Zivil-gesell- schaft 2020 - Brot für die Welt

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Zivil-gesell- schaft 2020 - Brot für die Welt
Atlas                   2020
DER ZIVILGESELLSCHAFT

Zivil-
gesell-
schaft
Report zur weltweiten Lage
Zivil-gesell- schaft 2020 - Brot für die Welt
Impressum
Herausgeber
Brot für die Welt
Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V.
Caroline-Michaelis-Straße 1, 10115 Berlin
Telefon +49 30 65211 0, Fax +49 30 65211 3333
info@brot-fuer-die-welt.de
www.brot-fuer-die-welt-de
www.brot-fuer-die-welt.de/atlas-zivilgesellschaft

AutorInnen Christian Jakob, Christine Meissler,
Carsta Neuenroth, Nils Utermöhlen
Redaktion Maike Lukow
Redaktionelle Mitarbeit Anne Dreyer, Silke Pfeiffer
Idee und Konzept Anne Dreyer, Julia Duchrow
V. i. S. d. P. Klaus Seitz
Gestaltung KontextKommunikation GmbH, Berlin
Satz Reihs Satzstudio, Lohmar
Korrektorat Petra Kienle, Fürstenfeldbruck
Infografiken und Illustrationen Esther Gonstalla
Fotos Erhan Arik/NarPhotos/laif (S. 65), Maria Magdalena Arrellaga/NYT/
Redux/laif (S. 36), Umit Bektas (S. 42, 46), Hermann Bredehorst (S. 4),
Josue Decavele (S. 54), Tuane Fernandes (S. 39, 40), Bettina Flitner (S. 68),
Gleb Garanich (S. 60), Dai Kurokawa (S. 70), Willy Kurniawan (S. 48),
Jessica Rinaldi (S. 66), Oswaldo Rivas (S. 57), Ulises Rodriguez (S. 59),
Frank Schultze (S. 63), Tatan Suflan (S. 50), Darren Whiteside (S. 52)
Lektorat Thorsten Herdickerhoff, Eva Rosenkranz
Druck Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
Art. Nr. 119 113 430
Berlin, Februar 2020

Print ISBN 978-3-96238-171-4
E-PDF ISBN 978-3-96238-710-5

Dieses Werk wurde veröffentlicht unter der Lizenz "Creative Commons
Attribution-NonCommercial-NoDerivates 4.0" (BY-NC-ND). Diese
Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und
keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter
https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de
Zivil-gesell- schaft 2020 - Brot für die Welt
Inhalt                                                              Kolumbien
                                                                                       Venezuela                      Guyana
                                                                                                                     Surinam
                                                                                                                           Französisch-
                                                                                                                              Guayana

                                                                              Peru

          Impressum                                                       2                                Brasilien

          Vorwort                                                         4
                                                                                              Bolivien
          Zusammenfassung                                                 5
                                                                                      Chile      Paraguay
          Die Welt sieht rot: Weltkarte                                   8
                                                                                            Argentinien

                                                                                                         Uruguay
                                                                                                                                             36

          Teil 1: CIVICUS-Monitor
          Zivilgesellschaft weltweit stärker unter Druck                 12      Libyen
                                                                                                    Ägypten                   Saudi-
                                                                                                                             Arabien
          Die Lage in Europa / Veränderungen im Ranking gegenüber
          dem Vorjahr / Formen der Repression / Tödliches Engagement /
                                                                                                     Sudan               Eritrea
          Repression verhindert Entwicklung / Betroffene Gruppen                Tschad
                                                                                                                                   Jemen

          »Frauen sind Ziel von Repressionen«,                           21                                                 Djibouti

          Interview mit Marianna Belalba Barreto von CIVICUS                         Zentralafr.           Süd-
                                                                                                                           Somaliland

                                                                                       Rep.               sudan        Äthiopien
          Shrinking Space betrifft vor allem Frauen                      22      Kamerun

          und Frauenbewegungen                                                Kongo     DR Kongo             Uganda Kenia Somalia
                                                                                                                                            42
          Der Trend: Angriffe auf die Gleichberechtigung / Die Lage
          der Menschenrechtsverteidigerinnen / Gewalt gegen                                     Myanmar
                                                                               Thailand          Laos
          Frauen / Erzwungene Einheit statt Vielfalt / Kein Recht                                Kambodscha
                                                                                                 Vietnam              Philippinen

          auf Gerechtigkeit / Frauen kämpfen für Land- und                                     Brunei
                                                                                         Malaysia                          Papua-
          Umweltrechte / Populismus gegen Frauen und LGBTI /                                                               Neuguinea

          Frauenaktivismus im Netz / Besonders häufig attackiert:
                                                                                                         Indonesien
                                                                              Singapur
          Journalistinnen / Frauen und Arbeitskämpfe / Internationale                                                   Osttimor

          Organisationen / Formale politische Partizipation
          Einschränkung der Zivilgesellschaft nach Regionen              30                                            Australien
                                                                                                                                            48

          Teil 2: Zivilgesellschaft im Fokus. Bewegungen für die Rechte 35
                                                                                                Vereinigte Staaten
                                                                                                  von Amerika
          von Frauen und LGBTI in sechs Ländern
          Brasilien ‒ Massive Gefahr für die Zivilgesellschaft           36
                                                                                              Mexiko                       Bahamas
          Sudan ‒ Gesichter der Revolution                               42                                               Kuba
                                                                                                                     Jamaika
          Indonesien ‒ Am Ende der Reformbemühungen?                     48                                        Belize
                                                                                                                            Haiti
                                                                                          Guatemala
          Zentralamerika ‒ Eine Region der Gewalt gegen Frauen           54               El Salvador
                                                                                                                        Dom. Rep.

                                                                                          Honduras
          Armenien ‒ Hohe Erwartungen an die neue Regierung              60               Nicaragua
                                                                                                                             Venezuela     Faktor 1,0

                                                                                          Costa Rica
          Uganda ‒ Wenn das Misstrauen regiert                           66                                  Panama
                                                                                                                         Kolumbien

                                                                                                                                             54

          Teil 3: Demokratie braucht Geschlechtergerechtigkeit           72                    Russland
                                                                                                                            Kasachstan
          Treiber des Backlash ‒ Weltfamilienkongress / Europäische
          Treiber des Backlash / Allianz der Familienschutz­                                       Georgien            Turkmenistan

          organisationen mit rechtsextremen Parteien / Die Vereinten                                               Aserbaidschan

                                                                               Türkei              Armenien
          Nationen: Plattform für und gegen Frauenrechte / Der Kampf
          auf internationaler Ebene / Die Kraft der Netzwerke und
                                                                                                          Irak
          Bündnisse / Aufmerksamkeit durch soziale Medien und                        Syrien
                                                                                                                              Iran

          Demonstrationen / Solidarität für die Vielfalt                      Libanon            Jordanien
                                                                                                                                            60
          Empfehlungen an die Bundesregierung: Einsatz für eine          78
          unabhängige Zivilgesellschaft und Geschlechtergerechtigkeit
                                                                              Zentralafr.
                                                                              Republik             Südsudan
                                                                                                                             Äthiopien

          Literatur                                                      80
          Abkürzungen                                                    81     DR Kongo                 Uganda             Kenia

          Quellen                                                        82
                                                                                               Ruanda

                                                                                              Burundi         Tansania

                                                                                                                                            66

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Zivil-gesell- schaft 2020 - Brot für die Welt
Vorwort

              G
                                                                                                  che gesellschaftliche Entwicklung wird dabei
                                                                                                  ebenso ignoriert wie die von Frauen einge-
                                                                                                  brachten Potenziale. Dabei sind es oft gerade
                                                                                                  Frauen, die friedliche Veränderungen in ihren
                                  emeinsam mit unseren zivil­                                     Ländern vorantreiben. So blicken wir in un-
              gesellschaftlichen und kirchlichen Partner-                                         serem Länderbeispiel Sudan auf die mutigen
              organisationen in rund 90 Ländern arbeiten                                          Frauen, die auf den Straßen Khartums pro-
              wir daran, Hunger, Armut und Ungerechtig-                                           testierten, um die drei Jahrzehnte dauernde
              keit zu überwinden. Der sogenannte Shrin-                                           autoritäre Herrschaft von Omar al-Bashir im
              king Space ‒ der schrumpfende Handlungs-                                            Frühjahr 2019 zu beenden (S. 42 ff.).
              spielraum zivilgesellschaftlicher Organisationen ‒ bereitet      Genau wie bei der Samtenen Revolution in Armenien, an der
              uns und unseren Partnern große Sorge. Denn in vielen Län-        sich im Frühjahr 2018 Frauen in großer Zahl beteiligten. Al-
              dern schränken Regierungen die Grundrechte auf Meinungs-,        lerdings haben sich ihre Erwartungen, dass Frauen nach dem
              Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zunehmend ein ‒           Regierungswechsel in der Regierung besser repräsentiert sein
              auch in Europa. Dabei sind diese Menschen- und Bürgerrechte      würden und insgesamt gleichberechtigter leben können, bis-
              essenziell für eine Demokratie und dafür, dass sich Bürgerin-    her nicht erfüllt (S. 60 ff.).
              nen und Bürger an der politischen wie der sozialen Entwick-      Eine besonders dramatische Entwicklung zeichnet sich in Bra-
              lung ihrer Länder beteiligen können. Vor diesem Hintergrund      silien ab, einem Land, das wir im Atlas der Zivilgesellschaft
              veröffentlichen wir nun zum dritten Mal den Atlas der Zivil­     bereits zum zweiten Mal behandeln. Präsident Jair Bolsonaro
              gesellschaft gemeinsam mit CIVICUS, dem weltweiten Netz-         propagiert mit vielen anderen fundamentalistischen und frau-
              werk für Bürgerbeteiligung.                                      enfeindlichen Hardlinern ein antifeministisches Frauenbild
              Im Atlas der Zivilgesellschaft 2020 konzentrieren wir uns        als christlich und bedroht Organisationen, die sich für Frauen-
              neben der weltweiten Analyse thematisch auf die Zurückdrän-      und Gender-Themen einsetzen (S. 36 ff.).
              gung und Einschüchterung von Frauen und Bewegungen für           Angesichts der weltweiten Einschränkungen, die die Zivil-
              Frauenrechte und Geschlechtergerechtigkeit. Frauen werden        gesellschaft aktuell erlebt, ist es wichtig, dass die Bundes­
              überproportional Opfer von digitaler, psychischer und physi-     regierung handelt. Sie muss sich unmissverständlich gegen
              scher Gewalt ‒ im Globalen Süden wie in Europa. Die Öffent-      die schwindenden Handlungsspielräume wenden, Einschrän-
              lichkeit nimmt wenig Notiz davon, weil beispielsweise die        kungen benennen und in ihrer eigenen Politik den zivilgesell-
              Ermordung von Frauen nicht politisch eingeordnet wird, son-      schaftlichen Handlungsspielraum schützen ‒ hierzulande
              dern als Beziehungstat. Ein Beispiel für die erfolgreiche Ein-   und weltweit. Dabei muss sie die Gelegenheit des Peking+25-
              schüchterung von politisch aktiven Frauen in Europa ist die      Prozess nutzen, um besonders die zunehmende Gewalt gegen
              Ankündigung von mehr als dreißig Parlamentarierinnen aus         Frauen sowie die Lage von Frauen im öffentlichen Leben und
              Großbritannien, bei den nächsten Wahlen aufgrund massiver        von Frauenorganisationen in den Blick zu nehmen. Sie muss
              Bedrohungen durch sexualisierte Gewalt nicht mehr antreten       bei Kontakten auf internationaler Bühne nicht nur generell
              zu wollen.                                                       umfassenden Schutz für Menschenrechtsverteidigerinnen und
              Nationalistische Parteien, fundamentalistische politische und    Menschenrechtsverteidiger einfordern, Diffamierungen und
              religiöse Strömungen und Gruppierungen sind global auf dem       Gewalt verurteilen, sondern sollte sich weltweit speziell für
              Vormarsch und international hervorragend vernetzt. Sie ver-      den Schutz von zivilgesellschaftlichem Engagement zuguns-
              suchen, tradierte Machtstrukturen und Geschlechterrollen         ten von Frauenrechten und Geschlechtergerechtigkeit einset-
              wiederherzustellen und Frauen aus dem öffentlichen Raum          zen und sexualisierte Gewalt auf allen Ebenen und in allen
              zu drängen. Sie stigmatisieren und delegitimieren die Errun-     Ländern massiv verurteilen.
              genschaften der Frauenbewegungen und wollen damit errei-         Nur eine handlungsfähige und aktive Zivilgesellschaft, an der
              chen, dass deren wichtige Forderungen die Unterstützung der      alle Gruppen der Bevölkerung gleichberechtigt teilhaben, kann
              Bevölkerung verlieren.                                           gesellschaftliche Veränderungen anstoßen. Ohne das Engage-
              In einigen Ländern werden Frauen nach wie vor so stark dis-      ment von Frauen gibt es weder Entwicklung noch Frieden!
              kriminiert, dass sie vom öffentlichen Leben weitgehend aus-
              geschlossen sind. Die große Bedeutung von frauenrechtlichen      Prof. Dr. h. c. Cornelia Füllkrug-Weitzel
              Errungenschaften für die wirtschaftliche, soziale und friedli-   Präsidentin von Brot für die Welt

              4        Atlas der Zivilgesellschaft 2020

2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 4                                                                                           03.02.20 09:33
Zivil-gesell- schaft 2020 - Brot für die Welt
Zusammenfassung

     W
                                                                           Rede, Vereinigungen oder Versammlungen möglich, wo wer-
                                                                           den Menschenrechte geachtet und wo verfügt die Zivilgesell-
                                                                           schaft über demokratische Teilhabe? Mit diesen Fragen be-
                                                                           schäftigt sich der erste Teil des Atlas der Zivilgesellschaft. Die
                            iderspruch kann tödlich sein, auch wenn er     Daten dafür stammen von CIVICUS, der Weltallianz zur Bür-
          Selbstverständliches einfordert. Das Recht eines Menschen        gerbeteiligung. Der CIVICUS-Monitor ist die umfassendste
          beispielsweise, gegen politische Entscheidungen zu demons-       Dokumentation zum Zustand der globalen Zivil­gesellschaft.
          trieren oder diese in den sozialen Medien infrage zu stellen.    Aktuell leben lediglich rund drei Prozent der Welt­bevölkerung
          Oder das Ackerland, von dem eine Familie lebt, nicht für         in Staaten mit einer offenen Zivilgesellschaft. Im Vorjahr
          ein großes Infrastrukturprojekt hergeben zu müssen. Zent-        waren es vier Prozent. Das heißt, aktuell genießen nur rund
          ralamerika etwa ist zu einer Region geworden, in der Recht       259 Millionen Menschen uneingeschränkte zivilgesellschaft-
          und Gerechtigkeit immer weniger zählen. Sie werden ver-          liche Freiheiten. Sie leben in den 43 Staaten, die die Grund-
          drängt von Gewalt, Korruption, Kriminalität und Regierun-        rechte respektieren und schützen. In ihnen wird der soge-
          gen, die sich mit kriminellen Banden zusammentun. Die            nannte Civic Space, der Raum für zivilgesellschaftliches
          Zivilgesellschaft kann kaum noch Rechte einfordern und sich      Handeln, als „offen“ eingestuft. 1,1 Milliarden Menschen leben
          in De­
               batten einbringen.                                                                               in 42 Staaten, in denen der

                                                               259
          Trotzdem gibt es in der                                                                               Civic Space beeinträch-
          Region Frauen wie Lydia                                                                               tigt ist. Für acht von zehn
          Alpizar, die alles daranset-                                                                          Menschen auf der Welt
          zen, dass politisches Han-                                                                            ist diese Freiheit dagegen
          deln möglich bleibt. Und                                                                              stark oder sehr stark be-
                                                    Nur rund                             Millionen
          Menschen zu schützen,                                                                                 einträchtigt. Die Grund-
          die aufgrund ihres zivil­                 Menschen weltweit genießen unein­ge­                        rechte von 1,2 Milliarden
          gesellschaftlichen           Enga-        schränkte zivilgesellschaftliche Freiheiten                 Menschen in 49 Staaten
          gements bedroht werden.                                                                               werden laut CIVICUS „be-
          So bietet IM-Defensoras, das zentralamerikanische Netz-          schränkt“. Weitere drei Milliarden Menschen müssen fürch-
          werk von Menschenrechtsverteidigerinnen, bei dem Alpizar         ten, überwacht, drangsaliert, eingeschüchtert, inhaftiert, ver-
          arbeitet, jenen Frauen Zuflucht, die sich gegen korrupte Poli­   letzt oder sogar getötet zu werden, wenn sie die Machthaber in
          tikerinnen und Politiker, kriminelle Banden oder gewalttätige    ihrem Land kritisieren. Das sind knapp 40 Prozent der Welt-
          Großgrundbesitzer stellen (→ Teil 2).                            bevölkerung. In den 38 Staaten, in denen sie leben, wird die
          Lydia Alpizar und IM-Defensoras sind Mosaiksteine einer          Zivilgesellschaft „unterdrückt“. Vollständig „geschlossen“ ist
          globalen Zivilgesellschaft, die von international aufgestell-    der Civic Space für zwei Milliarden Menschen, das ist mehr als
          ten Lobbybündnissen bei multinationalen Institutionen bis        ein Viertel der Weltbevölkerung. Sie leben in 24 Staaten, in
          zu Kleinbauerninitiativen in entlegenen Dörfern reicht. Selbst   denen zivilgesellschaftliches Handeln gewaltsam unterbun-
          wenn sie nicht alle das Gleiche wollen, kämpfen viele von        den wird.
          ihnen für Freiheit, Gerechtigkeit und Teilhabe, für den Erhalt   Allerdings erodieren gesellschaftliche Freiheiten selbst in
          der Natur und gegen autoritäre oder korrupte Regierungen.        Weltregionen, in denen sie Teil des gesellschaftlichen Selbst-
          Diese Kämpfe brachten im Jahr 2019 weltweit Menschen auf         verständnisses sind oder waren. In 13 der 28 EU-Staaten etwa
          die Straßen: im Sudan, in Russland, Ägypten, Chile, Ecuador,     stuft CIVICUS die Handlungsspielräume der Zivilgesellschaft
          Irak, im Libanon, in Spanien, Hongkong, Bolivien, der Tür-       heute als „beeinträchtigt“ ein. In die Kategorie der europäi-
          kei, Brasilien, Argentinien, bei den Frauenstreiks am 8. März    schen Staaten mit „beschränktem“ Civic Space stieg 2019 Ser-
          oder bei den globalen Klimaprotesten. An einigen dieser Orte     bien ab. Hass und Schmähkampagnen gegen Journalistin-
          hätte kaum jemand Proteste erwartet, wird doch die Zivil­        nen und Journalisten nehmen dort zu. Staatschef Aleksandar
          gesellschaft dort unterdrückt und die Reaktion der staatlichen   Vučić bezeichnet kritische Berichterstatterinnen und Bericht-
          Kräfte ist unkalkulierbar. Abgeschreckt hat dies die Menschen    erstatter als „Lügner“ oder „Spione“. Auch die Diffamierung von
          jedoch nicht.                                                    zivil­gesellschaftlichen Organisationen ist in Serbien steigend.
          Der Atlas der Zivilgesellschaft 2020 zeigt die gegenwärtigen     In Ungarn, dessen Präsident Viktor Orbán offen eine „illibe-
          Handlungsspielräume der Zivilgesellschaft auf. Wo sind freie     rale Demokratie“ propagiert, sieht CIVICUS den Civic Space

                                                                                                     Vorwort / Zusammenfassung             5

2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 5                                                                                               03.02.20 09:33
Zivil-gesell- schaft 2020 - Brot für die Welt
nach wie vor als „beschränkt“. Nationalismus und Autorita-
              rismus sowie ein wachsender Einfluss fundamentalistischer
              reli­giöser Gruppen untergraben in Teilen Europas spürbar die       1. November 2019 in Kraft trat und ein eigenes Internet unter
              Freiheit der Rede, zur Versammlung und Vereinigung. Und             kompletter Staatskontrolle vorsieht.
              nach wie vor schlägt der Großkonflikt um die Migration dabei        Regime lassen zudem oft Menschenrechtsverteidigerinnen
              durch. Auf Druck rechter Parteien sehen sich demokratische          und -verteidiger oder Oppositionelle festnehmen. In Kamerun
              Akteure wie Beratungsstellen für Flüchtlinge, die sich Hass         etwa kamen im Spätsommer 2019 eine Reihe von Kritikern des
              und Hetze entgegenstellen, plötzlich selbst dem Vorwurf des         Präsidenten Paul Biya ins Gefängnis ‒ kurz bevor ein „Natio-
              Extremismus ausgesetzt ‒ auch in Deutschland.                       naler Dialog“ den Konflikt zwischen dem anglophonen und
              Den Terrorismusbegriff missbrauchen Regierungen und Kon-            dem frankophonen Teil des Landes befrieden sollte.
              zerne weltweit und bezeichnen jene, die den Abbau sozialer          Bei etwa jedem sechsten von CIVICUS untersuchten Fall han-
              Leistungen oder die Zerstörung natürlicher Ressourcen nicht         delte es sich um übermäßige Gewalt gegen Protestierende. In
              hinnehmen wollen, als „Terroristen“. So wie Brasiliens Präsi-       Guinea beispielsweise töteten staatliche Kräfte im Oktober
              dent Jair Bolsonaro, der unter anderem die Arbeit der klein-        2019 neun Menschen, die gegen eine Verfassungsänderung
              bäuerlichen Landlosenbewegung MST (Movimento dos Sem                protestierten, mit der Präsident Alpha Condé sich eine dritte
              Terra) und der Obdachlosenbe-                                                                     Amtszeit ermöglichen wollte.

                                                          83 %
              wegung MTST (Movimento dos                                                                        In Konflikt mit dem Staat und pri-
              Trabalhadores Sem Teto) als „Ter-                                                                 vaten Unternehmen geraten oft
              rorismus“ diffamiert.                                                                             jene, die materielle Güter anders
              Solche Diffamierungen haben                                                                       verteilen wollen: Gewerkschaf­
              Folgen. 304 Morde an Menschen-                                                                    terinnen   und   Gewerkschafter
                                                      In                         der
              rechtsverteidigerinnen und -ver-                                                                  sowie Arbeiterinnen und Arbei-
              teidigern in 31 Ländern zählte          Staaten ist der Raum für die                              ter. Diese waren in jedem achten
              etwa die Organisation Frontline         Zivilgesellschaft beschränkt,                             (12,7 Prozent) der von CIVICUS
              Defenders im Jahr 2019. Knapp                                                                     ausgewerteten Fälle betroffen.
                                                      unterdrückt oder geschlossen
              drei Viertel der getöteten Akti-                                                                  In Jordanien etwa untersagt ein
              vistinnen und Aktivisten verteidigten Landrechte, Umwelt-           im April 2019 beschlossenes Gesetz den 314.000 im Land
              schutzgesetze und die Rechte indigener Völker, die oft im Zuge      registrierten Wanderarbeiterinnen und -arbeitern, Gewerk-
              staatlicher Infrastrukturprojekte und bei der Rohstoffausbeu-       schaften zu gründen.
              tung verletzt wurden. Die Organisation Global Witness hat die       Vom schrumpfenden Handlungsspielraum für die Zivilge-
              Angriffe auf Umweltschützerinnen und -schützer dokumen-             sellschaft sind Frauen und Menschen, die lesbisch, schwul,
              tiert und im Jahr 2018 insgesamt 164 Morde an ihnen gezählt.        bisexuell, transsexuell/transgender und intersexuell (LGBTI)
              Im November 2019 erschossen Holzfäller unter anderen den            sind, besonders bedroht: körperlich, beispielsweise wenn Staa-
              prominenten indigenen Regenwaldschützer Paulo Paulino               ten Abtreibung gesetzlich verbieten, sowie durch sexualisierte
              Guajajara.                                                          Gewalt oder Diffamierungen. Gleichzeitig erschwert die rück-
              Gesellschaftliche Freiheit und soziale Entwicklung sind un-         wärtsgewandte Geschlechterpolitik Aktivistinnen und Akti-
              trennbar miteinander verbunden. Viele soziale Bewegungen            visten, sich gegen Angriffe zu wehren. Frauen und Männer
              verfolgen Ziele, die jenen der Sustainable Development Goals        sowie Organisationen, die sich für Gleichberechtigung und
              (SDGs), den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung, nahe             eine Vielfalt der Geschlechter einsetzen, werden als „Gender-
              sind. Das zeigt auch der CIVICUS-Monitor. Wo der Civic              Ideologen“ und ihre Arbeit als „Gender-Wahn“ verunglimpft
              Space „offen“ ist, liegt der Human Development Index (HDI) ‒        (→ Teil 1b).
              ein weltweit anerkanntes Maß für die menschliche Entwick-           Frauen und Frauenbewegungen waren in mehr als jedem fünf-
              lung ‒ im Schnitt bei 0,859. Der Höchstwert ist 1,0. Je weiter      ten (22 Prozent) der von CIVICUS registrierten Fälle von An-
              die gesellschaftlichen Freiheiten beschränkt werden, desto          griffen auf die Zivilgesellschaft betroffen und stehen damit an
              geringer liegt die vom HDI gemessene menschliche Entwick-           oberster Stelle der am stärksten von Verfolgung betroffenen
              lung. In Staaten mit „unterdrückter“ Zivilgesellschaft fällt die-   Gruppen. Frauen sind nicht nur angreifbarer, weil der öffent-
              ser Wert auf 0,647 Punkte.                                          liche Raum noch immer von Männern dominiert wird. Frauen
              Insgesamt 536 Meldungen über Angriffe auf zivilgesellschaft-        werden auch angegriffen, weil sie Frauen sind und sich als solche
              liche Tätigkeiten zwischen 1. Oktober 2018 und 11. November         engagieren. Was das für ihre Arbeit bedeutet, davon berichten
              2019 hat CIVICUS zuletzt ausgewertet. Die Fälle sind nicht          im Teil 2 dieses Atlas Vertreterinnen und Vertreter von Brot-
              repräsentativ, zeigen aber deutliche Muster politischer Repres-     für-die-Welt-Partnerorganisationen in Brasilien, Sudan, Indo-
              sion. International besonders stark verbreitet ist demnach die      nesien, Zentralamerika, Armenien und Uganda.
              staatliche Zensur von Medien ‒ einschließlich der Kontrolle         Heute sind Frauen sichtbarer denn je in Kämpfen um so-
              des Internets und somit der sozialen Medien. Aufsehen erregte       zialen Fortschritt. Die Revolution im Sudan etwa, die dem
              dabei etwa Russlands umstrittenes Internetgesetz, das am            Kriegsverbrecher Omar al-Bashir die Macht entriss, wird auf

              6        Atlas der Zivilgesellschaft 2020

2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 6                                                                                               03.02.20 09:33
Zivil-gesell- schaft 2020 - Brot für die Welt
Hassbotschaften enthielt, war es bei schwarzen Frauen sogar
                                                                            jeder zehnte Beitrag. „Im gegenwärtigen politischen Klima,
                                                                            mit seinem Rollback gegen die Menschenrechte, sind Frauen,
                                                                            die diese Rechte verteidigen, oft die ersten, die angegriffen
                                                                            werden“, sagt Michel Forst, UN-Sonderberichterstatter für die
          ewig mit dem Bild der Studentin Alaa Salah verbunden sein.        Situation von Menschenrechtsverteidigern.
          Auch die schwedische Schülerin Greta Thunberg vermochte           Teil 3 des Atlas stellt die Strategien jener Gruppen dar, die
          Millionen junge Menschen dazu zu bringen, das Nichtstun           dafür kämpfen, dass Frauen und LGBTI weniger Rechte zu-
          gegen die drohende Klimakatastrophe nicht länger hinzu-           gestanden werden: religiöse Fundamentalisten, Antifeminis-
          nehmen. Die Seenotretterin Carola Rackete ließ sich nicht         ten, Rechtspopulisten. Weltweit gewinnen ihre Ideen an Ak-
          beirren, als der damalige italienische Innenminister Matteo       zeptanz, auch weil deren Vertreter sich strategisch aufstellen
          Salvini ihr für ihren Einsatz Gefängnis androhte. Ihr Mut be-     und international vernetzen. Besonders deutlich wird das am
          eindruckte die Menschen. Für die Seenotretter im Mittelmeer       Beispiel des Weltfamilienkongresses, der als ihr weltweit wich-
          gab es in der Folge Millionenspenden. Und natürlich gehören       tigstes Treffen gilt. Er zeigt deutlich die Verknüpfung zwischen
          auch Frauen dazu, die der Öffentlichkeit unbekannt sind, wie      rechtsnationalen Parteien und der Anti-Gender-Bewegung.
          die junge Chilenin, die im Oktober 2019 mit einem Schild auf      Das wichtigste internationale Forum für die Durchsetzung
          die Straße ging, auf dem stand: „Der Neoliberalismus wurde        von Frauenrechten sind die Vereinten Nationen. Frauenbewe-
          in Chile geboren und wird in Chile sterben.“ Bei den Protesten    gungen und Gender-Aktivisten und -Aktivistinnen nutzen in-
          in Chile 2019 verletzte die Polizei über 1.300 Menschen, doch     ternationale Organisationen wie die UN, um sich gegen den
          aufgrund des Drucks der Proteste bildete Präsident Sebastián      Backlash zur Wehr zu setzen. Sie kritisieren beispielsweise
          Piñera sein Kabinett um und versprach soziale Reformen.           in den Berichts- und Monitoring-Prozessen zur UN-Konven­
          Der Einsatz für eine lebenswerte Zukunft für alle komme           tion zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau
          „momentan hauptsächlich von jungen Frauen“ schreibt die           (CEDAW) die Geschlechterpolitik ihrer jeweiligen Regierung.
          Journalistin Sonja Eismann. Diese Frauen haben viel zu            Die internationale Anti-Gender-Bewegung hat die Relevanz
          gewinnen, denn bis heute werden sie auf allen Kontinenten         der Vereinten Nationen jedoch ebenfalls für sich erkannt. Sie
          und in allen gesellschaftlichen Bereichen gegenüber Männern       versucht, Menschenrechtsverträge zu untergraben, die Frauen-
          benachteiligt ‒ weniger Geld für gleiche Arbeit, weniger Land­    und LGBTI-Rechte explizit schützen, und schließt Allianzen
          besitz, weniger gesellschaftliche Mitsprache, weniger Sicher-     über Religionen, Staaten und übliche Bündnisse hinweg.
          heit. Ihre Handlungsspielräume sind dabei stets gefährdeter       Trotz ‒ oder vielleicht gerade wegen ‒ der Erfolge des Backlash
          als die von Männern. Manchmal ist es schon zu gefährlich,         ist die Aufbruchstimmung an vielen Orten groß. Aktivistinnen
          den Begriff „feministisch“ als Eigenbezeichnung zu verwen-        und Frauenbewegungen scheinen so aktiv wie nie. Regionale
          den, wie die Brot-für-die-Welt-Partnerorganisation Women          und internationale Netzwerke nehmen dabei eine Schlüssel-
          for Development in Armenien                                                                       funktion ein, wie Teil 3 be-
          schildert.      Von      sexualisierten                                                           schreibt. Genau wie ihre Geg-
          Beleidigungen über Angriffe auf           Frauen und Frauen­b ewegungen                           nerinnen und Gegner nutzen
          die vermeintliche „Ehre“ oder             waren in mehr als jedem fünften                         auch Aktivistinnen und Akti-
          jene der Familie, von Untergra-                                                                   visten für Frauen und LGBTI
                                                    der von CIVICUS registrierten
          bung der oft prekären Existenz-                                                                   die sozialen Medien, um auf
          grundlage bis hin zu sexualisier-         Fälle von Angriffen auf                                 ihre Themen aufmerksam zu
          ter Gewalt und Mord: In allen             die Zivilgesellschaft betroffen                         machen. Das Hashtag #MeToo
          Teilen der Welt zahlen Frauen                                                                     ist ein weltweit bekanntes Bei-
          einen besonders hohen Preis für ihr politisches und gesell-       spiel. Außerdem suchen sie den Schulterschluss mit jenen, die
          schaftliches Handeln. Das gilt für landlose Bäuerinnen in         außerhalb der Schusslinie stehen und gleichwohl Einfluss auf
          Indien ebenso wie für Kongressabgeordnete in den USA; es          die öffentliche Meinung haben. So entstehen beispielsweise
          gilt für streikende Textilarbeiterinnen in Bangladesch wie für    Bündnisse mit fortschrittlichen Kirchen.
          Journalistinnen in Deutschland.                                   Auch die deutsche Bundesregierung ist gefragt. Sie muss sich
          Je stärker das Internet ein Ort ist, an dem eine globale Zivil-   weltweit für eine unabhängige Zivilgesellschaft und für Ge-
          gesellschaft agiert, desto stärker wendet sich Hassrede dort      schlechtergerechtigkeit einsetzen. Brot für die Welt fordert
          gegen Frauen. In der bislang größten Studie zum Thema             deswegen, dass die Wirtschafts- und Sicherheitspolitik der
          untersuchten Forscherinnen und Forscher im Auftrag von            Bundesregierung nicht zur Einschränkung des Civic Space
          Amnesty International Tweets aus dem Jahr 2018 an 778 briti-      führt. Auf allen Ebenen sollen sich offizielle Vertreterinnen
          sche und US-amerikanische Politikerinnen und Journalistin-        und Vertreter der Bundesregierung insbesondere für eine
          nen. Diese bekamen hochgerechnet 1,1 Millionen problemati-        aktive, gleichberechtigte und demokratische Teilhabe von
          sche Tweets. Während einer von 15 Beiträgen an weiße Frauen       Frauen einsetzen.

                                                                                                                Zusammenfassung           7

2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 7                                                                                              03.02.20 09:33
Zivil-gesell- schaft 2020 - Brot für die Welt
CIVICUS-Einstufungen

                       offen

                       beeinträchtigt

                       beschränkt

                       unterdrückt

                       geschlossen

                       Länder, zu denen CIVICUS keine Daten erhebt

              Siehe auch www.brot-fuer-die-welt.de/atlas-zivilgesellschaft

              Die Welt sieht rot:
              Zivilgesellschaft weiter unter Druck
              153 Staaten behindern die Freiheit der Meinungsäußerung, das Recht auf fried-
              liche Versammlung und auf Vereinigung. Das globale Netzwerk CIVICUS doku-
              mentiert auf Basis umfangreicher, selbst erhobener Daten sowie Zahlen von
              Nichtregierungsorganisationen die Gefahren für die Entwicklung der Zivil-
              gesellschaft. Der sogenannte Civic Space ist der Raum für zivilgesellschaftli-
              ches Handeln, der in 196 Staaten beobachtet wird. Die laufend aktualisierten

              8        Atlas der Zivilgesellschaft 2020

2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 8                                         03.02.20 09:33
Zivil-gesell- schaft 2020 - Brot für die Welt
Analysen fließen in Indexwerten für jedes Land zusammen, die CIVICUS in
          die fünf Kategorien „offen“, „beeinträchtigt“, „beschränkt“, „unterdrückt“ und
          „geschlossen“ unterteilt. Heute leben nur drei Prozent der Weltbevölkerung in
          Staaten mit einer offenen Zivilgesellschaft ‒ gegenüber im Vorjahr vier Prozent.
          Vor allem Frauen und Frauenorganisationen bekommen die Beschränkungen
          des Civic Space zu spüren.

                                                    Die Welt sieht rot: Zivilgesellschaft weiter unter Druck   9

2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 9                                                                  03.02.20 09:33
Zivil-gesell- schaft 2020 - Brot für die Welt
Die fünf Kategorien von CIVICUS-Monitor
              entsprechen folgenden Definitionen:

              offen (open)*                                                   43 Staaten

              Der Staat ermöglicht und garantiert allen Menschen zivil-       Andorra, Antigua und Barbuda, Barbados, Belgien,
              gesellschaftliche Freiheiten. Sie können ohne rechtliche oder   Costa Rica, Dänemark, Deutschland, Dominica, Estland,
              praktische Hürden Vereinigungen bilden, im öffentlichen         Finnland, Grenada, Irland, Island, Kanada, Kap Verde,
              Raum Demonstrationen abhalten, sie bekommen Informatio-         Kiribati, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Marshall­inseln,
              nen und dürfen diese auch verbreiten. Autoritäten sind offen    Mikronesien, Monaco, Neuseeland, Niederlande, Norwegen,
              für Kritik von zivilgesellschaftlichen Organisationen und       Palau, Portugal, Salomonen, Samoa, San Marino, São Tomé
              bieten Plattformen für intensiven und konstruktiven Dialog      und Príncipe, Schweden, Schweiz, Slowenien, St. Kitts und
              mit Bürgerinnen und Bürgern. Demonstrierende werden             Nevis, St. Lucia, St. Vincent und die Grenadinen, Surinam,
              von der Polizei grundsätzlich geschützt und die Gesetze         Taiwan ‒ Province of China (offizielle UN-Bezeichnung),
              zur Regelung des Versammlungsrechts entsprechen inter-          Tschechien, Tuvalu, Uruguay, Zypern
              nationalen Standards. Es gibt freie Medien, Internetinhalte
              werden nicht zensiert und Regierungsinformationen sind
              leicht zugänglich.

              beeinträchtigt (narrowed)*                                      42 Staaten

              Einzelpersonen und zivilgesellschaftlichen Organisationen       Albanien, Argentinien, Australien, Bahamas, Belize,
              ist es überwiegend gestattet, ihre Rechte zur Vereinigungs-,    Bosnien-Herzegowina, Botswana, Bulgarien, Chile,
              Versammlungs- und Meinungsfreiheit auszuüben. Trotzdem          Dominikanische Republik, Ecuador, Frankreich, Georgien,
              kommen Verletzungen dieser Rechte vor. Menschen können          Ghana, Griechenland, Großbritannien, Guyana, Italien,
              Vereinigungen mit einer ganzen Bandbreite von Zielen            Jamaica, Japan, Kosovo, Kroatien, Lettland, Malta,
              bilden. Es gibt aber Fälle, in denen als regierungskritisch     Mauritius, Nordmazedonien, Republik Moldau, Montenegro,
              geltende Vereinigungen juristisch verfolgt oder anderweitig     Namibia, Österreich, Panama, Polen, Rumänien, Seychellen,
              schikaniert werden. Demonstrationen verlaufen weitgehend        Slowakei, Spanien, Südafrika, Südkorea, Tonga, Trinidad
              ungestört, werden von den Behörden aber teilweise unter         und Tobago, Vanuatu, Vereinigte Staaten von Amerika
              Verweis auf Sicherheitsbedenken verboten. Es kommt
              auch vor, dass unverhältnismäßige Gewalt wie Tränengas
              oder Gummigeschosse gegen friedliche Demonstrierende
              eingesetzt wird. Die Medien haben die Freiheit, ein großes
              Spektrum von Informationen zu verbreiten. Eine völlig freie
              Entfaltung der Presse wird aber entweder durch strikte
              Regulierung oder Ausübung von politischem Druck auf
              Medienschaffende verhindert.

              * englische Bezeichnung der Kategorie im CIVICUS-Monitor

              10       Atlas der Zivilgesellschaft 2020

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beschränkt (obstructed)*                                          49 Staaten

          Die Regierenden beschneiden eine freie Grundrechtsentfal­         Armenien, Benin, Bhutan, Bolivien, Brasilien, Burkina
          tung durch eine Kombination aus rechtlichen und prakti-           Faso, Elfenbeinküste, El Salvador, Fidschi, Gambia,
          schen Einschränkungen. Zivilgesellschaftliche Organisatio-        Guatemala, Guinea, Guinea-Bissau, Haiti, Indonesien,
          nen existieren zwar, doch staatliche Stellen versuchen sie zu     Israel, Jordanien, Kasachstan, Kenia, Kirgisistan,
          zersetzen, unter anderem durch Überwachung, bürokratische         Komoren, Lesotho, Libanon, Liberia, Malawi, Malaysia,
          Schikane und öffentliche Demütigung. Bürgerinnen und              Malediven, Mali, Marokko, Mongolei, Mosambik, Nauru,
          Bürger können sich friedlich versammeln, werden aber              Nepal, Niger, Osttimor, Papua-Neuguinea, Paraguay,
          häufig von Polizeikräften unter Einsatz exzessiver Gewalt         Peru, Philippinen, Sambia, Senegal, Serbien, Sierra Leone,
          auseinandergetrieben, etwa mit Gummigeschossen, Tränen-           Singapur, Sri Lanka, Togo, Tunesien, Ukraine, Ungarn
          gas und Schlagstöcken. Es gibt Raum für nicht staatliche
          Medien und redaktionelle Unabhängigkeit, aber Journalis-
          tinnen und Journalisten sind von körperlichen Übergriffen
          und Verleumdungsklagen betroffen. Sie sehen sich daher zur
          Selbstzensur genötigt.

          unterdrückt (repressed)*                                          38 Staaten

          Der zivilgesellschaftliche Handlungsspielraum ist stark           Afghanistan, Algerien, Angola, Äthiopien, Bangladesch,
          eingeschränkt. Aktivistinnen und Aktivisten, die Macht­           Belarus, Brunei, Eswatini, Gabun, Honduras, Indien,
          habende kritisieren, werden überwacht, drangsaliert, einge-       Irak, Kambodscha, Kamerun, Katar, Kolumbien, Kongo
          schüchtert, inhaftiert, verletzt oder sogar getötet. Obwohl es    (Brazzaville), Kuwait, Madagaskar, Mauretanien, Mexiko,
          einige zivilgesellschaftliche Organisationen gibt, wird deren     Myanmar, Nicaragua, Nigeria, Oman, Pakistan, Palästina,
          Advocacy-Arbeit regelmäßig verhindert. Die Organisationen         Ruanda, Russland, Simbabwe, Somalia, Tadschikistan,
          sind von Deregistrierungen und Schließungen betroffen.            Tansania, Thailand, Tschad, Türkei, Uganda, Venezuela
          Menschen, die friedliche Demonstrationen organisieren oder
          daran teilnehmen, werden häufig durch staatliche Kräfte
          mit scharfer Munition beschossen oder in Gewahrsam
          genommen, es gibt Massenverhaftungen. Die Medien geben
          typischerweise die Sicht der Regierung wieder. Unabhängige
          Stimmen werden routinemäßig durch Razzien, körperliche
          Übergriffe oder langwierige Strafverfahren verfolgt. Kritische
          Websites und soziale Medien sind blockiert und die Internet-
          nutzung wird stark überwacht.

          geschlossen (closed)*                                             24 Staaten

          Der zivilgesellschaftliche Handlungsspielraum ist ‒ in recht-     Ägypten, Äquatorialguinea, Aserbaidschan, Bahrain,
          licher und praktischer Hinsicht ‒ komplett geschlossen.           Burundi, China, Djibouti, Eritrea, Iran, Jemen, Demokra­
          Es herrscht eine Atmosphäre der Furcht, in der staatliche         tische Republik Kongo, Kuba, Laos, Libyen, Nordkorea,
          und mächtige nicht staatliche Akteure ungestraft davon-           Saudi-Arabien, Sudan, Südsudan, Syrien, Turkmenistan,
          kommen, wenn sie Menschen für die Wahrnehmung ihrer               Usbekistan, Vereinigte Arabische Emirate, Vietnam,
          Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheiten               Zentralafrikanische Republik
          inhaftieren, körperlich misshandeln oder töten. Jegliche
          Kritik am herrschenden Regime wird schwer bestraft. Es gibt
          keine Medienfreiheit. Das Internet wird stark zensiert und
          die meisten Websites sind blockiert.                              Die Erhebungen des CIVICUS-Monitors werden laufend
                                                                            aktualisiert. Diesem Bericht liegen die Daten vom
                                                                            4. Dezember 2019 zugrunde. Tagesaktuelle Daten unter
                                                                            monitor.civicus.org.

                                                                           Die Welt sieht rot: Zivilgesellschaft weiter unter Druck    11

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Teil 1

                              CIVICUS-Monitor:
                               Zivilgesellschaft
                          weltweit stärker unter Druck

              Das Jahr 2019 hat gezeigt, wie fragil staatliche Systeme sind, die auf Machtmissbrauch
              beruhen, mit Gewalt abgesichert sind und unantastbar erschienen. Sie wurden von ihren
              Bürgerinnen und Bürgern sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen herausgefordert. Die
              Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, die Klimakrise, Korruption, Kriege, soziale Unge-
              rechtigkeit oder schlicht der Wunsch nach Freiheit trieben die Menschen auf die Straße. Die
              Zivilgesellschaft zeigte, welche Kraft sie im Kampf um Demokratie und Menschenrechte
              haben kann. Und sie bewies Mut. In vielen Ländern der Welt ist es tödlich, sich gegen die
              Mächtigen zu stellen. In anderen drohen der Verlust des Arbeitsplatzes, körperliche Verlet-
              zungen oder Gefängnis. In sechs von zehn Staaten unterdrücken Regierungen friedliches
              zivilgesellschaftliches Engagement. Verstärkt wird dieser Trend durch den politischen Auf-
              stieg, den Populisten und Nationalisten seit einigen Jahren global erleben. Für eine aktive
              und selbstbewusste Zivilgesellschaft ist in ihren autoritären Systemen kein Platz. Besonders
              Frauen und zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für die Rechte von Frauen und
              LGBTI einsetzen, leiden darunter.

              12       Atlas der Zivilgesellschaft 2020

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I         m Sudan jagte das Volk 2019 den Diktator und Kriegs-

                                                                           67%
          verbrecher Omar al-Bashir aus dem Amt. In Moskau gab es die
          größten Proteste seit dem Amtsantritt von Präsident Wladi-
          mir Putin im Jahr 2000. Weder Demonstrationsverbote noch
          Massenverhaftungen hielten seine Gegnerinnen und Geg-
          ner davon ab, für faire Wahlen auf die Straßen zu gehen. In                             der Welt-
          Hongkong legten Kundgebungen über Wochen das öffentliche
                                                                           bevölkerung leben in Staaten mit
          Leben lahm. Millionen Bewohnerinnen und Bewohner der
          Sonderverwaltungszone boten ihrer Regierung die Stirn, weil
                                                                           unterdrückten und geschlossenen
          sie wegen des wachsenden Einflusses Chinas um ihre Freiheit      Gesellschaften.
          fürchteten. Auch in Ägypten, Chile, Ecuador, Irak, Iran, Liba-   Das sind rund fünf Milliarden Menschen.
          non, Spanien und der Türkei gingen Menschen in Massen auf        Nur 259 Millionen Menschen leben in Staaten
          die Straße. In Brasilien wehrten sich Arbeiterinnen und Arbei-   mit offener Zivilgesellschaft.
          ter, LGBTI, Indigene und Umweltschützerinnen mit General-
          streiks und Massenprotesten gegen den rechtspopulistischen                 3%
          Präsidenten Jair Bolsonaro. Im Mittelmeer retteten Aktivis-                offen
          tinnen und Aktivisten Menschen aus Seenot, obwohl Italiens                 259 Mio.
          Regierung dies mit aller Macht zu unterbinden versuchte.
                                                                                                14 %
          All diese Menschen engagierten sich unter großer Gefahr
                                                                                                beeinträchtigt
          gegen soziale Ungerechtigkeit und Repression. Menschen-
                                                                                                1.080 Mio.
          und Bürgerrechte sollen sie bei ihren Protesten und Kämp-
          fen schützen, Institutionen sollen die Einhaltung dieser
          Rechte garantieren. Doch die Macht der Institutionen ero-
          diert und damit schrumpft der Freiraum für die Zivilgesell-                               16 %
          schaft weltweit. Besonders häufig zu spüren bekommen dies
                                                                                                    beschränkt
          Frauen, Studierende, Journalistinnen und Journalisten, Ge-
                                                                                                    1.203 Mio.
          werkschafterinnen und Gewerkschafter, Oppositionelle oder
          Umweltschützerinnen und -schützer ‒ kurzum alle, die für so-
          zialen Fortschritt eintreten. In Ländern wie Ägypten, Aserbai-
          dschan, Kuba oder China versuchen die Machthaber, die Zivil-                                            40 %
          gesellschaft fast vollständig zu unterdrücken. Aber auch in                                             unterdrückt
          immer mehr Ländern, in denen demokratische Freiheiten seit                                              3.023 Mio.
          Langem als etabliert gelten, wie in Ungarn, Indien oder den
          USA, schrumpft der zivilgesellschaftliche Freiraum. Selbst in
          einigen der offensten Länder der Welt, etwa in Westeuropa,
          erodieren bürgerliche Freiheiten. Das ist ein Alarmsignal.

          Die jüngsten Daten des CIVICUS-Monitors zeigen, dass
          die Zivilgesellschaft in 153 von 196 Ländern schweren An-
                                                                                                                 27 %
                                                                                                                 geschlossen
          griffen ausgesetzt ist.
                                                                                                                 2.027 Mio.
          Nur 259 Millionen Menschen (rund drei Prozent der Weltbe-
          völkerung) leben derzeit in den 43 Staaten, deren Regierungen
          die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit an-
          gemessen achten (CIVICUS-Kategorie 1, „offen“). Im Vorjahr
          waren es vier Prozent. Etwa jeder siebte Mensch (14 Prozent)
          lebt in einem der 42 Staaten, in denen der Civic Space „beein-   Quelle: CIVICUS

                                                                                                      CIVICUS-Monitor    13

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Wie sich der CIVICUS-Monitor
                   zusammensetzt
                                                                               Umfang Staaten zivilgesellschaftliche Freiheiten respektieren.
                   Rund zwei Dutzend Analystinnen und Analysten bei            Der zentrale Begriff dabei ist der Civic Space, der Freiraum für
                   CIVICUS werten laufend Berichte von Hunderten               die Zivilgesellschaft. CIVICUS beobachtet den Civic Space in
                   lokalen Nichtregierungsorganisationen, mehr als 20          allen 193 Mitgliedsstaaten der UN sowie im Kosovo, in Paläs-
                   internationalen Partnerorganisationen und öffent­           tina und Taiwan ‒ Province of China (offizielle UN-Bezeich-
                   liche Quellen aus, die über Angriffe auf den Civic          nung).
                   Space berichten. Dabei handelt es sich meist um             Als zivilgesellschaftliches Engagement wird jede Handlung
                   regionale Netzwerke wie das West African Human              verstanden, die jenseits von Staat, Wirtschaft und Privatem
                   Rights Defenders Network, das Red Latinoameri­              liegt. Dieses Engagement schafft den öffentlichen politischen
                   cana y del Caribe para la Democracia oder die Civil         Raum, in dem Vereine, Initiativen und Non-Profit-Organisa-
                   Liberties Union for Europe. Die Quellen werden in           tionen aktiv sind. Diese können eine formelle Struktur haben
                   einem standardisierten Verfahren evaluiert und die          wie Nichtregierungsorganisationen (NGOs) oder Stiftungen.
                   Ergebnisse von externen Expertinnen und Experten            Sie können aber auch informell konstituiert sein wie viele so-
                   geprüft. CIVICUS misst den Einschätzungen loka­             ziale Bewegungen.
                   ler und regionaler Akteure dabei stärkere Bedeutung         Die Zivilgesellschaft operiert zwar jenseits des Staats, sie
                   bei als jenen internationaler Gremien. Daten staatli­       kann jedoch nur existieren, wenn der Staat individuelle und
                   cher Stellen werden nicht berücksichtigt. Am Ende           kollektive Freiheiten gewährt. Demokratische Staaten müssen
                   steht ein Indexwert für jedes Land, der die zivilgesell­    den zivilgesellschaftlichen Akteuren also Versammlungs-, Ver-
                   schaftlichen Handlungsmöglichkeiten beschreibt.             einigungs- und Meinungsfreiheit garantieren. Darüber hin­aus
                   Theoretisch könnte auf dieser Basis eine Rangliste          sollten Staaten zivilgesellschaftliches Engagement aktiv er-
                   aufgestellt werden, wie sie etwa Reporter ohne Gren­        möglichen, indem sie die Mitwirkung der Zivilgesellschaft an
                   zen für die Pressefreiheit erstellt. CIVICUS hat sich       politischen Prozessen gewährleisten, zivilgesellschaftliches
                   allerdings dagegen entschieden: Zu groß sind regio­         Handeln öffentlich wertschätzen und Verbrechen gegen Men-
                   nale Besonderheiten und zu dynamisch die politi­            schenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger sowie zivilgesell-
                   schen Prozesse, als dass ein numerischer Wert exakte        schaftliche Akteure strafrechtlich verfolgen.
                   Aussagekraft beanspruchen könnte. Die Staaten wer­          Der Non-Profit-Sektor, zu dem alle zivilgesellschaftlichen
                   den stattdessen in fünf Gruppen eingeteilt: Länder,         Gruppen zählen, sollte freiwilliges Engagement als Teil seiner
                   in denen der Raum für zivilgesellschaftliches Han­          Arbeit begreifen und offen für selbstorganisierte bürgerschaft-
                   deln „offen“ (Indexwert 100 bis 81), „beeinträchtigt“       liche Gruppierungen sein. Die Zivilgesellschaft ist die Sum-
                   (80 bis 61), „beschränkt“ (60 bis 41), „unterdrückt“        me aus einer politischen Kultur, die für die Werte Toleranz,
                   (21 bis 40) oder „geschlossen“ (20 bis 0) ist.              Menschlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Pluralität steht, aus
                                                                               einem politischen Raum, der diese Kultur ermöglicht, und aus
                                                                               den in diesem Raum handelnden Menschen. Schrumpft der
                                                                               Handlungsspielraum, ist die Zivilgesellschaft in Gefahr.
              trächtigt“ ist (CIVICUS-Kategorie 2). 49 Staaten „beschränken“
              nach den CIVICUS-Daten die Zivilgesellschaft (CIVICUS-Ka-        Die Lage in Europa
              tegorie 3). Sie haben 1,2 Milliarden Einwohnerinnen und Ein-
              wohner, das ist weltweit etwas mehr als jeder sechste Mensch.    Einschränkungen des Freiraums für die Zivilgesellschaft sind
              Weitere drei Milliarden Menschen lebten 2019 in 38 Staaten,      längst auch in Europa spürbar: Nur rund ein Drittel der etwa
              die die Freiheitsrechte „unterdrücken“ (CIVICUS-Kategorie 4),    511 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger (167 Millionen)
              das sind knapp 40 Prozent der Weltbevölkerung. Keinerlei         leben 2019 in den 14 EU-Staaten, die uneingeschränkte Frei-
              Freiheitsrechte haben nach Einschätzung von CIVICUS zwei         heiten gewährten. Rund zwei Drittel (334 Millionen) hingegen
              Milliarden Menschen und damit rund 27 Prozent der Weltbe-        sind Bürgerinnen und Bürger der 13 EU-Staaten, deren Civic
              völkerung. Sie sind Bürgerinnen und Bürger der 24 Staaten,       Space „beeinträchtigt“ war. Die wachsende Zustimmung für
              in denen der Handlungsspielraum für zivilgesellschaftliches      autoritäre, rechtspopulistische Parteien wirkt sich hier unmit-
              Handeln „geschlossen“ ist.                                       telbar auf die Zivilgesellschaft aus. Die knapp zehn Millio­
              Der Atlas der Zivilgesellschaft basiert auf den Daten des        nen Einwohnerinnen und Einwohner Ungarns müssen laut
              CIVICUS-Monitors, einer fortwährend aktualisierten Online-       CIVICUS weiterhin Einschränkungen ihrer zivilgesellschaft-
              Dokumentation von Berichten über Beeinträchtigungen und          lichen Handlungsspielräume fürchten. Ungarn fiel erneut in
              Angriffe auf den Civic Space weltweit. Der CIVICUS-Monitor       die CIVICUS-Kategorie der Länder, in denen die Regierung
              dokumentiert als globale Forschungskooperation, in welchem       die Zivilgesellschaft „beschränkt“.

              14       Atlas der Zivilgesellschaft 2020

2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 14                                                                                          03.02.20 09:33
Veränderungen im Ranking gegenüber
                                                                           dem Vorjahr
          In die Gruppe der europäischen Staaten mit „beschränktem“        Weltweit hat sich über das Jahr 2019 im CIVICUS-Monitor das
          Civic Space stieg 2019 Serbien ab. Seit Dezember 2018 protes-    Ranking verschiedener Staaten verändert. Besonders schwer
          tieren in Serbien Menschen gegen den Staatschef Aleksandar       wiegt im Vergleich zum Vorjahr die Herabstufung der bevöl-
          Vučić. Sie werfen ihm Korruption und die Einschränkung der       kerungsreichen Staaten Indien und Nigeria.
          Medienfreiheit vor. Als Reaktion darauf nehmen Hass und          Der Handlungsspielraum für die Zivilgesellschaft in Indien ‒
          Schmähkampagnen gegen Journalistinnen und Journalis-             der größten Demokratie der Erde ‒ war von CIVICUS im Vor-
          ten zu, Vučić bezeichnet kritische Berichterstatterinnen und     jahr noch als „beschränkt“ eingestuft worden. Mit den Wah-
          Berichterstatter als „Lügner“ oder „Spione“. Auf den Investi-    len im Mai 2019 festigte die hindunationalistische Bharatiya
          gativ-Reporter Milan Jovanović wurden mehrere Anschläge          Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi ihre
          verübt. Auch zivilgesellschaftliche Organisationen werden        Macht. Seither wurden unter anderem die Häuser und Büros
          zunehmend diffamiert. So bezeichnete Vučić 2019 unter ande-      bekannter indischer Menschenrechtsverteidigerinnen und An-
          rem zwei zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich mit     wälte durchsucht. Die Regierung hat die Kommunikation per
          Wahlbeobachtung und Good Governance beschäftigen, als            SMS und Messenger-Diensten in den Provinzen Jammu und
          „Lügner“ und „Betrügerorganisationen“.                           Kaschmir eingeschränkt sowie politische Führer in der um-
          Italien zählt zu den weltweit 44 Staaten mit als „beeinträch-    kämpften Region verhaftet. CIVICUS stuft den Handlungs-
          tigt“ eingestuftem Civic Space. Die einjährige Regierungsbe-     spielraum für die Zivilgesellschaft deshalb aktuell als „unter-
          teiligung der rechten Lega ab Sommer 2018 hat die Gesell-        drückt“ ein.
          schaft polarisiert. Die Repressalien gegen Nichtregierungs-      Ebenfalls von „beschränkt“ zu „unterdrückt“ abgewertet wur-
          organisationen weiteten sich aus und richteten sich vor allem    de Nigeria. In einer Stellungnahme vom März 2019 vor den
          gegen Gruppen und Einzelpersonen, die sich für Flüchtlinge,
          Migrantinnen und Migranten einsetzen. Gegen diese gin-
          gen italienische Polizei und Justiz auch mit Instrumenten der
          Strafverfolgung vor. Journalistinnen und Journalisten sowie      Grundfreiheiten weltweit
          Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wurden beispiels-       In drei von vier Staaten der Erde ergreift die Regie-
          weise daran gehindert, über die Situation in den Aufnahme-       rung Maßnahmen gegen Journalist*innen, Menschen-
          zentren zu berichten.                                            rechtsverteidiger*innen und andere Aktivist*innen.
          Auch Österreich wird von CIVICUS als „beeinträchtigt“ ein-
          gestuft. Die 16 Monate währende Koalition zwischen konser-
          vativer ÖVP und rechtspopulistischer FPÖ ab Dezember 2017
          hatte sich in vielen Bereichen geweigert, mit der Zivilgesell-
                                                                                     12,2 %
          schaft in den Dialog zu treten. Unter anderem drängte sie                 geschlossen
          Umweltschutzorganisationen aus den Verfahren zur Prüfung                  24 Staaten
          der Umweltverträglichkeit großer Bauvorhaben. Auch die Mei-                                                 22,0 %
          nungsfreiheit ist in Österreich unter Beschuss geraten. Laut
                                                                                                                      offen
          CIVICUS haben Minister Journalistinnen und Journalisten
                                                                                                                      43 Staaten
          verunglimpft und „besorgniserregende Schritte“ zur Schwä-
          chung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks eingeleitet.
          Malta ist 2019 in die Kategorie „beeinträchtigt“ abgestiegen.
                                                                           19,4 %
          Hier wurde im Jahr 2017 die Investigativ-Journalistin Daphne     unterdrückt
          Caruana Galizia von Unbekannten mit einer Autobombe getö-        38 Staaten
          tet. Sie berichtete über Korruption in den Reihen der Regie-
          rung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Joseph
          Muscat. Zuletzt hatte Caruana Galizia zu den Panama Papers
          recherchiert und herausgefunden, dass Mitarbeitende des Prä-
          sidenten Briefkastenfirmen in Panama unterhalten. Zivilge-                  25,0 %                          21,4 %
          sellschaftliche Organisationen und ihre Angehörigen werfen
                                                                                      beschränkt                      beeinträchtigt
          der Regierung vor, auch im Jahr 2019 noch keine ausreichen-
                                                                                      49 Staaten                      42 Staaten
          den Schritte zur Aufklärung des Falls unternommen zu haben,
          sondern ihn zu vertuschen. Die Aussage eines am Mord betei-                                        Berechnung nach Staaten,
          ligten Mittelsmanns nährte Ende 2019 den Verdacht, dass                                                  196 Staaten = 100 %
          möglicherweise Regierungsmitglieder in den Auftragsmord
          verwickelt sind.                                                 Quelle: CIVICUS (2019): People Power Under Attack.

                                                                                                               CIVICUS-Monitor         15

2020 BfdW_AtlasDerZivilgesellschaft-Inhalt.indd 15                                                                                           03.02.20 09:33
zur Einschränkung des zivilgesellschaftlichen Handlungs-
                                                                                spielraums einzuführen, und äußert sich in verschiedenen
                                                                                Statements immer wieder negativ über zivil­gesellschaftliche
                                                                                Organisationen.
              Vereinten Nationen kritisierten CIVICUS und das Nigeria           Auch die Dominikanische Republik verbesserte sich nach
              Network of NGOs, dass es weiterhin „Verhaftungen und Schi-        dem CIVICUS-Ranking in die Kategorie der Staaten mit „be-
              kanen von Menschenrechtsaktivisten“ in Nigeria gäbe. So sei       einträchtigtem“ Civic Space. Zweimal bekamen im Jahr 2019
              beispielsweise Maryam Awaisu, eine der Führerinnen der            zivilgesellschaftliche Organisationen von dem Verfassungs-
              Bewegung #ArewaMeToo, im Februar 2019 in ihrem Büro ver-          gericht ihres Landes Recht, als sie gegen vermeintliche Ver-
              haftet worden. Im Januar 2019 seien außerdem die Büros der        leumdungsgesetze der Regierung klagten. Die Gesetze wür-
              Herausgeber der „Daily Trust“-Zeitungen von Soldaten über-        den die Meinungsfreiheit einschränken und seien ein Verstoß
              fallen und Journalistinnen und Journalisten verhaftet wor-        gegen die Verfassung, so das Gericht. Zudem zeigten die Pro-
              den. Die nigerianische Regierung ergreife kaum Maßnahmen,         teste gegen eine Verfassungsänderung, die Präsident Danilo
              um die „anhaltenden Schikanen gegen die Presse und die Or-        Medina eine dritte Amtszeit ermöglicht hätte, dass die in der
              ganisationen der Zivilgesellschaft“ zu unterbinden, heißt es in   Dominikanischen Republik lebenden Menschen in der Lage
              der Stellungnahme. Zudem sei ein Gesetz in Planung, um die        sind, zu Protesten zu mobilisieren und friedlich zu demons­
              Freiheiten von NGOs einzuschränken.                               trieren.
              Verbessert hat sich die Lage in der Republik Moldau und der
              Dominikanischen Republik. Die Republik Moldau stieg aus           Formen der Repression
              der CIVICUS-Kategorie „beschränkt“ in „beeinträchtigt“ auf.
              Doch nach wie vor bleiben die Herausforderungen für die           536 Meldungen über Angriffe auf zivilgesellschaftliche Tätig-
              Zivilgesellschaft hier groß. Die Regierung versucht, Gesetze      keiten zwischen 1. Oktober 2018 und 11. November 2019 hat
                                                                                CIVICUS ausgewertet. Die Auswahl dieser Meldungen und
                                                                                Berichte ist nicht repräsentativ, sie zeigt aber klare Muster
                                                                                politischer Repression, und zwar relativ unabhängig von Welt-
              Veränderungen im Rating                                           region und politischer Ausrichtung der jeweiligen Regierung.
              Länder, die von November 2018 bis November 2019                   Am häufigsten (33 Prozent aller untersuchten Fälle) war dem-

              die Kategorie gewechselt haben.                                   nach die staatliche Zensur. Am 23. September 2019 etwa ver-
                                                                                urteilte ein Gericht in N’Djamena, der Hauptstadt der Re-
              Verbesserung                                                      publik Tschad, den Journalisten Martin Inoua Doulguet zu
                                                                                einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und einer hohen Geld-
                 Beeinträchtigt: Dominikanische Republik,
                                                                                strafe von zwei Millionen CFA-Francs (umgerechnet etwa
                 Republik Moldau
                                                                                3.000 Euro). Doulguet und ein weiterer ebenfalls inhaftier-
                                                                                ter Journalist wurden unter anderem verfolgt, weil sie berich-

              Verschlechterung                                                  tet hatten, dass gegen den ehemaligen Gesundheitsminister
                                                                                des Landes eine Beschwerde wegen eines sexuellen Übergriffs
                 Beeinträchtigt: Australien, Malta
                                                                                vorlag.

                 Beschränkt: Komoren, Serbien                                   Wenn Staaten freie Medien zensieren oder gar schließen, neh-
                                                                                men sie oft auch die sozialen Medien ins Visier. Teils werden
                 Unterdrückt: Brunei, Indien, Nigeria, Madagaskar
                                                                                Menschen verfolgt, die dort abseits der staatlich kontrollier-

                 Geschlossen: Djibouti                                          ten Medien über Korruption oder staatliche Gewalt zu berich-
                                                                                ten versuchen, teils werden die Kanäle komplett gesperrt. Auf-
                                                                                fällig ist, dass Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten

              16       Atlas der Zivilgesellschaft 2020

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