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Berliner Debatte Initial 22. Jg. 2011 1 Populismus Kaltwasser Populismus in vergleichender Perspektive Segert Transformationsverlierer in Ostmitteleuropa? Priester Tea Party-Bewegung Benedikter Amerika nach der Ölkatastrophe Koch Bilanzen der elektronische Sonderausgabe ISBN 978-3-936382-71-6 deutschen Einheit © www.berlinerdebatte.de
Berliner Debatte Initial 22 (2011) 1 1 Populismus – Zusammengestellt von Dag Tanneberg und Cristóbal Rovira Kaltwasser – Editorial 2 José Pedro Zúquete Missionarische Politik 92 Populismus Vergleichende Perspektiven auf ein *** zeitgenössisches Phänomen Veith Selk Cristóbal Rovira Kaltwasser Die Verdinglichung der Demokratie Populismus in vergleichender Perspektive 4 Entfremdung und Verdinglichung im Übergang zur Postdemokratie 101 Marc Helbling Rechtspopulismus als Ideologie und der Roland Benedikter neue Integrations-Exklusions-Cleavage Öl und Bewusstseinswandel in Westeuropa 12 Amerika nach der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko 112 Paula Diehl Populismus, Antipolitik, Politainment. Neue Tendenzen der Besprechungen und Rezensionen politischen Kommunikation 27 Helge Peukert: Marcel Lewandowsky Die große Finanzmarktkrise Demagogen von rechts und Rezensiert von Ulrich Busch 126 Provokateure aus der Mitte. Rechtspopulismus in Westeuropa 40 Jan Fuhse, Sophie Mützel (Hg.): Relationale Soziologie. Dieter Segert Zur kulturellen Wende Populismus in Ostmitteleuropa: der Netzwerkforschung Stimme der Transformationsverlierer Rezensiert von Jörg Nicht 130 oder Gefährdung der Demokratie? 53 Norman M. Naimark: Nikolaus Werz Stalin und der Genozid Populismen in Lateinamerika seit den Rezensiert von Wladislaw Hedeler 133 1990er Jahren 66 Frank Thomas Koch Karin Priester Bilanzen der deutschen Einheit Populismus in den USA und und die Wiederkehr von Visionen die Tea Party-Bewegung 80 der Gesellschaftsveränderung 135
2 Berliner Debatte Initial 22 (2011) 1 Editorial Nicht erst mit dem Erscheinen des „Sachbuchs“ Politik mit Verschärfungen des Ausländerrechts aus der Feder von Thilo Sarrazin im vergange- wie in Dänemark, Minarettverboten wie in der nen Jahr machte sich die Politik einen neuen Schweiz, und bisweilen spektakulären Wahler- Kampfbegriff zu Eigen: „Populismus!“ Wann folgen wie in Ungarn vor sich hertreiben. Doch immer sich Forderungen nach mehr Basisde- selbst diese Diagnose knüpft sich in der Regel mokratie oder dem Ausbau sozialstaatlicher an Einzelfälle, vor allem wenn die Sachlage jen- Leistungen erheben, wann immer Nationalis- seits von Europa in Anspruch genommen wird. men oder antimuslimische Ressentiments ihren Die Autorinnen und Autoren des Heftschwer- Weg in die Öffentlichkeit finden – umgehend punktes spüren den Formen des Populismus formulieren etablierte Politiker wie auch die in international vergleichender Perspektive Medien den Vorwurf des „Populismus“. Die nach. Sie leisten damit Pionierarbeit, die sich Anklage trifft mittlerweile so unterschiedliche als Beitrag zu einem aufgeklärten Umgang mit Akteure wie die Bürgerbewegung pro Köln, den dieser problembeladenen Erscheinung unserer verstorbenen Jörg Haider und den Niederländer Gegenwart versteht. Geert Wilders, die ungarische Regierungspar- Dazu zählt zunächst ein Versuch begriffli- tei FIDESZ und Jarosław Kaczyńskis Partei cher Präzisierung. Cristóbal Rovira Kaltwasser „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), zuweilen diskutiert zu diesem Zweck in seinem ein- aber auch die deutsche Linkspartei sowie leitenden Beitrag zwei der einflussreichsten regelmäßig die Schweizer Volkspartei (SVP). Populismusdefinitionen und entwickelt daraus Die amerikanische Tea-Party-Bewegung, der Leitlinien eines vergleichenden Forschungspro- venezolanische Präsident Hugo Chávez und gramms. Anschließend führt Marc Helbling sein bolivianischer Amtskollege Evo Morales die Attraktivität rechtspopulistischer Akteure gelten gar als nachgerade paradigmatische in Westeuropa auf eine neue gesellschaftliche Exponenten dieser Politikform. Konfliktlinie zurück, die im Zuge der Euro- Angesichts jener ins Unendliche treibenden päischen Integration entstand und entlang Extension bleibt offen, was das Etikett eigent- derer sich die jüngsten Kräfte der politischen lich besagt. Einige Autoren unterstellen dem Rechten organisieren. Paula Diehl fragt nach Populismus besondere ideologische Qualitäten, den komplementären Einflüssen der modernen andere sehen in ihm eine bestimmte politische Massenmedien, die nicht nur die Möglichkeiten Mobilisierungstechnik und wieder andere politischer Kommunikation generell verändert lediglich einen mediengerechten Kommunika- haben, sondern auch den Populismus selbst. tionsstil. Uneinigkeit herrscht darüber hinaus Die vier folgenden Beiträge diskutieren in der Frage, welche Konsequenzen Populismus historische Bezüge des Populismus, seine für die Demokratie hat, worin seine Ursachen aktuellen Tendenzen und seine wahrschein- liegen und ob es sich lediglich um ein vorüber- liche Entwicklung in Europa und Amerika. gehendes Phänomen handelt. Sicher ist nur, Marcel Lewandowsky lenkt den Blick zunächst dass Populisten in vielen Ländern die etablierte auf Westeuropa. Sein Aufsatz zeichnet nicht
Editorial 3 nur nach, welche Methoden und Inhalte den populistische Tradition in den Vereinigten westeuropäischen Rechtspopulismus konsti- Staaten, die im Gegensatz zu den europäischen tuieren, sondern zeigt darüber hinaus, wie die Populismen keine systemablehnenden Dyna- gesellschaftliche Mitte und ihre politischen miken aufweise. Stattdessen verstünden sich Repräsentanten sich diese ebenfalls zu Eigen die dortigen Populisten wie eben die Tea-Party- machen. Dieter Segert bilanziert die populisti- Bewegung als innergesellschaftliches Korrektiv schen Bewegungen Osteuropas und führt ihren auf dem Boden der amerikanischen Verfassung. anhaltenden Erfolg auf eine sozioökonomisch Die Überschneidungen von Religion und Po- bedingte Entfremdung zwischen politischen pulismus behandelt abschließend José Pedro Repräsentanten und Wählern zurück. Nikolaus Zúquete, der im Unterschied zu vielen anderen Werz analysiert die Populismen Lateinamerikas, Autoren nicht die Gelegenheitsstrukturen, die sich von ihren europäischen Gegenstücken sondern die expressiven und performativen vor allem durch ihren sozial-integrativen An- Momente des Populismus betont. spruch unterscheiden. Der Beitrag von Karin Priester schließlich informiert über die lange Cristóbal Rovira Kaltwasser & Dag Tanneberg
112 Berliner Debatte Initial 22 (2011) 1 Roland Benedikter Öl und Bewusstseinswandel Amerika nach der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko Am 20. April 2010 explodierte und sank die dauerhaft möglich sind – immer wieder Öl Bohrinsel „Deepwater Horizon“ 80 km vor der austreten, auch wenn es nach Angaben der amerikanischen Küste südlich von Louisiana. Haupt-Betreiberfirma British Petrol (BP) und Dabei kamen elf Menschen ums Leben, 23 der US-Behörden bis zum 5. September 2010 wurden verletzt. Danach flossen bis zur Abdich- gelang, den Ölaustritt dauerhaft zu stoppen und tung des Lecks zwischen dem 4. und 6. August das Leck stabil abzudichten.3 Überraschenden 2010 täglich zwischen 7 und 8,5 Millionen Liter Erfolgen bei der Säuberung des Meeres stehen Erdöl ins Meer, nach vorsichtigen Schätzungen Anfang 2011 negative Einschätzungen der lang- insgesamt 780 Millionen Liter. Das entspricht fristigen Folgen für Umwelt4 und Wirtschaft in etwa einer Ölmenge, die ausgetreten wäre, (vgl. Jakob 2010) gegenüber. wenn sich eine Tankerkatastrophe wie die bisher Das Ölleck im Golf von Mexiko war die größte, die der „Exxon Valdez“ im Jahr 1994, größte Ölkatastrophe der Geschichte; es war über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten zugleich die größte Umweltkatastrophe der alle viereinhalb Tage wiederholt hätte. Aktuelle USA seit deren Gründung. Da sie als solche ein Schätzungen gehen davon aus, dass das Leck historisches Symptomereignis des vergangenen auch nach seiner Abdichtung und zusätzlichen Jahres mit kulturpsychologischen Wirkungen Entlastungsbohrungen zur Stabilisierung der weit in die kommenden Jahre hinein war, lohnt Versiegelung noch Jahre lang Probleme be- ein Blick auf die Hintergründe und Folgen der reiten könnte. Das liegt nicht zuletzt daran, Katastrophe. Vor allem der Bewusstseinswan- dass die Quell- und Entlastungsbohrungen del, der durch die Katastrophe im öffentlichen bis zu 4.000 m unter den Meeresboden rei- Diskurs der USA ausgelöst wurde, könnte in den chen und Abdichtungen noch nie in so großer kommenden Jahren für Politik und Gesellschaft Tiefe vorgenommen wurden.1 Voraussichtlich bedeutend werden. werden sich auch noch in Jahren Rückstände an Öl und Bekämpfungschemikalien im Meer befinden, die Fauna und Flora schädigen.2 Das Eine Katastrophe und massive Fische- und Artensterben an der Golf- ihre psychologischen Folgen mündung des Mississippi mit Millionen toter Fische innerhalb weniger Tage im September Die Ölkatastrophe hat, was im Hinblick auf 2010 – also mehr als einen Monat nach der den globalen gesellschaftlichen und kulturellen Erstabdichtung des Lecks – könnte davon Wandel wichtig ist, auf dem nordamerikani- ein Vorbote gewesen sein (Jiménez 2010). Im schen Kontinent einen Bewusstseinswandel schlimmsten Fall wird zumindest zeitweise und ausgelöst, der in der neueren Geschichte lokal aus dem brüchigen Grund des Ölfeldes seinesgleichen sucht und dessen volle Auswir- 1.500 m unter der Wasseroberfläche – also in kungen noch kaum abzusehen sind. Laut einer völliger und ununterbrochener Dunkelheit, in Umfrage der renommierten Agentur „Gallup“ der flächendeckende Kontrollen nur schwer vom 27. Mai 2010 veränderte sie die Sichtweise
Öl und Bewusstseinswandel 113 der US-Amerikaner auf Fragen des Umwelt- gegenüber Ressourcenerschließung bevorzug- schutzes und generell auf den Umgang mit der ten, und zwar nicht zuletzt im Gefolge früherer Natur und mit Ressourcen. Eine Mehrheit der Ölkatastrophen wie etwa derjenigen von Santa US-Bevölkerung spricht sich nun – zum ersten Barbara im Jahr 1969, haben republikanische Mal in der mehr als 230jährigen Geschichte Wähler auch nach der Ölkatastrophe ihre des Landes – für einen staatlichen Schutz der Meinung nicht geändert: Sie bevorzugen die natürlichen Umwelt und gegen die weitere Ausbeutung von Ressourcen gegenüber dem Erschließung von Naturressourcen aus. Und Umweltschutz nach wie vor im Verhältnis 2:1. dies trotz der Tatsache, dass die USA aufgrund Wichtig ist jedoch der Meinungswandel der von fehlgeleiteten Politiken und Überkonsum unabhängigen Wechselwähler: Während noch seit Jahren an einer Unterversorgung mit na- im März 2010 die Mehrheit von ihnen mit den türlichen Ressourcen leidet, die u.a. zu einer Republikanern war, ist nach der Katastrophe notorischen Knappheit von Elektrizität und eine klare Mehrheit mit den Demokraten wiederholten Ausfällen der Stromversorgung (Jones 2010). in ganzen Bundesstaaten (zum Beispiel Kali- „Die Bewusstseinsveränderung der Ameri- fornien) führen. Bei Gallup heißt es dazu: kaner zeigt sich auch in einer weiteren Frage, „Zwischen März und Mai 2011 hat sich nämlich in der Wahl zwischen Umwelt und im Rahmen der Ölkatastrophe im Golf von wirtschaftlichem Wachstum. Nach der Öl- Mexiko die Priorität der Amerikanerinnen und katastrophe ist hier die Meinung zugunsten Amerikaner verändert: Vor die Wahl zwischen der Umwelt gekippt, mit 50 Prozent zu 43 Umweltschutz und Energieproduktion gestellt, Prozent, also mit 7 Prozentpunkten Abstand. würden die Amerikaner heute, im Gegensatz Nur einen Monat vor der Ölkatastrophe be- zur früheren Ressourcen-Vorliebe, eine stärkere vorzugte noch eine 15prozentige Mehrheit Umwelt-Präferenz wählen“ (Jones 2010). der Amerikaner, nämlich 53 Prozent zu 38 „Noch im März 2010 sagten 50 Prozent Prozent, Wirtschaftswachstum auch um den gegenüber 43 Prozent der Amerikaner, dass Preis der Umweltschädigung. Sogar eine kleine es wichtiger sei, die Energieversorgung wei- Anzahl der Republikaner hat sich in dieser terzuentwickeln, als die Umwelt zu schützen. Frage mittlerweile in Richtung Umwelt bewegt“ Diese Meinung war ein allgemeiner Trend seit (Jones 2010). 2007. Nun, im Gefolge der Ölkatastrophe, sagt Obwohl sich bei derartigen Erhebungen die Mehrheit – 55 Prozent gegenüber 39 Pro- natürlich die Frage stellt, ob es sich nur um zent –, es sei wichtiger, die Umwelt zu schützen: kurzfristige Stimmungsänderungen handelt das erste Mal seit mehr als einem Jahrzehnt“ oder ob sich daraus eine nachhaltige Bewusst- (Jones 2010). Eine Mehrheit der Amerikaner seinsveränderung ablesen lässt, sind diese sieht die Ölkatastrophe mittlerweile offen- Daten doch zumindest an amerikanischen bar sogar als eine Chance, das Umwelt- und Maßstäben – insbesondere an deren Kultur- Konsumverhalten in den USA nachhaltig zu und Konsumpraktiken der vergangenen 40 verändern. Insofern, so u.a. eine Erhebung des Jahre – gemessen erstaunlich. Das zeigt sich New Yorker „Time Magazin“, ist die Mehrheit an einer weiteren Erhebung, dem Rasmussen der Amerikaner davon überzeugt, dass die Report des US-Statistik-Instituts vom Juni 2010 Ölkatastrophe letztlich eine positive kulturelle zur Abhängigkeit der USA von Ressourcen Bedeutung für die Zukunft des Landes gehabt und zur Frage der erneuerbaren Energien, der haben könnte (Walsh 2010). grundsätzlicher ausgerichtet ist: Wenig überraschend ist, dass diese Mei- „Die Erhebung ergab, dass im Gefolge der nung bei Wählern der Demokraten, also der Ölkatastrophe 73 Prozent der erwachsenen nach amerikanischen Maßstäben Mitte-Links- Amerikaner glauben, dass es wichtig für die Wählerschaft, weit ausgeprägter ist als bei Vereinigten Staaten ist, ihre Abhängigkeit von den Mitte-Rechts-Wählern der Republikaner. Öl und nicht-erneuerbaren Energien insgesamt Während demokratische Wähler bereits vor drastisch zu senken. 73 Prozent sagen, das sei der Ölkatastrophe mehrheitlich Umweltschutz zumindest bis zu einem gewissen Grad wichtig,
114 Roland Benedikter während 42 Prozent sagen, dies sei sehr wich- werden, um der Bevölkerung eine Antwort tig. Nur 23 Prozent sagen heute noch, das sei auf die Politik des Präsidenten in Form einer nicht wichtig. Betreffend die entsprechenden Stärkung oder Schwächung der Opposition zu Regierungspolitiken sagen 41 Prozent der er- ermöglichen. Diese fanden noch ganz unter wachsenen Bevölkerung heute, die Regierung dem Eindruck der Ölkatastrophe statt, deren solle Maßnahmen ergreifen, um den Verbrauch politische Handhabung Obama sehr schadete von Öl schwieriger und teurer zu machen und und entscheidend mit zu seiner Niederlage den Gebrauch alternativer Energien zu fördern. beitrug. Wie die genannten Erhebungen zum 43 Prozent glauben, dass die Ölkatastrophe im Bewusstseinswandel zeigen, unterscheiden Golf von Mexiko wahrscheinlich die Abhängig- die Amerikaner jedoch offenbar sehr genau keit der USA von Öl und nicht-erneuerbaren zwischen politischer Verantwortung (und ent- Energien in der nahen Zukunft verändern wird. sprechenden „Denkzetteln“ für Politiker) und Darunter sind 54 Prozent der befragten Frauen. den mittel- und langfristigen Anforderungen Offenbar hat die BP-Ölkatastrophe ganz klar die des Landes. Letzteres hat, und dies ist vielleicht öffentliche Meinung der USA über die Umwelt die erstaunlichste Folge der Ölkatastrophe, dazu verändert. Amerikaner im ganzen Land sind beigetragen, dass die Mehrheit der Amerika- wütend über das Desaster, und diesmal nicht ner mittlerweile erkennt, dass es letztlich ihr nur die Umweltschützer, sondern große Teile Kultur- und Lebensstil ist, der die Katastrophe der Bevölkerung“ (Kaiser 2010).5 heraufbeschworen hat – und dass es daher in Obwohl zugleich eine Mehrheit nach wie den kommenden Jahren weniger auf einen vor der Meinung ist, dass Ölförderung vor den administrativen und sicherheitspolitischen, als Küsten für die Energieversorgung des Landes vielmehr auf einen grundsätzlichen kulturellen vital bleibt und auch weiterhin erlaubt sein und soziopolitischen Wandel ankommt. sollte, erklären „mittlerweile 48 Prozent der US- In der Tat ist die Leitressource Öl entschei- Bürger, dass sie sich in den nächsten 10 Jahren dend mit der Geschichte der USA und damit wahrscheinlich ein Auto mit erneuerbarem zugleich mit der Geschichte des modernen Energieantrieb kaufen werden. Und 63 Prozent Merkantilismus, des modernen Kapitalismus sagen, dass die Investition in erneuerbare Ener- und des modernen Materialismus verbunden – gien wie Sonnen- und Windenergie die bessere deren gemeinsames Wahrzeichen, ja Inbegriff Strategie für Amerika ist, verglichen mit der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Investition in den Ausbau der Ölförderung und Nicht nur der einflussreichste italienische der traditionellen Energien“ (Kaiser 2010). Dichter des 20. Jahrhunderts, Pier Paolo Pasolini (1922-1975), war der Ansicht, dass im „Petroli- um“ alle Stränge der Neuzeit zusammenlaufen Öl am Überschneidungspunkt sozioöko- und ihre mit Abstand wichtigste symbolische nomischer und kultureller Hintergründe Verdichtung erfahren: Von den Problemen des Kapitalismus und der Arbeitsteilung bis Dieser Meinungsumschwung ist umso erstaun- zur sozialen Ungleichheit; von den Chancen licher, wenn man den politischen Rechtsrutsch und Abgründen des (politisch Herrschaft während der ersten zwei Amtsjahre Barack asymmetrisch ausübenden) Imperialismus bis Obamas berücksichtigt, darunter den „neuen hin zum geographischen Nord-Süd-Gefälle Kulturkampf“ um die Weltanschauungshoheit des (nun ökonomisch Herrschaft asymmet- zwischen Republikanern und Demokraten (vgl. risch ausübenden) Postimperialismus; von Benedikter 2010a) sowie den erdrutscharti- der ursprünglichen Abhängigkeit von der gen Sieg der Republikaner bei den „midterm Natur bis hin zur selbstzerstörerischen Aus- elections“ vom November 2010. „Midterm beutung der Natur im Spätkapitalismus; von elections“ sind „Zwischenwahlen“, die nach der Modernisierungsideologie bis hin zum der Hälfte der Amtszeit eines jeden US- Festhalten am Althergebrachten, das dieser Präsidenten abgehalten werden und bei denen Ideologie paradoxerweise allzu oft zugrunde ein Drittel aller Parlamentarier neu gewählt liegt: dem „Klebrigen“, „Rußig-Schwarzen“
Öl und Bewusstseinswandel 115 einer hierarchisch und in Abhängigkeitsverhält- sein einprägen (wie die klassische Soziographie nissen organisierten (Welt-)Gesellschaft und und Historiographie glaubte), sondern mittels ihrer (im nur allzu wörtlichen Sinn) „zähen“ des Prinzips „Differenz und Wiederholung“ Vergangenheits-Anhaftung. Pasolini ging in (Deleuze 2007; vgl. Benedikter 1999), genauer: seinem Spätwerk sogar so weit, das „Erdöl“ als mittels „Wiederholung desselben in Formdiffe- das Symbol der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- renz“. Erst indem sich dasselbe Symbolereignis derts schlechthin zu erkennen, an dem sich die mehrfach (Wiederholung) in verschiedenen gesamte aufgeklärt-moderne Gesellschaft der Erscheinungsformen (Differenz) verwandt er- westlichen Welt in ihrer „Stoffeigenschaft“ fin- eignet, beginnt es, das kollektive Bewusstsein in den, analysieren und perspektivieren ließe – ein dessen bewussten und vor allem unbewussten Symbol allerdings, das nicht für eine Zukunft, Tiefendimensionen zu verändern. In diesem sondern für ein nahes „Ende der bisherigen Sinn war die Ölkatastrophe ein Impuls zu so- Welt“ stehe. Für das Ende jedenfalls derjeni- zialer Veränderung mittels der „differenzierten gen Welt, die wir bisher kannten, und die sich Wiederholung“ ein- und desselben zivilisatori- nun aus ihren eigenen Unmöglichkeiten und schen Signalereignisses – mit Wirkung auf das existentiellen Widersprüchen heraus selbst zu kollektive Bewusstsein, aber sicher noch mehr unterminieren beginne.6 Pasolini fand dies so auf das kollektive Unbewusste der USA, und wichtig, dass er mit wenig mehr als 50 Jahren damit auch auf Amerikas verinnerlichte Ideale, (1972) ankündigte, er werde im nächsten Jahr- wie sie konzentriert sind im „amerikanischen zehnt, vermutlich sogar bis zu seinem Tod, an Traum“. Denn was geschah zwischen April und nur noch einem einzigen Werk arbeiten – an September 2010? dem Roman „Petrolium“, welcher die Phänome- Die Ölkatastrophe war nicht nur ein ein- nologie eines unausweichlichen „Endes einer maliges Ereignis. Vielmehr erstreckte sich ihre Welt“ aus seiner eigenen Logik heraus sowie Logik der „Wiederholung mittels Differenz“ dessen daraus erwachsende „Verwandlung in über fast fünf Monate. Dazu trug bei, dass einen Neuanfang“ beinhalte. zahlreiche Versuche zur Eindämmung des In Anbetracht der amerikanischen Ölkata- Lecks immer wieder scheiterten. Die endgültige strophe von 2010 erstanden für viele europäi- Versiegelung der Quelle wurde immer wieder sche Intellektuelle zentrale Ideologeme dieser neu verschoben und der Betreiber der Platt- Grundanschauung von „Öl“ neu. In jedem Fall form änderte immer wieder den Zeitplan. Bis schien die Katastrophe für die USA in der Tat zu den ersten Erfolgen im Juli 2010 bedeckte „das Ende einer Welt“ einzustimmen – zumin- der Ölteppich bereits ein Gebiet in der Größe dest jener Welt, die die meisten Amerikaner von Deutschland. Er erreichte im Juli 2010 bis dahin gekannt hatten. den westlich angrenzenden Küstenstaat Texas, überschritt den Kern-Golfbereich gleichzeitig auch nach Osten hin und erreichte Florida und Kulturpsychologische Veränderung mit- den Golfstrom. Er machte damit im Prinzip tels symbolischer Symptomereignisse auch Europa für Rückstände erreichbar.7 Unter dem Druck der zunehmend besorg- Dieses „Ende einer Welt“ kam für die Ameri- ten öffentlichen Meinung gerieten BP und die kaner ebenso überraschend wie hartnäckig. US-Regierung zeitweise in so große die Ver- Und es folgte in seiner allmählichen Einprä- zweiflung, ja Panik, dass der ernst gemeinte gung in die kulturelle Breiten-Psyche der USA Vorschlag, eine Atombombe zu zünden, um einer Gesetzmäßigkeit sozialer Veränderung das Leck „zuzuschmelzen“, wochenlang öf- mittels symbolischer Symptomereignisse, die fentlich diskutiert wurde – und das 40 Jahre u.a. der französische Philosoph Gilles Deleuze nach Einsicht der ersten Mondfahrer in die (1925-1995) aufgezeigt hat. Deleuze hat darauf Verletzlichkeit des blauen Planeten! Spätestens hingewiesen, dass sich öffentliche Bewußtseins- zu diesem Zeitpunkt wachte die amerikanische haltungen nicht aufgrund der Einmaligkeit von Öffentlichkeit auf, und mit ihr der einfache besonderen Ereignissen ins kollektive Bewusst- Durchschnittsamerikaner, für den Autofahren
116 Roland Benedikter und billiges Benzin angesichts der Ausmaße Transformation mittels einer regelrechten des Landes in den vergangenen 60 Jahren so Transfiguration bevorstehe. normal gewesen sind wie das tägliche Brot. Zu dieser „Transfiguration“ zählten später Die Tatsache der bloßen Diskussion über eine viele Amerikaner auch die überraschende Atombombenzündung in Nähe der US-Küste Entdeckung vom August 2010, dass sich der zeigt, welch außerordentlicher Schwellenpunkt Ölteppich mithilfe einer bisher unbekannten erreicht war und bis zu welchem Punkt die Mikrobenart schneller abbaue als erwartet: utilitaristische Mentalität der führenden US- „Eine bisher unbekannte Mikrobenart könnte Persönlichkeiten im Umgang mit der Natur die gewaltigen Öl-Schwaden, die in rund 1100 reichte. Viele Amerikaner fühlten sich wie Metern Meerestiefe gefunden wurden, bereits in einem Traum – so sehr waren sie vor den komplett abgebaut haben, hieß es in einer vom Kopf gestoßen. Fachjournal ‚Science’ veröffentlichten Untersu- Ein weiterer Aufsehen erregender Punkt chung. Die auf den Öl-Konsum spezialisierten in der Entwicklung war drei Monate nach Bakterien seien erstaunlich effektiv... Nach der Katastrophe erreicht. Das Bohrloch war dem Untergang der BP-Bohrinsel ‚Deepwater Anfang Juli zeitweise abgedeckt, als aus der Horizon’ hatten Forscher im Juni eine rund umgebenden Region des Meeresgrundes die 35 Kilometer lange Wolke aus kleinen Öl- Erde „Öl zu bluten“ begann, wie es die Religiösen Tröpfchen entdeckt. Die neu entdeckte Mikro- und Konservativen in den USA wahrnahmen benart verwendet beim Fressen des Öls kaum und begrifflich fassten. Damit erreichte die Sauerstoff... die Bakterien sind in ungewöhnlich öffentliche Symbolik eschatologische und großer Menge in den Schwaden aufgetreten. religiöse Ausmaße. Diese sind in den USA bei Bei dem Tempo, in dem sie das Öl zersetzten, Symbolereignissen besonders bedeutsam, da könnte die Öl-Wolke schon bald verschwunden die überwiegende Mehrheit der Amerikaner sein, schreiben die Wissenschaftler – allerdings in verschiedenen Abstufungen religiös ist sei das nicht sicher und müsse noch überprüft und ohne Berührung dieser Dimension kaum werden“.8 Man muss kein Feind von Science größere Veränderungen in der allgemeinen Fiction sein, um – wie die Mehrheit der Ame- Bewußtseinshaltung möglich sind. Bis Anfang rikaner – solche Entdeckungen mit gemischten Juli hatten die Religiös-Konservativen auch Gefühlen zu begleiten. angesichts des Ölteppichs und seiner Zer- Die Art, wie in den USA im öffentlichen störungen noch laut einem Bibelwort darauf Diskurs mit dem Desaster umgegangen wurde, beharrt, „der Mensch müsse sich die Erde geriet angesichts der Dauer der Katastrophe untertan machen und ihre Früchte ernten“. sowie im Gefolge der genannten proto-religi- Das heißt, der Mensch habe ein Recht auf die ösen und futurologischen Einschübe ebenso Schädigung der Natur zum eigenen Vorteil, widersprüchlich wie zum Teil hollywood-reif. und das Ölleck ändere daher nichts Grund- Vor allem aber war sie ungewöhnlich reich an sätzliches am Ressourcenverbrauch und an der kulturellen Anspielungen. So setzte der Schau- Naturbeziehung der USA als „Gottes eigener spieler Kevin Kostner mit viel öffentlichem Nation“. Als jedoch die Erde „Öl zu bluten“ Glamour im Gefolge einer offiziellen Anhörung begann, deuteten dies eben jene religiösen im US-Kongress eine von ihm patentierte Kreise als eine Art Kreuzigung der Erde – zur neuartige Maschine zur Ölabsaugung und zur tiefen Erschütterung der amerikanischen Öf- Trennung von Öl und Wasser ein – auch letz- fentlichkeit, auch der säkularen. Man betete teres eine (proto-)religiöse Anspielung wider für ein Gelingen der Abdichtung, ja sogar für Willen. Kostner hatte das Patent im Gefolge das ausströmende Öl, um es zu besänftigen. seines Films „Waterworld“ (1995) entwickelt, Nicht wenige begannen, das übermäßig aus- der in einer apokalyptischen Zukunft spielt, strömende „Geschenk Gottes“ als eine Art in welcher die Pole abgeschmolzen sind und „Vergeltung“ für überzogenen Ressourcen- die Welt fast vollständig von Wasser bedeckt verbrauch anzusehen – als ein Zeichen, dass ist. Die Idee kam ihm, als die Filmarbeiten die es wie bisher nicht mehr weitergehe und eine Meereswelt beschädigten. Daneben wurde –
Öl und Bewusstseinswandel 117 ebenfalls mit viel öffentlichem Aufsehen – das angesichts der nicht enden wollenden Reihe größte Arbeitsschiff der Welt, „A Whale“, dazu gescheiterter Abdichtungs- und Säuberungs- bestimmt, das ausgetretene Öl aufzunehmen. versuche und der zum Teil phantastischen Dabei hätte dieses Schiff eigentlich gar nicht Vorgänge vor ihren Küsten nicht beschreiben vor der US-Küste arbeiten dürfen, da geltende können. Das geflügelte Wort „hundert Jahre US-Gesetze fremden Schiffen das Operieren Einsamkeit“ wurde aber 2010 auch zum Syno- in Küstennähe untersagen. Anfang Juli 2010 nym für eine Hochrisiko-Ölförderung, die sich hieß es: „In A Whale werden große Hoffnun- ganz offensichtlich von der Bevölkerung und gen gesetzt: Das Schiff von der Größe von vier ihrer Regierung abgekoppelt hatte und völlig Fußballfeldern soll täglich bis zu 80 Millionen selbstständig ohne Rücksicht auf andere ihren Liter ölverschmutztes Wasser aufsaugen und Geschäften weit draußen im Meer „einsam“ reinigen können; fast so viel, wie alle anderen nachzugehen schien. Millionen Amerikanern Schiffe zusammen in zehn Wochen säuber- wurde erst durch das Nachdenken über den ten“.9 Auch diese Meldungen elektrisierten literarischen Sinnbezug deutlich, welche die amerikanische Öffentlichkeit aufgrund Diskrepanz sich zwischen der strukturellen ihrer symbolischen Signal-Bezüge: Geltende Unabhängigkeit und sozialen Regellosigkeit Gesetze – in welche Amerikaner im allgemei- des „neoliberalen“ Wirtschaftsgebarens und nen aufgrund ihres positiven, ja emphatischen dem gesellschaftlichen Allgemeinwohl in den Nationenbegriffs viel größeres Vertrauen setzen Bush-Jahren 2001-2009 mit ihrer radikalen als Europäer – erwiesen sich als ungeeignet, Deregulierung aufgetan hatte – und zwar nun ja hinderlich. Hollywoodstars mussten Phan- erstmals auch den Konservativen und den tasiemaschinen aus apokalyptischen Filmen oppositionellen „Republikanern“. einsetzen – so schlimm war die Lage. Im Ge- Es waren nicht zuletzt diese Bezüge mittels folge der „Moby-Dick“-Assoziation (Melville „Differenz und Wiederholung“, die die Wut und 2009), welche für das moderne amerikanische Sorge vieler Amerikaner schrittweise anstachel- Identitätsbewusstsein und seine Symbolik der ten – nun zunehmend auch jener schweigen- Tiefenambivalenz von „gut“ und „böse“ über- den Mehrheit, welche seit den 1960er Jahren aus bedeutsam ist und tief in die Alltagskultur gewohnt war, Umweltkatastrophen angesichts insbesondere der Westküste eingeprägt bleibt, der Größe der amerikanischen Landmasse als erneuerte schließlich die Metapher des fremden, wenig belangvoll oder aber als notwendige, riesigen „Wals“, der helfen müsse, das Unglück temporäre Nebenwirkungen des „guten Le- wieder gutzumachen, die religiöse Metaphorik bens“ anzusehen. Erst mit der Ölkatastrophe (Jonas und der Wal) bis zu einem Punkt, der setzte in den USA der Nach-Bush-Ära eine für viele gläubige Menschen die Grenzen der breitere und rapide Bewusstwerdung darüber Spannung erreichte. ein, was im Verhältnis zwischen Wirtschaft, Doch der kultur- und sozialanthropolo- Natur und gesellschaftlichem Allgemeinwohl gischen Bezüge war damit noch kein Ende. vorging, welche ungelösten Probleme die Bush- Wochenlang wurde in US-Boulevardzeitungen Administration hinterlassen hat, und dass es darüber diskutiert, dass – und warum – das sich dabei nicht nur um etwas Äußerliches, Leck ausgerechnet im Ölfeld „Macondo“ lag. sondern um ein zentrales Problem von grund- Denn „der Name Macondo bezieht sich auf eine sätzlichen Dimensionen für Amerika und seine Phantasiestadt, in welcher der (in den USA po- Zukunft handle. puläre, R.B.) Roman ‚Hundert Jahre Einsamkeit’ Es war daher eine Ironie der Geschichte, von Nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez dass genau zu dem Zeitpunkt, als sich dieses spielt. Ölfördernde Unternehmen vergeben Bewusstsein unter dem Eindruck der Katas- häufig Codenamen, welche den genauen Fund- trophe in der amerikanischen Öffentlichkeit ort nicht verraten und einprägsamer sind als zu entwickeln begann, zwei weitere, subtil technische Bezeichnungen oder Koordinaten“.10 unterbewusst wirksame „Wiederholungen Besser als mit „hundert Jahre Einsamkeit“ hätte mittels Differenz“ gewissermaßen noch eine man die Hilflosigkeit der meisten Amerikaner Betonung auf die Grundsatzbedeutung der
118 Roland Benedikter Vorgänge draufsetzten. Anfang August 2010 auch politischer und kultureller Art. Denn er ereignete sich eine in mancherlei Hinsicht erzwang politische Reaktionen ebenso, wie er vergleichbare Ölpest in China, welche eine bestehende Verhältnisse verbildlichte – und ganze Stadt verwüstete und zahlreiche Tote zwar nicht nur im Hinblick auf die Stopfung des forderte. Diese Katastrophe wurde in ihren Lecks und die Säuberung der US-Golfregion, Analogien in den USA, die unter Obama be- sondern auch bezüglich der Möglichkeit tiefer reits weniger in den Atlantik, als vielmehr in gehender diskursiver und begrifflicher Verän- den Pazifik hinein, nämlich auf die künftige derungen in Umweltfragen. Kooperation und Konkurrenz mit der neuen Unter diesen Effekten war einerseits eine Weltmacht China orientiert sind, viel stärker folgenreiche Begriffsveränderung zu verneh- wahrgenommen als in Europa (vgl. Benedik- men: Erdöl wurde in der US-Öffentlichkeit vom ter 2009 u. 2010a). „Mit ungeheurer Wucht „schwarzen Gold“ zum „schwarzen Gift“, und explodierten am 16. Juli 2010 zwei Ölpipelines vom „Ölsegen“ zur „Ölpest“. Der pejorative Dau- in der Hafenstadt Dalian am Gelben Meer, ergebrauch dieser neuen Begriffsassoziationen rund 800 Kilometer östlich von Peking. Das im Gefolge der Katastrophe scheint bis heute Unglück geschah bei der Entschwefelung von die prinzipielle Wahrnehmung des Erdöls von Rohöl. 15 Stunden brauchte die Feuerwehr „uneingeschränkt positiv“ über „zweifelhaft“ zum Löschen – die Stadt versank unter dichten bis zu „ersetzungsbedürftig“ zu verändern – Rauchschwaden. Nur mit Atemmasken und auch wenn unklar ist, ob der Durchschnitts schweren Schutzanzügen konnten die Feuer- amerikaner dabei nur an den Rohstoff Erdöl wehrleute auf der Unglücksstelle arbeiten. Bei oder auch an seine wirtschaftlich und kulturell der Explosion liefen etwa 1,5 Millionen Liter breitenrelevanten Derivate wie Landnahme Rohöl ins Meer, nach Schätzungen der New und Landverbrauch, Treibstoff oder Plastik York Times eine der größten Ölkatastrophen denkt, was der eigentlich entscheidende Punkt Chinas in den vergangenen Jahren“.11 Doch wäre, um Verhalten im konkreten Alltag der damit nicht genug. Anfang September, als das Lebensführung zu verändern! Und auch, wenn BP-Leck gerade abgedichtet war, ereignete sich die Frage offen ist, wie lange diese negativen eine beinahe identische Explosion bei einer Begriffsassoziationen im Gebrauch bleiben zweiten Ölplattform vor der US-Südküste werden – ob sie sich also als dauerhaft bis zum nur wenige hundert Kilometer westlich der voraussichtlichen „Ende des Öls“ in etwa 30-50 „Deepwater Horizon“. Auch wenn diesmal nur Jahren erweisen werden, oder ob sie nur eine vergleichsweise wenig Öl austrat, war die Wahr- Tages- oder Jahreserscheinung sind. nehmung dieses „Duplikatsereignisses“ seitens Der realpolitische Effekt jedenfalls waren der amerikanischen Öffentlichkeit übergroß. Verbote von Tiefsee-Ölbohrungen in den USA Die zweifache neue „Wiederkehr“ des Öls im und Europa, sog. „Ölmoratorien“. „Angesichts Osten und im Golf von Mexiko verankerte das der Ölkatastrophe forderte die EU-Kommission Trauma der Katastrophe und das Nachdenken einen Stopp für Tiefsee-Bohrungen in der über grundsätzliche Zusammenhänge zwischen Nordsee. EU-Energiekommissar Günther Öl, Technologie, Kapitalismus, erneuerbaren Oettinger rief die Mitgliedsstaaten dazu auf, Energien, Umweltschutz und Zukunft weiter für europäische Gewässer neue Bohrungen im öffentlichen Bewusstsein. unter extremen Bedingungen vorerst nicht mehr zu genehmigen. Umweltschützer for- dern ein Verbot für alle Bohrungen unterhalb Innenpolitische Wirkungen von 200 Metern Tiefe. Einen Grenzwert will Oettinger aber nicht festlegen. US-Präsident Der aus alledem mittels „Differenz und Wie- Barack Obama hat bereits einen befristeten derholung“ nicht mehr nur einfach, sondern Bohrstopp verkündet. Ein halbes Jahr lang nun „geschichtet“ erwachsende kollektive (bis Ende November 2010, R.B.) durften in Veränderungsimpuls zeitigte zusammenfassend Tiefsee-Gewässern vor den US-Küsten keine Wirkungen nicht nur ökonomischer, sondern neuen Probebohrungen gemacht werden. Mit
Öl und Bewusstseinswandel 119 diesem Vorstoß scheiterte Obama allerdings Präsidentschaftskandidatin in spe für die Wah- bereits zwei Mal vor Gericht, so dass sein In- len 2012. Palin betrieb bereits während ihrer nenministerium mehrere Neufassungen des Amtszeit als Gouverneurin Alaskas offenen Moratoriums entwerfen musste“.12 Lobbyismus für die Ölindustrie und bezeich- Allerdings besteht auch in diesen – zumin- nete die durch Alaska führende Hauptpipeline dest vorläufigen – realpolitischen Effekten eine der USA als „Werk Gottes“, das von keinem verborgene Ironie, die zwar vielen Amerikanern Menschen hätte gebaut werden können. Der sehr wohl, den meisten europäischen Lesern Bau einer weiteren Pipeline sei ebenfalls Gottes aber bislang nicht ausreichend bewusst sein direkter Wille.14 Der Kampf um den Wert des dürfte. Weniger als drei Wochen vor der Öl- Öls als Kulturgut der USA ist für Palin Teil des katastrophe, am 31. März 2010, hatte Obama großen „Weltanschauungskampfes“ zwischen trotz des bekanntermaßen erheblichen Risikos Republikanern und Demokraten um die „Seele eine Offensive für neue Ölbohrungen vor der Amerikas“, in dessen Rahmen die Republikaner US-Küste öffentlich eingeleitet, wobei die über vor- und kontextpolitische Strategien der Genehmigungspraxis auf den im Wesentlichen Beeinflussung der öffentlichen Meinung und unveränderten ultra-deregulativen Bestimmun- anerkannter Diskursformen dem Muster von gen seines Vorgängers Bush basieren sollte. Obamas Wahlkampf folgen und die politische Anders als im Bereich der globalen Klimapo- Macht mittels des Gewinns der „Weltanschau- litik, in dem er für Nachfolgeabkommen des ungshoheit“ zurückerobern wollen. In ihrer Kyoto-Protokolls eintritt, und im Gegensatz Reality TV-Naturshow „Alaska“, die zwischen zu anderen bedeutenden Zukunftsfragen gab November 2010 und Januar 2011 auf dem lan- es hinsichtlich des Umgangs mit der „US- desweiten Sender TLC ausgestrahlt wurde und Natur“, die er kaum je als eigene Aufgabe und beim Publikum parteiübergreifend erfolgreich Herausforderung betrachtete, bei Obama von war, behauptete Palin, dass das „Land der Sinneswandel kaum realpolitische Anzeichen. Pipeline“ zugleich das ultimative Naturparadies Bis zur Ölkatastrophe. sei, dass also rücksichtslose Ressourcenausbeu- Nicht zuletzt diese Katastrophe führte zum tung und Naturbelassenheit keine Gegensätze beschleunigten Aufstieg des Klimaschutzes seien.15 Wenn Palin programmatisch und mit zu einer Kernagenda Obamas. Dass jedoch zunehmender Aggressivität vom Prinzip der Mitte Juli 2010, auf dem Höhepunkt der „Restauration“ des amerikanischen Traums und Ölkatastrophe, das erste umfassende US- damit der „Seele Amerikas“ spricht, das dem Klimaschutzgesetz, das eine Reduktion der Prinzip der „Transformation“ Obamas entge- Emissionen der USA bis 2020 auf 17 Prozent gengesetzt werden müsse (Gibbs 2010), dann unter das Niveau von 2005 vorsah, wegen des spielt die Ölfrage und die Frage des sozusagen anhaltenden Widerstands der Republikaner „frei ausbeuterischen“ Umgangs mit der Natur nach mehr als einjährigen Verhandlungen im eine entscheidende Rolle. Allerdings hatte US-Senat scheiterte13 und die regierende De- Obama auch noch während der Anfänge der mokratische Partei diesbezüglich – zum Teil Ölkatastrophe den Republikanern im Tausch im unheiligen Tausch mit anderen Agenden – gegen ihre – letztlich verweigerte – Zustim- relativ kampflos aufgab, ist kein ermutigendes mung zum Klimaschutzgesetz neue Hochsee- Zeichen für die Zukunft. Es zeigt, dass der Ölbohrungen (sogenanntes Offshore drilling) politische Rechtsschwenk des Landes dem weit vor der US-Südküste sowie in Kalifornien Eindruck der Ölkatastrophe entgegenwirkt. und Alaska in Aussicht gestellt.16 Dass das Dies nicht zuletzt, indem die Katastrophe in Bohrverbot für „offshore drilling“ in den USA führenden „rechten“ Medien wie FoxNews entgegen aller Expertenmeinungen bereits von einflussreichen Meinungsmachern wie während der Katastrophe wieder gelockert17 Mike Huckabee, Newt Gingrich, Bill O’Reilly wurde und Obama die Bohrerlaubnis bereits oder Sean Hannity systematisch kleingeredet vor Ablauf des Moratoriums ab Oktober 2010 wird. Beispielhaft dafür sind nicht zuletzt die wieder offiziell erteilte18, ist ebenfalls paradox. Auftritte von Sara Palin, der republikanischen Es ist ein Zeichen dafür, wie überproportional
120 Roland Benedikter schnell auch in den „neuen“ USA unter Obama immer noch US-interne Kolonien; sie werden kulturpsychologische Vergessensprozesse grei- jedenfalls so behandelt. Die Angehörigen der fen, weil die öffentliche Rationalität anders als in erwerbstätigen Unterschicht und zum gerin- Europa nicht von Gegenwart oder Vergangen- geren Teil auch solche der Mittelklasse dieser heit, sondern vergleichsweise eindimensional Region befinden sich daher permanent in einer von der Zukunft eingenommen, wenn nicht prekären Lage, die systemisch bedingt ist und gar besessen ist. als solche von der „schweigenden Mehrheit“ Eine letzte, in die kommenden Jahre hinein der US-Bevölkerung entweder gebilligt oder weiterwirkende historische Symptomatologie ignoriert wird. Diese Gruppen waren nach- der US-innenpolitischen Konstellation der vollziehbarer Weise froh über die Katastrophe, Ölkatastrophe 2010 schließlich war, dass weil sie im „Normalsystem“ faktisch bis heute viele Angehörige der Unter- und Mittelklasse im Erwerbszyklus benachteiligt sind. in den US-Golfstaaten trotz des allgemeinen Auch diese beiden Aspekte traten durch Schocks froh sein mussten – und tatsächlich die Ölkatastrophe seit langer Zeit erstmals waren –, dass sie aufgrund der Ölkatastrophe wieder ins breitere Bewusstsein der Ameri- zusätzliche Einkommensmöglichkeiten, sprich kaner – wohl so stark, wie seit dem Ende des „Jobs“ erhielten. Paradoxerweise herrschte Bürgerkriegs von 1868 nicht mehr. Auch hier bei nicht geringen Bevölkerungsteilen in den lautet die Frage allerdings, als wie dauerhaft unmittelbar an die Katastrophe angrenzenden sich diese Einsicht erweisen wird und ob das Regionen des tief religiösen „Bible Belt“, den Bewusstsein von US-internen Reichtums- mit Abstand ärmsten Staaten der USA, nicht und Verteilungs-Asymmetrien ein Anlass nur Verzweiflung, sondern auch Freude über zu nachhaltiger Neuorientierung sein kann. den Ölaustritt. Denn viele Arbeitslose, von Obamas Administration ist im Gefolge der denen nicht wenige ihre Arbeit in Folge des Katastrophe jedenfalls in diesen Punkten Hurricans „Katrina“ vom August 2005 verloren von einer zunehmend breiten Öffentlichkeit und seitdem keine neuen Erwerbsmöglich- herausgefordert. keiten gefunden hatten, konnten nun mittels Ausgleichs- und Säuberungs-Geldern von BP und verschiedenen US-Staatsfonds im Rahmen Die Ölkatastrophe: von Säuberungsaktionen beschäftigt werden. Drei Tschernobyls in einem? Zwar stieg die regionale Arbeitslosigkeit im ersten Halbjahr 2010 dennoch leicht an (um Insgesamt häufte sich im Umfeld der Katas- 0,2 Prozent).19 Doch muss man dazu zweierlei trophe eine ungewöhnliche Vielzahl symbo- wissen: lischer Ironien, die beispielhaft sind für jene Erstens, steht dieser Anstieg in keinem Ver- „Epoche der Übergänge und der Enden“, in gleich zu dem hohen Zuwachs der nationalen welcher die Mehrheit der Amerikaner heute Arbeitslosenquote in Folge der Finanzkrise die historische Situation ihrer Nation ansie- 2007-2010, der mit 4-5 Prozent beziffert wird delt (vgl. Klein 2010). Diese Häufung erfolgte (vgl. dazu ausführlich Benedikter 2010b). erstmals seit Jahrzehnten nicht mehr nur im Zweitens, ist die Arbeitslosigkeit im Süden Bewusstsein der Eliten, die bekanntlich in der nicht zuletzt deshalb die höchste in den USA, anglo-amerikanischen Welt traditionell weit weil die Südküste (mit Ausnahme von Texas) wichtiger und einflussreicher sind als in Europa im Unterschied zu anderen Teilen der USA (vgl. Quigley 1975, 1981), sondern nun offen (z.B. Alaska) von „ihrem“ schwarzen Gold vor den Augen der breiten Öffentlichkeit. Viele praktisch nichts hat, da fast alle entsprechenden US-Amerikaner wurden durch die Katastrophe staatlichen Erträge an die Nationalregierung in zum ersten Mal auf zentrale Systemprobleme Washington DC fließen. Daher fühlt sich der der USA aufmerksam. Diese verdichteten sich Süden zu Recht binnennational ausgebeutet. im Bild der Ölkatastrophe und ihrer zahllo- Faktisch sind die meisten ehemaligen „schwar- sen, medial auf tausenden US-Fernseh- und zen Südstaaten“, darunter vor allem Louisiana, Radiokanälen über Monate allgegenwärtigen
Öl und Bewusstseinswandel 121 Begleiterscheinungen zur individuellen und durch die Ölkatastrophe auf die grundsätzliche kollektiven Imagination.20 Problematik des wachsenden militärischen Die Ergebnisse dieses Prozesses waren Umwelt-Utilitarismus aufmerksam. Diese vielschichtig. Nennen wir hier der Kürze halber zeigt sich u.a. in der intensiven Arbeit des nur die drei wichtigsten: US-Militärs an einer „Neurokriegsführung“ Mittelbar vielleicht am wichtigsten ist, er- (neurowarfare) mittels technischer und che- stens, die wachsende Einsicht einer Mehrzahl mischer Eingriffe in die natürliche Physis des der Amerikaner, dass „leichtes Öl“, das an der Menschen sowie in die Biosphäre (insbeson- Erdoberfläche oder in geringer Meerestiefe dere den Wasserkreislauf ), die für die zweite gefördert werden kann, zu Ende geht, und Hälfte des 21. Jahrhunderts avisiert ist (Lynch dass die Risiken des „schwierigen Öls“, das wie 2009), wie auch am sog. „climate engineering“ im Fall der „Deepwater Horizon“ aus 4.000 m (auch „geoengineering“ genannt), bei dem Meerestiefe und 1.500 m Bodentiefe gefördert Aluminium- und andere Nanopartikel in der werden muss, zu hoch werden, um dauerhaft Atmosphäre versprüht und damit künstliche eine stabile Zukunft zu sichern (Böhm 2010). Wolkengebilde geschaffen werden, u.a. um Hier beginnt sich im Gefolge der Katastrophe eigene militärische Anlagen vor Satellitenein- in den USA die Einsicht durchzusetzen: Öl blicken zu schützen (vgl. Feichter/Leisner 2009). steht für eine Epoche, deren Zeit abgelaufen Ursprünglich als Gegenmaßnahme gegen die ist. An seine Stelle muss etwas anderes treten. globale Klimaerwärmung konzipiert,21 driftet Die Ölkatastrophe war in dieser Hinsicht das „climate engineering“ heute zu großen Tei- tatsächlich bis zu einem gewissen Grad das len in militärische Anwendungen ab. Doch wie symbolische „Tschernobyl“ jenes Öl-Zeitalters kontrollierbar sind militärische Techniken wie der vergangenen zwei Jahrhunderte, als das Neurokriegsführung, Klimamanipulation oder sie verschiedentlich apostrophiert wurde (vgl. die künftig angestrebte künstliche Erzeugung Amann/von Petersdorff 2010). von Erdbeben, wenn die „größte Nation der Ergebnis war zweitens die Frage vieler Erde“ trotz aller Anstrengungen und Milliar- Amerikaner: Wie ist es möglich, dass einerseits denaufwand ein örtlich begrenztes Ölleck vor seitens der neuen US-Führung ein Umdenken ihrer Küste nicht unter Kontrolle bringen kann? in Sachen Umwelt erfolgt, andererseits aber die Die Verdeutlichung der Nicht-Nachhaltigkeit Nation, ihr „amerikanischer Traum“ und ihre der eigenen Lebensstile und die gleichzeitige globalen Strategien der Vorherrschaft weiterhin Vorbereitung von Umwelt-Kriegsführung be- auf einem völlig unrealistischen, nicht nach- zeichnen in den Augen vieler Amerikaner eine haltigen Lebensstil des billigen Benzins, der weitere Paradoxie. Diese könnte ein „Tscher- billigen Energie und des billigen Öls aufgebaut nobyl Amerikas“ (Nadal 2010) begründen, bleiben – ja dass der amerikanische way of life d.h. einen Abstieg des Landes, wenn diese sich heute sogar noch auf den „Gebrauch“ von Paradoxien nicht behandelt und gelöst werden. Ebenen der natürlichen Welt ausdehnt, die Für viele Amerikaner war die Ölkatastrophe bisher verschont geblieben waren? Wie ist es – Inbegriff und Sinnbild der Möglichkeit eines um nur ein Beispiel zu nennen – möglich, dass solchen „Tschernobyls Amerikas“. die natürliche Umwelt zunehmend als Waffe Drittens stabilisierten sich die Zustim- konzipiert und gebraucht wird? Die Umwelt mungswerte für Obama im Verlauf der Kata- und mit ihr die natürliche Welt insgesamt strophe auf einem neuen Allzeit-Tief seiner wird heute seitens der Führung der USA viel Amtszeit, nämlich auf zeitweise unter 40 weitergehend als jemals zuvor zum Bestandteil Prozent – und das vor den für ihn und die von Macht- und Kriegsstrategien – wenn auch Zukunft seiner Reform- und Erneuerungspo- angeblich nur „zur Verteidigung“ vor ähnli- litik so wichtigen US-„Zwischenwahlen“ im chen Strategien potentieller Gegner, womit November 2010. Dass Obama diese Wahlen im Regelfall, wenn auch meist wohlweislich deutlich verlor, war keine Überraschung, und noch unausgesprochen, China gemeint ist. zwar auch wegen der Ölkatastrophe (zu anderen Eine größere Anzahl von Amerikanern wurde Gründen vgl. Benedikter 2010a). Die Mehrzahl
122 Roland Benedikter der US-Bevölkerung hatte, nicht zuletzt wegen Nachhaltigkeit kommen müssen, wenn sie ihre des langen Andauerns der Katastrophe und führende Rolle in der Welt in den kommenden dem paradoxen Scheitern von Obamas mo- Jahrzehnten behalten wollen. dernisierungs- wie oppositionsfreundlichem (3) Sie war zu einem gewissen Grad auch das Klimaschutzgesetz, den Eindruck, dass der innenpolitische „Tschernobyl Barack Obamas“, US-Präsident und sein Beraterstab umwelt- und zumindest im Hinblick auf die Zwischenwah- ressourcenpolitisch auf der Stelle traten und len im November 2010, die Obama zur lame sich gegen die Lobby-Mentalität des „alten“, duck, also zu einer „lahmen Ente“ degradiert traditionell „umweltverschwenderischen“ Sy- haben, einem Präsidenten, der sich auf keine stems in Senat und Kongress nicht durchsetzen Mehrheit im Kongress stützen und daher nur konnten. Dieses System ist in der Tat nur allzu schwer Gesetze ohne größere Kompromisse eng mit der Wall Street, der internationalen, durchbringen kann. Ob das Tief im Wähler- meist noch immer umweltneutralen bis um- zuspruch für Obama, das damit auch politisch weltschädigenden Finanzspekulation sowie den konkret manifest geworden ist, anhalten wird, Interessen global agierender Großkonzerne des wird von einer Vielzahl von Faktoren abhän- Ressourcengeschäfts (darunter BP) verbunden. gen, die sich gegenwärtig nicht vollständig Zugleich blockiert die radikal-konservative vorhersehen lassen. Opposition, die mit diesen Interessen eng verflochten ist, Obama seit seinem Amtsantritt immer wieder erfolgreich im US-Kongress. Schlussfolgerungen und Ausblick Zudem instrumentalisierte sie die Probleme bei der Bekämpfung der Ölpest geschickt für ihre Der offen bleibenden Fragen, die aus dieser Propaganda. Auf andere vor- und kontextpoli- mit der Ölkatastrophe zumindest temporär tische Strategieerfolge der Rechtskonservativen mehrschichtig geöffneten Situation entste- im Kampf um die „Weltanschauungshoheit“, hen, sind viele. Selbst wenn sich im Gefolge ihre wachsende Medienmacht und ihre „vor- der „drei Tschernobyls“ neue Formen der politische Bürgerbewegung“ wie die Tea Par- Energiegewinnung und -versorgung in den ty- und die Reverse the Myth-Bewegung sei USA durchsetzen, bleibt offen, ob sie nicht hier nur verwiesen (vgl. ebd.). Insofern war in derselben Geisteshaltung wie bisher den die Ölkatastrophe zumindest temporär auch Platz des Öls einnehmen werden. Auch ob es eine Art innenpolitisches „Tschernobyl Barack in den USA der „lahmen Ente“ Obama bis zu Obamas“ (vgl. Bleskin 2010),22 zeitweise auch den nächsten Präsidentschaftswahlen 2012 als der „‚Hurrikan Katrina‘ Barack Obamas“ zu einem echten Umdenken über den „Geist (Marschall 2010; Rüb 2010; Hall et al. 2010) des Öls“, welcher der Geist des 19. und 20. bezeichnet. Jahrhunderts war, hinaus kommen wird, ist Zusammenfassend zeigt eine kritische fraglich. Darüber kann bis auf Weiteres be- Beobachtung, dass die Ölkatastrophe aus rechtigte Skepsis bestehen. binnenamerikanischer Sicht einer dreifachen Insgesamt überwiegen jedoch, so paradox Einsicht zum zumindest unbewusst empfun- dies auf den ersten Blick auch erscheinen mag, denen Durchbruch verholfen hat, wenn auch zumindest aus kultureller Sicht und in mittelfris- zunächst möglicherweise nur vorläufig und tiger Perspektive die positiven Auswirkungen temporär: der Ölkatastrophe. Das gilt insbesondere im (1) Die Öl-Katastrophe war das „Tschernobyl Hinblick auf einen Mentalitätsumschwung des Öl-Zeitalters“. Dass dessen Ende bereits der Mehrheit der US-Bevölkerung. Dieser begonnen hat, wurde durch sie in das breitere Umschwung wurde nicht allein und auch nicht amerikanische Bewusstsein gehoben. maßgeblich durch die Ölkatastrophe 2010 (2) Sie markierte ein „Tschernobyl der ausgelöst; er war bereits vorher – seit Ende der bisherigen USA“, da sich in ihrem Gefolge die 1990er Jahre – mittels der Themen Klimawan- Einsicht durchzusetzen begonnen hat, dass auch del und Schädigung der natürlichen Umwelt die USA mit ihren riesigen Naturressourcen zur schrittweise, wenn auch nicht nachhaltig, in das
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