Wochenbericht Methan - das unterschätzte Klimagas - DIW Berlin

 
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Deutsches Institut                                                                      Nr. 39/2009
für Wirtschaftsforschung                                                                76. Jahrgang
                                                                                        23. September 2009

Wirtschaft Politik Wissenschaft                                                         www.diw.de

Wochenbericht

Methan – das unterschätzte Klimagas                                                                  Seite 656
Das Treibhausgas Methan spielt in der öffentlichen Debatte eine geringe Rolle. Nur
als Wiederkäuer-Gas macht es gelegentlich Schlagzeilen – dabei ist es mehr als das.
Die ökonomische Analyse zeigt: Die Klimapolitik sollte auch auf Methanvermeidung
setzen, denn schon zu geringen Kosten lässt sich in verschiedenen Sektoren ein großer
Klimaeffekt erzielen.
Von Claudia Kemfert und Wolf-Peter Schill

„Durch geringere Methanemissionen können Klimaziele                                                  Seite 657
kostengünstiger erreicht werden“
Neun Fragen an Wolf-Peter Schill

Deutschland ein Auswanderungsland?                                                                   Seite 663
Glaubt man populären Fernsehsendungen, so nimmt die Zahl der Auswanderer in
den letzten Jahren rapide zu. Eine neue Studie des SOEP zeigt aber, dass es keinen
langfristigen Trend zu mehr Auswanderung von Deutschen gibt – unter Migranten
nimmt die Auswanderung dagegen zu. Und die Studie zeigt auch: Deutsche
Auswanderer sind vor allem junge, ungebundene Akademiker, von denen viele
wahrscheinlich wieder nach Deutschland zurückkehren.
Von Marcel Erlinghagen, Tim Stegmann und Gert G. Wagner

Gesundheitsreformen: Mehr Mut zu Wettbewerb                                                          Seite 674
Kommentar von Christian Wey
Methan – das unterschätzte Klimagas
Claudia Kemfert           In der öffentlichen Wahrnehmung steht Methan          Die Europäische Union, die G8-Staaten und zu-
ckemfert@diw.de
                          als Treibhausgas im Schatten von Kohlendioxid.        letzt auch das Major Economies Forum on Energy
Wolf-Peter Schill
wschill@diw.de
                          Völlig zu Unrecht, denn mit einem Treibhaus-          and Climate haben sich darauf geeinigt,1 dass
                          potential, das etwa 25 mal größer als das von Koh-    die weltweiten Durchschnittstemperaturen um
                          lendioxid ist, macht es ein Sechstel der anthropo-    nicht mehr als zwei Grad Celsius gegenüber
                          genen Treibhausgasemissionen aus. Unterschätzt        dem vorindustriellen Niveau steigen sollen2. Bei
                          wird Methan jedoch vor allem mit Blick auf kon-       Fortführung gegenwärtiger Emissionstrends ist
                          kreten Klimaschutz. Bereits zu geringen Kosten        dieses Ziel jedoch nur schwer zu erreichen. Die
                          gibt es erhebliche Potentiale, den Methanausstoß      durchschnittliche globale Oberflächentemperatur
                          zu verringern. Methan entsteht nicht nur in der       ist seit vorindustrieller Zeit bereits um ungefähr
                          Viehhaltung, sondern auch im Erdgasbereich, in        0,8 °C gestiegen, mit einer beschleunigten Erwär-
                          der Abfallwirtschaft und im Kohlenbergbau. Hier       mung in den letzen 50 Jahren. Um das „2-Grad-
                          lassen sich in vielen Fällen zu vertretbaren Kosten   Ziel“ zu erreichen, müsste der weltweite Ausstoß
                          größere Mengen Methan vermeiden. Hinzu kommt,         von Treibhausgasen je nach Szenario zwischen
                          dass sich anfallendes Methan energetisch nutzen       2015 und 2020 sein Maximum erreichen und
                          lässt. Mit anderen Worten: Verglichen mit einer       danach zurückgehen.3 Bis zum Jahr 2050 ist eine
                          Tonne Kohlendioxid lässt sich eine entsprechende      Verminderung der globalen Treibhausgasemis-
                          Menge Methan zuweilen deutlich kostengünstiger        sionen um 50 bis 85 Prozent im Vergleich zum
                          vermeiden. Die Herausforderung besteht darin,         Jahr 2000 erforderlich. Bei der UN-Klimakonfe-
                          die Vermeidung von Methanemissionen wirksam           renz in Kopenhagen im Dezember 2009 muss
                          in klimapolitische Strategien zu integrieren.         daher ein verbindliches und ambitioniertes Fol-
                                                                                geabkommen für das 2012 auslaufende Kyoto-
                                                                                Protokoll beschlossen werden (Kasten).

                                                                                Methanemissionen stärker beachten

                                                                                Methan (CH4) ist ein wichtiges, aber oft zu we-
                                                                                nig beachtetes Treibhausgas. Es hat im Vergleich
                                                                                zu Kohlendioxid (CO2) eine relativ kurze durch-
                                                                                schnittliche atmosphärische Lebensdauer von

                                                                                1 Declaration of the Leaders – the Major Economies Forum on Energy
                                                                                and Climate, L’Aquila, Italien, 9. Juli 2009. Dem Forum gehören neben
                                                                                den G8-Ländern auch Australien, Brasilien, China, die Europäische
                                                                                Union, Indien, Indonesien, Südkorea, Mexiko und Südafrika an.
                                                                                2 Verschiedene Gutachten nennen ein 2-Grad-Ziel, beispielsweise der
                                                                                Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltverän-
                                                                                derungen: Kassensturz für den Weltklimavertrag – Der Budgetansatz.
                                                                                Sondergutachten. Berlin, September 2009.
                                                                                3 IPCC-Berechnungen zufolge müsste die atmosphärische Treibhaus-
                                                                                gaskonzentration bei ungefähr 445-490 ppm (parts per million, Teile
                                                                                pro Million) CO2-Äquivalenten stabilisiert werden. Dies beinhaltet CO2
                                                                                und andere Treibhausgase, umgerechnet in CO2-Äquivalente. IPCC:
                                                                                Synthesis Report. Contribution of Working Groups I, II and III to the
                                                                                Fourth Assessment Report. Genf, 2007.

                    656   Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009
Neun Fragen an Wolf-Peter Schill

„Durch geringere Methanemissionen
können Klimaziele kostengünstiger
erreicht werden“

Herr Schill, Sie haben die Bedeutung von Me-      reichen. Die beste Möglichkeit hier Methan
thanemissionen in der Klimapolitik unter-         einzusparen ist es, den Konsum von Fleisch- und
sucht. Hat Methan als Klimagas die gleiche        Milchprodukten einzuschränken. Dagegen gibt
Bedeutung wie CO2?                                es im Erdgasbereich, in der Abfallwirtschaft                  Wolf-Peter Schill,
Nein, Methan hat eine kleinere Bedeutung als      und teilweise auch im Kohlebergbau relativ gro-               Wissenschaftlicher
CO2. Methan macht aber immerhin ein Sechstel      ße Vermeidungspotentiale.                                     Mitarbeiter, Abteilung
der vom Menschen verursachten Treibhausgas-                                                                     Energie, Verkehr, Umwelt
emissionen aus. Es hat damit zwar nicht die Be-   Was würden solche Maßnahmen bringen?                          am DIW Berlin
deutung wie CO2, trägt aber durchaus erheblich    Untersuchungen zeigen, dass man bis zum Jah-
zum Klimawandel bei.                              re 2020 zu Grenzkosten, die im Bereich von rund
                                                  15 US-Dollar pro Tonne CO2 -Äquivalent liegen,
Wie groß ist das Treibhauspotential von Me-       ungefähr ein Viertel der weltweiten Methan-
than?                                             emissionen einsparen könnte. Das würde schon
Über einen Zeitraum von 100 Jahren ist das so-    vier Prozent der heutigen weltweiten Treib-
genannte „global warming potential“ von Me-       hausgasemissionen bedeuten.
than jüngsten IPCC-Berechnungen zufolge 25
Mal so hoch wie das von CO2.                     Im Gegensatz zu CO2 ist Methan brennbar.
                                                                    Könnte man aus dem Ener-
Wo wird Methan freigesetzt?          Ein Viertel der welt-          giepotential Nutzen ziehen?
Methan entsteht dort, wo               weiten Methan-               Absolut! Methan, das wir vor
organisches Material unter                                          dem Entweichen in die Atmo-
Luftabschluss abgebaut wird.    »     emissionen könnte      «      sphäre einfangen, können wir
Das ist zum Beispiel auf Ab-          kostengünstig ein-            energetisch nutzen. Das wird
falldeponien der Fall. Auch            gespart werden.              zum Beispiel bei Deponie-
im Bereich des Erdgassektors                                        oder Grubengas bereits ge-
oder beim Kohlenbergbau wird Methan freige- macht. So kann man einerseits das hohe Treib-
setzt. Die größte Methanquelle ist jedoch die hauspotential von Methan vermindern, indem
Landwirtschaft. Dort entsteht Methan durch man es zu CO2 oxidiert, und andererseits fossile
die Verdauung von Wiederkäuern. Zudem gibt Energieträger durch Methan ersetzen und somit
es Methanemissionen durch die Verwendung einen doppelten Effekt auf das Weltklima erzie-
von Wirtschaftsdüngern, zum Beispiel Gülle, len.
Jauche oder Mist.
                                                 Inwieweit könnte die Reduzierung von Me-
Deutschland emittiert als Industrieland recht thanemissionen helfen, die klimapolitischen
viel CO2. Wie sieht das beim Methan aus?         Ziele von EU und G8-Staaten zu erreichen?
Die Industrieländer haben ähnlich wie beim CO2 Mit Methan allein werden wir das Weltklima
einen überproportional hohen Methanausstoß. nicht retten, aber die Vermeidung von Methan-
In Deutschland sind wir allerdings schon relativ emissionen kann auf jeden Fall dazu beitragen,
weit mit der Verminderung der Methanemissio- die Klimaziele kostengünstiger zu erreichen.
nen, gerade bei Deponien wurde da schon viel
gemacht. Wir haben seit 1990 die Methanemis- Welche klimapolitischen Maßnahmen sollten
sionen ungefähr halbiert, was nicht heißt, dass im Hinblick auf Methan getroffen werden?
damit das Ende der Fahnenstange erreicht ist.    Es ist wichtig, dass Methan bei der Klimakonfe-                 Das Gespräch führte
                                                 renz in Kopenhagen nicht unter den Tisch fällt,                 Erich Wittenberg.
Wo gibt es noch Einsparpotential?                finanzielle Anreize gesetzt und die entsprechen-                Das vollständige Inter-
Die Methanemissionen sind in der Landwirt- den Maßnahmen dann auch umgesetzt werden.                             view zum Anhören
schaft am höchsten, dort aber sind hohe Ein- Wer Methanemission vermeidet, muss davon ei-                        finden Sie auf
sparungen nicht gerade kostengünstig zu er- nen ökonomischen Nutzen haben.                                       www.diw.de

                                                                     Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009     657
Methan – das unterschätzte Klimagas

        Klimapolitik – Meilenstein Kopenhagen

        Die kommende UN-Klimakonferenz in Kopenhagen im                        Klimaschutz signalisiert. Die Entwicklungsländer for-
        Dezember 2009 ist richtungweisend für die künftige                     dern allerdings von den Industriestaaten, durch kräftige
        Klimapolitik. Die Einigung auf ein Folgeabkommen des                   Emissionssenkungen besondere Verantwortung zu über-
        Kyoto-Protokolls ist dringend geboten. Trotz einer weit-               nehmen und finanzielle Unterstützung zur Anpassung an
        gehenden Anerkennung des 2-Grad-Ziels ist die Aus-                     den Klimawandel zu leisten. Völlig unsicher und unklar
        gangslage für die Verhandlungen unsicher. Die USA                      sind hingegen die Positionen von Australien, Kanada
        haben dem Kyoto-Protokoll nie zugestimmt und es ist                    und Russland. Die russische Regierung ist nach wie vor
        ungewiss, inwieweit sie sich dieses mal zu verbindlichen               der Ansicht, dass der Klimawandel positive Folgewirkun-
        Minderungsverpflichtungen bereit erklären. Europa                      gen für Russland haben wird. Auch die OPEC-Staaten
        denkt in Punkto Klimaschutz anders als die USA und                     werden sich gegen ein Klimaschutzabkommen stellen,
        möchte am liebsten zumindest für die Industriestaaten                  da sie wirtschaftliche Verluste durch den verminderten
        konkrete Emissionsminderungsziele in Zeitschritten ver-                Ölexport befürchten. Es bleibt somit abzuwarten, welche
        einbaren. Japan ist grundsätzlich für mehr Klimaschutz                 Ziele und Mechanismen in Kopenhagen festgelegt wer-
        und hat verbindliche Minderungsziele vorgeschlagen.                    den. Vermutlich werden weitere Länder das 2-Grad-Ziel
        China hat bereits die Bereitschaft signalisiert, Klima-                grundsätzlich akzeptieren. Es besteht aber die Gefahr,
        schutzziele zu akzeptieren, auch wenn Chinas Emis-                     dass keine entsprechend ambitionierten Emissionsmin-
        sionen voraussichtlich bis 2030 noch wachsen werden.                   derungsziele und Umsetzungsmaßnahmen vereinbart
        Auch Indien hat die grundsätzliche Bereitschaft zu mehr                werden.

      ungefähr zwölf Jahren. Sein Treibhauspotential                           schaftsdünger und Reisanbau, machen derzeit
      ist dem jüngsten IPCC Sachstandsbericht zu-                              knapp die Hälfte der Gesamtemissionen aus.
      folge ungefähr 25 Mal so groß wie das von CO2.4
      Abbildung 1 zeigt die Anteile unterschiedlicher                          In einzelnen Ländern unterscheiden sich diese
      Treibhausgase an den globalen anthropogenen                              Anteile jedoch deutlich. Im Bereich Viehhaltung
      Emissionen im Jahr 2005. Methan hat mit unge-                            gehören China, Brasilien und Indien sowie einige
      fähr einem Sechstel den zweitgrößten Anteil.5                            OECD-Länder zu den größten Emittenten. Im
                                                                               Erdgasbereich sind vor allem Russland und die
      Methan entsteht hauptsächlich beim Abbau von                             USA sowie Länder des Nahen Ostens und Latein-
      organischem Material unter anaeroben – also                              amerikas zu nennen. Die Emissionen aus dem
      sauerstoffarmen – Bedingungen6. Zu den natür-                            Deponiebereich stammen zu einem großen Teil
      lichen Quellen von Methanemissionen gehören                              aus den USA und anderen OECD-Ländern, aber
      vor allem Feuchtgebiete, aber auch Termiten,                             auch aus afrikanischen, asiatischen und latein-
      Ozeane und andere Quellen7. Zu den wichtigsten                           amerikanischen Ländern. Nassreisanbau wird vor
      anthropogenen Quellen zählen die Tierhaltung,                            allem in China und südostasiatischen Ländern
      insbesondere die Haltung von Rindern (Wieder-                            praktiziert. Abwasserbedingte Methanemissionen
      käuer), Förderung, Transport und Verteilung von                          stammen hauptsächlich aus Entwicklungslän-
      Erdgas, Abfalldeponien, Nassreisanbau, Abwässer                          dern ohne geordnete Abwassersysteme. Emis-
      und der Kohlenbergbau. Abbildung 2 zeigt die                             sionen aus dem Kohlenbergbau fallen vor allem
      Anteile unterschiedlicher Quellen am globalen                            in China an, gefolgt von den USA.8 Abbildung 3
      anthropogenen Methanausstoß 2005. Land-                                  zeigt die Entwicklung der Methanemissionen
      wirtschaftliche Quellen, also Wiederkäuer, Wirt-                         ausgewählter Länder und Regionen zwischen
                                                                               1970 und 2005.

      4 Der Wert bezieht sich auf einen Zeitraum von 100 Jahren und dient
      zur Umrechnung von Methanemissionen in CO2-Äquivalente. Im Fol-
      genden wird jedoch wie in der Literatur üblich ein älterer Wert von 21   Methanemissionen in allen Sektoren
      herangezogen, der dem zweiten IPCC-Sachstandsbericht entstammt
      und auch im Kyoto-Protokoll verwendet wurde. IPCC: The Physical Sci-
                                                                               vermeiden
      ence Basis. Contribution of Working Group I to the Fourth Assessment
      Report. Cambridge und New York, 2007.
      5 Die atmosphärische Methankonzentration hat sich seit vorindus-
                                                                               Maßnahmen zur Vermeidung von Methanemis-
      trieller Zeit mehr als verdoppelt.                                       sionen zielen entweder darauf ab, die Entstehung
      6 Im Gegensatz dazu entsteht bei aeroben – also sauerstoffreichen –
      Bedingungen CO2. Methan kann zu CO2 oxidiert werden.
      7 Bei der Verdauung von Holz stoßen Termiten erhebliche Mengen
      Methan aus. Bousquet et al.: Contribution of Anthropogenic and           8 United States Environmental Protection Agency 2006: Global
      Natural Sources to Atmospheric methane Variability. In: Nature 443,      Anthropogenic Non-CO2 Greenhouse Gas Emissions: 1990–2020.
      2006.                                                                    Washington, Juni 2006

658   Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009
Methan – das unterschätzte Klimagas

von Methan zu verhindern, oder entstehendes                             Abbildung 1
Methan einzufangen und zu oxidieren, zum Bei-
                                                                        Globale anthropogene Treibhausgasemissionen 2005
spiel durch Verbrennung, wodurch das Treib-
                                                                        Anteil in Prozent
hauspotential 25-fach reduziert wird. Die dabei
                                                                                CO2 aus fossilen
freiwerdende Energie ist grundsätzlich nutzbar                                  Brennstoffen
und sollte nach Möglichkeit zu einer Substituie-
rung fossiler Energieträger führen, so dass das
Klima weiter entlastet wird. Daher sollte entstan-
denes Methan wo immer möglich aufgefangen
und energetisch verwertet werden. Dies gilt ins-
besondere auch für die dezentrale Nutzung mit                                                  62
Kraft-Wärme-Kopplung.9

Viehhaltung                                                                                                                          2             Sonstige Gase

                                                                                                                                 9
Im Bereich der Viehhaltung entsteht Methan na-
hezu unvermeidlich als Abfallprodukt des Stoff-                                                                                                  Lachgas (N2O)
wechsels von Wiederkäuern. Es gibt jedoch einige                                             11                   16

Maßnahmen zur Verringerung der Methanentste-
hung, beispielsweise bestimmte Fütterungs- und
Haltungsmethoden, Nahrungszusätze zur Unter-                                CO2 aus Entwaldung,
drückung der Methanbildung, veränderte Züch-                                Industrieprozessen,                            Methan (CH4)
                                                                            sonstigen Prozessen
tungen, sowie erhöhte tierische Produktionsleis-
tungen, so dass bei gleicher Methanproduktion
                                                                        Quelle: International Energy Agency 2008.                                                  DIW Berlin 2009
eine größere Menge Fleisch oder Milch erzeugt
werden kann. Bei diesen Maßnahmen müssen
allerdings die Anforderungen einer möglichst
artgerechten Tierhaltung berücksichtigt werden.                         Abbildung 2
In der Viehhaltung entsteht Methan außerdem
                                                                        Globale anthropogene Methanemissionen 2005
beim Abbau tierischen Dungs unter sauerstoff-
                                                                        nach der Herkunft
armen Bedingungen. Zur Verminderung dieser                              Anteil in Prozent
Emissionen können eine verbesserte Lagerung
                                                                                                                 Förderung, Transport und
und Ausbringung des Wirtschaftsdüngers sowie                                                                     Verteilung von Erdgas
die Nutzung von Biogasanlagen beitragen, in
denen tierische Abfallprodukte zu Biogas ver-
goren und für die Erzeugung von Wärme oder                                                                                                                  Nassreisanbau
Strom genutzt werden.10 Darüber hinaus besteht                                 Deponien
                                                                                                                            18
eine sehr effektive, aber unpopuläre Maßnahme
zur Vermeidung tierischer Methanemissionen                                                                  12                               10
                                                                                                                                                                   Wirtschafts-
darin, den Konsum tierischer Produkte einzu-                                                                                                                       dünger
schränken, insbesondere von Rindfleisch und                                                                                                        4
Milchprodukten.                                                                                     9
                                                                         Abwasser

Erdgasbereich
                                                                                                        6
                                                                                                                                            30
Bei Förderung, Transport und Verteilung von
                                                                        Kohlenbergbau                             11
Erdgas kann es an mehreren Stellen der Liefer-
kette zum Austritt von Methan in die Atmosphäre                                                                                                          Wiederkäuer
kommen, insbesondere bei undichten Pipelines                                                                                                             (Enterische
                                                                                                                                                         Fermentation)
oder Kompressoren sowie bei Wartungsarbeiten.                                                Sonstige
Wesentliche Vermeidungsstrategien bestehen in
einer optimierten Anlagenwartung sowie dem                              Quelle: United States Environmental Protection Agency 2006.                                DIW Berlin 2009
Austausch undichter Komponenten, insbesonde-

9 Sofern nicht anders angegeben beziehen sich die folgenden Ab-
schnitte auf: United States Environmental Protection Agency 2006:
Global Mitigation of Non-CO2 Greenhouse Gases. Washington, Juni         re veralteter Kompressoren. Die Erdgasindustrie
2006
10 Smith, P. et al.: Greenhouse Gas Mitigation in Agriculture. In:
                                                                        sollte ein wirtschaftliches Eigeninteresse an der
Philosophical Transactions of the Royal Society B, 363,2008, 789-813.   Vermeidung unnötiger Methanverluste haben.

                                                                                                    Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009            659
Methan – das unterschätzte Klimagas

Abbildung 3                                                                                        Weltweit ist dies jedoch nicht der Fall: Insbeson-
Methanemissionen in ausgewählten Ländern                                                           dere in vielen Entwicklungsländern werden orga-
In Millionen Tonnen                                                                                nische Abfälle oft unbehandelt in ungeordneten
65
                                                                                                   Deponien abgelagert.

60                                                                                                 Nassreisanbau
                                                                                    China
55
                                                                                                   Beim Nassreisanbau wird Methan in gefluteten
50
                                                                                                   Reisfeldern gebildet. Diese Emissionen können
                                                                                                   beispielsweise durch ein verbessertes Wasser-
45                                                                                                 management mit geringeren Stauhöhen oder
                                                                                                   zeitweiser Trockenlegung vermindert werden.
40
                                                                                                   Teilweise ist auch der Umstieg auf Trockenreis-
35                                                                                                 anbau möglich.
                       EU-27
                                                                      USA
30                                                                                                 Abwasser
25
            Russland                                                                               Methanemissionen im Abwasserbereich ent-
                                       Indien
20                                                                                                 stammen vor allem anaeroben Fäulnisprozes-
                                                                                     Brasilien
                                                                                                   sen bei der ungeordneten Abwasserentsorgung
15                                                                                                 in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern.
10
                                                                                                   Sie können durch den Aufbau geeigneter Abwas-
                                                                                                   sersammelsysteme und entsprechender Abwas-
 5                                                                                                 serbehandlungsanlagen gemindert werden. Der
                                                                      Deutschland                  Hauptgrund für solche kostenintensiven Infra-
 0
                                                                                                   strukturmaßnahmen besteht jedoch in gesund-
     1970        1975          1980      1985         1990        1995        2000          2005   heitlichen und hygienischen Zielstellungen, nicht
                                                                                                   in der Vermeidung von Methanemissionen.12
Quelle: Emission Database for Global Atmospheric Research (EDGAR).             DIW Berlin 2009

                                                                                                   Kohlenbergbau
                           Abfallwirtschaft
                                                                                                   Beim Kohlenbergbau wird Methan freigesetzt,
                           Auf Abfalldeponien entsteht Deponiegas, das                             da Kohleflöze meist größere Mengen Grubengas
                           größtenteils aus Methan besteht, beim anaeroben                         enthalten. Grubengas wird im Untertagebau aus
                           Abbau organischer Abfälle. Zur Vermeidung die-                          Sicherheitsgründen abgesaugt. Es sollte nicht ein-
                           ser Emissionen können einerseits abzulagernde                           fach in die Atmosphäre geblasen werden. Je nach
                           organische Abfälle so weit vorbehandelt werden,                         Konzentration des Methans im Abluftstrom kann
                           dass in der Deponie kaum noch Methan gebildet                           es direkt verbrannt oder katalytisch oxidiert und
                           wird. Dies wird entweder durch mechanisch-bio-                          energetisch genutzt werden. Auch die Aufberei-
                           logische oder thermische Behandlung erreicht.                           tung des Grubengases und seine Einspeisung in
                           Andererseits kann in Deponien entstandenes Me-                          Erdgasnetze sind möglich.
                           than durch eine Deponieabdichtung und die In-
                           stallation eines Gassammelsystems aufgefangen
                           und energetisch verwertet werden. Eine weitere                          Kostengünstige Vermeidungspotentiale
                           Möglichkeit, die allerdings mit erhöhtem logis-                         erschließen
                           tischen Aufwand verbunden ist, besteht in der se-
                           paraten Erfassung organischer Abfälle und ihrer                         In den genannten Quellbereichen gibt es welt-
                           direkten Zuführung zu Kompostierungsanlagen,                            weit große und teilweise sehr kostengünstig zu
                           wo unter aeroben Bedingungen Kompost erzeugt                            erschließende Vermeidungspotentiale. Das DIW
                           wird, ohne dass Methan entsteht. In Deutsch-                            Berlin hat im Rahmen einer umfassenderen Kli-
                           land sind die beschriebenen Verfahren Stand der                         maschutzstudie kürzlich eine umfangreiche Lite-
                           Technik und vom Gesetzgeber vorgeschrieben.                             raturrecherche zu Potentialen, Kosten und Nutzen
                           Seit Juni 2005 dürfen nur noch weitgehend vor-                          unterschiedlicher Maßnahmen zur Vermeidung
                           behandelte Siedlungsabfälle abgelagert werden.11                        von Methanemissionen durchgeführt.13

                           11 Das Deponierecht in Deutschland wurde kürzlich mit einer             12 Lucas, P.L. et al.: Long-term Reduction Potential of Non-CO2
                           Artikelverordnung neu geregelt, die Anforderungen an die Abfall-        Greenhouse Gases. Environmental Science & Policy 10, 2007, 85–103.
                           vorbehandlung und die Gasfassung beinhaltet. Verordnung zur             13 Kemfert, C., Schill, W.-P.: Mitigation of Methane Emissions: A Ra-
                           Vereinfachung des Deponierechts, Bundesgesetzblatt, Teil 1, Nr. 22,     pid and Cost-effective Response to Climate Change. DIW Diskussions-
                           ausgegeben zu Bonn am 29. April 2009, 900–950.                          papier Nr. 918, DIW Berlin 2009.

                 660       Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009
Methan – das unterschätzte Klimagas

In den meisten Bereichen ist die Vermeidung                         Abbildung 4
einer kleinen Menge Methan recht kostengünstig
                                                                    Globale Methanemissionen und Vermeidungspotentiale
zu bewerkstelligen, zum Beispiel durch Anwen-
                                                                    2020 zu verschiedenen Grenzvermeidungskosten
dung einfacher Maßnahmen oder durch klei-                           In Millionen Tonnen CO2-Äquivalent
ne Verbesserungen in betrieblichen Abläufen.
                                                                    3 000
Aufgrund steigender Grenzvermeidungskosten
wird es jedoch umso teurer, je mehr Methan ver-                     2 750

mieden werden soll. Abbildung 4 zeigt weltweite                     2 500
ökonomische Vermeidungspotentiale bis zum                           2 250
Jahr 2020 in den genannten Bereichen bei un-                        2 000
terschiedlichen Grenzvermeidungskosten,14 aus-
                                                                    1 750
gedrückt in US-Dollar des Jahres 2000 je Tonne
CO2-Äquivalent. Die Referenzentwicklung für                         1 500

das Jahr 2020 ist ebenfalls angegeben, also der                     1 250
angenommene Methanausstoß in den einzelnen                          1 000
Sektoren in dem Fall, dass keine weiteren Ver-                        750
meidungsmaßnahmen getroffen werden. Bei
                                                                      500
der Berechnung der Vermeidungskosten ist der
                                                                      250
Marktwert des Energieträgers Methan bereits
berücksichtigt.                                                          0
                                                                                  Viehhaltung      Erdgasbereich   Nassreisanbau   Abfallwirtschaft    Kohlenbergbau

In der Referenzentwicklung 2020 sind die Me-                         Bei Grenzvermeidungskosten in US-Dollar je Tonne CO2-Äquivalent

thanemissionen in der Viehhaltung am höchsten,                               0                            bis 30                       bis 60
gefolgt vom Erdgassektor und dem Nassreisan-                                 bis 15                       bis 45                       Referenzentwicklung

bau. Die größten wirtschaftlichen Vermeidungs-
potentiale finden sich jedoch in den Bereichen                      Quellen: United States Environmental Protection Agency 2006;
                                                                    Berechnungen des DIW Berlin.                                                      DIW Berlin 2009
Erdgas, Abfallwirtschaft und Kohlenbergbau. Er-
hebliche Vermeidungspotentiale können bereits
zu niedrigen Grenzkosten von bis zu 15 US-Dollar
je Tonne CO2-Äquivalent erschlossen werden,                         beispielsweise Informationsprobleme bei rele-
insbesondere im Kohlenbergbau. Bei Grenzver-                        vanten Akteuren, institutionelle Barrieren und
meidungskosten von 15 US-Dollar je Tonne CO2-                       unzureichende technische und finanzielle Mög-
Äquivalent könnten in den genannten Bereichen                       lichkeiten. Zudem gibt es diverse sektorspezi-
im Jahr 2020 weltweit ungefähr 1,5 Milliarden                       fische Barrieren. So sind beispielsweise in der
Tonnen CO2-Äquivalent jährlich eingespart wer-                      Viehhaltung Optimierungen bei der Fütterung
den. Dies entspricht knapp einem Viertel der                        oder dem Umgang mit Wirtschaftsdünger auf-
gesamten Methanemissionen in den genannten                          grund der großräumigen Verteilung von Wei-
Bereichen oder knapp vier Prozent der weltweiten                    detieren in vielen Weltregionen und aufgrund
Treibhausgasemissionen des Jahres 2005.                             bestimmter lokaler Bräuche und Gegebenheiten
                                                                    oft schwierig umzusetzen. Es muss außerdem
Anstrengungen zur Vermeidung von Methan-                            sichergestellt werden, dass Maßnahmen zur
emissionen sollten über alle genannten Sekto-                       Methanvermeidung im landwirtschaftlichen Be-
ren gestreut werden, um Umsetzungsrisiken zu                        reich nicht zu einem erhöhten Ausstoß anderer
minimieren und einen größtmöglichen Effekt                          Treibhausgase wie beispielsweise Lachgas führen.
für das Weltklima zu erzielen. Dabei gebietet die                   Bei der Vermeidung von Grubengasemissionen
Forderung der ökonomischen Effizienz, dass in                       beziehungsweise ihrer energetischen Nutzung
jedem Sektor so viel Methan vermieden wird,                         besteht ein großes Hemmnis in der unzureichen-
dass die Grenzvermeidungskosten überall gleich                      den Verfügbarkeit entsprechender Technologien
hoch sind.                                                          und des notwendigen Kapitals in China.15

                                                                    Im Gegensatz zu CO2, dessen Emissionen oft
Barrieren und Vorurteile abbauen                                    von einzelnen großen industriellen oder energie-
                                                                    wirtschaftlichen Quellen stammen, sind anthro-
Die Vermeidung von Methanemissionen kann                            pogene Methanquellen oft klein, geographisch
auf unterschiedliche praktische Hürden stoßen,                      weit verteilt und nicht auf den Energiesektor be-
                                                                    schränkt. Bei kleinen und dezentralen Quellen

14 Der Bereich Abwasser wurde ausgelassen, da keine belastbaren
Daten zu Vermeidungspotentialen und Kosten für das Jahr 2020 vor-   15 Yang, M.: Climate Change and Energy Policies, Coal and Coalmine
liegen.                                                             Methane in China. Energy Policy 37, 2009, 2858–2869.

                                                                                                Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009        661
Methan – das unterschätzte Klimagas

                      ist ein hoher administrativer und logistischer      Erforschung des Risikos nötig. Ein unkontrollier-
                      Aufwand für die Überwachung und Kontrolle           tes Entweichen von Methan im Abbauprozess
                      von Vermeidungsmaßnahmen zu erwarten, wenn          muss unbedingt verhindert werden.
                      die Durchführung entsprechender Maßnahmen
                      nicht im wirtschaftlichen Eigeninteresse der je-
                      weiligen Betreiber liegt. Daher sollte zunächst     Fazit
                      die Methanvermeidung bei größeren und gut
                      zu überwachenden Quellen wie Deponien oder          Methan hat einen Anteil von ungefähr einem
                      Kohleminen im Vordergrund stehen.                   Sechstel an den globalen anthropogenen Treib-
                                                                          hausgasemissionen. Die Vermeidung von Me-
                                                                          thanemissionen alleine ist daher sicherlich keine
                      Die Politik ist am Zug                              Lösung für das Klimaproblem. Sie ist aber ein
                                                                          wichtiger Bestandteil eines kosteneffizienten
                      Aufgabe der Politik ist es jetzt, den Weg zur       Klimaschutzes, da ein knappes Viertel der Me-
                      Erschließung kostengünstiger Methanvermei-          thanemissionen bis 2020 zu geringen Grenz-
                      dungspotentiale frei zu machen. Dazu sind ins-      vermeidungskosten von 15 US-Dollar je Tonne
                      besondere die Aufklärung relevanter Akteure und     CO2-Äquivalent eingespart werden kann. Im nicht
                      die Bereitstellung von Informationen notwen-        unwahrscheinlichen Fall, dass der weltweite Preis
                      dig. Darüber hinaus müssen ordnungsrechtliche       für Treibhausgasemissionen bis 2020 15 US-Dol-
                      und finanzielle Anreize gegeben werden. So war      lar je Tonne CO2-Äquivalent überschreitet, sind so-
                      Deutschland beispielsweise im Deponiebereich        gar noch größere Methanvermeidungspotentiale
                      durch ordnungspolitische Vorgaben sowie finan-      wirtschaftlich profitabel erschließbar. Um ambi-
                      zielle Anreize zur energetischen Nutzung von        tionierte Ziele wie das 2-Grad-Ziel zu erreichen,
                      Deponiegas durch das Erneuerbare-Energien-Ge-       sollte daher nicht nur auf die Vermeidung von
                      setz schon sehr erfolgreich. Nun müssen inter-      CO2 gesetzt werden, sondern auch Methan kon-
                      nationale Anstrengungen in weiteren Sektoren        sequent einbezogen werden, das von allen Nicht-
                      folgen. Um finanzielle Anreize für die Methan-      CO2-Treibhausgasen die größten und kostengüns-
                      vermeidung zu erzeugen, sollte Methan in einen      tigsten Vermeidungspotentiale bietet. Darüber
                      internationalen Emissionshandel und andere fle-     hinaus ist Methan aufgrund seiner im Vergleich
                      xible Instrumente einbezogen werden. Bei der        zu CO2 kurzen atmosphärischen Verweildauer
                      UN-Klimakonferenz in Kopenhagen sollte die          besonders geeignet, kurzfristig positive Effekte
                      Vermeidung von Methanemissionen daher nicht         für das Weltklima zu erzielen. Maßnahmen zur
                      vernachlässigt werden. Entscheidend ist jedoch      Methanvermeidung sollten kosteneffizient über
                      vor allem die spätere Umsetzung entsprechender      verschiedene Sektoren gestreut werden, wobei der
                      Maßnahmen auf nationaler Ebene.                     Erdgassektor, die Abfallwirtschaft und der Kohlen-
                                                                          bergbau besonders vielversprechend sind.
                      In Anbetracht der hohen Klimawirksamkeit von
                      Methan sollten neue Emissionsquellen unbedingt      Nicht zu vernachlässigen sind die positiven Neben-
                      vermieden werden, zum Beispiel im Bereich des       effekte, die viele der diskutierten Maßnahmen mit
                      verflüssigten Erdgases (Liqufied Natural Gas,       sich bringen. So verringert beispielsweise eine
                      LNG). Sowohl der Prozess der Gasverflüssigung       geordnete Abfallentsorgung nicht nur Methan-
                      als auch der LNG-Transport sind anfällig für Me-    emissionen, sondern kann sich auch positiv auf
                      thanemissionen. Da die LNG-Kapazitäten welt-        die Kontrolle von Schadstoffen, Recyclingquoten
                      weit gerade stark ausgebaut werden, sollte von      und die Lebensqualität der Bevölkerung auswir-
                      Anfang an darauf geachtet werden, dass diese        ken. Der teilweise Ersatz fossiler Energieträger
JEL Classification:   Emissionen durch entsprechende technische Vor-      durch Methan kann die Versorgungssicherheit
   Q52, Q53, Q54      schriften und geeignete Verfahren weitgehend        erhöhen. Nicht zuletzt können sich bei weltweiten
                      eingedämmt werden. Eine weitere potentielle         Anstrengungen zur Vermeidung von Methanemis-
        Keywords:
                      Methanquelle könnte der künftige Abbau von          sionen Exportchancen für moderne Technologien
         Methane,
       Mitigation,    Methanhydraten am Meeresboden darstellen. In        ergeben, zum Beispiel bei abfallwirtschaftlichen
    Climate policy    diesem Bereich ist eine bessere wissenschaftliche   Behandlungsanlagen oder im Deponiebau.

               662    Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009
Deutschland ein Auswanderungsland?
                                                                                                                                           Marcel Erlinghagen
Pro Jahr verlassen 0,8 Prozent der Bevölkerung        Angesichts der nicht nur quantitativ, sondern                            marcel.erlinghagen@uni-due.de
Deutschland, das sind etwa 650 000 Personen.          auch gesellschaftlich und kulturell bedeutsamen                                        Tim Stegmann
Das Medienecho auf diese Auswanderung ist             Zuwanderung nach Deutschland, war lange Zeit                                 tim.stegmann@uni-due.de
überzogen schrill, denn die meisten Auswanderer       die Auswanderung aus Deutschland weder in der                                          Gert G. Wagner
haben bereits einen Migrationshintergrund und         öffentlichen Debatte noch in der Migrationsfor-                                       gwagner@diw.de
setzen ihre Migration fort oder kehren in ihre Hei-   schung ein Thema.1 Wenn überhaupt, so verband
matländer zurück. Zudem zieht ein beachtlicher        sich mit der Begriff des Auswanderers vor allem
Teil der Auswanderer nach Österreich und in die       das Klischee des Aussteigers, der – als exotischer
Schweiz um, von wo aus eine Rückwanderung ver-        Einzelfall – jenseits der Zwänge der modernen
gleichsweise einfach möglich ist.                     Arbeitsgesellschaft nach neuen oder scheinbar
                                                      alten Freiheiten bevorzugt in klimatisch ange-
Eine explorative erste Erhebung bei ausgewan-         nehmen Regionen der Erde suchte. Erst im An-
derten Teilnehmern der Wiederholungsbefragung         schluss an die jüngsten ökonomischen Krisen
Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) zeigt zudem,         und die steigende Zahl Arbeitsloser ist das Thema
dass Auswanderung zwar wie erwartet für Viele         Auswanderung aus Deutschland wieder verstärkt
mit Verbesserungen der Lebensumstände einher-         in das Blickfeld von Öffentlichkeit, Politik und
geht. Allerdings geben etwa ein Sechstel der Wie-     Wissenschaft geraten.2 Zusätzlich wird das In-
derbefragten ernste Probleme und eine Rückwan-        teresse an der Auswanderung aus Deutschland
derungsabsicht an. Geht man davon aus, dass           neuerdings durch das wachsende wissenschaft-
nicht erfolgreiche Auswanderer bei der Panelbe-       liche und politische Verständnis von Migration
fragung nicht mehr mitmachen, ist dieser Anteil       als einem im Prinzip immer unabgeschlossenen
der Unzufriedenen und potentiellen Rückwande-         Mobilitätsprozess gesteigert.3
rer umso höher zu bewerten. Die mit Auswande-
rung verbundenen Hoffnungen und Träume gehen          Anders als bei der Analyse von Zuwanderung
auch heutzutage – wie seit Jahrhunderten – kei-       existieren bislang jedoch kaum wissenschaftlich
neswegs immer in Erfüllung.                           verwertbare Daten, mit denen man die indivi-
                                                      duellen Lebensbedingungen oder Beweggrün-
                                                      de von Auswanderern untersuchen kann. Zwar
                                                      hat es schon in der Vergangenheit empirische

                                                      1 Ausführlichere Informationen zu Wandel und Hintergründen der
                                                      Zuwanderung nach Deutschland finden sich zum Beispiel in Schulz, E.,
                                                      Hannemann, A.: Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bis 2050:
                                                      Nur leichter Rückgang der Einwohnerzahl? Wochenbericht des DIW
                                                      Berlin Nr. 47/2007 und Schulz, E.: Alternde Gesellschaft: Zur Bedeu-
                                                      tung von Zuwanderungen für die Altersstruktur der Bevölkerung in
                                                      Deutschland. Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 33/1995.
                                                      2 Vgl. zum Beispiel den Überblick von Sauer, L., Ette, A.: Auswande-
                                                      rung aus Deutschland. Stand der Forschung und erste Ergebnisse zur
                                                      internationalen Migration deutscher Staatsbürger. Materialien zur
                                                      Bevölkerungswissenschaft Heft 123. Wiesbaden 2007.
                                                      3 Vgl. Pries, L.: Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Sozial-
                                                      räume jenseits von Nationalgesellschaften. Frankfurt/Main 2007;
                                                      Mau, S.: Transnationale Vergesellschaftung. Die Entgrenzung sozialer
                                                      Lebenswelten. Frankfurt/Main 2007; Berger, P. A., Weiß, A. (Hrsg.):
                                                      Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Wiesbaden 2008.

                                                                                 Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009        663
Deutschland ein Auswanderungsland?

        Datenbasis SOEP

        Mit der seit 1984 vom DIW Berlin in Zusammenarbeit                        An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff
        mit Infratest Sozialforschung durchgeführten Längs-                       „Auswanderung“ oder „Auswanderer“ insbesondere des-
        schnittstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) exis-                      halb problematisch ist, weil es Abgrenzungsprobleme
        tiert eine Erhebung über das „Leben in Deutschland“, die                  zwischen temporären Auslandsaufenthalten wie langen
        eine Untersuchung von individuellen Auswanderungs-                        Urlaubsreisen oder Praktika und der dauerhaften Ver-
        prozessen ermöglicht.1 Erstens kann analysiert werden,                    lagerung des Lebensmittelpunktes in ein anderes Land
        wer Deutschland verlassen will und Deutschland tat-                       gibt. Insofern muss bei jeder Untersuchung definiert
        sächlich verlässt. Zweitens können – bislang allerdings                   werden, wann von „Auswanderern“ gesprochen wird.
        nur in einer experimentellen Pilotstudie – ins Ausland                    Hier gehen wir von einer Auswanderung dann aus, wenn
        verzogene SOEP-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer auch                       eine Person, die bislang in Deutschland gewohnt hat, ins
        dort befragt werden.                                                      Ausland verzogen ist und in Deutschland faktisch nicht
                                                                                  mehr befragbar ist, unabhängig davon, wie lange dieser
        Im SOEP werden schon länger Informationen über die                        Aufenthalt andauert.4
        Aus- beziehungsweise Rückwanderungsabsichten der
        Befragten erhoben, auf deren Basis mittlerweile eine Rei-                 Auch wenn die amtliche Erfassung von Auswanderen
        he von empirischen Untersuchungen zu diesem Thema                         durchaus problematisch ist5 und nicht unmittelbar als
        vorgenommen worden sind.2 Allerdings ist dabei zu be-                     „Benchmark“ für die Prüfung der Datenqualität eines
        rücksichtigen, dass sich aufgrund geäußerter Migrations-                  Surveys wie dem SOEP dienen kann, ist doch damit zu
        absichten aus einer Vielzahl von Gründen nur bedingt                      rechnen, dass innerhalb einer Bevölkerungsbefragung
        nachfolgende tatsächliche Wanderungsbewegungen                            wie dem SOEP selbst durch eine gewissenhafte Adress-
        vorhersagen lassen.                                                       recherche nicht alle faktischen Auswanderer auch als
                                                                                  solche identifiziert werden können, sondern fälschlich
        Darüber hinaus bietet die Wiederholungsbefragung                          als „Panelausfälle mit unbekanntem Grund“ erfasst
        SOEP auch die Möglichkeit, tatsächlich stattfindende                      werden. Vergleicht man folglich die einerseits auf Basis
        Auswanderungen zu untersuchen. Da die Gründe für                          der SOEP-Informationen und andererseits aufgrund der
        „Panelausfälle“, also Befragte, die nicht mehr beim                       amtlichen Erfassung berechneten Auswanderungsraten
        SOEP mitmachen, recherchiert werden, können ausge-                        zeigt sich erwartungsgemäß, dass das SOEP das Aus-
        wanderte Befragungsteilnehmer identifiziert und die                       maß der Auswanderungen aus Deutschland quantitativ
        Lebenssituation, die sie in Deutschland hatten, kann                      unterschätzt. Im Zeitverlauf schwanken die Unterschie-
        analysiert werden.3                                                       de zwischen amtlicher Erfassung und SOEP-Berechnung,
                                                                                  jedoch gibt es hier keinen erkennbaren Trend einer syste-
                                                                                  matischen Zu- oder Abnahme der methodisch bedingten
                                                                                  Unterschiede.
        1 Vgl. Wagner, G. G., Goebel, J., Krause, P., Pischner, R., Sieber, I.:
        Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP): Multidisziplinäres
        Haushaltspanel und Kohortenstudie für Deutschland. In: AStA
        Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv 2 (4), 2008, 301–328.
        2 Vgl. exemplarisch Haug, S.: Bleiben oder Zurückkehren? Zur
        Messung, Erklärung und Prognose der Rückkehr von Immigranten
        in Deutschland. In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 26 (2),
        2001, 231–270; Niefert, M., Ott, N., Rust, K.: Willingness of Germans
        to Move Abroad. In: Friedmann, R. (Hrsg.): Econometric Studies.
        Münster 2001, 317–333; Stegmann, T.: Einflussfaktoren auf die             4 Ähnliche begriffliche Probleme ergeben sich im Übrigen auch
        Rückorientierung ehemaliger Gastarbeiter in Deutschland. Eine Un-         beim Begriff der „Zuwanderung“, da auch hier keine eindeutige
        tersuchung mit dem sozioökonomischen Panel. Saarbrücken 2007;             zeitliche Grenze des Aufenthalts in Deutschland vorgegeben
        Diehl, C., Mau, S., Schupp, J.: Auswanderung von Deutschen: kein          werden kann, die Zuwanderer eindeutig definieren würde. Gleiches
        dauerhafter Verlust von Hochschulabsolventen. Wochenbericht des           gilt auch für den Terminus „Rückwanderung“, da eindeutige
        DIW Berlin Nr. 5/2008.                                                    Definitionskriterien fehlen, nach welcher „Karenzzeit“ noch von
        3 Vgl. dazu – und einer ersten Analyse auf Basis dieser Möglich-          einer Rück- und ab wann schon wieder von einer Auswanderung zu
        keit – Schupp, J., Söhn, J., Schmiade, N.: Internationale Mobilität       sprechen ist.
        von deutschen Staatsbürgern. Chance für Arbeitslose oder Abwan-           5 So gibt es erfahrungsgemäß faktische Auswanderer, die sich
        derung von Leistungsträgern? In: Zeitschrift für Bevölkerungswis-         nicht abmelden, zum Beispiel um als Nicht-EU-Staatsbürger das
        senschaft 30 (2–3), 2005, 279–292.                                        Aufenthaltsrecht nicht zu verlieren.

664   Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009
Deutschland ein Auswanderungsland?

Untersuchungen der Auswanderung gegeben.4                                     einer nicht mehr möglichen Befragung „ins Aus-
Diese Untersuchungen basieren aber vor allem                                  land verzogen“ angegeben wird.
auf aggregierten Daten, die insbesondere das
Statistische Bundesamt in Form seiner Wande-                                  Aus migrationstheoretischer Sicht wirkt eine gan-
rungsstatistik bereitstellt. Ferner gibt es nahezu                            ze Reihe von Einflüssen unterschiedlicher ge-
keine Informationen – sieht man von Fernseh-                                  sellschaftlicher Ebenen auf die individuelle Aus-
sendungen ab – über die Lebensbedingungen                                     wanderungsentscheidung. Wesentliche Faktoren
der Auswanderer aus Deutschland nach Ankunft                                  dürften hierbei neben dem Alter, der Qualifika-
in ihrer neuen Heimat. Insofern verwundert es                                 tion und dem Geschlecht auch der Erwerbs- und
kaum, dass sich die deutsche Auswanderungsfor-                                Haushaltsstatus, die Migrationsgeschichte und
schung – abgesehen von anekdotischer Evidenz                                  der ethnische Hintergrund sein. Gleichzeitig ist
und medial aufbereiteten Einzelfällen – derzeit                               zu vermuten, dass auch die subjektive Bewertung
hauptsächlich auf aggregierte Wanderungsdaten                                 der eigenen Lebenssituation eine Rolle spielt, wes-
der offiziellen Statistik sowie nicht repräsenta-                             halb wir in unseren Modellen auch die allgemeine
tive quantitative und qualitative Untersuchungen                              Lebenszufriedenheit, die Zufriedenheit mit dem
bestimmter Auswanderergruppen beschränken                                     Haushaltseinkommen, das Ausmaß der Sorgen
muss.5                                                                        um die konjunkturelle Lage sowie das Ausmaß
                                                                              der Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situa-
Wie setzt sich die Gruppe der Auswanderer aus                                 tion als Kontrollvariablen aufnehmen. Um mög-
Deutschland zusammen? Dieser Frage geht der                                   liche Periodeneffekte zu berücksichtigen, wird
vorliegende Aufsatz mit Hilfe der vom DIW Berlin                              das Erhebungsjahr ebenfalls berücksichtigt.
in Zusammenarbeit mit Infratest Sozialforschung
erhobenen SOEP-Daten nach (Kasten). Darüber                                   Um dem komplexen Prozess einer Auswande-
hinaus werden erste und vorläufige Ergebnisse                                 rungsentscheidung Rechnung zu tragen, wurden
einer schriftlichen Befragung von Auswanderern                                multivariate Übergangsratenmodelle in Form
im Ausland im Rahmen des SOEP vorgestellt, die                                sogenannter „Cox-Proportional-Hazardrate-Mo-
Anhaltspunkte bezüglich der Auswanderungs-                                    delle“ geschätzt. Dies ermöglicht Aussagen über
gründe und Lebensbedingungen der Auswande-                                    die Einflussfaktoren der individuellen Auswan-
rer aus Deutschland liefern.                                                  derungswahrscheinlichkeit. Dabei werden die
                                                                              Informationen der SOEP-Wellen 1984 bis 2005
                                                                              verwendet.6 Es werden drei getrennte Übergangs-
Auswanderer haben viele Gründe                                                ratenmodelle geschätzt. Neben einem Gesamtmo-
                                                                              dell mit allen Befragten wird einerseits ein Mo-
Da das SOEP eine Wiederholungsbefragung ist,                                  dell für „autochthone“ Deutsche (in Deutschland
wird festgehalten, ob Befragungspersonen, die                                 geboren und deutsche Staatsangehörigkeit) und
nicht mehr angetroffen werden, ins Ausland                                    andererseits ein Modell für „Migranten“ (nicht
verzogen sind. Damit ist es möglich, die Frage                                in Deutschland geboren oder nicht im Besitz der
zu beantworten, welche Gruppen auswandern.                                    deutschen Staatsangehörigkeit) geschätzt.
Restriktionen ergeben sich freilich durch gerin-
ge Fallzahlen von Auswanderern in der SOEP-
Stichprobe.                                                                   Vor allem junge Deutsche und ältere
                                                                              Migranten wandern aus
Bei der folgenden Auswertung der SOEP-Daten
werden als Auswanderer alle Personen bezeich-                                 Tabelle 1 dokumentiert die Hazard Ratios der drei
net, die auf Grund eines identifizierten Fortzugs                             geschätzten Übergangsratenmodelle bezüglich
ins Ausland aus der SOEP-Stichprobe ausgeschie-                               der Wahrscheinlichkeit, aus Deutschland auszu-
den sind. Die Dauer des Fortzugs ins Ausland                                  wandern.7 Deutsche Frauen zeigen im Vergleich
spielt keine Rolle. Dabei wird von einer erfolgten                            zu Männern eine signifikant vergrößerte Aus-
Auswanderung ausgegangen, wenn als Grund                                      wanderungswahrscheinlichkeit; in der Gruppe

4 Informationen zur Entwicklung des Auswanderungsgeschehens
seit 1950 sowie zu den derzeit beliebtesten Zielländern von Auswan-           6 Mittlerweile liegen zwar auch die Daten der Wellen bis 2007 vor,
derern aus Deutschland auf Basis der amtlichen Statistik liefern zum          jedoch wurde hier auf die Einbeziehung dieser Jahre verzichtet, weil
Beispiel Erlinghagen, M., Stegmann, T.: Goodbye Germany – und dann?           die Nachrecherche von Panelausfällen und damit die Identifikation
Erste Ergebnisse einer Pilotstudie zur Befragung von Auswanderern             möglicher Auswanderer mitunter längere Zeit in Anspruch nehmen
aus Deutschland. SOEPpapers on Multidisciplinary Panel Data Re-               kann und davon auszugehen ist, dass zumindest bis zum Jahr 2005 der
search 193, DIW Berlin 2009.                                                  Verbleib nicht mehr auffindbarer SOEP-Teilnehmerinnen und Teilneh-
5 Vgl. zum Beispiel Enders, J., Bornmann, L.: Internationale Mobili-          mer geklärt sein sollte.
tät von bundesdeutschen Promovierten. In: Bellmann, L., Velling, J.           7 Hazard Ratios können theoretisch alle Werte zwischen 0 und un-
(Hrsg.): Arbeitsmärkte für Hochqualifizierte. Nürnberg 2002,                  endlich annehmen, wobei Werte zwischen 0 und 1 auf ein geringeres
357–374; Mohr, H.: Räumliche Mobilität von Hochschulabsolventen.              Übergangsrisiko im Vergleich zu der zuvor definierten Referenzgruppe
In: Bellmann, L., Velling, J. (Hrsg.): Arbeitsmärkte für Hochqualifizierte.   hindeuten, während Werte größer 1 auf ein höheres Übergangsrisiko
Nürnberg 2002, 249–277.                                                       verweisen.

                                                                                                        Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009     665
Deutschland ein Auswanderungsland?

Tabelle 1                                                                                          der Migranten ist hingegen der umgekehrte Ef-
                                                                                                   fekt zu erkennen. Hier wandern eher Männer
Auswanderung aus Deutschland
Hazard Ratios
                                                                                                   als Frauen aus. Insgesamt sind darüber hinaus
                                                                                                   klare Alterseffekte erkennbar. Während in der
                                               Insgesamt         Deutsche         Migranten1
                                                                                                   deutschen Bevölkerung eher die jüngeren Perso-
Geschlecht (Referenz: männlich)
   Weiblich                                     0,932               1,314**         0,840**
                                                                                                   nen (bis 35 Jahre) auswandern, ist Auswanderung
Alter (Referenz: 36 bis 55 Jahre)                                                                  bei den Migranten vor allem ein Phänomen der
   17 bis 25 Jahre                              2,203***            6,209***        1,207          Personen im Alter zwischen 56 und 70 Jahren.
   26 bis 35 Jahre                              1,596***            3,231***        1,023          Darüber hinaus wandern Ostdeutsche seltener
   56 bis 70 Jahre                              1,662***            0,82            2,021***       aus als Westdeutsche.
   Über 70 Jahre                                0,477***            0,61            0,816
Region (Referenz: Westdeutschland)
   Ostdeutschland                               0,492***            0,519***         –
                                                                                                   Innerhalb der deutschen Population sind es vor
Haushaltsstatus (Referenz: Paar ohne Kind)                                                         allem Alleinlebende und Akademiker, die häufi-
   Ein-Personen-Haushalt                        1,199*              1,779***        1,03           ger auswandern. Bei den Migranten gibt es hinge-
   Alleinerziehend                              0,761*              0,575*          0,863          gen einen u-förmigen Zusammenhang zwischen
   Paar mit Kind                                0,666***            0,861           0,642***       Qualifikation und Auswanderung: Nicht nur Aka-
   Sonstige Haushalte                           1,046               1,275           0,98
                                                                                                   demiker, sondern auch Geringqualifizierte ohne
Qualifikation (Referenz: mit Ausbildung)
   Ohne Ausbildung                              1,445***            1,229           1,318***
                                                                                                   Berufsabschluss verlassen Deutschland häufiger
   Akademiker                                   2,000***            1,791***        2,096***       als die Vergleichsgruppe der Menschen mit dualer
Erwerbsstatus (Referenz: Facharbeiter)                                                             Berufsausbildung und ähnlichen Qualifikatio-
   Nicht erwerbstätig                           1,771***            1,204           1,989***       nen.
   Rentner                                      1,458***            0,578           2,025***
   Arbeitslos                                   1,975***            1,852**         2,135***
                                                                                                   Unter den Migranten verlassen vor allem die
   Ausbildung                                   1,577***            1,898***        1,202
   Selbständig                                  1,490**             2,552***        1,259
                                                                                                   Menschen Deutschland, die nicht (mehr) in den
   Einfache Tätigkeit                           0,898               1,003           0,94           Arbeitsmarkt integriert sind. Bei der deutschen
   Leitende Tätigkeit                           1,538**             2,043***        1,027          Bevölkerung ergibt sich hingegen ein heterogenes
   Beamter                                      0,939               1,074            –             Bild. Einerseits zeigen Arbeitslose und Menschen
Migration (Referenz: in Deutschland geboren)                                                       in Ausbildung eine höhere Auswanderungswahr-
   Im Ausland geboren                           2,353***             –               –
                                                                                                   scheinlichkeit als die Vergleichsgruppe der Fach-
   Seit höchstens 9 Jahren in Deutschland        –                   –              2,600***
   Seit 10–19 Jahren in Deutschland              –                   –              1,363**
                                                                                                   arbeiter und mittleren Angestellten. Andererseits
   Seit 20 und mehr Jahren in Deutschland        –                   –              1,081          verlassen aber auch Selbständige und Beschäftig-
   Status unbekannt                              –                   –              1,593**        te in leitenden Funktionen eher ihre Heimat.
Unzufriedenheit mit … (Referenz: höhere Zufriedenheit2)
   dem Leben allgemein                          1,04                0,76            1,062
   dem Haushaltseinkommen                       1,081               0,886           1,106
                                                                                                   Kein Zusammenhang zwischen
Große Sorgen um … (Referenz: kaum Sorgen3)
                                                                                                   Auswanderung und Lebenszufriedenheit
   Konjunktur                                   0,879*              0,997           0,881
   eigene wirtschaftliche Lage                  1,169**             1,181           1,153*
Staatsangehörigkeit (Referenz: deutsch)                                                            Ein weiteres interessantes Ergebnis ist, dass we-
   Türkei                                       3,310***             –              4,913***       der eine erhöhte allgemeine Lebensunzufrieden-
   (Ex-)Jugoslawien                             5,995***             –              8,300***       heit noch eine erhöhte Unzufriedenheit mit dem
   Griechenland                                12,896***             –             18,287***       Einkommen des eigenen Haushalts zu einer ver-
   Italien                                      9,118***             –             13,550***
                                                                                                   stärkten Auswanderung führt. Der Umstand, dass
   Spanien, Portugal                           18,409***             –             27,133***
   Österreich, Schweiz, Liechtenstein           4,368***             –              6,446***
                                                                                                   sich Menschen große Sorgen um die konjunktu-
   Frankreich, Benelux, Dänemark                7,807***             –              8,683***       relle Entwicklung im Allgemeinen und ihre eige-
   Großbritannien, Irland, Island, Norwegen,    4,184***             –              2,63           ne wirtschaftliche Lage im Besonderen machen,
   Schweden, Finnland                                                                              hat – wenn überhaupt – nur einen schwachen
   Polen, Tschechische und Slowakische          2,973**              –              4,177***
   Republik                                                                                        Einfluss auf Auswanderungsentscheidungen.
   Sonstiger ehemaliger Ostblock                3,907***             –              3,474***       Außerdem zeigt sich in der deutschen Bevölke-
   Sonstige                                     6,890***             –              6,953***       rung kein genereller Zeittrend. Die Auswande-
Zeiteffekt                                                                                         rung von autochthonen Deutschen veränderte
   Erhebungsjahr                                1,130***            1,155           1,092**        sich im betrachteten Zeitraum nicht signifikant.
N (Beobachtungen)                              297 328              239 674         56 021         Demgegenüber nimmt die Auswanderung von
N (Episoden)                                    37 892               30 898          6 765         Migranten im Zeitverlauf signifikant zu.
N (Ereignisse)                                   1 242                  277            937
Signifikanz: *** p < 0,01; ** p < 0,05; * p < 0,1.
                                                                                                   Für die Betrachtung der Migranten ist darüber
1 Schätzungen nur für Westdeutschland.
2 Allgemein höhere Lebenszufriedenheit und höhere Zufriedenheit mit dem Haushalts-Einkommen.
                                                                                                   hinaus von Interesse, inwiefern die eigene Mi-
3 Keine oder geringe Sorgen um Konjunktur und um die eigene wirtschaftliche Lage.                  grationsgeschichte und die Staatsangehörigkeit
                                                                                                   einen Einfluss auf die Auswanderungsentschei-
Quellen: SOEP 1984-2005; Berechnungen des DIW Berlin.                            DIW Berlin 2009
                                                                                                   dung haben könnte. Je länger die Einwanderung

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Deutschland ein Auswanderungsland?

nach Deutschland schon zurückliegt, umso nied-                         konnte erfolgreich die neue Auslandsadresse re-
riger ist im hier geschätzten Modell auch die Aus-                     cherchiert und der Fragebogen des Pilotprojektes
wanderungswahrscheinlichkeit im Vergleich zur                          „Leben außerhalb Deutschlands“ (LaD) versendet
Referenzgruppe der in Deutschland geborenen                            werden. Dies war für insgesamt 67 der 288 Aus-
Migranten. Wenn die Zuwanderung bereits mehr                           wanderer (fast 25 Prozent) möglich. Davon haben
als 20 Jahre zurückliegt, lassen sich sogar keiner-                    32 den ausgefüllten LaD-Fragebogen tatsächlich
lei Unterschiede mehr zu den in Deutschland                            zurückgeschickt, was bei einer schriftlichen Be-
Geborenen ausmachen. Darüber hinaus lässt                              fragung einer beachtlich hohen Rücklaufquote
sich festhalten, dass Migranten ohne deutschen                         von nahezu 50 Prozent entspricht. Setzt man die
Pass – mit Ausnahme der Migranten der hier                             32 realisierten Interviews mit der Zahl der 288
zusammengefassten Nationalitäten Großbritan-                           SOEP-Auswanderen in Beziehung, so werden
nien, Irland, Island, Norwegen, Schweden und                           durch den LaD-Fragebogen rund elf Prozent der
Finnland – eine generell erhöhte Auswanderungs-                        ursprünglichen Auswanderer erfasst.
wahrscheinlichkeit haben. Gleichzeitig gibt es
außerdem erhebliche Schwankungen je nach Na-                           Die folgenden Ausführungen basieren auf den
tionalität – vor allem Spanier, Portugiesen und                        Informationen aus den 32 im Ausland realisierten
Griechen verlassen Deutschland. Im Vergleich                           Befragungen mit den ausgewanderten SOEP-Teil-
der verschiedenen Nationalitäten haben Türken                          nehmerinnen und -Teilnehmern. Aufgrund der
im hier geschätzten Modell die niedrigste Aus-                         geringen Fallzahl ist eine Auswertung der Daten
wanderungswahrscheinlichkeit.                                          und eine inhaltliche Interpretation der mit dem
                                                                       dafür entwickelten Fragebogen erhobenen Infor-
                                                                       mationen nur eingeschränkt möglich. Insofern
Individuelle Gründe und Folgen der                                     ist ein wesentliches Ziel dieses Berichts vor al-
Auswanderung                                                           lem erste Schlaglichter auf das „Leben außerhalb
                                                                       Deutschlands“ zu werfen.
Diese bis hier vorgestellten Analysen lassen aber
keine Rückschlüsse zu, welche spezifischen Grün-
de zum Verlassen Deutschlands geführt haben                            Auswanderung als Erfolgsgeschichte?
und wie es den Auswanderern in ihrer neuen
Heimat ergeht. Denn dieser Personenkreis wird                          Die Gründe für die Auswanderungsentscheidung
– wie weltweit bei allen Haushalts-Panelstudien                        sind vielfältig. 16 Personen geben familiäre Grün-
üblich – nicht mehr weiter befragt. Diesen blin-                       de als ausschlaggebend an, während ebenfalls
den Fleck der Migrationsforschung hellt ein unter                      16 Befragte von beruflichen Gründen berichten.
dem Titel „Leben außerhalb Deutschlands“ im                            Sieben Personen wollten durch die Auswanderun-
Jahr 2005 gestartetes Pilotprojekt im Rahmen der                       gen wieder zurück in ihr Heimatland. Für neun
SOEP-Studie auf. In diesem Pilotprojekt werden                         Personen spielten andere Gründe (zum Beispiel
die neuen Adressen der ins Ausland verzogenen                          begrenzte Aufenthaltsgenehmigung in Deutsch-
SOEP-Teilnehmer recherchiert. Für die Befra-                           land oder der Wunsch danach, Erfahrungen im
gung selbst wurde ein Kurz-Fragebogen entwi-                           Ausland sammeln zu können) eine Rolle (Abbil-
ckelt, der dann im Jahr 2006 an die mit Adresse                        dung 1). Mehrfachantworten waren bei der Befra-
im Ausland bekannten und seit 2002 verzogenen                          gung möglich, wobei 16 Personen einen Grund,
Auswanderer verschickt wurde. Diese erste Be-                          13 Personen zwei und zwei Personen sogar drei
fragungsrunde wurde ergänzt durch eine zweite                          Gründe für die Auswanderung anführen. Dieses
Runde im Jahr 2007, in der der Fragebogen an                           Ergebnis gibt einen ersten Hinweis auf die Mehr-
die seit 2006 ausgewanderten SOEP-Teilnehmer                           dimensionalität von Auswanderungsentscheidun-
verschickt wurde.8                                                     gen, die sich offensichtlich in vielen Fällen nicht
                                                                       auf einen Auslöser allein reduzieren lassen.
Für die hier analysierten Befragungswellen 2002
bis 2006 weisen die SOEP-Daten 288 Personen                            18 Befragte geben an, nach ihrer Auswanderung
aus, die an der Befragung teilgenommen hat-                            erwerbstätig zu sein, während die übrigen 14
ten, jedoch in diesem Zeitraum ausgewandert                            nicht erwerbstätig sind. Nur ganz wenige dieser
sind. Im weiteren Verlauf wird diese Substich-                         Nichterwerbstätigen sind arbeitslos (aus Daten-
probe auch als „SOEP-Auswanderer“ bezeichnet.                          schutzgründen wird die Zahl nicht explizit aus-
Für eine Teilpopulation der SOEP-Auswanderer                           gewiesen), sechs sind Rentner und die übrigen
                                                                       gehören zu den sonstigen Nichterwerbstätigen
                                                                       wie zum Beispiel Hausfrauen (Abbildung 2).
8 Vgl. Schupp, J., Siegel, N. A., Erlinghagen, M., Stegmann, T.,
Wagner, G. G.: Leben außerhalb Deutschlands. Eine Machbarkeits-
studie zur Realisierung von Auslandsbefragungen auf Basis des Sozio-   Die Personen, mit denen ein Interview im Aus-
oekonomischen Panels (SOEP). SOEPpapers on Multidisciplinary Panel
Data Reseach 120, DIW Berlin 2008.                                     land realisiert werden konnte, sind zwischen

                                                                                          Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39/2009   667
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