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Berliner Debatte
           Initial

22. Jg. 2011
                                       1
                                    Populismus

                                                           Kaltwasser
                                    Populismus in
                              vergleichender Perspektive
Segert
                               Transformationsverlierer
                                 in Ostmitteleuropa?
                                                             Priester

                                Tea Party-Bewegung

Benedikter
                                    Amerika nach
                                  der Ölkatastrophe
                                                                Koch
                                     Bilanzen der
elektronische Sonderausgabe
ISBN 978-3-936382-71-6            deutschen Einheit
© www.berlinerdebatte.de
Berliner Debatte Initial 22 (2011) 1                                                 1

                                       Populismus
                    – Zusammengestellt von Dag Tanneberg
                       und Cristóbal Rovira Kaltwasser –

Editorial                                 2    José Pedro Zúquete
                                               Missionarische Politik               92

Populismus
Vergleichende Perspektiven auf ein                                 ***
zeitgenössisches Phänomen
                                               Veith Selk
Cristóbal Rovira Kaltwasser                    Die Verdinglichung der Demokratie
Populismus in vergleichender Perspektive 4     Entfremdung und Verdinglichung
                                               im Übergang zur Postdemokratie      101
Marc Helbling
Rechtspopulismus als Ideologie und der         Roland Benedikter
neue Integrations-Exklusions-Cleavage          Öl und Bewusstseinswandel
in Westeuropa                             12   Amerika nach der Ölkatastrophe
                                               im Golf von Mexiko                  112
Paula Diehl
Populismus, Antipolitik, Politainment.
Neue Tendenzen der                             Besprechungen und Rezensionen
politischen Kommunikation                 27
                                               Helge Peukert:
Marcel Lewandowsky                             Die große Finanzmarktkrise
Demagogen von rechts und                       Rezensiert von Ulrich Busch         126
Provokateure aus der Mitte.
Rechtspopulismus in Westeuropa            40   Jan Fuhse, Sophie Mützel (Hg.):
                                               Relationale Soziologie.
Dieter Segert                                  Zur kulturellen Wende
Populismus in Ostmitteleuropa:                 der Netzwerkforschung
Stimme der Transformationsverlierer            Rezensiert von Jörg Nicht           130
oder Gefährdung der Demokratie?           53
                                               Norman M. Naimark:
Nikolaus Werz                                  Stalin und der Genozid
Populismen in Lateinamerika seit den           Rezensiert von Wladislaw Hedeler    133
1990er Jahren                             66
                                               Frank Thomas Koch
Karin Priester                                 Bilanzen der deutschen Einheit
Populismus in den USA und                      und die Wiederkehr von Visionen
die Tea Party-Bewegung                    80   der Gesellschaftsveränderung        135
2                                                            Berliner Debatte Initial 22 (2011) 1

                                        Editorial

Nicht erst mit dem Erscheinen des „Sachbuchs“      Politik mit Verschärfungen des Ausländerrechts
aus der Feder von Thilo Sarrazin im vergange-      wie in Dänemark, Minarettverboten wie in der
nen Jahr machte sich die Politik einen neuen       Schweiz, und bisweilen spektakulären Wahler-
Kampfbegriff zu Eigen: „Populismus!“ Wann          folgen wie in Ungarn vor sich hertreiben. Doch
immer sich Forderungen nach mehr Basisde-          selbst diese Diagnose knüpft sich in der Regel
mokratie oder dem Ausbau sozialstaatlicher         an Einzelfälle, vor allem wenn die Sachlage jen-
Leistungen erheben, wann immer Nationalis-         seits von Europa in Anspruch genommen wird.
men oder antimuslimische Ressentiments ihren       Die Autorinnen und Autoren des Heftschwer-
Weg in die Öffentlichkeit finden – umgehend        punktes spüren den Formen des Populismus
formulieren etablierte Politiker wie auch die      in international vergleichender Perspektive
Medien den Vorwurf des „Populismus“. Die           nach. Sie leisten damit Pionierarbeit, die sich
Anklage trifft mittlerweile so unterschiedliche    als Beitrag zu einem aufgeklärten Umgang mit
Akteure wie die Bürgerbewegung pro Köln, den       dieser problembeladenen Erscheinung unserer
verstorbenen Jörg Haider und den Niederländer      Gegenwart versteht.
Geert Wilders, die ungarische Regierungspar-           Dazu zählt zunächst ein Versuch begriffli-
tei FIDESZ und Jarosław Kaczyńskis Partei          cher Präzisierung. Cristóbal Rovira Kaltwasser
„Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), zuweilen          diskutiert zu diesem Zweck in seinem ein-
aber auch die deutsche Linkspartei sowie           leitenden Beitrag zwei der einflussreichsten
regelmäßig die Schweizer Volkspartei (SVP).        Populismusdefinitionen und entwickelt daraus
Die amerikanische Tea-Party-Bewegung, der          Leitlinien eines vergleichenden Forschungspro-
venezolanische Präsident Hugo Chávez und           gramms. Anschließend führt Marc Helbling
sein bolivianischer Amtskollege Evo Morales        die Attraktivität rechtspopulistischer Akteure
gelten gar als nachgerade paradigmatische          in Westeuropa auf eine neue gesellschaftliche
Exponenten dieser Politikform.                     Konfliktlinie zurück, die im Zuge der Euro-
    Angesichts jener ins Unendliche treibenden     päischen Integration entstand und entlang
Extension bleibt offen, was das Etikett eigent-    derer sich die jüngsten Kräfte der politischen
lich besagt. Einige Autoren unterstellen dem       Rechten organisieren. Paula Diehl fragt nach
Populismus besondere ideologische Qualitäten,      den komplementären Einflüssen der modernen
andere sehen in ihm eine bestimmte politische      Massenmedien, die nicht nur die Möglichkeiten
Mobilisierungstechnik und wieder andere            politischer Kommunikation generell verändert
lediglich einen mediengerechten Kommunika-         haben, sondern auch den Populismus selbst.
tionsstil. Uneinigkeit herrscht darüber hinaus         Die vier folgenden Beiträge diskutieren
in der Frage, welche Konsequenzen Populismus       historische Bezüge des Populismus, seine
für die Demokratie hat, worin seine Ursachen       aktuellen Tendenzen und seine wahrschein-
liegen und ob es sich lediglich um ein vorüber-    liche Entwicklung in Europa und Amerika.
gehendes Phänomen handelt. Sicher ist nur,         Marcel Lewandowsky lenkt den Blick zunächst
dass Populisten in vielen Ländern die etablierte   auf Westeuropa. Sein Aufsatz zeichnet nicht
Editorial                                                                                      3

nur nach, welche Methoden und Inhalte den         populistische Tradition in den Vereinigten
westeuropäischen Rechtspopulismus konsti-         Staaten, die im Gegensatz zu den europäischen
tuieren, sondern zeigt darüber hinaus, wie die    Populismen keine systemablehnenden Dyna-
gesellschaftliche Mitte und ihre politischen      miken aufweise. Stattdessen verstünden sich
Repräsentanten sich diese ebenfalls zu Eigen      die dortigen Populisten wie eben die Tea-Party-
machen. Dieter Segert bilanziert die populisti-   Bewegung als innergesellschaftliches Korrektiv
schen Bewegungen Osteuropas und führt ihren       auf dem Boden der amerikanischen Verfassung.
anhaltenden Erfolg auf eine sozioökonomisch       Die Überschneidungen von Religion und Po-
bedingte Entfremdung zwischen politischen         pulismus behandelt abschließend José Pedro
Repräsentanten und Wählern zurück. Nikolaus       Zúquete, der im Unterschied zu vielen anderen
Werz analysiert die Populismen Lateinamerikas,    Autoren nicht die Gelegenheitsstrukturen,
die sich von ihren europäischen Gegenstücken      sondern die expressiven und performativen
vor allem durch ihren sozial-integrativen An-     Momente des Populismus betont.
spruch unterscheiden. Der Beitrag von Karin
Priester schließlich informiert über die lange                     Cristóbal Rovira Kaltwasser
                                                                              & Dag Tanneberg
112                                                          Berliner Debatte Initial 22 (2011) 1

                                    Roland Benedikter

                    Öl und Bewusstseinswandel
           Amerika nach der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko

Am 20. April 2010 explodierte und sank die         dauerhaft möglich sind – immer wieder Öl
Bohrinsel „Deepwater Horizon“ 80 km vor der        austreten, auch wenn es nach Angaben der
amerikanischen Küste südlich von Louisiana.        Haupt-Betreiberfirma British Petrol (BP) und
Dabei kamen elf Menschen ums Leben, 23             der US-Behörden bis zum 5. September 2010
wurden verletzt. Danach flossen bis zur Abdich-    gelang, den Ölaustritt dauerhaft zu stoppen und
tung des Lecks zwischen dem 4. und 6. August       das Leck stabil abzudichten.3 Überraschenden
2010 täglich zwischen 7 und 8,5 Millionen Liter    Erfolgen bei der Säuberung des Meeres stehen
Erdöl ins Meer, nach vorsichtigen Schätzungen      Anfang 2011 negative Einschätzungen der lang-
insgesamt 780 Millionen Liter. Das entspricht      fristigen Folgen für Umwelt4 und Wirtschaft
in etwa einer Ölmenge, die ausgetreten wäre,       (vgl. Jakob 2010) gegenüber.
wenn sich eine Tankerkatastrophe wie die bisher        Das Ölleck im Golf von Mexiko war die
größte, die der „Exxon Valdez“ im Jahr 1994,       größte Ölkatastrophe der Geschichte; es war
über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten      zugleich die größte Umweltkatastrophe der
alle viereinhalb Tage wiederholt hätte. Aktuelle   USA seit deren Gründung. Da sie als solche ein
Schätzungen gehen davon aus, dass das Leck         historisches Symptomereignis des vergangenen
auch nach seiner Abdichtung und zusätzlichen       Jahres mit kulturpsychologischen Wirkungen
Entlastungsbohrungen zur Stabilisierung der        weit in die kommenden Jahre hinein war, lohnt
Versiegelung noch Jahre lang Probleme be-          ein Blick auf die Hintergründe und Folgen der
reiten könnte. Das liegt nicht zuletzt daran,      Katastrophe. Vor allem der Bewusstseinswan-
dass die Quell- und Entlastungsbohrungen           del, der durch die Katastrophe im öffentlichen
bis zu 4.000 m unter den Meeresboden rei-          Diskurs der USA ausgelöst wurde, könnte in den
chen und Abdichtungen noch nie in so großer        kommenden Jahren für Politik und Gesellschaft
Tiefe vorgenommen wurden.1 Voraussichtlich         bedeutend werden.
werden sich auch noch in Jahren Rückstände
an Öl und Bekämpfungschemikalien im Meer
befinden, die Fauna und Flora schädigen.2 Das      Eine Katastrophe und
massive Fische- und Artensterben an der Golf-      ihre psychologischen Folgen
mündung des Mississippi mit Millionen toter
Fische innerhalb weniger Tage im September         Die Ölkatastrophe hat, was im Hinblick auf
2010 – also mehr als einen Monat nach der          den globalen gesellschaftlichen und kulturellen
Erstabdichtung des Lecks – könnte davon            Wandel wichtig ist, auf dem nordamerikani-
ein Vorbote gewesen sein (Jiménez 2010). Im        schen Kontinent einen Bewusstseinswandel
schlimmsten Fall wird zumindest zeitweise und      ausgelöst, der in der neueren Geschichte
lokal aus dem brüchigen Grund des Ölfeldes         seinesgleichen sucht und dessen volle Auswir-
1.500 m unter der Wasseroberfläche – also in       kungen noch kaum abzusehen sind. Laut einer
völliger und ununterbrochener Dunkelheit, in       Umfrage der renommierten Agentur „Gallup“
der flächendeckende Kontrollen nur schwer          vom 27. Mai 2010 veränderte sie die Sichtweise
Öl und Bewusstseinswandel                                                                      113

der US-Amerikaner auf Fragen des Umwelt-            gegenüber Ressourcenerschließung bevorzug-
schutzes und generell auf den Umgang mit der        ten, und zwar nicht zuletzt im Gefolge früherer
Natur und mit Ressourcen. Eine Mehrheit der         Ölkatastrophen wie etwa derjenigen von Santa
US-Bevölkerung spricht sich nun – zum ersten        Barbara im Jahr 1969, haben republikanische
Mal in der mehr als 230jährigen Geschichte          Wähler auch nach der Ölkatastrophe ihre
des Landes – für einen staatlichen Schutz der       Meinung nicht geändert: Sie bevorzugen die
natürlichen Umwelt und gegen die weitere            Ausbeutung von Ressourcen gegenüber dem
Erschließung von Naturressourcen aus. Und           Umweltschutz nach wie vor im Verhältnis 2:1.
dies trotz der Tatsache, dass die USA aufgrund      Wichtig ist jedoch der Meinungswandel der
von fehlgeleiteten Politiken und Überkonsum         unabhängigen Wechselwähler: Während noch
seit Jahren an einer Unterversorgung mit na-        im März 2010 die Mehrheit von ihnen mit den
türlichen Ressourcen leidet, die u.a. zu einer      Republikanern war, ist nach der Katastrophe
notorischen Knappheit von Elektrizität und          eine klare Mehrheit mit den Demokraten
wiederholten Ausfällen der Stromversorgung          (Jones 2010).
in ganzen Bundesstaaten (zum Beispiel Kali-            „Die Bewusstseinsveränderung der Ameri-
fornien) führen. Bei Gallup heißt es dazu:          kaner zeigt sich auch in einer weiteren Frage,
    „Zwischen März und Mai 2011 hat sich            nämlich in der Wahl zwischen Umwelt und
im Rahmen der Ölkatastrophe im Golf von             wirtschaftlichem Wachstum. Nach der Öl-
Mexiko die Priorität der Amerikanerinnen und        katastrophe ist hier die Meinung zugunsten
Amerikaner verändert: Vor die Wahl zwischen         der Umwelt gekippt, mit 50 Prozent zu 43
Umweltschutz und Energieproduktion gestellt,        Prozent, also mit 7 Prozentpunkten Abstand.
würden die Amerikaner heute, im Gegensatz           Nur einen Monat vor der Ölkatastrophe be-
zur früheren Ressourcen-Vorliebe, eine stärkere     vorzugte noch eine 15prozentige Mehrheit
Umwelt-Präferenz wählen“ (Jones 2010).              der Amerikaner, nämlich 53 Prozent zu 38
    „Noch im März 2010 sagten 50 Prozent            Prozent, Wirtschaftswachstum auch um den
gegenüber 43 Prozent der Amerikaner, dass           Preis der Umweltschädigung. Sogar eine kleine
es wichtiger sei, die Energieversorgung wei-        Anzahl der Republikaner hat sich in dieser
terzuentwickeln, als die Umwelt zu schützen.        Frage mittlerweile in Richtung Umwelt bewegt“
Diese Meinung war ein allgemeiner Trend seit        (Jones 2010).
2007. Nun, im Gefolge der Ölkatastrophe, sagt          Obwohl sich bei derartigen Erhebungen
die Mehrheit – 55 Prozent gegenüber 39 Pro-         natürlich die Frage stellt, ob es sich nur um
zent –, es sei wichtiger, die Umwelt zu schützen:   kurzfristige Stimmungsänderungen handelt
das erste Mal seit mehr als einem Jahrzehnt“        oder ob sich daraus eine nachhaltige Bewusst-
(Jones 2010). Eine Mehrheit der Amerikaner          seinsveränderung ablesen lässt, sind diese
sieht die Ölkatastrophe mittlerweile offen-         Daten doch zumindest an amerikanischen
bar sogar als eine Chance, das Umwelt- und          Maßstäben – insbesondere an deren Kultur-
Konsumverhalten in den USA nachhaltig zu            und Konsumpraktiken der vergangenen 40
verändern. Insofern, so u.a. eine Erhebung des      Jahre – gemessen erstaunlich. Das zeigt sich
New Yorker „Time Magazin“, ist die Mehrheit         an einer weiteren Erhebung, dem Rasmussen
der Amerikaner davon überzeugt, dass die            Report des US-Statistik-Instituts vom Juni 2010
Ölkatastrophe letztlich eine positive kulturelle    zur Abhängigkeit der USA von Ressourcen
Bedeutung für die Zukunft des Landes gehabt         und zur Frage der erneuerbaren Energien, der
haben könnte (Walsh 2010).                          grundsätzlicher ausgerichtet ist:
    Wenig überraschend ist, dass diese Mei-            „Die Erhebung ergab, dass im Gefolge der
nung bei Wählern der Demokraten, also der           Ölkatastrophe 73 Prozent der erwachsenen
nach amerikanischen Maßstäben Mitte-Links-          Amerikaner glauben, dass es wichtig für die
Wählerschaft, weit ausgeprägter ist als bei         Vereinigten Staaten ist, ihre Abhängigkeit von
den Mitte-Rechts-Wählern der Republikaner.          Öl und nicht-erneuerbaren Energien insgesamt
Während demokratische Wähler bereits vor            drastisch zu senken. 73 Prozent sagen, das sei
der Ölkatastrophe mehrheitlich Umweltschutz         zumindest bis zu einem gewissen Grad wichtig,
114                                                                              Roland Benedikter

während 42 Prozent sagen, dies sei sehr wich-       werden, um der Bevölkerung eine Antwort
tig. Nur 23 Prozent sagen heute noch, das sei       auf die Politik des Präsidenten in Form einer
nicht wichtig. Betreffend die entsprechenden        Stärkung oder Schwächung der Opposition zu
Regierungspolitiken sagen 41 Prozent der er-        ermöglichen. Diese fanden noch ganz unter
wachsenen Bevölkerung heute, die Regierung          dem Eindruck der Ölkatastrophe statt, deren
solle Maßnahmen ergreifen, um den Verbrauch         politische Handhabung Obama sehr schadete
von Öl schwieriger und teurer zu machen und         und entscheidend mit zu seiner Niederlage
den Gebrauch alternativer Energien zu fördern.      beitrug. Wie die genannten Erhebungen zum
43 Prozent glauben, dass die Ölkatastrophe im       Bewusstseinswandel zeigen, unterscheiden
Golf von Mexiko wahrscheinlich die Abhängig-        die Amerikaner jedoch offenbar sehr genau
keit der USA von Öl und nicht-erneuerbaren          zwischen politischer Verantwortung (und ent-
Energien in der nahen Zukunft verändern wird.       sprechenden „Denkzetteln“ für Politiker) und
Darunter sind 54 Prozent der befragten Frauen.      den mittel- und langfristigen Anforderungen
Offenbar hat die BP-Ölkatastrophe ganz klar die     des Landes. Letzteres hat, und dies ist vielleicht
öffentliche Meinung der USA über die Umwelt         die erstaunlichste Folge der Ölkatastrophe, dazu
verändert. Amerikaner im ganzen Land sind           beigetragen, dass die Mehrheit der Amerika-
wütend über das Desaster, und diesmal nicht         ner mittlerweile erkennt, dass es letztlich ihr
nur die Umweltschützer, sondern große Teile         Kultur- und Lebensstil ist, der die Katastrophe
der Bevölkerung“ (Kaiser 2010).5                    heraufbeschworen hat – und dass es daher in
    Obwohl zugleich eine Mehrheit nach wie          den kommenden Jahren weniger auf einen
vor der Meinung ist, dass Ölförderung vor den       administrativen und sicherheitspolitischen, als
Küsten für die Energieversorgung des Landes         vielmehr auf einen grundsätzlichen kulturellen
vital bleibt und auch weiterhin erlaubt sein        und soziopolitischen Wandel ankommt.
sollte, erklären „mittlerweile 48 Prozent der US-       In der Tat ist die Leitressource Öl entschei-
Bürger, dass sie sich in den nächsten 10 Jahren     dend mit der Geschichte der USA und damit
wahrscheinlich ein Auto mit erneuerbarem            zugleich mit der Geschichte des modernen
Energieantrieb kaufen werden. Und 63 Prozent        Merkantilismus, des modernen Kapitalismus
sagen, dass die Investition in erneuerbare Ener-    und des modernen Materialismus verbunden –
gien wie Sonnen- und Windenergie die bessere        deren gemeinsames Wahrzeichen, ja Inbegriff
Strategie für Amerika ist, verglichen mit der       seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Investition in den Ausbau der Ölförderung und       Nicht nur der einflussreichste italienische
der traditionellen Energien“ (Kaiser 2010).         Dichter des 20. Jahrhunderts, Pier Paolo Pasolini
                                                    (1922-1975), war der Ansicht, dass im „Petroli-
                                                    um“ alle Stränge der Neuzeit zusammenlaufen
Öl am Überschneidungspunkt sozioöko-                und ihre mit Abstand wichtigste symbolische
nomischer und kultureller Hintergründe              Verdichtung erfahren: Von den Problemen
                                                    des Kapitalismus und der Arbeitsteilung bis
Dieser Meinungsumschwung ist umso erstaun-          zur sozialen Ungleichheit; von den Chancen
licher, wenn man den politischen Rechtsrutsch       und Abgründen des (politisch Herrschaft
während der ersten zwei Amtsjahre Barack            asymmetrisch ausübenden) Imperialismus bis
Obamas berücksichtigt, darunter den „neuen          hin zum geographischen Nord-Süd-Gefälle
Kulturkampf“ um die Weltanschauungshoheit           des (nun ökonomisch Herrschaft asymmet-
zwischen Republikanern und Demokraten (vgl.         risch ausübenden) Postimperialismus; von
Benedikter 2010a) sowie den erdrutscharti-          der ursprünglichen Abhängigkeit von der
gen Sieg der Republikaner bei den „midterm          Natur bis hin zur selbstzerstörerischen Aus-
elections“ vom November 2010. „Midterm              beutung der Natur im Spätkapitalismus; von
elections“ sind „Zwischenwahlen“, die nach          der Modernisierungsideologie bis hin zum
der Hälfte der Amtszeit eines jeden US-             Festhalten am Althergebrachten, das dieser
Präsidenten abgehalten werden und bei denen         Ideologie paradoxerweise allzu oft zugrunde
ein Drittel aller Parlamentarier neu gewählt        liegt: dem „Klebrigen“, „Rußig-Schwarzen“
Öl und Bewusstseinswandel                                                                       115

einer hierarchisch und in Abhängigkeitsverhält-    sein einprägen (wie die klassische Soziographie
nissen organisierten (Welt-)Gesellschaft und       und Historiographie glaubte), sondern mittels
ihrer (im nur allzu wörtlichen Sinn) „zähen“       des Prinzips „Differenz und Wiederholung“
Vergangenheits-Anhaftung. Pasolini ging in         (Deleuze 2007; vgl. Benedikter 1999), genauer:
seinem Spätwerk sogar so weit, das „Erdöl“ als     mittels „Wiederholung desselben in Formdiffe-
das Symbol der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-     renz“. Erst indem sich dasselbe Symbolereignis
derts schlechthin zu erkennen, an dem sich die     mehrfach (Wiederholung) in verschiedenen
gesamte aufgeklärt-moderne Gesellschaft der        Erscheinungsformen (Differenz) verwandt er-
westlichen Welt in ihrer „Stoffeigenschaft“ fin-   eignet, beginnt es, das kollektive Bewusstsein in
den, analysieren und perspektivieren ließe – ein   dessen bewussten und vor allem unbewussten
Symbol allerdings, das nicht für eine Zukunft,     Tiefendimensionen zu verändern. In diesem
sondern für ein nahes „Ende der bisherigen         Sinn war die Ölkatastrophe ein Impuls zu so-
Welt“ stehe. Für das Ende jedenfalls derjeni-      zialer Veränderung mittels der „differenzierten
gen Welt, die wir bisher kannten, und die sich     Wiederholung“ ein- und desselben zivilisatori-
nun aus ihren eigenen Unmöglichkeiten und          schen Signalereignisses – mit Wirkung auf das
existentiellen Widersprüchen heraus selbst zu      kollektive Bewusstsein, aber sicher noch mehr
unterminieren beginne.6 Pasolini fand dies so      auf das kollektive Unbewusste der USA, und
wichtig, dass er mit wenig mehr als 50 Jahren      damit auch auf Amerikas verinnerlichte Ideale,
(1972) ankündigte, er werde im nächsten Jahr-      wie sie konzentriert sind im „amerikanischen
zehnt, vermutlich sogar bis zu seinem Tod, an      Traum“. Denn was geschah zwischen April und
nur noch einem einzigen Werk arbeiten – an         September 2010?
dem Roman „Petrolium“, welcher die Phänome-            Die Ölkatastrophe war nicht nur ein ein-
nologie eines unausweichlichen „Endes einer        maliges Ereignis. Vielmehr erstreckte sich ihre
Welt“ aus seiner eigenen Logik heraus sowie        Logik der „Wiederholung mittels Differenz“
dessen daraus erwachsende „Verwandlung in          über fast fünf Monate. Dazu trug bei, dass
einen Neuanfang“ beinhalte.                        zahlreiche Versuche zur Eindämmung des
    In Anbetracht der amerikanischen Ölkata-       Lecks immer wieder scheiterten. Die endgültige
strophe von 2010 erstanden für viele europäi-      Versiegelung der Quelle wurde immer wieder
sche Intellektuelle zentrale Ideologeme dieser     neu verschoben und der Betreiber der Platt-
Grundanschauung von „Öl“ neu. In jedem Fall        form änderte immer wieder den Zeitplan. Bis
schien die Katastrophe für die USA in der Tat      zu den ersten Erfolgen im Juli 2010 bedeckte
„das Ende einer Welt“ einzustimmen – zumin-        der Ölteppich bereits ein Gebiet in der Größe
dest jener Welt, die die meisten Amerikaner        von Deutschland. Er erreichte im Juli 2010
bis dahin gekannt hatten.                          den westlich angrenzenden Küstenstaat Texas,
                                                   überschritt den Kern-Golfbereich gleichzeitig
                                                   auch nach Osten hin und erreichte Florida und
Kulturpsychologische Veränderung mit-              den Golfstrom. Er machte damit im Prinzip
tels symbolischer Symptomereignisse                auch Europa für Rückstände erreichbar.7
                                                       Unter dem Druck der zunehmend besorg-
Dieses „Ende einer Welt“ kam für die Ameri-        ten öffentlichen Meinung gerieten BP und die
kaner ebenso überraschend wie hartnäckig.          US-Regierung zeitweise in so große die Ver-
Und es folgte in seiner allmählichen Einprä-       zweiflung, ja Panik, dass der ernst gemeinte
gung in die kulturelle Breiten-Psyche der USA      Vorschlag, eine Atombombe zu zünden, um
einer Gesetzmäßigkeit sozialer Veränderung         das Leck „zuzuschmelzen“, wochenlang öf-
mittels symbolischer Symptomereignisse, die        fentlich diskutiert wurde – und das 40 Jahre
u.a. der französische Philosoph Gilles Deleuze     nach Einsicht der ersten Mondfahrer in die
(1925-1995) aufgezeigt hat. Deleuze hat darauf     Verletzlichkeit des blauen Planeten! Spätestens
hingewiesen, dass sich öffentliche Bewußtseins-    zu diesem Zeitpunkt wachte die amerikanische
haltungen nicht aufgrund der Einmaligkeit von      Öffentlichkeit auf, und mit ihr der einfache
besonderen Ereignissen ins kollektive Bewusst-     Durchschnittsamerikaner, für den Autofahren
116                                                                             Roland Benedikter

und billiges Benzin angesichts der Ausmaße          Transformation mittels einer regelrechten
des Landes in den vergangenen 60 Jahren so          Transfiguration bevorstehe.
normal gewesen sind wie das tägliche Brot.               Zu dieser „Transfiguration“ zählten später
Die Tatsache der bloßen Diskussion über eine        viele Amerikaner auch die überraschende
Atombombenzündung in Nähe der US-Küste              Entdeckung vom August 2010, dass sich der
zeigt, welch außerordentlicher Schwellenpunkt       Ölteppich mithilfe einer bisher unbekannten
erreicht war und bis zu welchem Punkt die           Mikrobenart schneller abbaue als erwartet:
utilitaristische Mentalität der führenden US-       „Eine bisher unbekannte Mikrobenart könnte
Persönlichkeiten im Umgang mit der Natur            die gewaltigen Öl-Schwaden, die in rund 1100
reichte. Viele Amerikaner fühlten sich wie          Metern Meerestiefe gefunden wurden, bereits
in einem Traum – so sehr waren sie vor den          komplett abgebaut haben, hieß es in einer vom
Kopf gestoßen.                                      Fachjournal ‚Science’ veröffentlichten Untersu-
    Ein weiterer Aufsehen erregender Punkt          chung. Die auf den Öl-Konsum spezialisierten
in der Entwicklung war drei Monate nach             Bakterien seien erstaunlich effektiv... Nach
der Katastrophe erreicht. Das Bohrloch war          dem Untergang der BP-Bohrinsel ‚Deepwater
Anfang Juli zeitweise abgedeckt, als aus der        Horizon’ hatten Forscher im Juni eine rund
umgebenden Region des Meeresgrundes die             35 Kilometer lange Wolke aus kleinen Öl-
Erde „Öl zu bluten“ begann, wie es die Religiösen   Tröpfchen entdeckt. Die neu entdeckte Mikro-
und Konservativen in den USA wahrnahmen             benart verwendet beim Fressen des Öls kaum
und begrifflich fassten. Damit erreichte die        Sauerstoff... die Bakterien sind in ungewöhnlich
öffentliche Symbolik eschatologische und            großer Menge in den Schwaden aufgetreten.
religiöse Ausmaße. Diese sind in den USA bei        Bei dem Tempo, in dem sie das Öl zersetzten,
Symbolereignissen besonders bedeutsam, da           könnte die Öl-Wolke schon bald verschwunden
die überwiegende Mehrheit der Amerikaner            sein, schreiben die Wissenschaftler – allerdings
in verschiedenen Abstufungen religiös ist           sei das nicht sicher und müsse noch überprüft
und ohne Berührung dieser Dimension kaum            werden“.8 Man muss kein Feind von Science
größere Veränderungen in der allgemeinen            Fiction sein, um – wie die Mehrheit der Ame-
Bewußtseinshaltung möglich sind. Bis Anfang         rikaner – solche Entdeckungen mit gemischten
Juli hatten die Religiös-Konservativen auch         Gefühlen zu begleiten.
angesichts des Ölteppichs und seiner Zer-                Die Art, wie in den USA im öffentlichen
störungen noch laut einem Bibelwort darauf          Diskurs mit dem Desaster umgegangen wurde,
beharrt, „der Mensch müsse sich die Erde            geriet angesichts der Dauer der Katastrophe
untertan machen und ihre Früchte ernten“.           sowie im Gefolge der genannten proto-religi-
Das heißt, der Mensch habe ein Recht auf die        ösen und futurologischen Einschübe ebenso
Schädigung der Natur zum eigenen Vorteil,           widersprüchlich wie zum Teil hollywood-reif.
und das Ölleck ändere daher nichts Grund-           Vor allem aber war sie ungewöhnlich reich an
sätzliches am Ressourcenverbrauch und an der        kulturellen Anspielungen. So setzte der Schau-
Naturbeziehung der USA als „Gottes eigener          spieler Kevin Kostner mit viel öffentlichem
Nation“. Als jedoch die Erde „Öl zu bluten“         Glamour im Gefolge einer offiziellen Anhörung
begann, deuteten dies eben jene religiösen          im US-Kongress eine von ihm patentierte
Kreise als eine Art Kreuzigung der Erde – zur       neuartige Maschine zur Ölabsaugung und zur
tiefen Erschütterung der amerikanischen Öf-         Trennung von Öl und Wasser ein – auch letz-
fentlichkeit, auch der säkularen. Man betete        teres eine (proto-)religiöse Anspielung wider
für ein Gelingen der Abdichtung, ja sogar für       Willen. Kostner hatte das Patent im Gefolge
das ausströmende Öl, um es zu besänftigen.          seines Films „Waterworld“ (1995) entwickelt,
Nicht wenige begannen, das übermäßig aus-           der in einer apokalyptischen Zukunft spielt,
strömende „Geschenk Gottes“ als eine Art            in welcher die Pole abgeschmolzen sind und
„Vergeltung“ für überzogenen Ressourcen-            die Welt fast vollständig von Wasser bedeckt
verbrauch anzusehen – als ein Zeichen, dass         ist. Die Idee kam ihm, als die Filmarbeiten die
es wie bisher nicht mehr weitergehe und eine        Meereswelt beschädigten. Daneben wurde –
Öl und Bewusstseinswandel                                                                    117

ebenfalls mit viel öffentlichem Aufsehen – das    angesichts der nicht enden wollenden Reihe
größte Arbeitsschiff der Welt, „A Whale“, dazu    gescheiterter Abdichtungs- und Säuberungs-
bestimmt, das ausgetretene Öl aufzunehmen.        versuche und der zum Teil phantastischen
Dabei hätte dieses Schiff eigentlich gar nicht    Vorgänge vor ihren Küsten nicht beschreiben
vor der US-Küste arbeiten dürfen, da geltende     können. Das geflügelte Wort „hundert Jahre
US-Gesetze fremden Schiffen das Operieren         Einsamkeit“ wurde aber 2010 auch zum Syno-
in Küstennähe untersagen. Anfang Juli 2010        nym für eine Hochrisiko-Ölförderung, die sich
hieß es: „In A Whale werden große Hoffnun-        ganz offensichtlich von der Bevölkerung und
gen gesetzt: Das Schiff von der Größe von vier    ihrer Regierung abgekoppelt hatte und völlig
Fußballfeldern soll täglich bis zu 80 Millionen   selbstständig ohne Rücksicht auf andere ihren
Liter ölverschmutztes Wasser aufsaugen und        Geschäften weit draußen im Meer „einsam“
reinigen können; fast so viel, wie alle anderen   nachzugehen schien. Millionen Amerikanern
Schiffe zusammen in zehn Wochen säuber-           wurde erst durch das Nachdenken über den
ten“.9 Auch diese Meldungen elektrisierten        literarischen Sinnbezug deutlich, welche
die amerikanische Öffentlichkeit aufgrund         Diskrepanz sich zwischen der strukturellen
ihrer symbolischen Signal-Bezüge: Geltende        Unabhängigkeit und sozialen Regellosigkeit
Gesetze – in welche Amerikaner im allgemei-       des „neoliberalen“ Wirtschaftsgebarens und
nen aufgrund ihres positiven, ja emphatischen     dem gesellschaftlichen Allgemeinwohl in den
Nationenbegriffs viel größeres Vertrauen setzen   Bush-Jahren 2001-2009 mit ihrer radikalen
als Europäer – erwiesen sich als ungeeignet,      Deregulierung aufgetan hatte – und zwar nun
ja hinderlich. Hollywoodstars mussten Phan-       erstmals auch den Konservativen und den
tasiemaschinen aus apokalyptischen Filmen         oppositionellen „Republikanern“.
einsetzen – so schlimm war die Lage. Im Ge-           Es waren nicht zuletzt diese Bezüge mittels
folge der „Moby-Dick“-Assoziation (Melville       „Differenz und Wiederholung“, die die Wut und
2009), welche für das moderne amerikanische       Sorge vieler Amerikaner schrittweise anstachel-
Identitätsbewusstsein und seine Symbolik der      ten – nun zunehmend auch jener schweigen-
Tiefenambivalenz von „gut“ und „böse“ über-       den Mehrheit, welche seit den 1960er Jahren
aus bedeutsam ist und tief in die Alltagskultur   gewohnt war, Umweltkatastrophen angesichts
insbesondere der Westküste eingeprägt bleibt,     der Größe der amerikanischen Landmasse als
erneuerte schließlich die Metapher des fremden,   wenig belangvoll oder aber als notwendige,
riesigen „Wals“, der helfen müsse, das Unglück    temporäre Nebenwirkungen des „guten Le-
wieder gutzumachen, die religiöse Metaphorik      bens“ anzusehen. Erst mit der Ölkatastrophe
(Jonas und der Wal) bis zu einem Punkt, der       setzte in den USA der Nach-Bush-Ära eine
für viele gläubige Menschen die Grenzen der       breitere und rapide Bewusstwerdung darüber
Spannung erreichte.                               ein, was im Verhältnis zwischen Wirtschaft,
    Doch der kultur- und sozialanthropolo-        Natur und gesellschaftlichem Allgemeinwohl
gischen Bezüge war damit noch kein Ende.          vorging, welche ungelösten Probleme die Bush-
Wochenlang wurde in US-Boulevardzeitungen         Administration hinterlassen hat, und dass es
darüber diskutiert, dass – und warum – das        sich dabei nicht nur um etwas Äußerliches,
Leck ausgerechnet im Ölfeld „Macondo“ lag.        sondern um ein zentrales Problem von grund-
Denn „der Name Macondo bezieht sich auf eine      sätzlichen Dimensionen für Amerika und seine
Phantasiestadt, in welcher der (in den USA po-    Zukunft handle.
puläre, R.B.) Roman ‚Hundert Jahre Einsamkeit’        Es war daher eine Ironie der Geschichte,
von Nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez       dass genau zu dem Zeitpunkt, als sich dieses
spielt. Ölfördernde Unternehmen vergeben          Bewusstsein unter dem Eindruck der Katas-
häufig Codenamen, welche den genauen Fund-        trophe in der amerikanischen Öffentlichkeit
ort nicht verraten und einprägsamer sind als      zu entwickeln begann, zwei weitere, subtil
technische Bezeichnungen oder Koordinaten“.10     unterbewusst wirksame „Wiederholungen
Besser als mit „hundert Jahre Einsamkeit“ hätte   mittels Differenz“ gewissermaßen noch eine
man die Hilflosigkeit der meisten Amerikaner      Betonung auf die Grundsatzbedeutung der
118                                                                          Roland Benedikter

Vorgänge draufsetzten. Anfang August 2010         auch politischer und kultureller Art. Denn er
ereignete sich eine in mancherlei Hinsicht        erzwang politische Reaktionen ebenso, wie er
vergleichbare Ölpest in China, welche eine        bestehende Verhältnisse verbildlichte – und
ganze Stadt verwüstete und zahlreiche Tote        zwar nicht nur im Hinblick auf die Stopfung des
forderte. Diese Katastrophe wurde in ihren        Lecks und die Säuberung der US-Golfregion,
Analogien in den USA, die unter Obama be-         sondern auch bezüglich der Möglichkeit tiefer
reits weniger in den Atlantik, als vielmehr in    gehender diskursiver und begrifflicher Verän-
den Pazifik hinein, nämlich auf die künftige      derungen in Umweltfragen.
Kooperation und Konkurrenz mit der neuen              Unter diesen Effekten war einerseits eine
Weltmacht China orientiert sind, viel stärker     folgenreiche Begriffsveränderung zu verneh-
wahrgenommen als in Europa (vgl. Benedik-         men: Erdöl wurde in der US-Öffentlichkeit vom
ter 2009 u. 2010a). „Mit ungeheurer Wucht         „schwarzen Gold“ zum „schwarzen Gift“, und
explodierten am 16. Juli 2010 zwei Ölpipelines    vom „Ölsegen“ zur „Ölpest“. Der pejorative Dau-
in der Hafenstadt Dalian am Gelben Meer,          ergebrauch dieser neuen Begriffsassoziationen
rund 800 Kilometer östlich von Peking. Das        im Gefolge der Katastrophe scheint bis heute
Unglück geschah bei der Entschwefelung von        die prinzipielle Wahrnehmung des Erdöls von
Rohöl. 15 Stunden brauchte die Feuerwehr          „uneingeschränkt positiv“ über „zweifelhaft“
zum Löschen – die Stadt versank unter dichten     bis zu „ersetzungsbedürftig“ zu verändern –
Rauchschwaden. Nur mit Atemmasken und             auch wenn unklar ist, ob der Durchschnitts­
schweren Schutzanzügen konnten die Feuer-         amerikaner dabei nur an den Rohstoff Erdöl
wehrleute auf der Unglücksstelle arbeiten. Bei    oder auch an seine wirtschaftlich und kulturell
der Explosion liefen etwa 1,5 Millionen Liter     breitenrelevanten Derivate wie Landnahme
Rohöl ins Meer, nach Schätzungen der New          und Landverbrauch, Treibstoff oder Plastik
York Times eine der größten Ölkatastrophen        denkt, was der eigentlich entscheidende Punkt
Chinas in den vergangenen Jahren“.11 Doch         wäre, um Verhalten im konkreten Alltag der
damit nicht genug. Anfang September, als das      Lebensführung zu verändern! Und auch, wenn
BP-Leck gerade abgedichtet war, ereignete sich    die Frage offen ist, wie lange diese negativen
eine beinahe identische Explosion bei einer       Begriffsassoziationen im Gebrauch bleiben
zweiten Ölplattform vor der US-Südküste           werden – ob sie sich also als dauerhaft bis zum
nur wenige hundert Kilometer westlich der         voraussichtlichen „Ende des Öls“ in etwa 30-50
„Deepwater Horizon“. Auch wenn diesmal nur        Jahren erweisen werden, oder ob sie nur eine
vergleichsweise wenig Öl austrat, war die Wahr-   Tages- oder Jahreserscheinung sind.
nehmung dieses „Duplikatsereignisses“ seitens         Der realpolitische Effekt jedenfalls waren
der amerikanischen Öffentlichkeit übergroß.       Verbote von Tiefsee-Ölbohrungen in den USA
Die zweifache neue „Wiederkehr“ des Öls im        und Europa, sog. „Ölmoratorien“. „Angesichts
Osten und im Golf von Mexiko verankerte das       der Ölkatastrophe forderte die EU-Kommission
Trauma der Katastrophe und das Nachdenken         einen Stopp für Tiefsee-Bohrungen in der
über grundsätzliche Zusammenhänge zwischen        Nordsee. EU-Energiekommissar Günther
Öl, Technologie, Kapitalismus, erneuerbaren       Oettinger rief die Mitgliedsstaaten dazu auf,
Energien, Umweltschutz und Zukunft weiter         für europäische Gewässer neue Bohrungen
im öffentlichen Bewusstsein.                      unter extremen Bedingungen vorerst nicht
                                                  mehr zu genehmigen. Umweltschützer for-
                                                  dern ein Verbot für alle Bohrungen unterhalb
Innenpolitische Wirkungen                         von 200 Metern Tiefe. Einen Grenzwert will
                                                  Oettinger aber nicht festlegen. US-Präsident
Der aus alledem mittels „Differenz und Wie-       Barack Obama hat bereits einen befristeten
derholung“ nicht mehr nur einfach, sondern        Bohrstopp verkündet. Ein halbes Jahr lang
nun „geschichtet“ erwachsende kollektive          (bis Ende November 2010, R.B.) durften in
Veränderungsimpuls zeitigte zusammenfassend       Tiefsee-Gewässern vor den US-Küsten keine
Wirkungen nicht nur ökonomischer, sondern         neuen Probebohrungen gemacht werden. Mit
Öl und Bewusstseinswandel                                                                        119

diesem Vorstoß scheiterte Obama allerdings         Präsidentschaftskandidatin in spe für die Wah-
bereits zwei Mal vor Gericht, so dass sein In-     len 2012. Palin betrieb bereits während ihrer
nenministerium mehrere Neufassungen des            Amtszeit als Gouverneurin Alaskas offenen
Moratoriums entwerfen musste“.12                   Lobbyismus für die Ölindustrie und bezeich-
     Allerdings besteht auch in diesen – zumin-    nete die durch Alaska führende Hauptpipeline
dest vorläufigen – realpolitischen Effekten eine   der USA als „Werk Gottes“, das von keinem
verborgene Ironie, die zwar vielen Amerikanern     Menschen hätte gebaut werden können. Der
sehr wohl, den meisten europäischen Lesern         Bau einer weiteren Pipeline sei ebenfalls Gottes
aber bislang nicht ausreichend bewusst sein        direkter Wille.14 Der Kampf um den Wert des
dürfte. Weniger als drei Wochen vor der Öl-        Öls als Kulturgut der USA ist für Palin Teil des
katastrophe, am 31. März 2010, hatte Obama         großen „Weltanschauungskampfes“ zwischen
trotz des bekanntermaßen erheblichen Risikos       Republikanern und Demokraten um die „Seele
eine Offensive für neue Ölbohrungen vor der        Amerikas“, in dessen Rahmen die Republikaner
US-Küste öffentlich eingeleitet, wobei die         über vor- und kontextpolitische Strategien der
Genehmigungspraxis auf den im Wesentlichen         Beeinflussung der öffentlichen Meinung und
unveränderten ultra-deregulativen Bestimmun-       anerkannter Diskursformen dem Muster von
gen seines Vorgängers Bush basieren sollte.        Obamas Wahlkampf folgen und die politische
Anders als im Bereich der globalen Klimapo-        Macht mittels des Gewinns der „Weltanschau-
litik, in dem er für Nachfolgeabkommen des         ungshoheit“ zurückerobern wollen. In ihrer
Kyoto-Protokolls eintritt, und im Gegensatz        Reality TV-Naturshow „Alaska“, die zwischen
zu anderen bedeutenden Zukunftsfragen gab          November 2010 und Januar 2011 auf dem lan-
es hinsichtlich des Umgangs mit der „US-           desweiten Sender TLC ausgestrahlt wurde und
Natur“, die er kaum je als eigene Aufgabe und      beim Publikum parteiübergreifend erfolgreich
Herausforderung betrachtete, bei Obama von         war, behauptete Palin, dass das „Land der
Sinneswandel kaum realpolitische Anzeichen.        Pipeline“ zugleich das ultimative Naturparadies
Bis zur Ölkatastrophe.                             sei, dass also rücksichtslose Ressourcenausbeu-
     Nicht zuletzt diese Katastrophe führte zum    tung und Naturbelassenheit keine Gegensätze
beschleunigten Aufstieg des Klimaschutzes          seien.15 Wenn Palin programmatisch und mit
zu einer Kernagenda Obamas. Dass jedoch            zunehmender Aggressivität vom Prinzip der
Mitte Juli 2010, auf dem Höhepunkt der             „Restauration“ des amerikanischen Traums und
Ölkatastrophe, das erste umfassende US-            damit der „Seele Amerikas“ spricht, das dem
Klimaschutzgesetz, das eine Reduktion der          Prinzip der „Transformation“ Obamas entge-
Emissionen der USA bis 2020 auf 17 Prozent         gengesetzt werden müsse (Gibbs 2010), dann
unter das Niveau von 2005 vorsah, wegen des        spielt die Ölfrage und die Frage des sozusagen
anhaltenden Widerstands der Republikaner           „frei ausbeuterischen“ Umgangs mit der Natur
nach mehr als einjährigen Verhandlungen im         eine entscheidende Rolle. Allerdings hatte
US-Senat scheiterte13 und die regierende De-       Obama auch noch während der Anfänge der
mokratische Partei diesbezüglich – zum Teil        Ölkatastrophe den Republikanern im Tausch
im unheiligen Tausch mit anderen Agenden –         gegen ihre – letztlich verweigerte – Zustim-
relativ kampflos aufgab, ist kein ermutigendes     mung zum Klimaschutzgesetz neue Hochsee-
Zeichen für die Zukunft. Es zeigt, dass der        Ölbohrungen (sogenanntes Offshore drilling)
politische Rechtsschwenk des Landes dem            weit vor der US-Südküste sowie in Kalifornien
Eindruck der Ölkatastrophe entgegenwirkt.          und Alaska in Aussicht gestellt.16 Dass das
Dies nicht zuletzt, indem die Katastrophe in       Bohrverbot für „offshore drilling“ in den USA
führenden „rechten“ Medien wie FoxNews             entgegen aller Expertenmeinungen bereits
von einflussreichen Meinungsmachern wie            während der Katastrophe wieder gelockert17
Mike Huckabee, Newt Gingrich, Bill O’Reilly        wurde und Obama die Bohrerlaubnis bereits
oder Sean Hannity systematisch kleingeredet        vor Ablauf des Moratoriums ab Oktober 2010
wird. Beispielhaft dafür sind nicht zuletzt die    wieder offiziell erteilte18, ist ebenfalls paradox.
Auftritte von Sara Palin, der republikanischen     Es ist ein Zeichen dafür, wie überproportional
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schnell auch in den „neuen“ USA unter Obama            immer noch US-interne Kolonien; sie werden
kulturpsychologische Vergessensprozesse grei-          jedenfalls so behandelt. Die Angehörigen der
fen, weil die öffentliche Rationalität anders als in   erwerbstätigen Unterschicht und zum gerin-
Europa nicht von Gegenwart oder Vergangen-             geren Teil auch solche der Mittelklasse dieser
heit, sondern vergleichsweise eindimensional           Region befinden sich daher permanent in einer
von der Zukunft eingenommen, wenn nicht                prekären Lage, die systemisch bedingt ist und
gar besessen ist.                                      als solche von der „schweigenden Mehrheit“
    Eine letzte, in die kommenden Jahre hinein         der US-Bevölkerung entweder gebilligt oder
weiterwirkende historische Symptomatologie             ignoriert wird. Diese Gruppen waren nach-
der US-innenpolitischen Konstellation der              vollziehbarer Weise froh über die Katastrophe,
Ölkatastrophe 2010 schließlich war, dass               weil sie im „Normalsystem“ faktisch bis heute
viele Angehörige der Unter- und Mittelklasse           im Erwerbszyklus benachteiligt sind.
in den US-Golfstaaten trotz des allgemeinen                Auch diese beiden Aspekte traten durch
Schocks froh sein mussten – und tatsächlich            die Ölkatastrophe seit langer Zeit erstmals
waren –, dass sie aufgrund der Ölkatastrophe           wieder ins breitere Bewusstsein der Ameri-
zusätzliche Einkommensmöglichkeiten, sprich            kaner – wohl so stark, wie seit dem Ende des
„Jobs“ erhielten. Paradoxerweise herrschte             Bürgerkriegs von 1868 nicht mehr. Auch hier
bei nicht geringen Bevölkerungsteilen in den           lautet die Frage allerdings, als wie dauerhaft
unmittelbar an die Katastrophe angrenzenden            sich diese Einsicht erweisen wird und ob das
Regionen des tief religiösen „Bible Belt“, den         Bewusstsein von US-internen Reichtums-
mit Abstand ärmsten Staaten der USA, nicht             und Verteilungs-Asymmetrien ein Anlass
nur Verzweiflung, sondern auch Freude über             zu nachhaltiger Neuorientierung sein kann.
den Ölaustritt. Denn viele Arbeitslose, von            Obamas Administration ist im Gefolge der
denen nicht wenige ihre Arbeit in Folge des            Katastrophe jedenfalls in diesen Punkten
Hurricans „Katrina“ vom August 2005 verloren           von einer zunehmend breiten Öffentlichkeit
und seitdem keine neuen Erwerbsmöglich-                herausgefordert.
keiten gefunden hatten, konnten nun mittels
Ausgleichs- und Säuberungs-Geldern von BP
und verschiedenen US-Staatsfonds im Rahmen             Die Ölkatastrophe:
von Säuberungsaktionen beschäftigt werden.             Drei Tschernobyls in einem?
Zwar stieg die regionale Arbeitslosigkeit im
ersten Halbjahr 2010 dennoch leicht an (um             Insgesamt häufte sich im Umfeld der Katas-
0,2 Prozent).19 Doch muss man dazu zweierlei           trophe eine ungewöhnliche Vielzahl symbo-
wissen:                                                lischer Ironien, die beispielhaft sind für jene
    Erstens, steht dieser Anstieg in keinem Ver-       „Epoche der Übergänge und der Enden“, in
gleich zu dem hohen Zuwachs der nationalen             welcher die Mehrheit der Amerikaner heute
Arbeitslosenquote in Folge der Finanzkrise             die historische Situation ihrer Nation ansie-
2007-2010, der mit 4-5 Prozent beziffert wird          delt (vgl. Klein 2010). Diese Häufung erfolgte
(vgl. dazu ausführlich Benedikter 2010b).              erstmals seit Jahrzehnten nicht mehr nur im
Zweitens, ist die Arbeitslosigkeit im Süden            Bewusstsein der Eliten, die bekanntlich in der
nicht zuletzt deshalb die höchste in den USA,          anglo-amerikanischen Welt traditionell weit
weil die Südküste (mit Ausnahme von Texas)             wichtiger und einflussreicher sind als in Europa
im Unterschied zu anderen Teilen der USA               (vgl. Quigley 1975, 1981), sondern nun offen
(z.B. Alaska) von „ihrem“ schwarzen Gold               vor den Augen der breiten Öffentlichkeit. Viele
praktisch nichts hat, da fast alle entsprechenden      US-Amerikaner wurden durch die Katastrophe
staatlichen Erträge an die Nationalregierung in        zum ersten Mal auf zentrale Systemprobleme
Washington DC fließen. Daher fühlt sich der            der USA aufmerksam. Diese verdichteten sich
Süden zu Recht binnennational ausgebeutet.             im Bild der Ölkatastrophe und ihrer zahllo-
Faktisch sind die meisten ehemaligen „schwar-          sen, medial auf tausenden US-Fernseh- und
zen Südstaaten“, darunter vor allem Louisiana,         Radiokanälen über Monate allgegenwärtigen
Öl und Bewusstseinswandel                                                                        121

Begleiterscheinungen zur individuellen und          durch die Ölkatastrophe auf die grundsätzliche
kollektiven Imagination.20                          Problematik des wachsenden militärischen
     Die Ergebnisse dieses Prozesses waren          Umwelt-Utilitarismus aufmerksam. Diese
vielschichtig. Nennen wir hier der Kürze halber     zeigt sich u.a. in der intensiven Arbeit des
nur die drei wichtigsten:                           US-Militärs an einer „Neurokriegsführung“
     Mittelbar vielleicht am wichtigsten ist, er-   (neurowarfare) mittels technischer und che-
stens, die wachsende Einsicht einer Mehrzahl        mischer Eingriffe in die natürliche Physis des
der Amerikaner, dass „leichtes Öl“, das an der      Menschen sowie in die Biosphäre (insbeson-
Erdoberfläche oder in geringer Meerestiefe          dere den Wasserkreislauf ), die für die zweite
gefördert werden kann, zu Ende geht, und            Hälfte des 21. Jahrhunderts avisiert ist (Lynch
dass die Risiken des „schwierigen Öls“, das wie     2009), wie auch am sog. „climate engineering“
im Fall der „Deepwater Horizon“ aus 4.000 m         (auch „geoengineering“ genannt), bei dem
Meerestiefe und 1.500 m Bodentiefe gefördert        Aluminium- und andere Nanopartikel in der
werden muss, zu hoch werden, um dauerhaft           Atmosphäre versprüht und damit künstliche
eine stabile Zukunft zu sichern (Böhm 2010).        Wolkengebilde geschaffen werden, u.a. um
Hier beginnt sich im Gefolge der Katastrophe        eigene militärische Anlagen vor Satellitenein-
in den USA die Einsicht durchzusetzen: Öl           blicken zu schützen (vgl. Feichter/­Leisner 2009).
steht für eine Epoche, deren Zeit abgelaufen        Ursprünglich als Gegenmaßnahme gegen die
ist. An seine Stelle muss etwas anderes treten.     globale Klimaerwärmung konzipiert,21 driftet
Die Ölkatastrophe war in dieser Hinsicht            das „climate engineering“ heute zu großen Tei-
tatsächlich bis zu einem gewissen Grad das          len in militärische Anwendungen ab. Doch wie
symbolische „Tschernobyl“ jenes Öl-Zeitalters       kontrollierbar sind militärische Techniken wie
der vergangenen zwei Jahrhunderte, als das          Neurokriegsführung, Klimamanipulation oder
sie verschiedentlich apostrophiert wurde (vgl.      die künftig angestrebte künstliche Erzeugung
Amann/­von Petersdorff 2010).                       von Erdbeben, wenn die „größte Nation der
     Ergebnis war zweitens die Frage vieler         Erde“ trotz aller Anstrengungen und Milliar-
Amerikaner: Wie ist es möglich, dass einerseits     denaufwand ein örtlich begrenztes Ölleck vor
seitens der neuen US-Führung ein Umdenken           ihrer Küste nicht unter Kontrolle bringen kann?
in Sachen Umwelt erfolgt, andererseits aber die     Die Verdeutlichung der Nicht-Nachhaltigkeit
Nation, ihr „amerikanischer Traum“ und ihre         der eigenen Lebensstile und die gleichzeitige
globalen Strategien der Vorherrschaft weiterhin     Vorbereitung von Umwelt-Kriegsführung be-
auf einem völlig unrealistischen, nicht nach-       zeichnen in den Augen vieler Amerikaner eine
haltigen Lebensstil des billigen Benzins, der       weitere Paradoxie. Diese könnte ein „Tscher-
billigen Energie und des billigen Öls aufgebaut     nobyl Amerikas“ (Nadal 2010) begründen,
bleiben – ja dass der amerikanische way of life     d.h. einen Abstieg des Landes, wenn diese
sich heute sogar noch auf den „Gebrauch“ von        Paradoxien nicht behandelt und gelöst werden.
Ebenen der natürlichen Welt ausdehnt, die           Für viele Amerikaner war die Ölkatastrophe
bisher verschont geblieben waren? Wie ist es –      Inbegriff und Sinnbild der Möglichkeit eines
um nur ein Beispiel zu nennen – möglich, dass       solchen „Tschernobyls Amerikas“.
die natürliche Umwelt zunehmend als Waffe                Drittens stabilisierten sich die Zustim-
konzipiert und gebraucht wird? Die Umwelt           mungswerte für Obama im Verlauf der Kata-
und mit ihr die natürliche Welt insgesamt           strophe auf einem neuen Allzeit-Tief seiner
wird heute seitens der Führung der USA viel         Amtszeit, nämlich auf zeitweise unter 40
weitergehend als jemals zuvor zum Bestandteil       Prozent – und das vor den für ihn und die
von Macht- und Kriegsstrategien – wenn auch         Zukunft seiner Reform- und Erneuerungspo-
angeblich nur „zur Verteidigung“ vor ähnli-         litik so wichtigen US-„Zwischenwahlen“ im
chen Strategien potentieller Gegner, womit          November 2010. Dass Obama diese Wahlen
im Regelfall, wenn auch meist wohlweislich          deutlich verlor, war keine Überraschung, und
noch unausgesprochen, China gemeint ist.            zwar auch wegen der Ölkatastrophe (zu anderen
Eine größere Anzahl von Amerikanern wurde           Gründen vgl. Benedikter 2010a). Die Mehrzahl
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der US-Bevölkerung hatte, nicht zuletzt wegen     Nachhaltigkeit kommen müssen, wenn sie ihre
des langen Andauerns der Katastrophe und          führende Rolle in der Welt in den kommenden
dem paradoxen Scheitern von Obamas mo-            Jahrzehnten behalten wollen.
dernisierungs- wie oppositionsfreundlichem            (3) Sie war zu einem gewissen Grad auch das
Klimaschutzgesetz, den Eindruck, dass der         innenpolitische „Tschernobyl Barack Obamas“,
US-Präsident und sein Beraterstab umwelt- und     zumindest im Hinblick auf die Zwischenwah-
ressourcenpolitisch auf der Stelle traten und     len im November 2010, die Obama zur lame
sich gegen die Lobby-Mentalität des „alten“,      duck, also zu einer „lahmen Ente“ degradiert
traditionell „umweltverschwenderischen“ Sy-       haben, einem Präsidenten, der sich auf keine
stems in Senat und Kongress nicht durchsetzen     Mehrheit im Kongress stützen und daher nur
konnten. Dieses System ist in der Tat nur allzu   schwer Gesetze ohne größere Kompromisse
eng mit der Wall Street, der internationalen,     durchbringen kann. Ob das Tief im Wähler-
meist noch immer umweltneutralen bis um-          zuspruch für Obama, das damit auch politisch
weltschädigenden Finanzspekulation sowie den      konkret manifest geworden ist, anhalten wird,
Interessen global agierender Großkonzerne des     wird von einer Vielzahl von Faktoren abhän-
Ressourcengeschäfts (darunter BP) verbunden.      gen, die sich gegenwärtig nicht vollständig
Zugleich blockiert die radikal-konservative       vorhersehen lassen.
Opposition, die mit diesen Interessen eng
verflochten ist, Obama seit seinem Amtsantritt
immer wieder erfolgreich im US-Kongress.          Schlussfolgerungen und Ausblick
Zudem instrumentalisierte sie die Probleme bei
der Bekämpfung der Ölpest geschickt für ihre      Der offen bleibenden Fragen, die aus dieser
Propaganda. Auf andere vor- und kontextpoli-      mit der Ölkatastrophe zumindest temporär
tische Strategieerfolge der Rechtskonservativen   mehrschichtig geöffneten Situation entste-
im Kampf um die „Weltanschauungshoheit“,          hen, sind viele. Selbst wenn sich im Gefolge
ihre wachsende Medienmacht und ihre „vor-         der „drei Tschernobyls“ neue Formen der
politische Bürgerbewegung“ wie die Tea Par-       Energiegewinnung und -versorgung in den
ty- und die Reverse the Myth-Bewegung sei         USA durchsetzen, bleibt offen, ob sie nicht
hier nur verwiesen (vgl. ebd.). Insofern war      in derselben Geisteshaltung wie bisher den
die Ölkatastrophe zumindest temporär auch         Platz des Öls einnehmen werden. Auch ob es
eine Art innenpolitisches „Tschernobyl Barack     in den USA der „lahmen Ente“ Obama bis zu
Obamas“ (vgl. Bleskin 2010),22 zeitweise auch     den nächsten Präsidentschaftswahlen 2012
als der „‚Hurrikan Katrina‘ Barack Obamas“        zu einem echten Umdenken über den „Geist
(Marschall 2010; Rüb 2010; Hall et al. 2010)      des Öls“, welcher der Geist des 19. und 20.
bezeichnet.                                       Jahrhunderts war, hinaus kommen wird, ist
    Zusammenfassend zeigt eine kritische          fraglich. Darüber kann bis auf Weiteres be-
Beobachtung, dass die Ölkatastrophe aus           rechtigte Skepsis bestehen.
binnenamerikanischer Sicht einer dreifachen           Insgesamt überwiegen jedoch, so paradox
Einsicht zum zumindest unbewusst empfun-          dies auf den ersten Blick auch erscheinen mag,
denen Durchbruch verholfen hat, wenn auch         zumindest aus kultureller Sicht und in mittelfris-
zunächst möglicherweise nur vorläufig und         tiger Perspektive die positiven Auswirkungen
temporär:                                         der Ölkatastrophe. Das gilt insbesondere im
    (1) Die Öl-Katastrophe war das „Tschernobyl   Hinblick auf einen Mentalitätsumschwung
des Öl-Zeitalters“. Dass dessen Ende bereits      der Mehrheit der US-Bevölkerung. Dieser
begonnen hat, wurde durch sie in das breitere     Umschwung wurde nicht allein und auch nicht
amerikanische Bewusstsein gehoben.                maßgeblich durch die Ölkatastrophe 2010
    (2) Sie markierte ein „Tschernobyl der        ausgelöst; er war bereits vorher – seit Ende der
bisherigen USA“, da sich in ihrem Gefolge die     1990er Jahre – mittels der Themen Klimawan-
Einsicht durchzusetzen begonnen hat, dass auch    del und Schädigung der natürlichen Umwelt
die USA mit ihren riesigen Naturressourcen zur    schrittweise, wenn auch nicht nachhaltig, in das
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