WELTEN EISIGE - berg'spektiven | Simon Schöpf

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WELTEN EISIGE - berg'spektiven | Simon Schöpf
SPITZMARKE

                                                     TD
                                                 T EN ECKE
                                               EL         N
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                                                                       UN
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                                                            5

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                                                                           HE
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                                                                       C
                                                  CH                       A
                                                                       M
                                                          ­ E SS E R
                                                       EN B

                    EISIGE
                    WELTEN
                 Die landschaftsprägenden Eismassen der Gletscher
                sind zu sichtbaren Ikonen der Klimakrise geworden.
             Fünf Personen erzählen, wie sie die Veränderung erleben –
                     ein Porträt der schwindenden Schönheiten,
                        die manche als Lebewesen verstehen.
                                       TEXT: SIMON SCHÖPF
                                      FOTOS: ROBBIE SHONE

                                            Faszinosum Eis
                       Am Ende einer Gletscherzunge – wie hier am Taschachferner
                        in den Ötztaler Alpen – bildet sich durch Schmelz­wasser
                               eine halbrunde Öffnung, das Gletschertor.
                        Aus dem Bauch des Gletschers fließt im ständigen Strom
                                    die sogenannte Gletschermilch.

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SPITZMARKE

1. Der Forscher                                      uns Gletscherforschern erst im Mai an. Gut, dass
                                                     wir den ganzen Winter Zeit zum Üben hatten.“                    70 %
DAS EIS ALS                                                Der Grund für diese glaziologische Schwer-
                                                     arbeit ist die Massenbilanz, die Prinz mit sei-
                                                                                                                 DES SÜSSWASSERS
                                                                                                             der Welt und sind in Gletschern

­GROSSES                                             nem Team am Institut für Atmosphären- und
                                                                                                              (inkl. Polregionen & Grönland)
                                                                                                             gespeichert. Sie sind nach den
                                                     Kryosphärenwissenschaften der Universität Inns-          Ozeanen die größten Wasser-
 ­FREILUFTLABOR                                      bruck jährlich für den Hintereisferner erstellt. Al-            speicher der Erde.
                                                     le 20 vertikalen Zentimeter wird ein Röhrchen
                                                     mit Schnee gefüllt und gewogen, die Dichte von
                                                     Schnee reicht von 100 (lockerer Pulverschnee) bis
                                                     900 (festes Eis) Kilogramm pro Kubikmeter. „Auf
                                                     die gesamte Gletscherfläche extrapoliert wissen
                                                     wir dann, wie viel Wasser hier über den Winter

D     er erste Mai sollte ein Traumtag werden.
      Wolkenloser Himmel, ein bisschen Neu-
                                                     gespeichert wurde.“ Jedes Jahr wird Bilanz gezo-
                                                     gen, und das bereits seit über 60 Jahren, die zweit-

                                                                                                                          1/3
schnee, wenig Wind. Gut so, denn wenn man            längste Messreihe weltweit. Der Schneeschacht
einen der führenden Glaziologen Österreichs          ist gleichzeitig ein konserviertes Witterungspro-
treffen will, muss man schon mal rauf auf über       tokoll: Bei 3,50 Meter identifiziert Prinz eine klei-
                                                                                                                     DES ANSTIEGS
3.000 Meter. Auch wenn unten im Südtiroler           ne, gelbliche Schicht, „das ist Schnee vom letzten         DER MEERESSPIEGEL
Vinschgau bereits die Apfelbäume blühen, hier        Oktober, vermischt mit Saharastaub. Da gab’s            ist auf die weltweite Gletscher-
oben in den Ötztaler Alpen ist noch tiefster         einen großen Sturm mit Überschwemmungen in                 schmelze zurückzuführen.
Winter, die Landschaft mit einer meterdicken         Oberitalien“, erinnert sich der Forscher.
Schneeschicht überzogen. 3,82 Meter, um ganz               Der Hintereisferner wird ähnlich gut über-
genau zu sein, und Rainer Prinz interessiert jeder   wacht wie ein Patient auf der Intensivstation.
Zentimeter davon.                                    Tägliche Messungen mit dem Laserscanner, Web-
      Nur, ihn zu lokalisieren ist in der Praxis     cams, Wetterstationen, Schneeschächte, Massen-
gar nicht so einfach – wir sind mit den Tourens-     bilanz – mittels High-Tech-Ausrüstung werden
ki auf das „Hintere Eis“ gestiegen, stehen genau     hier Messungen und Methoden verfeinert, die
auf der Grenze von Nord- und Südtirol, vor uns       Modelle global angewandt. Für die Forscher ist

                                                                                                                    10 m
ein Panorama der Extraklasse. Von hier oben be-      die Gegend ein einmaliges, riesiges Freiluftlabor.
trachtet sieht man kleine, schwarze Punkte über      „Solche Daten über einen derart großen Zeitraum
das endlose Weiß des Hintereisferners ziehen,        sind weltweit fast einzigartig“, meint Prinz nicht
                                                                                                                       NEUSCHNEE
wie Ameisen, die über ein riesiges Bettlaken spa-    ohne Stolz in der Stimme. Nur deuten alle Daten         besitzt frisch gefallener Schnee,
zieren. Die meisten Ameisen bilden eine Straße       darauf hin: Der Patient liegt im Sterben.               Gletschereis komprimiert ihn zu
in Richtung Weißkugel, mit 3.735 Metern der                                                                    einer Dichte von 0,9 g/cm3
vierthöchste Berg Österreichs und an diesem Fei-
ertag ein entsprechend begehrtes Gipfelziel bei          DIE GLETSCHER VERÄNDERN SICH
Alpinisten. Nur zwei kleine Punkte in der Mitte
des Gletschers reißen aus dem Pilgerstrom aus,       Warum uns das alle etwas angeht erschließt sich
verschwinden manchmal ganz, tauchen wenig            erst nach Sonnenuntergang – und nach erledig-
später wieder an der Oberfläche auf. Erst aus der    ter Arbeit in der kleinen Biwakschachtel der Uni
Nähe betrachtet entdeckt man den mannstiefen         Innsbruck. In exponierter Lage am Grat hoch                                                         Glaziologische
                                                                                                                                                           Schwerarbeit
Schacht, aus dem alle paar Sekunden eine Schau-      über dem Gletscher ist sie seit 1966 ein Refugi-
                                                                                                                                                   Fast vier Meter tief ist

                                                                                                                       0,1
felladung Schnee nach oben katapultiert wird, mit    um für die Wissenschaftler. Ein kleines Mat-                                                der Schacht, den Rainer
unserem gesuchten Glaziologen darin. „Ab zwei        ratzenlager gibt es hier, die Gaslampe flackert,                                             Prinz mit seinem Team
Metern Tiefe wird das Schaufeln exponentiell an-     am Herd köchelt die Kilopackung Spaghetti ge-                                               der Uni Innsbruck jedes
                                                                                                                     g / cm3 DICHTE                Jahr in den Hintereis-
strengender“, sagt Rainer Prinz und wischt sich      mächlich Richtung al dente. Rainer Prinz kommt
                                                                                                             besitzt frisch gefallener Schnee,     ferner schaufelt. Sinn
den Schweiß von der Stirn. „3,82 Meter sind es       mehrmals im Jahr hier hoch, immer bepackt mit           Gletschereis komprimiert ihn zu        ist die Erstellung der
hier bis zum Eis. Das Schneeschaufeln fängt bei      schwerem Rucksack voller Messinstrumente,                 einer Dichte von 0,9 g/cm3                  ­Massenbilanz.

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WELTEN EISIGE - berg'spektiven | Simon Schöpf
SPITZMARKE
                                                                                                                                             LEBENDES SYSTEM GLETSCHER
                                                                                                                                             Wie entsteht eine Gletscherspalte, wie schnell bewegt sich
                                                                                                                                             das Eis, wie schwer wiegt Schnee?                                                                           Fast wie ein Spiegel

                                                                                                            730.000
                                                                                                                                                                                                                                                         Gletscher haben durch
                                                                                                                                                                                                                                                         ihre Reflexion einen
                                                                                                                                             ILLUSTRATION: MANUEL BORTOLETTI
                                                                                                                                                                                                                                                         entscheidenden Einfluss
                                                                                                                         km3                                                                                                                             auf das Weltklima:
                                                                                                             bedecken die rund 200.000                                                                                                                   Ihre weiße Oberfläche
                                                                                                          ­Gletscher auf unserem Planeten.                                                                                                               reflektiert bis zu 90%
                                                                                                            Die weltweite Gletscherfläche                                                                                                                der Sonnenstrahlung.
                                                                                                                ist damit etwa so groß
                                                                                                             wie Deutschland, Dänemark                                                                                                Woraus Frischwasser besteht
                                                                                                                                                                                                                 Ein Gletscher
                                                                                                                und Polen zusammen.                                                                                                   1,2% Oberflächenwasser
                                                                                                                                                                                                       ist eine aus Schnee her­
                                                                                                                                                                                                      vorgegangene Eismasse
                                                                                                                                                                                                     mit einem klar definierten
                                                                                                                                                         1
                                                                                                                                                                                                              Einzugsgebiet, die
                                                                                                                                                                                                              sich aufgrund von
                                                                                                                                                        nÄhrgebiet                                                                     30,1% Grundwasser
                                                                                                                                                                                                          spezifischen Faktoren
                                                                                                                                                                                                          eigenständig bewegt.

                                                                                                                                                                   2

                                                                                                                                                                                zehrgebiet
                                                                                                                                                                                                                                       68,75% Gletscher, Oberflächeneis
                                         3000 Meter über dem Meer

                                                                                                                                                                                                                                      200.000
                        Hier liegen die Messstationen der Forscher am Hintereisferner,
                       die seit Jahrzehnten wichtige Klimadaten akribisch protokollieren.
                       Die Wartung der feinen Instrumente ist entsprechend aufwendig.

                                                                                                                7.000
                                                                                                                                                                                                                                     Anzahl der weltweiten Gletscher
                                                                                                                                                                                                                                      Ihre Gesamtfläche beträgt etwa
                                                                                                                                                 eisfliessbewegung             gletschertor                            moräne            730.000 Quadratkilometer
                                                                                                                 METER PRO JAHR
                                                                                                             fließt der Jakobshavn Isbræ     1
                                                                                                              auf Grönland und ist damit                                                        Als bedeutende Landschafts-                              Gletscher der Welt
                                                                                                                                             Aus Schnee                                         former ragten die Alpengletscher                         Sie bedecken eine
                                                                                                           der dauerhaft am schnellsten      wird Eis
                                                                                                           ­fließende Eisstrom der Welt.                                                        in Kaltzeiten bis ins Alpenvorland                       Fläche so groß wie
                                                                                                                                             0,1 g/cm3                                 0,1
                                                                                                                                                                                                und prägen die Landschaft bis                            Deutschland, Polen
                                                                                                                                             Dichte                                    g/cm3
                                                                                                                                                                                                heute. Gletscher sind zudem                              und Dänemark
                                                                                                                                             besitzt frisch                                     Indikatoren für Klimaänderungen.                         zusammen
                                                                                                                                             gefallener                                         Nahezu weltweit ist seit Beginn
Proviant, der obligatorischen Flasche Rotwein für     Die Gletscher sind zu Ikonen des Klimawandels                                          Schnee,                                            der Industrialisierung ein deut-

                                                                                                                                                                                                                                              33%
den Abend. Gezeichnet vom ganzen Tag Schnee-          geworden“, meint Prinz. „Gut, neben den Eisbä-                                         Gletschereis                                       licher Rückgang der Gletscher
                                                                                                                                             komprimiert ihn                                    zu beobachten. Schmilzt im
schaufeln unter der intensiven Höhensonne wird        ren. Wenn wir so weitermachen wie bisher pro-                                          zu einer Dichte                           0,9      Zehrgebiet mehr Eis als im
bei einem Glas Merlot erst so richtig klar, wor-      phezeien uns alle Messungen und Modelle, dass                                          von 0,9 g/cm3.                                     Nährgebiet produziert wird
                                                                                                                                                                                       g/cm3
um es ihm eigentlich geht: „Den Gletschern ist        wir in 100 Jahren weitgehend eisfreie Alpen ha-                                                                                           (siehe oben), zieht sich der             des beobachteten Anstiegs
es ziemlich egal, ob sie schmelzen oder nicht. Die    ben werden. Aber die Pyrenäen sind doch auch                                                                                              Gletscher zurück.                    des Meeresspiegels ist auf schmelzende
                                                                                                                                                                                                                                           Gletscher zurückzuführen
Auswirkungen treffen vor allem uns Menschen.          ohne Gletscher wunderschön, oder nicht?“, kom-
Nur leider fehlt es oft am Verständnis für den        mentiert er die Entwicklung durch seine nüch-                                          10 Meter                                                                                 Wie schnell ist
                                                                                                                                                               2
größeren Zusammenhang der Dinge, für das Sys-         tern-wissenschaftliche Brille. Und wird nach                                           Neuschnee                                                            randspalten         ein Gletscher?
tem. Was uns die Gletscher geben, sind zeitverzö-     einem Schluck Merlot aber doch emotional: „Je                                          sind notwendig,   Entstehung                                                             (Meter/Jahr)              7.000
                                                                                                                                                               von                                               längsspalten
                                                                                                                                             um 1,10 Meter                                                                                                   Jakobshavn
gerte Alarmleuchten.“                                 mehr wir über Gletscher wissen, desto mehr wer-                                                          Gletscher­                                         querspalten
                                                                                                                                             Gletschereis zu                                                                                                  (Grönland)
      Dass sich das globale Klima rapide erwärmt,     den wir uns mit ihnen verbunden fühlen. Schafft                                        erzeugen.         spalten                                                 séracs
ist mittlerweile tausendfach belegt. Dass homo        es die Menschheit, den Temperaturanstieg auf un-                                                         Durch die

                                                                                                                  46,8
sapiens der Hauptverursacher dieser Verände-          ter 2°C zu begrenzen, können wir ein Drittel des                                                         ständige
                                                                                                                                                               Fließbewegung
rung ist, ebenso. Selten ist diese Veränderung so     heutigen Eisvolumens der Alpen retten. Schaffen
                                                                                                                                                               des Eises
greifbar, so gut sichtbar wie an gewaltigen Eis-      wir das nicht, gibt es keinen Weg, sie wieder zu-         METER PRO TAG                                  entstehen
massen, die sich mit einem bisher ungesehenen         rückzuholen.“ Denn neben der Biodiversität und        bewegte sich der Jakobshavn                        je nach
Tempo zurückziehen. Zwei Drittel seines Volu-         den Wasserspeichern schmilzt mit den Gletschern     Isbræ 2012, die größte je gemes-                     Untergrund
                                                                                                           sene Fließgeschwindigkeit des                       Längs- bzw.      gletscherbett                                                20
mens hat der Hintereisferner seit 1850 eingebüßt,     vor allem eines: ein einzigartig-ästhetisches Na-
                                                                                                           Gletschers. Der Hintereisferner                     Querspalten.     eis                                                    Hintereisferner
„ seit rund 30 Jahren ist die Gletscherschmelze in    turwunder, das uns Menschen und unseren Le-         bewegt sich mittlerweile rund 20                                                                                                 (Alpen)
                                                                                                                                                                                Stauchwüste
den Alpen zu hundert Prozent menschengemacht.         bensraum seit Jahrtausenden prägt.                           Meter. Pro Jahr.

22                                                                                                                                                                                                                                                                         23
WELTEN EISIGE - berg'spektiven | Simon Schöpf
SPITZMARKE

3. Die Hüttenwirtin

DAS EIS ALS
NACHBAR

S   usanne Gleirschers Nachbar zieht jedes Jahr
    ein Stück weiter weg von ihr. Was nicht an Su-
sannes Art liegt, die wäre als offenherzig und ehr-
lich einzustufen, sondern daran, dass ihr Nachbar
aus Eis gebaut ist: Der Sulzenauferner gehört zu
den größten Gletschern in Tirol und ist beinahe
vom ganzen Stubaital aus sichtbar, er verleiht der
Landschaft ihre alpine Prägung. Susanne bewirt-
schaftet seit sechs Jahren das gleichnamige Alpen-
vereins-Schutzhaus zu seinen Füßen, die idylli-
sche Sulzenauhütte auf 2.191 Metern Meereshöhe.
                                                                                                                                                                    Aus Eis wird Wasser. Der mächtige Sulzenauferner reichte vor 70 Jahren bis zur Hütte
      „Vom Küchenfenster siehst genau auffi aufn                                                                                                                        ­hinunter, jetzt sind es gute eineinhalb Stunden Fußmarsch bis zum Gletscher.
Ferner, und wenn mal nit viel los is, schaut ma       früher das „ewige Eis“ das Tal bedeckte, ist ein       Susanne Gleirscher
scho viel rauf. Und macht sich so seine Gedan-        See entstanden, gespeist vom Schmelzwasser des       und ihre Sulzenauhütte                                Skigebiet Stubaier Gletscher im Sommer. Im Winter tummeln sich hier tausende Skifahrer
                                                                                                            in den Stubaier Alpen.                                 auf weißen Pisten, im Sommer werden die Eisreste durch riesige, weiße Vliese geschützt.
ken“, sagt Gleirscher. Sie ist lange genug hier       Gletschers. Und just diese veränderte Landschaft
                                                                                                           Die Postkarte zeigt den
oben, um eine Veränderung zu bemerken: Seit           bereitet der Hüttenwirtin Kopfzerbrechen.            Stand des Sulzenaufer-
ihrem sechsten Lebensjahr verbringt sie jeden               Vor zwei Jahren prasselte im Sommer be-        ners vor gut 30 Jahren,
Sommer am Berg, schon ihre Eltern haben die           sonders viel Regen auf den Ferner, wahrschein-            im Hintergrund der
                                                                                                            ­reduzierte Jetztstand.
Hütte bewirtschaftet, ihr Ur-Ur-Großvater ist der     lich lösten sich dadurch größere Eisbrocken – der
Grundeigentümer. „Meine Oma erinnert sich             See entlud sich eines Augustabends mit ganzer
daran, dass die Gletscherzunge früher sogar bis       Gewalt, eine Flutwelle mit Tonnen von Steinen
unterhalb der Hütte gereicht hat. Heute sind es       bahnte sich ihren Weg Richtung Hütte, „es hat
eineinhalb Stunden Fußmarsch bis zum Eis“, be-        g’rumpelt, dass das Haus g‘wackelt hat“, erin-
richtet Gleirscher. Damit veränderte sich auch        nert sich die Hüttenwirtin. Nur durch Glück
das Klientel der Hüttengäste. Früher kamen pri-       blieb die Hütte verschont, das E-Werk und die
mär Hochtourengeher mit Gletscherausrüstung,          Versorgungsleitungen allerdings nicht. Zehn Ta-
auch Ausbildungskurse wurden regelmäßig hier          ge musste die Sulzenauhütte geschlossen bleiben,
veranstaltet. Heute sind es vorwiegend Wanderer       die Reparaturen dauerten bis in den Herbst. Mitt-
in leichten Trekkingschuhen, die am Stubaier Hö-      lerweile ist der See wieder gut gefüllt, an Regen-
henweg unterwegs sind. „Wir mussten sogar den         tagen schleicht sich auf der Hütte ein mulmiges
Normalweg auf das Zuckerhütl sperren, unser           Gefühl ein. „Wir müssen uns mit den Umständen
prominentester Gipfel hier. Zu wenig Eis, zu viel     arrangieren“, meint Gleirscher pragmatisch.
Steinschlag. Gäste, die vor zehn oder 20 Jahren             Von der sonnigen Terrasse aus, auf der un-
schon mal hier waren, können das oft gar nicht        sere Gastgeberin ihre Geschichte erzählt, hört
glauben, die sind regelrecht geschockt.“              man an diesem Sommertag die Vögel trällern.
                                                                                                                                      Zusatzfoto: Simon Schöpf

      Die Alpengletscher hatten um 1850 ihre letz-    „Während meiner Kindheit war hier Stille. Un-
ten Höchststände. Seitdem sind sie am Rückzug,        ten im Tal, freute ich mich immer am meisten auf
doch in den letzten Jahren wurde das Tempo im-        das Gezwitscher“, erinnert sich Gleirscher. Durch
mer rasanter. Im Falle des Sulzenauferners ist die    die Klimaveränderung sind Singvögel zu neuen
Veränderung besonders anschaulich: Dort, wo           Hüttengästen geworden.

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WELTEN EISIGE - berg'spektiven | Simon Schöpf
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                                                     2. Der Betreiber

                                                     DAS EIS ALS
                                                     TOURISTEN­
                                                     ATTRAKTION

                                                     E    igentlich war alles nur ein einziger, großer
                                                          Zufall. Ein kleiner Spalt – nicht mal zwei Me-
                                                     ter breit – genügte, um Roman Erlers Aufmerk-                               Roman Erler
                                                     samkeit zu fesseln. „Ich war gerade mit einer                    ist der Entdecker und ­Betreiber
                                                                                                                          des Natureispalastes am
                                                     Gruppe am Rückweg vom Olperer, da is ma der
                                                                                                                        ­Hintertuxer Gletscher, einer­
                                                     Schlitz neben der Piste Nummer 5 aufgefallen.                        ­eisigen Wunderkammer.
                                                     Am nächsten Tag bin ich dann gleich no amal
                                                     rauf.“ Eine neue Öffnung im Eis wäre sonst ei-
                                                     gentlich nichts Ungewöhnliches auf einem Glet-
                                                     scher, Spalten gibt es am Hintertuxer Gletscher
                                                     im Tiroler Zillertal zu Hauf. Überall, nur eben       ordinäre Gletscherspalte“, erinnert sich Erler.
                                                     nicht auf der Piste Nummer 5. Bis jetzt.              Tatsächlich hat sich am Hintertuxer Gletscher
                                                           Roman Erler, großgewachsen, weißer Bart,        auf 3.200 Metern Seehöhe eine Gletscherhöhle
                                                     strenger Blick, ist ein von Grund auf neugieriger     gebildet. Das Eis ist hier am Fels festgefroren und
                                                     Mensch. Im Sommer zieht es ihn in abgelegene          bleibt durch geografische Besonderheiten von
                                                     Täler, die sonst keiner durchwandert, er sucht        dem fließenden Teil des Gletschers getrennt, „seit
                                                     nach Bärenknochen und seltenen Mineralien. Im         10 Jahren hat sich das keinen Zentimeter bewegt.“
                                                     Winter begleitet er als Bergführer Gäste auf den      Durch diesen Umstand hatte das Wasser genü-
                                                     Olperer, den höchsten Berg der Tuxer Alpen in         gend Zeit und Muße, sich in bizarrste Eisskulptu-
                                                     Tirol, organisiert Spaltenrettungen mit der Ber-      ren zu verwandeln und sein geheimes Innenleben
                                                     grettung. Über 200 Tage im Jahr verbringt er jen-     preiszugeben. „Wir sind hier tief im Gletscher, 35
                                                     seits der 3.000-Meter-Grenze, und genau darum         Meter über uns ziehen die Skifahrer ihre Kurven.
                                                     fiel ihm dieser kleine Spalt auf. Zwei Eisschrau-     Aber was unter der Piste liegt, das ahnt da oben
                                                     ben waren schnell platziert, der Klettergurt über-    keiner“, sagt Erler.
                                                     gestreift, und Roman Erler seilte sich kurzerhand           Wer eintritt in diese Welt, muss kein Glazio-
                                                     hinunter in das kalte, schwarze Loch. Was ihm         loge sein, um sich für das Eis zu faszinieren. Es
Flüssiges Eis                                        damals, vor über 10 Jahren, im Lichtkegel der         ist einer der wenigen Orte, an denen man einen
Durch geografische                                   Stirnlampe entgegenglitzerte, das lässt ihn bis       Gletscher von innen bestaunen kann, ganz oh-
­Eigenheiten entstand                                heute nicht mehr los.                                 ne Bergführerausbildung – Roman Erler betreibt
 am Hintertuxer Glet-
                                                           Riesige Stalagmiten, Perleis an der Decke,      den Natureispalast als kommerzielle Sehenswür-
 scher auf 3.200 Metern
 eine permanente Glet-                               Wabeneis an den Wänden – Roman Erler war              digkeit. Wichtiger als der Nettoerlös ist ihm aber
                          Zusatzfoto: Simon Schöpf

 scherhöhle samt unter-                              eingetaucht in eine Welt, die er heute Natureispa-    eines: „Die Leute müssen mit eigenen Augen se-
 irdischem See im Eis.                               last nennt. „Erst amal hab i schlucken müssen.        hen, wie faszinierend diese Welt aus Eis ist. Nur
 Sogar mit einem Boot
                                                     Normal sind Gletscherhohlräume sehr kurzlebig,        wer deren Schönheit gesehen hat, wird sich auch
 kann man hier fahren,
 und wer denn so will,                               die sind heute mal offen und morgen schon wie-        Gedanken darüber machen, wie wir sie erhalten
 auch schwimmen.                                     der zu. Aber das war eine richtige Höhle, keine       können.“

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WELTEN EISIGE - berg'spektiven | Simon Schöpf
SPITZMARKE

4. Der Bergführer

DAS EIS ALS
EXISTENZ­
GRUNDLAGE

„D       er Mann, der mit den Murmeltieren
         spricht!“, hört man die ironische Selbstbe-
schreibung Horst Fankhausers herüberschallen,
als er mit der Sicherheit eines Seiltänzers über
die klobigen Steine des Geröllfeldes balanciert.
Dann ertönt kurz darauf aber doch ein schriller
Pfeifton, das Warnsignal der dicken Alpinnager,
und die braunen, massigen Fellknäuel wuseln zu
ihren Bauten. Obwohl sie ihn eigentlich gut ken-       Horst Frankhauser
                                                       kennt die Gletscher um die Franz-Senn-Hütte in
nen müssten, den Horst: Er ist seit etlichen Jahr-     den Stubaier Alpen wie kein zweiter. Das Foto
zehnten hier oben unterwegs, sommers wie win-          ­illustriert den Rückgang des Alpeiner Ferners
ters, und das trotz seiner 75 Jahre keinen Schritt      ­zwischen den 30er Jahren und 2019 (großes Bild).
langsamer.
      Horst Fankhauser führt uns heute zu einem
seiner Lieblingsplätze, dorthin, „wo man den
Gletscher richtiggehend spürt, ohne dabei am
Eis zu stehen.“ Mit dabei hat er eine historische
Postkarte, die den Stand des Alpeiner Ferners          scher schmelzen.“ Für Bergführer wie ihn wan-
vor 90 Jahren abbildet und damals vom gleichen         delt sich auch der Arbeitsplatz gravierend. Durch
Standort aufgenommen wurde. Etwas wehmütig             den Gletscherschwund und das zunehmende Auf-
blicken Fankhausers wache Augen unter den bu-          tauen des Permafrostes werden viele Wege akut
schigen Brauen schon in die Kamera, als wir das        steinschlaggefährdet oder gleich gänzlich unpas-
Vergleichsfoto aufnehmen, wobei er dann mit ei-        sierbar, „auf die Wildgratscharte mussten wir
nem Lächeln meint: „Eigentlich müsst i jetzt trau-     vor acht Jahren sogar einen Klettersteig bauen“,
rig schauen, aber des kann i gar nit.“                 erklärt Fankhauser, und fügt hinzu: „Und mitt-
      Horst Fankhauser ist eine wandelnde Berg-        lerweile schon drei Mal nach unten verlängern.“
steigerlegende, er war über 30 Jahre Hüttenwirt        Viele der ehemals klassischen Nordwand-Eistou-
auf der nahen Franz-Senn-Hütte in den Stubaier         ren in der Gegend sind mittlerweile unbegehbar.
Alpen, Bergführer-Ausbildner und stieg quasi ne-             Mit Blick auf den zurückgezogenen Alpei-
benbei auf zwei Achttausender. Kurz, es gibt wohl      ner Ferner meint Fankhauser: „Irgendein schlau-
keinen, der mit den Gipfeln, Gletschern und Mur-       er Mann hat einmal gesagt: ‚Alles hat seine Zeit‘.                                   Rückschau
meltieren hier oben mehr verbunden ist, die Ver-       Das trifft wohl auch auf die Gletscher zu. Wenn         Die landschaftsprägenden Eisriesen sind,
änderungen der Landschaft emotionaler miterlebt        uns Gäste auf der Hütte fragen, wie wir dem Kli-     bedingt durch den Klimawandel, weltweit auf
                                                                                                                 dem Rückzug. Für Bergführer wie Horst
hat. „Für mich ändert sich ein Weltbild“, meint        mawandel begegnen, dann sag‘ i immer: Wir
                                                                                                             Fankhauser bedeutet dies ein veränderndes
Fankhauser, „seit gut zehn Jahren galoppiert das       pflanzen jetzt Palmen an und machen einen Golf-            Arbeitsumfeld: Viele der Touren seiner
Tempo, da kannst direkt zuschauen, wie die Glet-       platz auf.“                                              Jugend sind heute nicht mehr kletterbar.

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WELTEN EISIGE - berg'spektiven | Simon Schöpf
SPITZMARKE

5. Der Gletscherfotograf
                                                     Aletschgletscher bei Zermatt in der Schweiz mit
DAS EIS ALS                                          eigenen Augen gesehen. An vier aufeinanderfol-
                                                     genden Jahren nahm Shone an Expeditionen teil,
GESAMT­                                              um die tiefen Gletschermühlen zu fotografieren.
                                                     Jedes Jahr waren die Veränderungen noch deut-
KUNSTWERK                                            licher sichtbar, das Eis zum Teil hunderte Meter
                                                     weit zurückgezogen. „Ich konnte einfach nicht
                                                     glauben, dass es so schnell gehen kann. Und dass
                                                     der Mensch der größte Treiber dieser Beschleu-
                                                     nigung ist.“
                                                           Alle Fotos dieser Geschichte stammen von

B   lau. Es sind vor allem die facettenreichen
    Schattierungen dieser Farbe, die es Robbie
Shone angetan haben. „Vom fast durchsichti-
                                                     Robbie Shone selbst. Viele Male sind wir dafür
                                                     über ein ganzes Jahr in Richtung „Ewiges Eis“
                                                     ausgerückt, und der Autor darf berichten: Shone
gen Hellblau über ein sattes Türkis bis hin zum      kann sich eine geschlagene Stunde mit einem ein-
Stahlblau, im Eis findest du alle Tönungen. Für      zigen Eiszapfen beschäftigen. Dutzende Male den
mich ist das die schönste Farbe, die ich kenne“,     Winkel verändern, die Blitze versetzen, das Ob-
meint Shone. Er gehört zu einer Handvoll Leu-        jektiv wechseln. Bis der Eiszapfen in seiner ganzen
ten weltweit, die die Berufsbezeichnung „Höhlen-     Erhabenheit eingefangen ist. Und es ist exakt die-
fotograf“ auf ihre Visitenkarte gedruckt haben.      se Faszination für die Schönheit des Eises, die ihn
Und die muss man sich erstmal hart erarbeite –       antreibt: „Die Gletscher sind die letzten sichtbaren
über 15 Jahre lang robbte Robbie durch die meist     Zeichen einer vergangenen Welt, der Eiszeit. Den
schlammigen Höhlen seiner Heimat England, die        Gedanken, dass unsere Enkelkinder diese Formen
Kamera immer im Anschlag. Und wer die Insel          und Farben möglicherweise gar nie zu Gesicht be-
kennt, wird verstehen, dass der primäre Farbton      kommen werden, kann ich nicht ertragen. Wir
hier eine Mischung aus matschbraun und stein-        müssen die Schönheit bewahren“, sagt Shone. Sein
grau ist. Umso faszinierter war Robbie, als er mit   Mittel zum Zweck ist die Kamera.
seinem Umzug nach Innsbruck vor fünf Jahren
das Blau der Gletscher für sich entdeckte.
     Wie schnell sich das Eis zurückziehen kann,
hat der Fotograf zum ersten Mal am Gorner- und

                                                                                                                                              Robbie Shone
                                                                                                                                 dokumentiert leidenschaft-
                                                                                                                                    lich die Veränderung der
                                                                                                            Foto: Colin Ronald

                                                                                                                                 Gletscher. Die Fotos dieser
                                                                                                                                  Geschichte sind seine und
                                                                                                                                   sensibilisieren für die fra­
                                                                                                                                   gile Schönheit des Eises.

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WELTEN EISIGE - berg'spektiven | Simon Schöpf WELTEN EISIGE - berg'spektiven | Simon Schöpf WELTEN EISIGE - berg'spektiven | Simon Schöpf
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