veränderungen führen.
Irreleitend könnte hier die falsche Vorstellung
sein, Afrika sei nicht ein Kontinent verschie-                        Die Auseinandersetzung mit und der Diskurs
dener Nationen, Geschichten, Kulturen und                             über Rassismus müssen auch im globalen Kon-
diverser ethnischer Gruppen, sondern ein ho-                          text gesehen werden. Wie ausgeführt begann
mogenes Land mit einer Kultur, Religion und                           dies in Deutschland in den späten 1980er und
Geschichte. Dies trägt nicht nur zu bestehen-                         frühen 1990er Jahren. Seitdem haben der Aus-
den weißen europäischen Stereotypen über                              tausch von Studierenden und Lehrenden zwi-
Afrika bei, sondern auch zu der Negation der                          schen Deutschland und den USA, die Anerken-
Vielfalt, Diversität und des Reichtums afrikani-                      nung Schwarzer deutscher Autorinnen und Au-
scher Kulturen. Diesen Reichtum afrikanischer                         toren dort und in Großbritannien und die Prä-
Kulturen haben verschiedene Menschen afri-                            senz Schwarzer deutscher Wissenschaftlerin-
kanischer Herkunft in ihre Selbstdefinitionen                         nen und Wissenschaftler auf internationalen
einbezogen und damit gleichzeitig europäische                         Tagungen Möglichkeiten geschaffen, Erfahrun-
rassistische Vorstellungen konterkariert. Aber                        gen und Ideen über nationale Grenzen hinaus
für Schwarze Deutsche bedeutet dies nicht                             zu teilen. Black German Studies sind inzwischen
automatisch, dass Afrika zur Basis ihrer Selbst-                      eine anerkannten Disziplin in akademischen
definition würde. Wie Anne Adams betont,                              Diskursen in den USA, aber auch in Europa
                                                                      hat sich in den letzten Jahren ein wachsendes
36 May Ayim: Blues in Schwarz Weiß, Berlin: Orlanda, 1995,
   S. 61.
37 Vgl. Raja Lubinetzki: Das leidige Hindernis, Halle (Saale):        38 Vgl. Anne Adams: The Soul of Black Volk. Contradiction?
   Edition Cornelius Art, 2013.                                          Oxymoron?, in: Mazón and Steingröver, op. cit., S. 226.

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