Diskurs Die Steuerung der Arbeitsmigration in Deutschland - Reformbedarf und Handlungsmöglichkeiten - Bibliothek der ...

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September 2008

Expertisen und Dokumentationen
zur Wirtschafts- und Sozialpolitik   Diskurs
                                     Die Steuerung
                                     der Arbeitsmigration
                                     in Deutschland
                                     Reformbedarf und
                                     Handlungsmöglichkeiten

                                                   Gesprächskreis
                                               Migration und Integration

                                                 2020                                1
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Gutachten im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Die Steuerung
der Arbeitsmigration
in Deutschland
Reformbedarf und
Handlungsmöglichkeiten

Steffen Angenendt
WISO
 Diskurs                                                                                    Friedrich-Ebert-Stiftung

           Inhalt

           Vorbemerkung                                                                                                3
           Zusammenfassung                                                                                             4
           Einleitung                                                                                                  6
             1. Bilanz der deutschen Migrationspolitik                                                                  9
                1.1 Verbreitete Fehlwahrnehmungen                                                                       9
                1.2 Entwicklung der deutschen Migrationspolitik                                                        11
                1.3 Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes und Green Card                                             12
                1.4 Die Novellierung des Gesetzes 2007                                                                 15
             2. Das Wanderungsgeschehen in Deutschland                                                                 16
                2.1 Aktuelle Wanderungstrends                                                                          16
                2.2 Zuwanderungspotenziale in EU-Nachbarregionen                                                       19
             3. Politische Herausforderungen in Bezug auf arbeitsmarktbezogene Zuwanderung                             23
                3.1 Globalisierung und Konkurrenzfähigkeit                                                             23
                3.2 Demographische Entwicklung                                                                         23
                3.3 Entwicklung der Arbeitsmärkte                                                                      26
                3.4 Integration                                                                                        29
             4. Die gegenwärtige Regelung der arbeitsmarktbezogenen Zuwanderung                                        31
                4.1 Zuwanderungsmöglichkeiten vor dem Zuwanderungsgesetz                                               31
                4.2 Neue Zuwanderungswege nach der Gesetzesreform                                                      34
                4.3 Freizügigkeit und Übergangsregelungen für EU-Bürger                                                35
                4.4 Auswirkungen des Zuwanderungsgesetzes                                                              36
                4.5 Bewertung des Zuwanderungsgesetzes                                                                 38
                4.6 Regelungsspielräume                                                                                40
             5. Notwendige Ergänzungen des Systems zur Steuerung der Arbeitsmigration                                  42
                5.1 Internationale Trends bei der Steuerung der Arbeitsmigration                                       42
                5.2 Die Notwendigkeit eines umfassenden Ansatzes                                                       43
                5.3 Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften: Engpasssystem                                       44
                5.4 Regelungen für hoch Qualifizierte: Punktesystem                                                    47
             6. Der europäische Rahmen                                                                                 53
                6.1 Gesamtansatz zur Migrationsfrage                                                                   53
                6.2 Zirkuläre Migration und Mobilitätspartnerschaften                                                  54
                6.3 Bluecard                                                                                           56
             7. Fazit und Handlungsempfehlungen                                                                        58
           Literaturverzeichnis                                                                                        62
           Abbildungsverzeichnis                                                                                       67
           Information zum Autor                                                                                       68

           Das Gutachten wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-
           Ebert-Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind vom
           Autor in eigener Verantwortung vorgenommen worden.

           Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der
           Friedrich-Ebert-Stiftung    Godesberger Allee 149 53175 Bonn Fax 0228 883 398 www.fes.de/wiso
           Gestaltung: pellens.de     Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei   ISBN: 978-3-89892-914-1
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                             WISO
                                                                                                              Diskurs

Vorbemerkung

Die Steuerung und Gestaltung der Zuwanderung           fizierten Arbeitskräften müssen jedoch beide Stra-
ist eine der wichtigsten gesellschaftlichen Heraus-    tegien verfolgt werden. Selbst wenn es uns
forderungen Deutschlands. Zwar wurde auch in           gelingen sollte, die ehrgeizigen Ziele der kürzlich
der Vergangenheit Zuwanderung gesteuert, meist         gestarteten „Qualifizierungsinitiative“ der Bundes-
jedoch mit der Vorgabe, die Zahl der Einwanderer       regierung zu erreichen, sind wir auch in Zukunft
zu begrenzen. Was fehlt, ist eine mittel- und lang-    auf qualifizierte Einwanderer angewiesen. Wir be-
fristig angelegte strategische Konzeption, die Mi-     nötigen deshalb flexible Instrumente für die Steue-
grationspolitik in Wirtschafts- und Gesellschafts-     rung der Zuwanderung.
politik einbettet.                                          Mit diesem Gutachten von Steffen Angenendt
      Auch das Zuwanderungsgesetz von 2005 und         wollen wir die gesellschaftliche Diskussion um
seine Novellierung im Jahr 2007 haben hinsicht-        die Weiterentwicklung der Einwanderungspolitik
lich der Steuerung der Zuwanderung aus wirt-           in Deutschland, die immer stärker die europä-
schaftlichen Gründen keinen entscheidenden Fort-       ische Politik berücksichtigen muss, voranbringen.
schritt bewirkt. Ein ursprünglich vorgesehenes         Der Gesprächskreis Migration und Integration
Auswahlverfahren nach einem „Punktesystem“,            der Friedrich-Ebert-Stiftung legt in dieser Diskus-
das auch die „Süßmuth-Kommission“ und der              sion Wert darauf, dass eine umfassende Migra-
Sachverständigenrat für Zuwanderung in ihren           tionspolitik Konzepte der Steuerung der Zuwan-
Gutachten vorgeschlagen hatten, wurde letztend-        derung und der Förderung von Integrationspro-
lich nicht in das Gesetz aufgenommen.                  zessen verbinden muss. Deutschland muss seine
      Häufig werden Politikansätze, die die Quali-     Attraktivität für Einwanderer erhöhen und ein
fizierung und Bildung des vorhandenen Arbeits-         gesellschaftliches Klima der gegenseitigen Aner-
kräftepotenzials zum Ziel haben, und jene, die für     kennung, Akzeptanz und Toleranz schaffen.
eine systematische Einwanderungspolitik für
qualifizierte Fachkräfte werben, als sich ausschlie-
ßende Optionen betrachtet. Angesichts der de-                                Günther Schultze
mographischen Entwicklung, der vorhersehbaren                                Leiter des Gesprächskreises
Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials und der                              Migration und Integration
prognostizierte Bedarf der Wirtschaft an quali-                              der Friedrich-Ebert-Stiftung

                                                                                                             3
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 Diskurs                                                                                     Friedrich-Ebert-Stiftung

           Zusammenfassung

           In Deutschland hat eine neue Debatte über Ar-             Die Studie kommt aufgrund einer Analyse
           beitsmigration begonnen. Vor dem Hintergrund         der bisherigen Migrationspolitik, der Wanderungs-
           der demographischen Alterung und Schrump-            trends, der demographischen und wirtschaftlichen
           fung der Bevölkerung findet der mittel- und lang-    Entwicklung Deutschlands und der bestehenden
           fristige Zuwanderungsbedarf des Landes zuneh-        Zuwanderungsregelungen zu dem Schluss, dass
           mende politische Aufmerksamkeit. In den Unter-       auch nach dem Zuwanderungsgesetz und dessen
           nehmen, den Gewerkschaften, der Wissenschaft         Novellierung die Suche nach geeigneten Steue-
           und der Politik mehren sich Stimmen, die vor         rungsinstrumenten für die Zuwanderung von
           wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schäden      qualifizierten Menschen fortgesetzt werden muss.
           warnen, wenn das Land nicht zumindest einen          Ohne solche Instrumente wird keine am Wohl
           Teil dieser Lücken durch gesteuerte Zuwanderung      der Landes, der hier lebenden Bevölkerung und
           schließe.                                            der Zuwanderer ausgerichtete strategische und
                 In diesem Zusammenhang wird auch das           umfassende Migrationspolitik entwickelt werden
           2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz kri-      können. Die Studie empfiehlt, zwei Verfahren
           tisch bewertet. Tatsächlich hat die Reform eine      aufzugreifen, über die im Zuge der Verhandlun-
           größere Rechtssicherheit für die Zugewanderten,      gen über das Zuwanderungsgesetz diskutiert wur-
           eine Vereinfachung der Verwaltungsabläufe und        de, und diese miteinander zu kombinieren.
           einen Fortschritt bei der Integrationsförderung           Zum einen sollte zur Deckung des Bedarfs an
           gebracht. Es wurden aber – abgesehen von be-         dauerhaften und gut qualifizierten Zuwanderern
           grenzten Regelungen für hoch Qualifizierte und       ein humankapitalbezogenes Verfahren in Form
           Selbstständige – keine neuen Instrumente für die     eines Punktesystems eingeführt werden, wie es
           Steuerung der Arbeitsmigration eingeführt.           im Zuge der Zuwanderungsreform unter anderem
                 In den Verhandlungen über das Zuwande-         von der Unabhängigen Kommission „Zuwande-
           rungsgesetz war zwar über entsprechende Vor-         rung“ („Süssmuth-Kommission“) vorgeschlagen
           schläge diskutiert worden, diese hatten aber an-     wurde. Zum anderen sollte zur Deckung eines
           gesichts der wirtschaftlichen Rezession und der      strukturellen und wachsenden Fachkräftebedarfs
           hohen Arbeitslosigkeit keine politische Mehrheit     in einzelnen Wirtschaftsbereichen ein arbeits-
           gefunden. Im Zuwanderungsgesetz fehlen daher         marktbezogenes Engpass-Verfahren eingerichtet
           entsprechende Regelungen. Diese Lücke wurde          werden, über das eine Zuwanderung möglich wird,
           auch bei der Novellierung des Gesetzes im Jahr       wenn der betreffende Bedarf nicht aus dem inlän-
           2007 nicht geschlossen.                              dischen Arbeitskräftepotenzial gedeckt werden
                 Die vorliegende Studie befasst sich mit Mög-   kann. Ein solches Verfahren wurde u.a. im Jahr
           lichkeiten der künftigen Gestaltung der arbeits-     2004 vom Sachverständigenrat Zuwanderung
           marktbezogenen Migrationspolitik in Deutsch-         und Integration („Zuwanderungsrat“) in die Dis-
           land, insbesondere mit der Frage, mit welchen        kussion gebracht.
           Verfahren der wirtschaftliche und gesellschaftli-         Diese beiden Instrumente sollten miteinan-
           che Bedarf an qualifizierten Zuwanderern festge-     der kombiniert und durch transparente Rege-
           stellt und mit welchen Instrumenten eine entspre-    lungen für die befristete Zuwanderung von gering
           chende Zuwanderung gesteuert werden kann.            qualifizierten Arbeitskräften ergänzt werden, und

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Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                         WISO
                                                                                                          Diskurs

sie sollten in Form von Pilotprojekten mit be-      te bedacht werden, insbesondere sollten Vorkeh-
grenzten Kontingenten getestet werden. Diese        rungen zur Verhinderung des Braindrain getrof-
Kontingente sollten so klein sein, dass sie keine   fen werden. Die Verfahren sollten strategisch
nachteiligen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt      ausgerichtet sein und mögliche künftige Haupt-
haben, aber so groß sein, dass daraus begründete    herkunftsgebiete der Zuwanderung nach Europa
Folgerungen für die künftige Gestaltung der ar-     ins Auge fassen. Schließlich sollten Integrations-
beitsmarktbezogenen Zuwanderungspolitik gezo-       konzepte für eine „Integration auf Zeit“, also für
gen werden können.                                  temporäre Zuwanderer, entwickelt werden, um
     Bei der Gestaltung der Verfahren sollten eu-   Fehler der früheren Gastarbeiterpolitik zu ver-
ropapolitische und entwicklungspolitische Aspek-    meiden.

                                                                                                         5
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           Einleitung

           Im Januar 2005 ist das neue deutsche Zuwande-                           schaft verzeichnet wieder ein Wachstum, und die
           rungsgesetz1 in Kraft getreten. Um dieses Gesetz                        Arbeitslosigkeit hat deutlich abgenommen. Nun
           hatten Regierung und Opposition – vor dem Hin-                          werden die strukturellen Schwächen der Reform,
           tergrund der wirtschaftlichen Rezession und ho-                         bedingt durch die damalige kurzfristige Orientie-
           hen Arbeitslosigkeit – erbittert gestritten, und der                    rung an der schlechten konjunkturellen Lage,
           Kompromiss konnte erst nach harten Auseinan-                            sichtbar. Die entscheidende Frage lautet, ob die
           dersetzungen, die an den Rand einer verfassungs-                        Reduzierung der Zuwanderung angesichts der de-
           rechtlichen Krise führten, gefunden werden.2 Die                        mographischen Entwicklung Deutschlands, die
           Befürworter der Reform waren über die Einigung                          aller Wahrscheinlichkeit nach bereits mittelfristig
           überaus erleichtert und überzeugt, sie hätten                           zu einem Arbeitskräftemangel in wichtigen Wirt-
           dieses Politikfeld nun so gründlich geregelt, dass                      schaftsbereichen führen wird, weiterhin das über-
           das Thema Zuwanderung mit seinen unkalkulier-                           geordnete Ziel der deutschen Migrationspolitik
           baren innenpolitischen Folgen für längere Zeit                          sein kann? Ist nicht vielmehr eine strategisch aus-
           von der politischen Agenda verschwinden würde.                          gerichtete umfassende Zuwanderungspolitik not-
           Das Gesetz wurde als langfristige und tragfähige                        wendig, welche die Instrumente zur Verfügung
           Grundlage für die künftige deutsche Zuwande-                            stellt, die für die Zuwanderungssteuerung benö-
           rungspolitik betrachtet und sogar als „modernstes                       tigt werden und mit denen die künftige Zuwande-
           Zuwanderungsgesetz Europas“ (Otto Schily)3 be-                          rung so gestaltet werden kann, dass sie von Um-
           zeichnet.                                                               fang und Struktur her den wirtschaftlichen und
                Betrachtet man nun die aktuelle Entwick-                           gesellschaftlichen Bedürfnissen des Landes ent-
           lung der Zuwanderung nach Deutschland, stellt                           spricht?
           man fest, dass diese deutlich abgenommen hat.                                 Über diese Frage ist inzwischen eine Debatte
           So betrug die Nettozuwanderung nach Deutsch-                            innerhalb und zwischen den politischen Parteien
           land (Zuzüge minus Fortzüge) im Jahr 2004 noch                          sowie in der Fachöffentlichkeit entbrannt. Es
           82.000, im Jahr 2006 aber nur noch 22.000 Per-                          mehren sich Stimmen, die die Zuwanderungs-
           sonen. In dieser Hinsicht hat das Zuwanderungs-                         reform als unvollständig bezeichnen. Dabei be-
           gesetz die im Titel („Gesetz zur Steuerung und                          steht weitgehender Konsens, dass die Reform
           Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung                             einen wichtigen Schritt insbesondere in Hinblick
           des Aufenthalts und der Integration von Unions-                         auf die Rechtssicherheit und die Integration der
           bürgern und Ausländern“) formulierte Erwartung                          in Deutschland lebenden Zuwanderer darstellt.
           offensichtlich erfüllt.                                                 Gleichwohl wird kritisiert, dass die mit dem Ge-
                Inzwischen aber haben sich die wirtschaftli-                       setz eingeführten Zuwanderungsmöglichkeiten
           chen Rahmenbedingungen verändert. Die Wirt-                             für Arbeitsmigranten nicht ausreichend seien,

           1   Im Folgenden wird vom „Zuwanderungsgesetz“ gesprochen, wenn das Reformgesetz als Ganzes gemeint ist. Bei einem konkreten Bezug
               auf die durch das Zuwanderungsgesetz neu eingeführten (Aufenthaltsgesetz, Freizügigkeitsgesetz EU) oder veränderten Rechtsquellen
               (u.a. Asylverfahrensgesetz, Staatsangehörigkeitsgesetz, Bundesvertriebenengesetz, Asylbewerberleistungsgesetz) werden die jeweiligen
               Gesetze benannt.
           2   Vgl. Angenendt, Steffen/Kruse, Imke 2004: Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland 2002/03 – der Kampf um das Zuwande-
               rungsgesetz, in: Klaus J. Bade u.a. (Hg.), Migrationsreport 2004: Fakten – Analysen – Perspektiven, Frankfurt a. M., 175–202; Angenendt,
               Steffen/Kruse, Imke/Orren, Henry Edward 2003: The Failure of Immigration Reform in Germany, German Politics, Nr. 3, 129–145.
           3   So Bundesinnenminister Schily am 4.7.2001 bei der Übergabe des Berichts der Unabhängigen Kommission Zuwanderung in Berlin.

      6
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                                                  WISO
                                                                                                                                                   Diskurs

um den mittel- und langfristigen Bedarf an Ar-                            land. Im Mittelpunkt der Studie steht die Frage,
beitskräften zu decken. In diesem Zusammenhang                            wie diese Zuwanderung künftig gestaltet werden
wird für eine Fortsetzung der Reformen und für                            soll. Mit welchen Verfahren kann der wirtschaft-
eine Ausweitung der Zuwanderungsmöglichkei-                               liche und gesellschaftliche Bedarf an qualifizier-
ten plädiert.                                                             ten Zuwanderern festgestellt werden und mit
     Unterstützung erhalten die Reformbefürwor-                           welchen Instrumenten kann diese Zuwanderung
ter von Seiten der Europäischen Kommission, die                           gesteuert werden?
seit längerem darauf hinweist, dass alle EU-Staa-                               Um diese Fragen zu beantworten, wird zu-
ten zunehmend Schwierigkeiten haben, die Zu-                              nächst eine kurze Bilanz der bisherigen Politik
wanderer zu bekommen, die sie haben möchten.                              gezogen. Dabei wird auf einige migrationspoli-
Die Kommission drängt daher auf gemeinsame                                tische Tatsachen hingewiesen, die in der Debatte
Steuerungsinstrumente, die den Wirtschaftsraum                            häufig nicht hinreichend gewürdigt werden, die
EU unter anderem für hoch qualifizierte Zuwan-                            aber für die Gestaltung der künftigen Migrations-
derer attraktiver machen könnten.4 Tatsächlich                            politik von Bedeutung sind (Kapitel 1). Anschlie-
haben einige Mitgliedstaaten bereits begonnen,                            ßend werden die aktuellen Migrationstrends und
die Zuwanderungsmöglichkeiten deutlich aus-                               Zuwanderungspotenziale in wichtigen Herkunfts-
zuweiten, darunter Irland, das Vereinigte König-                          gebieten umrissen (Kapitel 2) und grundlegende
reich und Schweden.                                                       migrationspolitische Herausforderungen benannt
     Sowohl in der deutschen als auch in der eu-                          (Kapitel 3). Im vierten Kapitel werden die beste-
ropäischen Debatte wird außerdem argumentiert,                            henden arbeitsmarktbezogenen Zuwanderungs-
dass auch die Reduzierung der irregulären Zuwan-                          regelungen und die politischen Handlungsspiel-
derung – ein zentrales Anliegen vieler EU-Mit-                            räume analysiert. Das fünfte Kapitel diskutiert die
gliedstaaten – nur dann gelingen könne, wenn                              für eine umfassende Migrationssteuerung not-
die legalen Möglichkeiten der Zuwanderung zu                              wendigen Elemente und formuliert Vorschläge,
Arbeitszwecken ausgeweitet würden. Einen wich-                            wie die Steuerungsverfahren für qualifizierte Ar-
tigen Vorstoß in diese Richtung haben im Okto-                            beitskräfte aussehen könnten. Das sechste Kapitel
ber 2006 Innenminister Wolfgang Schäuble und                              fragt nach der Notwendigkeit einer europäischen
sein damaliger Amtskollege Nicolas Sarkozy mit                            Abstimmung der nationalen Politik und nimmt
ihrem Vorschlag zur Förderung der „zirkulären                             hierzu eine kurze Bewertung der europäischen
Migration“ unternommen. Dieser Ansatz wurde                               Migrationspolitik und insbesondere des von den
inzwischen mehrfach von den Staats- und Regie-                            Staats- und Regierungschefs im Dezember 2005
rungschefs der EU bekräftigt. Eine Ausweitung                             beschlossenen Gesamtansatzes Migration vor. Im
der arbeitsmarktbezogenen Zuwanderungsmög-                                Fazit werden Handlungsempfehlungen für die
lichkeiten wird darüber hinaus von einigen Be-                            deutsche und europäische Politik formuliert.
fürwortern als Möglichkeit betrachtet, die miss-                                Zu all diesen Gestaltungsfragen ist grund-
bräuchliche Inanspruchnahme des Asylrechts für                            sätzlich anzumerken, dass Politik und Öffentlich-
Einwanderungszwecke zu verringern.5                                       keit beim Thema Einwanderung und Integration
     Die vorliegende Studie liefert einen Beitrag                         zu Aufgeregtheit und kurzfristigem Aktionismus
zu der Debatte um die künftige Gestaltung der ar-                         tendieren. Das ist allerdings nicht nur in Deutsch-
beitsmarktbezogenen Migrationspolitik in Deutsch-                         land so: Auch in den meisten anderen europä-

4   „Europe is an immigration continent — there is no doubt about it. We are attractive to many. But we are not good enough at attracting
    highly skilled people. Nor are we young or numerous enough to keep the wheels of our societies and economies turning on our own. It
    is no secret that our demographics work against the Union; we will have a shortage of labour and skills in the future – this is already the
    case in some sectors. Our economies and the internal market are dependent on a skilled and mobile workforce. If we want to boost
    growth and jobs and address demographic change, we must act now. And it only makes sense to act together at European level.“ Rede
    von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso in Straßburg, 23.10.2007.
5   Vgl. Angenendt, Steffen/Parkes, Roderick 2007: Das Grünbuch zum EU-Asylsystem: Notwendig, aber nicht hinreichend, SWP-Aktuell
    Oktober 2007/A 50, Berlin, und Angenendt, Steffen 2007: Irreguläre Migration als internationales Problem. Probleme, Risiken, Optio-
    nen, SWP-Studie, Berlin.

                                                                                                                                                  7
WISO
 Diskurs                                                                                                                 Friedrich-Ebert-Stiftung

           ischen Staaten beziehen sich die migrationspoli-                      wanderung qualifizierter und hoch qualifizierter
           tischen Debatten und Regelungsversuche vor-                           Menschen. Im Zuge der Zuwanderungsreform wur-
           nehmlich auf kurzfristige Probleme, und die Poli-                     den weder das von der Unabhängigen Kommission
           tik ist auch dort eher reaktiv als gestaltend. Da die                 „Zuwanderung“ („Süssmuth-Kommission“) vorge-
           meisten Wirkungen von Wanderungsbewegun-                              schlagene Punktesystem6, das sich am Human-
           gen jedoch langfristiger Art sind, wie beispiels-                     kapital und damit an den Integrationschancen
           weise die Folgen für die Bevölkerungsentwicklung                      potenzieller Zuwanderer orientiert, noch das vom
           und die Wirtschafts- und Produktionsstruktur des                      Sachverständigenrat Zuwanderung und Integra-
           betreffenden Landes, reichen kurzfristige und                         tion („Zuwanderungsrat“) entwickelte Engpass-
           taktische Maßnahmen nicht aus. Gleiches gilt für                      Verfahren7, mit dem der Arbeitskräftebedarf in
           die Integration von Zuwanderern in die Aufnah-                        bestimmten Wirtschaftsbereichen gestillt werden
           megesellschaft: Auch dies ist ein Prozess, der sich                   soll, verwirklicht. Damit fehlen wichtige Instru-
           in der Regel über mehrere Generationen erstreckt                      mente für eine gezielte arbeitsmarktbezogene
           – und bei dem man nur in Ausnahmefällen kurz-                         und demographisch orientierte Zuwanderung.
           fristige Resultate erwarten kann, wie die Erfah-                      Tatsächlich sind die durch die Reform geschaf-
           rungen der „klassischen“ Einwanderungsländer                          fenen zusätzlichen Zuwanderungsmöglichkeiten
           USA, Kanada und Australien zeigen.                                    nicht ausreichend, um den Bedarf an qualifizier-
                 Die Geschichte der deutschen Migrations-                        ten Zuwanderern in Deutschland zu decken.
           politik ist voller Beispiele, wie bei einer Fixierung                       Auch die Integrationspolitik weist – trotz al-
           auf aktuell drängende Probleme die Festlegung                         ler unbestreitbaren Errungenschaften – Defizite
           längerfristiger Ziele in den Hintergrund treten                       auf. Sie ist nach wie vor noch sehr stark auf die
           kann und stattdessen eine auf kurzfristige Ergeb-                     Verbesserung der Sprachkenntnisse der Zuwande-
           nisse ausgerichtete Politik verfolgt wird, die uner-                  rer (Sprachkurse) und die Vermittlung von Grund-
           wartete oder unerwünschte Nebenwirkungen hat                          wissen über Deutschland (Orientierungskurse)
           und langfristig eher schadet als nutzt. Es war er-                    konzentriert und noch nicht hinreichend mit
           klärte Absicht der am Zuwanderungsgesetz Betei-                       Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration ver-
           ligten, dass das neue Gesetz solchen kurzfristigen                    knüpft. Vor allem fehlen aber Konzepte, wie die
           Orientierungen entgegenwirken und einen recht-                        künftig aller Wahrscheinlichkeit nach stark stei-
           lichen Rahmen für eine längerfristige Migrations-                     gende Zahl temporärer Zuwanderer integriert
           politik schaffen sollte.                                              werden soll.8 Es gibt bislang keine Überlegungen,
                 Die vorliegende Studie kommt zu dem                             wie eine künftige „Integration auf Zeit“ gestaltet
           Schluss, dass auch nach der Zuwanderungsreform                        sein könnte – obwohl Konsens besteht, die Fehler
           von 2005 (und der Novellierung des Gesetzes von                       der früheren „Gastarbeiteranwerbung“, deren Kon-
           2007) immer noch eine längerfristige und strate-                      sequenzen heute einen Großteil der derzeitigen
           gische Ausrichtung der deutschen Migrationspoli-                      Integrationsprobleme ausmachen, zu vermeiden.
           tik fehlt. Diese Defizite bestehen vor allem im                       Schließlich ist auch die Sozialberichterstattung
           Hinblick auf die Steuerung der Arbeitsmigration:                      über die Lebensbedingungen, Perspektiven und
           Die Verfahren und Instrumente, mit denen Um-                          Einstellungen der hier lebenden Menschen mit
           fang und Zusammensetzung der Zuwanderung                              Migrationshintergrund immer noch lückenhaft,
           bestimmt und gesteuert werden können, sind un-                        und es wird darüber diskutiert, Indikatorensys-
           vollständig. Insbesondere fehlen nach wie vor                         teme einzuführen, die Defizite bei der Integration
           Regelungen für die dauerhafte und befristete Zu-                      aufzeigen können.9

           6   Siehe Unabhängige Kommission Zuwanderung 2001: Zuwanderung gestalten, Integration fördern, Berlin,
               http://www.zuwanderung.de/downloads/Zuwanderungsbericht_kurz.pdf.
           7   Siehe Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration 2004: Migration und Integration – Erfahrungen nutzen, Neues wagen,
               Jahresgutachten, Berlin, http://www.dstgb.de/homepage/kommunalreport/archiv2004/newsitem00997/997_3_1092.pdf.
           8   Vgl. zur Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes: Bundesministerium des Innern 2006: Bericht zur Evaluierung des Gesetzes zur Steuerung
               und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern, Berlin.
           9   Vgl. Länder wollen Integrationserfolg messen, Der Tagesspiegel, Berlin, 11.4.2008.

      8
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                                       WISO
                                                                                                                                        Diskurs

1. Bilanz der deutschen Migrationspolitik

Die deutsche Migrationspolitik war jahrelang                        zende Gastarbeiteranwerbung als etwas historisch
durch die Auseinandersetzung bestimmt, ob das                       Neues wahr. Mit dem Anwerbestopp von 1973
Land ein Einwanderungsland ist oder nicht. Die-                     wurde zwar zunächst die Anwerbung von Arbeits-
ser politisch und weltanschaulich motivierte                        kräften offiziell beendet, der Zuzug von Familien-
Streit hat die Reform der deutschen Migrations-                     angehörigen, Flüchtlingen und Aussiedlern nahm
politik lange Zeit blockiert. Erst seit dem Kompro-                 aber zu, und kurze Zeit später wurde auch die An-
miss über das Zuwanderungsgesetz entwickelt                         werbung von (temporären) Arbeitsmigranten im
sich eine pragmatischere und sachlichere Debat-                     Rahmen von Ausnahmeregelungen wieder aufge-
te, auch wenn sich die Begriffswahl der Akteure                     nommen.
zum Teil noch voneinander unterscheidet. So hat                          Zweitens sind viele Menschen in Deutschland
die SPD in ihrem Wahlprogramm für die Bun-                          überzeugt, das Land habe im Vergleich zu den
destagswahl 2005 die Formulierung gewählt                           „klassischen“ Einwanderungsländern einen deut-
„Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Einwande-                     lich geringeren Anteil an Zuwanderern, und da-
rungsland“,10 die CDU hingegen in ihrem Grund-                      her seien die migrationspolitischen Erfahrungen
satzprogramm vom Dezember 2007 die Formulie-                        auch nicht übertragbar. Tatsächlich gehört
rung „Deutschland ist Integrationsland“.11                          Deutschland aber im internationalen Vergleich
                                                                    zu den Ländern mit dem größten Anteil von Zu-
                                                                    wanderern. Seit dem Mikrozensus von 2005 gibt
1.1 Verbreitete Fehlwahrnehmungen                                   es dazu belastbare statistische Daten: In dieser
                                                                    Erhebung wurde erstmals nicht nur nach der ge-
Gleichwohl prägen immer noch Fehlwahrneh-                           genwärtigen Nationalität, sondern nach früheren
mungen der bisherigen Zuwanderung und Zu-                           Staatsangehörigkeiten auch der Eltern sowie nach
wanderungspolitik die politische Debatte und er-                    dem früheren Wohnort gefragt. Damit wurde
schweren das Finden angemessener Lösungen.                          nicht nur (wie bisher in der offiziellen Statistik)
Fünf solcher Fehleinschätzungen halten sich in                      die Zahl der Ausländer, sondern auch die der Ein-
dieser Hinsicht besonders hartnäckig:                               gebürgerten, der Spätaussiedler und der Kinder
     Erstens lautet eine weit verbreitete Auffas-                   von Zuwanderern schätzbar. Das Ergebnis lautet,
sung, Deutschland habe keine Einwanderungsge-                       dass etwa ein Fünftel der Bevölkerung in Deutsch-
schichte – zumindest keine, die mit den „klassi-                    land einen Migrationshintergrund hat – eine
schen“ Einwanderungsländern vergleichbar wäre.                      Zahl, die doppelt so hoch ist wie der bislang offi-
Diese Einschätzung ist falsch, weil es seit dem                     ziell angegebene Ausländeranteil, und die unge-
Kaiserreich über die Weimarer Republik und das                      fähr dem Anteil der Zuwanderer im „klassischen“
Dritte Reich bis in die Bundesrepublik eine starke                  Einwanderungsland USA entspricht.12
Kontinuität der Arbeitsmigration nach Deutsch-                           Für die Entwicklung einer nachhaltigen
land gegeben hat. Dennoch nahmen die meisten                        Migrationspolitik ist es wichtig, dass Politik und
Menschen in der Bundesrepublik die 1955 einset-                     Öffentlichkeit sich dieser umfangreichen Zuwan-

10 Vgl. SPD 2005: Vertrauen in Deutschland. Das Wahlmanifest der SPD, Berlin, 48.
11 Vgl. CDU 2007: Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland. Beschluss des 21. Parteitags der CDU Deutschlands, Hannover,
   3.12.2007, 95.
12 Vgl. Statistisches Bundesamt 2007: Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2005, Fachserie 1 Reihe 2.2,
   Wiesbaden.

                                                                                                                                       9
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 Diskurs                                                                                        Friedrich-Ebert-Stiftung

           derung und den damit verbundenen wirtschaftli-        ne, Aussiedler, aber auch Gastarbeiter) auf. Vor
           chen, sozialen und kulturellen Veränderungen be-      allem die Aussiedlerintegration war in großen Tei-
           wusst sind. Frühere Zuwanderungen sind grund-         len eine Erfolgsgeschichte. Staatliche und nicht-
           sätzlich eine wichtige Rahmenbedingung für die        staatliche Institutionen haben viele Jahrzehnte
           gegenwärtige und künftige Politik: Sie haben Fol-     lang große Anstrengungen zur Integration dieser
           gewirkungen, wie etwa ungelöste Integrationspro-      Zuwanderer unternommen und dabei auch be-
           bleme, und sie ziehen Wanderungen nach sich,          trächtliche Mittel investiert. Das Ergebnis dieser
           weil im Rahmen der früheren Zuwanderungen             Bemühungen war außerordentlich positiv. Gleich-
           Netzwerke entstanden sind.                            wohl wurde die gelungene Integration der deutsch-
                 Eine dritte Fehleinschätzung lautet, Deutsch-   stämmigen Einwanderer aber von der Mehrheits-
           land habe in der Vergangenheit die Zuwanderung        gesellschaft nicht als Integrationserfolg wahrge-
           nicht oder nicht effektiv gesteuert. Das ist eben-    nommen: Aussiedler galten – obwohl sie alle Cha-
           falls nicht zutreffend, denn es gab eine zum Teil     rakteristika von Migranten erfüllten – eben nicht
           höchst effektive Steuerung bei Gastarbeitern,         als solche, sondern, je nach politischer Position
           Asylbewerbern und Aussiedlern. So wurde zum           des Betrachters, entweder als zu unterstützende
           Beispiel die Zuwanderung von Asylbewerbern,           Opfer sowjetischer Repression oder aber als völ-
           nachdem ihre Zahl im Zuge der Auflösung des           kisches Relikt einer imperialistischen deutschen
           Ostblocks und des Ausbruchs neuer Konflikte zu        Vergangenheit.
           Beginn der 1990er Jahre dramatisch zugenom-                Eine Folge dieser Fehlwahrnehmung war
           men hatte, durch die Asylrechtsreform des Jahres      (und ist), dass erfolgreiche Integrationsmodelle
           1993 drastisch eingeschränkt. Derzeit beträgt sie     und -instrumente nicht auf andere Migranten
           weniger als ein Zehntel der Zuwanderung von           übertragen wurden. Sie wurden noch nicht ein-
           1992. Ein weiteres Beispiel ist die Reduzierung der   mal in vollem Umfang auf die seit den 1990er
           Zuwanderung von Spätaussiedlern, die ebenfalls        Jahren nach Deutschland eingereisten Aussiedler
           zu Beginn der 1990er Jahre ihren Höhepunkt er-        (seit 1993: Spätaussiedler) angewendet, die mitt-
           reicht hatte und die unter anderem durch die          lerweile – nicht zuletzt aufgrund der reduzierten
           Einführung einer jährlichen Zuwanderungsquote         Integrationshilfen – zunehmende Integrationspro-
           ebenfalls nachhaltig verringert wurde.                bleme haben. Vor allem jugendliche Spätaussied-
                 Allerdings – und das macht die Erfahrungen      ler zählen inzwischen integrationspolitisch zu
           mit diesen Steuerungsinstrumenten für die Ent-        den Problemgruppen.
           wicklung einer langfristigen Migrationspolitik             Fünftens gibt es die weit verbreitete Auffas-
           wichtig – hatten einige dieser Steuerungsinstru-      sung, dass eine arbeitsmarktbezogene Zuwande-
           mente unerwünschte und unerwartete Neben-             rung in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit kurzfristig
           wirkungen. So hatte die Regierung nach dem An-        zu Lohnsenkungen und zusätzlicher Arbeitslosig-
           werbestopp von 1973 erwartet, dass ein erheb-         keit bei Einheimischen führe, wenn diese durch
           licher Teil der Angeworbenen wieder in ihr Her-       Zuwanderer substituiert würden. Tatsächlich gibt
           kunftsland zurückkehren würde. Tatsächlich aber       es Theorien, die dies nahe legen, es gibt aber auch
           geschah das Gegenteil, und viele Migranten ent-       Erklärungsansätze, die solche Folgen nicht erwar-
           schieden sich eben wegen des Anwerbestopps            ten. Ob die Zuwanderung negative Wirkungen
           zum Bleiben, weil sie fürchteten, nach einer Aus-     hat, lässt sich letztlich nur empirisch und für ei-
           reise nicht wieder nach Deutschland zurückkeh-        nen konkreten Untersuchungsbereich feststellen.
           ren zu dürfen.                                        In diesem Zusammenhang weist das Institut für
                 Viertens sind viele Menschen in Deutschland     Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundes-
           überzeugt, dass es in der Vergangenheit keine er-     agentur für Arbeit darauf hin, dass zahlreiche
           folgreiche Integration von Zuwanderern gegeben        ökonometrische Untersuchungen in Deutschland
           habe. Auch das ist nachweislich falsch. Deutsch-      und Europa zu dem Ergebnis kämen, Migration
           land weist beträchtliche Erfolge bei der Integra-     wirke sich entweder neutral auf Arbeitslosigkeit
           tion bestimmter Zuwanderergruppen (Vertriebe-         und Lohnhöhe aus oder habe nur sehr geringe

    10
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                                            WISO
                                                                                                                                             Diskurs

Effekte: Eine Meta-Analyse von mehr als 100 Stu-                       • die freiwillige Rückkehr und die Reintegration
dien zeige, dass im Durchschnitt der Studien die                          in den Herkunftsländern sollte gefördert wer-
Zuwanderung von einem Prozent der Erwerbsper-                             den,
sonen die Löhne um 0,1 Prozent und die Beschäf-                        • die Integration der rechtmäßig in Deutschland
tigung der Einheimischen um 0,024 Prozent re-                             lebenden Ausländer sollte verbessert werden.
duziere.13                                                             In Westdeutschland, wie auch zeitgleich in ande-
      Zudem gelten diese negativen Erwartungen                         ren westeuropäischen Staaten, wurde mit dem
ohnehin nur für die kurzfristigen Folgen der Ar-                       Anwerbestopp von 1973 eine fast zwanzigjährige
beitsmigration. Bezüglich der langfristigen Fol-                       Phase der Anwerbung gering qualifizierter indus-
gen besteht aus ökonomischer Sicht weitestge-                          trieller Arbeitskräfte vor allem aus Süd- und Süd-
hender Konsens, dass die arbeitsmarktbezogene                          osteuropa beendet. In der Folgezeit wurde zu-
Zuwanderung keine oder nur geringe dauerhafte                          nächst versucht, Ausländern den Zugang zum
Effekte für Löhne und Arbeitslosigkeitsrisiken mit                     Arbeitsmarkt zu erschweren. Dazu wurde ab 1974
sich bringt, weil sich Kapitalstock und Produk-                        die Erteilung einer Arbeitserlaubnis an eine stren-
tionsstruktur langfristig an die Ausweitung des                        ge Vorrangprüfung gebunden, also an den (auch
Arbeitsangebotes anpassen. Unter den Bedingun-                         heute noch prinzipiell benötigten) Nachweis, dass
gen des demographischen Wandels werden die                             kein Deutscher oder anderer Bevorrechtigter für
langfristigen wirtschaftlichen Folgen der Zuwan-                       die Beschäftigung zur Verfügung steht, und für
derung von qualifizierten Arbeitskräften zudem                         nachgezogene Familienangehörige wurden War-
durchweg positiv gesehen.                                              tezeiten eingeführt. Ab 1975 wurde die Zahlung
      Probleme unter anderem fiskalischer Natur                        von Kindergeld an im Herkunftsland verbliebene
werden hingegen erwartet, wenn sich Zuwande-                           Kinder reduziert, es wurden Rückkehrprämien
rer wegen unzureichender Qualifikation nicht in                        eingeführt, Zuzugssperren für städtische Ballungs-
den Arbeitsmarkt integrieren können. Eine lang-                        gebiete erlassen und Maßnahmen gegen irreguläre
fristig ausgerichtete Zuwanderungspolitik muss                         Beschäftigung ergriffen. Diese Steuerungsversu-
daher besonderes Gewicht auf eine hinreichende                         che erwiesen sich allerdings weitgehend als wir-
Qualifikation der Zuwanderer legen und sich ak-                        kungslos oder sogar kontraproduktiv, die meisten
tiv um eine Verbesserung der Integrationschan-                         hatten unbeabsichtigte Nebenwirkungen. Ab
cen der bereits im Land lebenden gering qualifi-                       1977 wurde diese Begrenzungspolitik durch Maß-
zierten Zuwanderer bemühen.                                            nahmen zur sozialen Integration ergänzt. Der
                                                                       zentrale Widerspruch dieser Politik war, dass die
                                                                       Bundesrepublik nach offizieller Auffassung kein
1.2 Entwicklung der deutschen                                          Einwanderungsland war, die ausländische Bevöl-
    Migrationspolitik                                                  kerung aber integriert werden sollte.
                                                                             Zu Beginn der 1980er Jahre geriet vor dem
Von den frühen 1970er Jahren bis in die späten                         Hintergrund der anhaltenden Wirtschaftskrise
1990er Jahre war die deutsche Migrationspolitik                        und der steigenden Arbeitslosigkeit die Zuwan-
– zunächst in Westdeutschland und nach der Ver-                        derung und insbesondere die zunehmende Zahl
einigung in der gesamten Bundesrepublik – im                           der Asylbewerber in das Zentrum der politischen
Wesentlichen von drei Zielen geprägt:                                  Debatte. Die Regierungskoalition aus Sozialdemo-
• Der weitere Zuzug aus Staaten außerhalb der                          kraten und Liberalen stand wegen ihrer angeb-
   EU und des Europäischen Wirtschaftsraumes                           lichen Untätigkeit unter politischem Druck, wo-
   sollte begrenzt werden,                                             rauf sie mit einer restriktiveren Ausländerpolitik

13 Vgl. Brücker, Herbert: Migration als Therapie für Fachkräftemangel?, in: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Materialsamm-
   lung Fachkräftebedarf der Wirtschaft, Nürnberg, August 2007, 2f.

                                                                                                                                            11
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 Diskurs                                                                                        Friedrich-Ebert-Stiftung

           reagierte. Das Nachzugsalter für Kinder wurde ge-     nigen in die Hände, die diesen Politikbereich
           senkt, ein Gesetz zur Bekämpfung der irregulären      durch an ausländerfeindliche Einstellungen an-
           Beschäftigung verabschiedet und weitere Maß-          knüpfende Forderungen zur politischen Profilie-
           nahmen zur Rückkehrförderung erlassen.                rung nutzten. Auf Seiten der Zugewanderten
                Nach dem Regierungswechsel von 1982 er-          führte diese unklare Einwanderungssituation oft-
           klärte Bundeskanzler Helmut Kohl die Ausländer-       mals zu Orientierungslosigkeit hinsichtlich ihrer
           politik zu einem seiner politischen Schwerpunkte      Zukunft in dem „Einwanderungsland wider Wil-
           und kündigte einen verschärften Kampf gegen           len“ (Klaus J. Bade), häufig auch zu einem Unwil-
           den so genannten „Asylmissbrauch“ an. Auch die-       len, den Integrationsangeboten zu folgen, sich
           se Regierung griff in ihrer Ausländerpolitik vor      hier heimisch zu fühlen und auf eine dauerhafte
           allem zu Einzelmaßnahmen; statt einer umfas-          Niederlassung vorzubereiten.
           senden Novellierung des Ausländerrechts wurden             In der DDR war die politische Bereitschaft
           weiterhin hauptsächlich Verwaltungsanordnun-          zur Integration der ausländischen Bevölkerung
           gen erlassen. Anfang 1989 geriet die Regierung        noch weniger ausgeprägt als in Westdeutschland.
           durch die Wahlerfolge verschiedener rechtsradi-       Die größte Gruppe, die in der DDR stationierten
           kaler Parteien, vor allem der so genannten „Re-       Soldaten der Westgruppe der sowjetischen Streit-
           publikaner“, unter politischen Handlungsdruck.        kräfte, die 1989 einschließlich ihrer Familienan-
           Im Frühjahr 1990 wurde gegen die Stimmen der          gehörigen auf 550.000 Personen geschätzt wurde,
           Oppositionsparteien ein neues Ausländergesetz         lebte weitestgehend kaserniert; die angeworbe-
           verabschiedet, das nicht weniger umstritten war       nen und in der Produktion eingesetzten Arbeits-
           als die früheren Maßnahmen: Den einen gingen          kräfte, zu diesem Zeitpunkt noch etwa 190.000
           die Maßnahmen zur Reduzierung der Zahl der            Menschen vornehmlich aus Vietnam, Polen, der
           Ausländer nicht weit genug, andere bemängel-          Sowjetunion, Mosambik und Ungarn, waren in
           ten, dass die Einwanderungssituation immer            der Regel in Gemeinschaftsunterkünften unterge-
           noch negiert werde.                                   bracht und noch stärker sozial isoliert. Ihre An-
                Insgesamt war die Ausländerpolitik seit den      wesenheit war kein politisches Thema, öffentli-
           1970er Jahren bis in die 1990er Jahre von der Ab-     che Stellungnahmen zur Politik der Arbeitskräfte-
           sicht geprägt, keine weitere Zuwanderung zuzu-        anwerbung gab es nicht, und angesichts der rigi-
           lassen, gleichzeitig aber von der Unfähigkeit, dies   den Rotationspolitik und der strikten polizeilichen
           mit der Realität der internationalen Migrations-      Kontrolle der Ausländer und ihrer Kontakte zur
           und Fluchtbewegungen in Deckung zu bringen.           deutschen Bevölkerung war nach Auffassung der
           Zudem herrschte Unentschiedenheit, welche in          politischen Entscheidungsträger auch keine Inte-
           Deutschland lebenden Ausländer wirtschaftlich         grationspolitik nötig.
           unverzichtbar waren und wie eine Rückkehrför-
           derungspolitik gestaltet werden müsste. Unklar
           blieb auch, was unter Integration verstanden wer-     1.3 Reform des Staatsangehörigkeits-
           den soll, was zu einer entsprechenden Zaghaftig-          gesetzes und Green Card
           keit bei der Gestaltung der sozialen Integration
           führte. Schließlich vermehrten zahlreiche Ver-        Vor diesem Hintergrund bedeutete das Jahr 2000
           suche, den veränderten gesellschaftlichen Bedin-      in zweifacher Hinsicht eine Weichenstellung in
           gungen durch Verwaltungsanordnungen zu ent-           der deutschen Asyl- und Migrationspolitik: Es wur-
           sprechen, die Unübersichtlichkeit der ausländer-      de ein neues Staatsangehörigkeitsrecht verabschie-
           rechtlichen Regelungen. All diese Unsicherheiten      det, und die Regierung startete die so genannte
           wurden durch die Formel, Deutschland sei kein         „Green Card“-Initiative. Bereits Ende der 1980er
           Einwanderungsland, lediglich verdeckt, und die        Jahre war bei den Bundestagsparteien die Über-
           Regierungen hatten erhebliche Schwierigkeiten,        zeugung gewachsen, dass eine grundlegende Re-
           gegenüber der Öffentlichkeit eine kohärente Poli-     form des Staatsangehörigkeitsrechts notwendig
           tik zu formulieren. Dies wiederum spielte denje-      sei, um die Integration der dauerhaft in Deutsch-

    12
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                           WISO
                                                                                                            Diskurs

land lebenden Zuwanderer zu erleichtern. Bis          wiesen oder einen Arbeitsvertrag mit einem Jah-
zum Regierungswechsel 1998 kam es aber zu kei-        resgehalt von mindestens 100.000 DM vorlegen
ner umfassenden Reform, da kein Konsens herge-        konnten. Dies galt auch für Ausländer, die ein
stellt werden konnte, inwieweit ein Erwerb der        entsprechendes Studium an einer deutschen Hoch-
deutschen Staatsangehörigkeit auch durch Ge-          schule absolviert hatten. Die Arbeitserlaubnis war
burt im Inland (ius soli) ermöglicht und ob gege-     an die Dauer des Beschäftigungsverhältnisses ge-
benenfalls Mehrstaatigkeit in Kauf genommen           bunden (wobei ein Stellenwechsel möglich war),
werden sollte.                                        wurde aber längstens für fünf Jahre erteilt. Fami-
      Für die neue Regierungskoalition aus SPD        lienangehörigen wurde die Einreise gestattet, sie
und Bündnis 90/Die Grünen war die Reform des          durften aber erst nach einer Wartezeit von zwei
Staatsangehörigkeitsrechts ein zentrales Reform-      Jahren einer bezahlten Tätigkeit nachgehen.
vorhaben. Durch die Neuregelung wurde der Er-              Diese Initiative zur Öffnung des deutschen
werb der Staatsangehörigkeit durch Geburt grund-      Arbeitsmarktes für Hochqualifizierte wurde von
sätzlich ermöglicht, und der Anspruch auf die Ein-    den Branchenverbänden und vielen Arbeitgebern
bürgerung wurde erleichtert, indem die dafür not-     in anderen Wirtschaftsbereichen begrüßt, wenn
wendige Aufenthaltszeit verkürzt wurde. Der bis-      auch kritisiert wurde, dass die Regelungen nicht
herige Grundsatz, dass bei der Einbürgerung Mehr-     weit genug gingen und man mit der zeitlichen
staatigkeit vermieden werden soll, wurde beibe-       Befristung des Aufenthalts und der Wartezeit für
halten. Das Gesetz trat am 1. Januar 2000 in Kraft.   die Familienangehörigen keine erstklassigen Ar-
      Die zweite Weichenstellung in der deutschen     beitskräfte nach Deutschland holen könne. Die
Einwanderungspolitik war die Einführung der           Gewerkschaften reagierten zunächst zurückhal-
„Green Card“. Das Ziel war, dem von der Infor-        tend und befürchteten vor allem Lohndumping,
mations- und Telekommunikationsbranche be-            sprachen sich später aber ebenfalls für eine Ab-
klagten Mangel an Fachkräften entgegenzuwir-          schaffung der Befristung des Aufenthalts der IT-
ken. Ausländische Spezialisten sollten unbürokra-     Fachkräfte aus.
tisch Visa erhalten und in Deutschland arbeiten            Die Nachfrage nach der Green Card war vor
dürfen. Allerdings machte Bundeskanzler Ger-          allem wegen der einsetzenden Rezession schwä-
hard Schröder bei der Vorstellung des Programms       cher als ursprünglich erwartet. Bis Ende 2003
im Frühjahr 2000 deutlich, dass diese Regelung        wurden 15.658 Erlaubnisse erteilt, von denen 42
nur als Teil einer Strategie zur Technologieförde-    Prozent an Mittelosteuropäer und 25 Prozent an
rung zu verstehen sei, und forderte die Unterneh-     Inder vergeben wurden. Im Juli 2003 verlängerte
men auf, arbeitslose deutsche Ingenieure für den      die Bundesregierung die Regelung bis Ende 2004.
Einsatz in der Kommunikations- und Informa-           Auswertungen des Programms haben gezeigt,
tionstechnologie umzuschulen. Er kündigte zu-         dass die Beschäftigung zum größten Teil in klei-
dem an, die Mittel der Bundesanstalt für Arbeit       neren (und fast ausschließlich in westdeutschen)
zur Aus- und Weiterbildung im Hochtechnolo-           Betrieben stattfand und dass die Beschäftigung
giesektor künftig um ein Fünftel zu erhöhen, im       jeder ausländischen IT-Fachkraft einen zusätz-
Gegenzug habe die Wirtschaft sich bereit erklärt,     lichen Beschäftigungseffekt von durchschnittlich
die Zahl der Ausbildungsplätze in diesem Bereich      2,5 weiteren Stellen hatten.
in den nächsten Jahren deutlich zu erhöhen, von            Beide Reformmaßnahmen, Staatsbürger-
13.000 auf 60.000 Plätze.                             schaftsreform und Green Card, trugen zu einer
      Die Zahl der Arbeitserlaubnisse im Rahmen       neuen Diskussion über Zuwanderung bei: Ver-
der Green Card wurde bis 2003 auf 10.000 festge-      treter der verschiedensten Wirtschaftsbranchen
legt, falls dann noch weitere Nachfrage bestünde,     meldeten sich zu Wort und warnten vor einem
sollte die Gesamtzahl auf 20.000 erhöht werden.       dramatischen Arbeitskräftemangel nicht nur bei
In Anspruch genommen werden konnte die Rege-          höchstqualifizierten Tätigkeiten, sondern auch
lung von Fachkräften, die entweder eine einschlä-     im Facharbeiterbereich und forderten eine ent-
gige Hoch- oder Fachhochschulausbildung nach-         sprechende Anwerbung von ausländischen Ar-

                                                                                                           13
WISO
 Diskurs                                                                                                            Friedrich-Ebert-Stiftung

           beitskräften; mittelständische Unternehmer, die                    Vereinigten Staaten überlagert. Die parlamenta-
           seit einigen Jahren bosnische Flüchtlinge beschäf-                 rische Arbeit am Zuwanderungsgesetz wurde un-
           tigten, kritisierten die deutsche Flüchtlingspolitik               terbrochen, und die so genannten „Sicherheits-
           und forderten ein Bleiberecht für diese Menschen,                  pakete“ wurden verabschiedet, nach nur kurzer
           die als unverzichtbare Arbeitskräfte betrachtet                    parlamentarischer Debatte und ohne nennens-
           wurden; Wissenschaftler zeigten die Alterung der                   werten parteipolitischen Widerstand.
           deutschen Bevölkerung auf und warnten vor den                           Die Arbeit am Zuwanderungsgesetz wurde
           Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft; ostdeut-                   Anfang 2002 wieder aufgenommen. Von Beginn
           sche Politiker beklagten die verheerenden Folgen                   an war unstrittig, dass der Gesetzentwurf vom
           des Geburtenrückgangs und der Abwanderung.                         Bundestag angenommen werden würde. Wegen
           Auch bei den Bundestagsparteien waren verän-                       der Mehrheitsverhältnisse war es aber zweifelhaft,
           derte Einstellungen zur Zuwanderung zu erken-                      ob die Bundesregierung dafür auch im Bundesrat
           nen: Anfang 2000 schien – bei aller Unterschied-                   eine Mehrheit finden könnte. Tatsächlich kün-
           lichkeit der Schwerpunktsetzung und der Termi-                     digte die CDU/CSU bereits unmittelbar nach der
           nologie – Einigkeit darüber zu bestehen, dass                      Veröffentlichung der Vorschläge an, dass sie nicht
           Deutschland künftig aus arbeitsmarktpolitischen                    zustimmen werde, weil das Gesetz nicht der Be-
           Gründen die Zuwanderung vor allem von Hoch-                        grenzung und Reduzierung der Zuwanderung
           qualifizierten brauchen würde, dass die Integra-                   diene, sondern diese vielmehr erweitern würde.
           tionsanstrengungen von und für dauerhaft an-                       Wie erwartet wurde das Gesetz am 1. März 2002
           wesende Zuwanderer verstärkt werden müssten                        vom Bundestag angenommen. Aber die Gegner
           und dass für die Steuerung der Wanderungsbewe-                     des Gesetzes gaben ihren Widerstand nicht auf.
           gungen ein umfassendes politisches Instrumenta-                    Die unionsregierten Bundesländer reichten beim
           rium entwickelt werden müsste.                                     Bundesverfassungsgericht eine Klage ein und ver-
                 Die politische Reformstimmung des Jahres                     langten, das Gesetz für verfassungswidrig zu er-
           2000 hielt allerdings nicht lange an. Bereits kurz                 klären, weil es aufgrund eines rechtswidrigen Ab-
           nachdem die von der Bundesregierung zur Erar-                      stimmungsverfahrens im Bundesrat zustande ge-
           beitung eines Konzeptes zur Reform der Migra-                      kommen sei. Im Dezember 2002 bestätigte das
           tionspolitik eingesetzte Unabhängige Kommis-                       Bundesverfassungsgericht diese Ansicht und er-
           sion „Zuwanderung“ unter Leitung von Rita Süss-                    klärte das Gesetz für nichtig.
           muth („Süssmuth-Kommission“) im Konsens aller                           Letztlich bestimmten in der Debatte über die
           wichtigen gesellschaftlichen Gruppen ein Gesamt-                   Reform einige wenige Sachthemen die Auseinan-
           konzept für Zuwanderungssteuerung und Integra-                     dersetzung: Bei der Frage der Zuwanderungssteu-
           tionsförderung vorgelegt hatte, und noch bevor                     erung waren dies die Arbeitskräftezuwanderung,
           die Bundesregierung den ersten Entwurf ihres da-                   die Familienzusammenführung und die nicht-
           rauf aufbauenden Zuwanderungsgesetzes in den                       staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung.
           Bundestag eingebracht hatte, zerbrach der partei-                  Die anderen diesbezüglichen Streitpunkte waren
           politische Konsens über die Notwendigkeit einer                    eher verfahrenstechnischer Art, etwa hinsichtlich
           schnellen und umfassenden Reform.14 In Anbe-                       der Frage, welche Institution entscheiden solle,
           tracht der anstehenden Landtags- und Bundes-                       ob ein Arbeitskräftemangel bestehe. Im Streit zwi-
           tagswahlen wurde parteipolitisches Kalkül wich-                    schen Regierung und Opposition ging es haupt-
           tiger als die zuvor vertretenen Sachargumente.                     sächlich um die Frage, ob das Gesetz eine Auswei-
                 Diese Konfrontation zwischen Regierung                       tung oder eine Begrenzung der Zuwanderung zur
           und Opposition wurde nach dem 11. September                        Folge haben würde. Auf die Vorwürfe der Opposi-
           2001 von den Folgen der Terroranschläge auf die                    tion, dass sie mit dem Gesetz neue Zuwande-

           14 Vgl. zur Entwicklung dieser Konzepte Angenendt, Steffen 2002: Einwanderungspolitik und Einwanderungsgesetzgebung in Deutschland
              2000–2001, in: Klaus J. Bade u.a. (Hg.): Migrationsreport 2002: Fakten – Analysen – Perspektiven, Frankfurt a. M., 31–59.

    14
Wirtschafts- und Sozialpolitik
                                                                                                                                          WISO
                                                                                                                                           Diskurs

rungsmöglichkeiten eröffnen wolle, entgegnete                         der Integration und dem Familiennachzug vorzu-
die Regierung, dass es ihr um eine Vereinfachung                      nehmen. Ein Kernpunkt war die seit langem von
und Modernisierung des selbst für Experten nicht                      Nichtregierungsorganisationen geforderte Alt-
mehr handhabbaren Ausländerrechts sowie um                            fallregelung für die etwa 180.000 in Deutschland
klare, transparente und dem gesellschaftlichen                        lebenden Flüchtlinge ohne Aufenthaltsgenehmi-
Bedarf entsprechende Zuwanderungsregelungen                           gung, für die so genannten „Geduldeten“. Die
gehe, nicht aber um eine Erhöhung der Zuwande-                        Novellierung wurde im Sommer 2007 abgeschlos-
rung. Die CDU/CSU-Opposition blieb bei ihrer                          sen, das überarbeitete Gesetz trat am 28. August
Auffassung, dass die wahren Beweggründe der Re-                       2007 in Kraft.
gierung andere seien: Die Regierung wolle offen-                           Viele Migrantenverbände kritisierten vor
sichtlich die Verwandlung Deutschlands in eine                        allem die Einschränkung des Familiennachzugs
multikulturelle Gesellschaft vorantreiben und da-                     durch den nun erforderlichen Nachweis von
mit ein Ziel verfolgen, das die Grünen schon im-                      Deutschkenntnissen und das geforderte Mindest-
mer verfolgt hätten. Um die kulturelle Identität                      alter von 18 Jahren, außerdem die Sanktionen bei
des Landes zu wahren, müsse aber die Zuwande-                         einer Nichtteilnahme an den Integrationskursen
rung aus Nicht-EU-Staaten auf eine „sozial ver-                       (Kürzung der Sozialleistungen). Umstritten war
trägliche Größenordnung“ begrenzt werden.15                           in der Debatte um die Novellierung des Gesetzes
     Um das Reformprojekt, das in der Wahrneh-                        auch die Erleichterung des Zuzugs von Selbst-
mung vieler Menschen unverständlich viel Zeit                         ständigen und Fachkräften. Die große Koalition
und Streit gekostet hatte, endlich zu einem Ab-                       einigte sich darauf, dass Selbstständige nur noch
schluss zu bringen, trieb die Regierung ab Anfang                     die Schaffung von fünf Arbeitsplätzen und die
2004 die Verhandlungen mit Hilfe weit reichender                      Investition von 500.000 Euro nachweisen müs-
Zugeständnisse an die Opposition voran. In der                        sen, um zuwandern zu dürfen. Das erforderliche
Schlussphase dominierten die Sozialdemokraten                         Mindesteinkommen für ausländische Fachkräfte
die Verhandlungen, der grüne Koalitionspartner                        (84.000 Euro pro Jahr) wurde hingegen nicht ge-
blieb weitgehend ausgeschlossen. Am 30. Juli                          senkt, trotz deutlicher Kritik der Wirtschaftsver-
wurde schließlich ein Kompromiss mit der Op-                          bände an der geringen Zahl der bisher unter dem
position gefunden; das Gesetz trat am 1. Januar                       Zuwanderungsgesetz angeworbenen Fachkräfte.16
2005 in Kraft.                                                             Insgesamt, so die zusammenfassende Bewer-
                                                                      tung, blieb das Zuwanderungsgesetz auch nach
                                                                      der Novellierung von 2007 deutlich hinter dem
1.4 Die Novellierung des Gesetzes 2007                                vom ehemaligen Bundesinnenminister Otto Schily
                                                                      verkündeten Ziel zurück. Es hat zwar den vollzie-
Bereits während des Gesetzgebungsverfahrens                           henden Behörden erhebliche Handlungsspielräu-
war offensichtlich, dass das Zuwanderungsgesetz                       me eröffnet, ist aber in der Gesamtheit restriktiv
bald novelliert werden müsste, um die deutsche                        und vornehmlich auf Begrenzung und Kontrolle
Rechtslage an die inzwischen ebenfalls veränderte                     ausgerichtet. Die vorgesehenen Instrumente und
EU-Rechtslage anzupassen und um mehrere neue                          Verfahren werden aller Wahrscheinlichkeit nach
EU-Richtlinien umsetzen zu können. Diese Gele-                        nicht ausreichen, um die künftigen Herausfor-
genheit wurde genutzt, um zum Teil weit rei-                          derungen insbesondere bezüglich der arbeits-
chende Änderungen im Einbürgerungsrecht, bei                          marktbezogenen Zuwanderung zu bewältigen.

15 Michael Glos (CSU), Plenarprotokoll 14/222, 1.3.2002, 22031 (D).
16 Vgl. ausführlich zur Novellierung des Zuwanderungsgesetzes Breitkreutz, Katharina/Franßen-de la Cerda, Boris/Hübner, Christoph 2007:
   Das Richtlinienumsetzungsgesetz und die Fortentwicklung des deutschen Aufenthaltsrechts, Zeitschrift für Ausländerrecht und Auslän-
   derpolitik (ZAR), Nr. 10, 2007, S. 341–347 und ZAR Nr. 11/12, 2007, S. 381–386.

                                                                                                                                          15
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