EVANGELISIERUNG Reader zum diözesanen Verständnis - Andrea Keinath & Christopher Dietrich, Labor E - Erzbistum-Paderborn

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EVANGELISIERUNG
Reader zum diözesanen Verständnis

 Andrea Keinath & Christopher Dietrich, Labor E
              Stand Oktober 2019
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    										Seite

    VORWORT
    • Wozu ein Reader?							03

    GRUNDL AGEN
    • Begriffe									04
    • Evangelisierung im Zukunftsbild					04
    • Zwei Pole der Evangelisierung					               05
    • Was bedeutet Evangelisierung?					07
    • Wie geschieht Evangelisierung in Wort und Tat?		 08
    • Dimensionen der Evangelisierung					10
    • Diakonisch-Missionarische Spiritualität				12
    • Was ist das Evangelium?						13
    • Dynamik der Evangelisierung					16
    • Kurzdefinition								19

    KONTEXTE
    • Glaubensverlust								20
    • Marktsituation								20
    • Freie Wahl und Zustimmung					                      20
    • Abwendung von Religion						21
    • Religiöse Indifferenz							21
    • Apatheismus								22
    • Evangelisierung angesichts religiöser Indifferenz		 22
    • Spiritueller Klimawandel						23
    • Katholische Identität							24
    • Kirchenkrise in Deutschland						24
    • Synodaler Weg								25

    NEUAUSRICHTUNG
    • Neuausrichtung laut Zukunftsbild					26
    • Missionarische Entscheidung					27
    • Evangelisierung als Leitkriterium					28
    • Eine Charta der Grundhaltungen 					  29
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Wozu ein Reader?

Das Zukunftsbild für das Erzbistum Paderborn, das         werden auf der Homepage des Erzbistums Pader-
im Oktober 2014 in Kraft gesetzt wurde, gibt unter        born unter www.wir-erzbistum-paderborn.de/
anderem den Auftrag, eine diözesane Konzeption            themen/evangelisierung präsentiert (im Aufbau).
für Evangelisierung zu entwickeln.                        Auf der Basis des Readers und der „best practice“-
Seit 2015 hat sich zunächst das Teilprojekt Evangeli-     Beispiele soll die diözesane Verständigung über
sierung und seit 2018 das „Labor E“ gründlich damit       Evangelisierung systematischer und mit breiterer
beschäftigt, was unter Evangelisierung zu verste-         Beteiligung fortgeführt werden, um zu einem ver-
hen ist und wie die Pastoral im Erzbistum Paderborn       bindlichen Abschluss zu kommen. Am 13./14. No-
stärker auf Evangelisierung ausgerichtet werden           vember 2020 wird das zweite Diözesane Forum
kann.                                                     nach der Veröffentlichung des Zukunftsbildes statt-
Grundlage ist ein gemeinsames Verständnis von             finden. Auf dem Weg zu diesem Forum wird es im
Evangelisierung. Damit dies entstehen kann,               Laufe des Jahres bereits viele Veranstaltungen und
braucht es Zeit und einen breit angelegten Dialog.        Begegnungen geben, bei denen Themen des Forums
Im Austausch mit Vertreterinnen und Vertretern            behandelt oder vorbereitet werden. Die Bereitstel-
der Jugendarbeit, der Verbandsarbeit und der              lung des Readers online und als Arbeitsheft hat zum
Caritas und in der Begegnung mit Haupt- und               Ziel, die Verständigung über Evangelisierung so weit
Ehrenamtlichen bei zahlreichen Veranstaltungen            voranzubringen, dass zum Diözesanen Forum ein
auf Gemeinde-, Dekanats- und Bistumsebene                 verbindlicher Stand als Ergänzung zum Zukunftsbild
wurde dieser Dialog in den letzten Jahren geführt.        veröffentlicht werden kann.
Dabei kamen Hoffnungen und Befürchtungen,                 Der nun vorliegende Teil 1 des Readers umfasst
motivierende und frustrierende Erfahrungen, der           Grundlagen und Kontexte der Evangelisierung und
Wunsch nach einem missionarischen Aufbruch und            Impulse zur Neuausrichtung der Pastoral.
Widerstände gegen grundlegende Neuerungen zur             Teil 2 beinhaltet Ziele und Strategien der Evangeli-
Sprache. All das ist in die Entwicklung der Thesen        sierung und wird im März 2020 erscheinen. Bis zum
und Schaubilder eingeflossen, die beim Studientag         Diözesanen Forum wird es weitere Dialogveran-
Evangelisierung im Juni 2017 und beim Forum Evan-         staltungen geben. Auf Anfrage kommt das Labor E
gelisierung im Juni 2018 präsentiert und diskutiert       gerne in die Kooperationsräume und Dekanate
wurden. Die mehrmalige Beratung des Themas im             sowie zu Verbänden und Gremien.
Diözesanpastoralrat und im Geistlichen Rat brachte        Wenn es gelingt, auf der Basis des Readers ein
die Konzeptentwicklung auf diözesaner Ebene vor-          praxistaugliches Evangelisierungsverständnis zu
an.                                                       entwickeln, das von einem möglichst großen Kon-
Der Reader präsentiert nun in komprimierter Form          sens getragen ist, kann Evangelisierung in der
die Ergebnisse dieses Dialogs: Er beinhaltet zentrale     Pastoral des Erzbistums Paderborn im Sinne eines
Themen in Form von Thesen, Schaubildern und Er-           Leitkriteriums wirksamer werden.
läuterungen, um mit einer brauchbaren Theorie die
Praxis zu inspirieren. Praxisbeispiele für Evangelisie-      Andrea Keinath & Christopher Dietrich, Labor E
rung, die das theoretische Verständnis illustrieren,

      Sie sind herzlich eingeladen, mit dem Reader und den vorgelegten
      Thesen zu arbeiten, persönlich und in Ihrem beruflichen Kontext.
            Kritik, Kommentare und Ergänzungen sind willkommen!
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    Begriffe
    Im Zukunftsbild ist an verschiedenen Stellen so-          bei jüngeren Menschen keine negativen Assoziatio-
    wohl von „Evangelisierung“ als auch von „missio-          nen aus. „Mission“ ist im gegenwärtigen säkularen
    narisch Kirche sein“ die Rede. Außerdem werden so         Kontext oft neutral bis positiv besetzt: Moderne
    zwei unterschiedliche pastorale Handlungsfelder           Unternehmen arbeiten mit einem „Mission State-
    bezeichnet, die einen eigenen Fokus haben: „Mis-          ment“ zur Verdeutlichung ihrer Unternehmensziele,
    sionarisch Kirche sein – Pastorale Orte und Gele-         in Videospielen geht es oft darum, eine Mission zu
    genheiten“ lenkt den Blick auf die Chancen, die in        erfüllen und in Filmen wie „Mission impossible“ ist
    den (neuen) pastoralen Orten und Gelegenheiten in         der, der seine Mission kennt und sie gegen alle Wi-
    Ergänzung zur Gemeindepastoral liegen. Im Hand-           derstände ausführt, der Held der Geschichte.
    lungsfeld „Evangelisierung – lernen aus der Taufbe-       Der neuere Begriff „Evangelisation“ oder „(Neu-)
    rufung zu leben“ werden grundlegende Fragen zur           Evangelisierung“ wird heute vor allem im Hinblick
    missionarischen Ausrichtung der gesamten Pastoral         auf die Neuevangelisierung der christlich gepräg-
    angesprochen und mit dem Stichwort der Taufbe-            ten Länder des Westens verwendet. Während „Mis-
    rufung mehr die einzelnen Gläubigen in den Blick          sion“ sprachlich das „Gesandtsein“ und das Handeln
    genommen. Allerdings werden im gesamten Text              nach außen in den Vordergrund stellt, ist der Begriff
    des Zukunftsbildes die Begriffe „Evangelisierung/         „Evangelisierung“ von „Evangelium“ abgeleitet. Da-
    evangelisierend“ und „missionarisch sein“ nicht in        mit steht bei der Evangelisierung ein Programm im
    programmatischer Unterscheidung, sondern gleich-          Mittelpunkt, das sowohl die Erneuerung von innen
    bedeutend und pragmatisch verwendet. Als Begriff          her („Selbstevangelisierung“) als auch die Aktivitä-
    kommt „Mission“ nicht vor.                                ten nach außen hin („Das Evangelium ins Spiel brin-
    Kirchengeschichtlich betrachtet, ist „Mission“ der        gen“) umfasst. In diesem Sinne wird im Kontext des
    ältere und belastetere Begriff. Denn ohne Zweifel         Zukunftsbildes „Evangelisierung“ gegenüber „Mis-
    kennt die Missionsgeschichte sowohl Licht- als auch       sion“ bevorzugt. Doch ist auch weiterhin darauf zu
    Schattenseiten. Es gibt viele Beispiele einer gewalt-     achten, dass die Fehler und Fehlhaltungen der Mis-
    samen Missionierung ohne Respekt vor der Freiheit         sionsgeschichte nicht unter neuem Etikett wieder-
    des Einzelnen. Allerdings löst der Begriff vor allem      holt werden.

    Evangelisierung im Zukunftsbild
    Das Zukunftsbild (ZB) fragt danach, „wie Menschen         Christen bleiben können (ZB 42)“, und zielt auf eine
    heute zu Christen werden, als Christen leben und          evangelisierende Ausrichtung der Pastoral.

          Es geht darum, „das Taufbewusstsein als Zu-         unseren Breiten wird nur dann gelingen, wenn
          sage eines Lebens aus der Kraft des Heiligen        er in den Herzen und im Alltagsleben der Chris-
          Geistes zu entdecken, neue Zugänge zum              ten lebendig bleibt und neu wird.
          Verständnis der Taufwürde zu finden, in der         Alle sollen die reale Möglichkeit haben, Gott
          Freundschaft und Vertrautheit mit Jesus Chris-      erstmalig kennenzulernen oder ihren bereits
          tus zu wachsen und die lebenspraktische Be-         grundgelegten Gottglauben vertiefen und er-
          deutung der Entscheidung für ein Leben mit          neuern zu können.
          Jesus Christus einzuüben. Auch die Förderung        Die Verkündigung an jene, die Christus noch
          des Gebetslebens und der Gottesdienstkultur         nicht kennen oder die sich selbst in einiger
          werden zu bedeutsamen Akzenten pastoralen           Distanz zu ihm verstehen, ist ‚die erste Aufga-
          Handelns. Neu ausrichten wird sich in dieser        be der Kirche‘ und derzeit wohl auch ‚die größte
          Hinsicht auch die Sakramentenpastoral, die          Herausforderung für die Kirche‘ (Evangelii Gau-
          dabei helfen soll, als Christ und Christin zu le-   dium 15). Bislang sind zu wenige Christinnen
          ben und aus der Nähe des Herrn Stärkung zu          und Christen in der Lage, Auskunft über ihren
          erfahren.“ (ZB 42)                                  Glauben und ihre christliche Hoffnung zu geben.
          Das ‚Weiterleben‘ des christlichen Glaubens in      (ZB 87f.)
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Zwei Pole der Evangelisierung
Evangelisierung hat laut Zukunftsbild also die Auf-   Glauben wächst. Die Bedeutung einer Entscheidung
gabe, Anfänger im Glauben zu begleiten, distan-       für ein Leben mit Jesus Christus soll in einer christ-
zierte Gläubige die Freude am Glauben wieder ent-     lichen Lebenspraxis eingeübt und konkretisiert wer-
decken zu lassen und Menschen, die Gott noch gar      den und die Sakramente sollen als Stärkung erfah-
nicht kennen, eine Möglichkeit zu geben, ihn ken-     ren werden können.
nenzulernen.                                          Das folgende Schaubild setzt diese Aussagen mitei-
Das Zukunftsbild benennt aber auch Anliegen der       nander in Beziehung und stellt Aufgaben der Evan-
sogenannten Selbstevangelisierung, z.B. dass der      gelisierung und der Selbstevangelisierung einander
bereits grundgelegte Glaube vertieft und erneuert     gegenüber.
wird und die Auskunftsfähigkeit über den eigenen

                                     EVANGELISIERUNG

      Anfänger im Glauben              Distanzierte sollen die            Alle sollen die reale Mög-
    sollen beim Christwerden         Freude am Glauben wieder             lichkeit haben, Gott erst-
         begleitet werden.               entdecken können.                 malig kennenzulernen.

                                                                        Auskunft über den eigenen
    Die lebenspraktische Be-
                                      Die Sakramente als Nähe            Glauben geben können.
   deutung der Entscheidung
                                     des Herrn und Stärkung im          Den bereits grundgelegten
     für ein Leben mit Jesus
                                         Glauben erfahren.              Gottglauben vertiefen und
        Christus einüben.
                                                                                erneuern.

                               SELBSTEVANGELISIERUNG

Die Aufgaben der Evangelisierung und der Selbst-      den Austausch bereichert wird. Wenn Distanzierte
evangelisierung hängen innerlich zusammen: Wer        die Freude am Glauben wieder entdecken sollen,
Anfänger im Glauben beim Christwerden begleiten       braucht es Christinnen und Christen, die Freude an
will, wird herausgefordert, Auskunft über den eige-   ihrem Glauben haben und das auch ausstrahlen.
nen Glauben zu geben. Viele Christinnen und Chris-    Diese Ausrichtung der Evangelisierung nach „innen
ten haben z.B. in den vergangenen Jahren Geflüch-     und außen“ steht zusätzlich in der Spannung zwi-
tete auf dem Weg zur Taufe begleitet und dabei        schen zwei Polen.
erfahren, wie der eigene Glaube gestärkt und durch
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                                        EVANGELISIERUNG

          Anfänger im Glauben                Distanzierte sollen die           Alle sollen die reale Mög-
        sollen beim Christwerden           Freude am Glauben wieder            lichkeit haben, Gott erst-
             begleitet werden.                 entdecken können.                malig kennenzulernen.

                                                                                In der Freundschaft
            In der Freundschaft                                               wachsen mit denen, die
           und Vertrautheit mit                                                Gott nicht kennen, und
         Jesus Christus wachsen.                                              mit ihrer Perspektive ver-
                                                                                    traut werden.

                                                                              Auskunft über den eigenen
         Die lebenspraktische Be-
                                            Die Sakramente als Nähe            Glauben geben können.
        deutung der Entscheidung
                                           des Herrn und Stärkung im          Den bereits grundgelegten
          für ein Leben mit Jesus
                                               Glauben erfahren.              Gottglauben vertiefen und
             Christus einüben.
                                                                                      erneuern.

                                   SELBSTEVANGELISIERUNG

    Der erste Pol zielt auf die Vertiefung und Erneue-      es eine enorme Herausforderung, zu einer Minder-
    rung des Glaubens als Basis der Evangelisierung und     heit zu werden. Und noch größer ist die Herausfor-
    lautet: „In der Freundschaft und Vertrautheit mit Je-   derung, zugleich Verständnis und Interesse aufzu-
    sus Christus wachsen“. Diese Formulierung aus dem       bringen für die wachsende Gruppe derer, die nicht
    Zukunftsbild ist eher ungewöhnlich und durchaus         an Gott glauben, einer anderen Religion angehören
    herausfordernd. Sie zeigt aber zurecht an, dass eine    oder zu Glaube und Kirche auf Distanz gehen. Mit
    Erneuerung des Glaubens nur über eine lebendige         solchen Menschen Freundschaften zu pflegen und
    persönliche Gottesbeziehung gelingen kann. Christ-      aus deren Perspektive das Leben, die Kirche und den
    sein wurzelt darin, in der Freundschaft mit Jesus       christlichen Glauben betrachten zu lernen, ist ein
    Christus durchs Leben zu gehen. Mit der Zeit kann       wesentliches Übungsfeld für Evangelisierung.
    so die Vertrautheit mit der Person Jesu wachsen und     Sich in der persönlichen Christusbeziehung zu ver-
    christliches Engagement kann daraus immer wieder        ankern und zugleich den freundschaftlichen Kon-
    neue Kraft gewinnen.                                    takt mit nichtglaubenden und distanzierten Men-
    Der zweite Pol ist dem ersten Pol nachempfunden         schen zu suchen – in beide Richtungen gilt es Zeit
    und zielt auf die verstärkte Hinwendung zu den          und Energie zu investieren. Denn beides ist in der
    Distanzierten und Nichtglaubenden: „In der Freund-      gegenwärtigen Pastoral nicht unbedingt selbstver-
    schaft wachsen mit denen, die Gott nicht kennen,        ständlich. Die Orientierung an diesen beiden Polen
    und mit ihrer Perspektive vertraut werden.“ Für         kann sowohl im Bereich der Evangelisierung als auch
    Christinnen und Christen, die es bisher gewohnt wa-     im Bereich der Selbstevangelisierung für Tiefgang
    ren, zur gesellschaftlichen Mehrheit zu gehören, ist    sorgen.
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Was bedeutet Evangelisierung?
Das Apostolische Schreiben „Evangelii Nuntiandi“       prägendsten kirchlichen Dokumente zur Evangeli-
(Die Verkündigung des Evangeliums) von Papst Paul      sierung und ist mit seinen Aussagen zu Zielen und
VI. aus dem Jahr 1975 ist zweifelsohne eines der       Inhalten der Evangelisierung nach wie vor aktuell.

     Das Evangelium verkünden und es überzeu-          Es gibt aber keine neue Menschheit, wenn es
     gend, im Geiste der Freiheit und wirksam in das   nicht zuerst neue Menschen gibt durch die Er-
     Herz des Menschen einsenken. … Das ist mehr       neuerung aus der Taufe und ein Leben nach
     als Predigt, als Katechese, als Spendung der      dem Evangelium. (EN 18)
     Taufe und anderer Sakramente. (EN 4/17)           Die Verkündigung erhält in der Tat ihre volle Di-
     Evangelisieren besagt für die Kirche, die Froh-   mension nur, wenn sie gehört, aufgenommen
     botschaft in alle Bereiche der Menschheit zu      und angeeignet wird und die Zustimmung des
     tragen und sie durch deren Einfluss von innen     Herzens bewirkt:
     her umzuwandeln und die Menschheit selbst         Zustimmung zu geoffenbarten Wahrheiten
     zu erneuern. …                                    und Zustimmung zum Lebensprogramm eines
                                                       nunmehr verwandelten Lebens. (EN 23)

In seinem Schreiben fordert Paul VI. eine überzeu-     Die „volle Dimension der Verkündigung“ umfasst
gende und zugleich die Freiheit achtende Verkündi-     nach Evangelii Nuntiandi die Schritte des Hörens,
gung des Evangeliums. Er bringt die Dimension der      Aufnehmens und Sich Aneignens und sie bewirkt
Wirksamkeit „im Herzen des Menschen“ ins Spiel,        die „Zustimmung des Herzens“. Diese Zustimmung
wobei die Formulierung „in das Herz des Menschen       bezieht sich sowohl auf die „geoffenbarten Wahr-
einsenken“ heutzutage als zu direktiv und geradezu     heiten“ als auch auf das „Lebensprogramm eines
freiheitsverletzend empfunden werden kann.             verwandelten Lebens“. Im großen Kontext der „Um-
Die klassischen Wege der Verkündigung stellt er in     wandlung der Menschheit“ soll ausgehend vom ein-
den weiteren Horizont und in den Dienst der Um-        zelnen Menschen die verwandelnde Kraft des Evan-
wandlung der gesamten Menschheit von innen             geliums erkennbar werden.
her. Die Erneuerung des Einzelnen durch die Taufe      Eine Evangelisierung, die nach Paul VI. mehr ist als
und ein Leben nach dem Evangelium sieht er als Ur-     Predigt, Katechese und Sakramentenspendung, ist
sprung dieser gesamten Umwandlung.                     also auf die Erneuerung und das Wohl der ganzen
                                                       Menschheit ausgerichtet und achtet auf die Wirk-
                                                       samkeit des Evangeliums im Herzen und Leben der
                                                       Getauften.
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    Wie geschieht Evangelisierung in Wort und Tat?

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                                                                       chend … (und) erweist sich auf die Dau-
                                                                       er als unwirksam, wenn es nicht erklärt,
       „Die Verkündigung muss vor allem durch ein
                                                                       begründet … und durch eine klare und
       Zeugnis erfolgen“: durch gelebte Solidarität,
                                                                       eindeutige Verkündigung des Herrn Je-
       durch den Glauben an Werte, durch die Hoff-
                                                                       sus Christus entfaltet wird. Die Frohbot-
       nung auf etwas, das man nicht sieht. „In der
                                                                       schaft, die durch das Zeugnis des Lebens
       Tat, ein solches Zeugnis ist bereits stille, aber
                                                                       verkündet wird, wird also früher oder spä-
       sehr kraftvolle und wirksame Verkündigung
                                                                       ter durch das Wort des Lebens verkündet
       der Frohbotschaft. Es handelt sich hier um eine
                                                                       werden müssen. Es gibt keine wirkliche
       Anfangsstufe der Evangelisierung. (EN 21)
                                                                       Evangelisierung, wenn nicht der Name,
                                                                       die Lehre, das Leben, die Verheißungen,
                                                                       das Reich, das Geheimnis von Jesus von
                                                                       Nazareth, des Sohnes Gottes, verkündet
                                                                       werden. (EN 22)

                                                            „früher
         Zeugnis des Lebens ohne Worte                       oder                     Zeugnis des Wortes
                                                           später“ ?

    Das Verhältnis von Wort und Tat bzw. vom „Zeug-             diges persönliches und institutionelles Zeugnis und
    nis des Wortes“ und „Zeugnis des Lebens“ ist der            wirkt der Gefahr einer übergriffigen Missionierung
    häufigste Anlass für Auseinandersetzungen und Ab-           entgegen. Allerdings überschätzen Christen oft
    grenzungen, wenn es in einer kirchlichen Einrichtung        die Strahlkraft ihres persönlichen Lebenszeugnis-
    oder in einem pastoralen Handlungsfeld um den               ses, während Mitmenschen meist deutlich dessen
    Auftrag zur Evangelisierung geht. Evangelii Nunti-          Schwächen und Widersprüche wahrnehmen. Auch
    andi fordert, dass die ausdrückliche Verkündigung           die institutionelle Diakonie wie die größtenteils re-
    des Evangeliums „früher oder später“ zum „Zeugnis           finanzierte und damit unter dem Zwang der Wirt-
    des Lebens“ dazukommen muss. Diese Forderung ist            schaftlichkeit stehende Caritas wird häufig - auch
    bezogen auf die Gesamtheit der kirchlichen Verkün-          von den eigenen Mitarbeitenden - nicht ausdrück-
    digung zwar richtig, legt aber einen zeitlichen Zu-         lich im Zusammenhang mit dem Evangelium wahr-
    sammenhang zwischen dem Lebenszeugnis und der               genommen, so dass die Frage nach der erkennbaren
    Wortverkündigung in jeder Situation nahe. Der Ge-           missionarischen Dimension der Diakonie berechtigt
    danke einer zeitlichen Abfolge taugt aber nicht für         erscheint.
    die unterschiedlichen Situationen, in denen sich das        „So leben und handeln, dass man nach dem Glau-
    konkrete kirchliche Handeln nun einmal vollzieht –          ben gefragt wird“ ist eine Haltung, die in den letzten
    sei es auf individueller oder institutioneller Ebene. Es    Jahrzehnten stark betont wurde und in der Praxis
    besteht die Gefahr, dass das persönliche christliche        vertraut und eingeübt ist. Die ausdrückliche Verkün-
    Lebenszeugnis und das institutionelle diakonische           digung jenseits der klassischen Formen in Predigt
    Handeln abgewertet bzw. als unvollständig dekla-            und (Sakramenten-)Katechese ist dagegen weniger
    riert werden, obwohl beides – wie auch Evangelii            vertraut. In vielen Gemeinden lässt sich zudem be-
    Nuntiandi betont – schon eine stille, wirksame und          obachten, dass das „Zeugnis des Lebens“ eher den
    unverzichtbare Verkündigung der Frohbotschaft ist.          Ehrenamtlichen und das „Zeugnis des Wortes“ eher
    Faktisch werden diese beiden Wege der Evangeli-             den Hauptamtlichen zugeschrieben bzw. an sie de-
    sierung in der Praxis meist so ins Verhältnis gesetzt:      legiert wird. Das kann kein zukunftsfähiges Modell
    „So leben und handeln, dass man nach dem Glauben            sein, wenn das Zukunftsbild und viele Gläubige
    gefragt wird.“ Diese Haltung setzt auf ein glaubwür-        selbst eine größere Sprachfähigkeit im Glauben an-
9

streben. Diese sollte in Zukunft stärker eingeübt und   Vollzüge Platz finden kann.
praktiziert werden, indem Gelegenheiten gesucht         Beide Wege der Evangelisierung sollten nicht gegen-
und geschaffen werden, um in eigenen Worten             einander ausgespielt, sondern als gleichwertig be-
Zeugnis vom Glauben zu geben. Auch in kirchlichen       trachtet werden, auch wenn sie nicht in der Logik
Einrichtungen darf die Frage gestellt werden, unter     einer zeitlichen Abfolge stehen und auch nicht im-
welchen Bedingungen das ausdrückliche Glaubens-         mer gleichzeitig realisiert werden können.
zeugnis jenseits liturgischer bzw. katechetischer

  Evangelisierung – diakonisch und missionarisch
 Wie einleitend schon erwähnt, werden im Zukunftsbild wie in anderen kirchlichen Dokumenten die Be-
 griffe Mission bzw. missionarisch und Evangelisierung bzw. evangelisierend gleichbedeutend und ohne
 weitere Wertung verwendet. Das Zukunftsbild spricht z.B. von „missionarisch Kirche sein“ und zugleich
 von der „evangelisierenden Ausrichtung der Pastoral“. Allerdings sind in diesem Kontext bestimmte
 Wortkombinationen geläufiger als andere, in der Regel ist z.B. nur von „missionarischer Pastoral“ und
 von „missionarischer Spiritualität“ die Rede.
 Im Laufe des diözesanen Dialogprozesses hat sich gezeigt, dass innerkirchlich eine programmatische
 Unterscheidung hilfreich sein kann. Wie schon gesagt, ist Evangelisierung der neuere und weniger be-
 lastete Begriff. Er kann als Oberbegriff für ein ganzheitliches Verständnis von Evangelisierung stehen,
 das die diakonische und missionarische Dimension gleichermaßen umfasst. Der Ausdruck „missiona-
 risch“ steht in diesem Verständnis dann ausschließlich für das ausdrückliche Glaubenszeugnis.
 „Evangelisierung“ bzw. „evangelisierend“ steht also immer für beide Dimensionen, die diakonische und
 die missionarische. In diesem Sinne werden im Reader die Begriffe „diakonisch-missionarische Spiritu-
 alität“ bzw. „diakonisch-missionarische Pastoral“ eingeführt und verwendet, um auch im Bereich der
 Spiritualität und der pastoralen Planung anzuzeigen, dass eine ganzheitliche Evangelisierung immer
 beide Dimensionen umfasst.
10
     Dimensionen der Evangelisierung
     Wie können Wort und Tat im Bezeugen des Evan-          kann? Das folgende Schaubild versucht eine prakti-
     geliums in ein angemessenes und fruchtbares Ver-       kable Verhältnisbestimmung und bezieht dabei die
     hältnis gebracht werden? Wie sieht eine „Hand-         spirituelle Dimension allen pastoralen Handelns ein.
     lungstheorie“ aus, die dem diakonischen und
     missionarischen Handeln zugrunde gelegt werden

                       Setting                                                Setting
                 „Zeugnis ohne Worte“                                   „Zeugnis des Wortes“
                   Dienst am Leben                                     Dienst am Glauben

     Um die Fronten zwischen einer ausschließlich dia-      die in der Regel einem diakonischen oder missionari-
     konischen und einer ausschließlich missionarischen     schen Setting zuzuordnen ist. Einrichtungen der Ju-
     Ausrichtung aufzubrechen, ist zunächst eine Unter-     gendsozialarbeit z.B. haben ein diakonisches Setting
     scheidung zwischen verschiedenen „Settings“ (ge-       („Dienst am Leben“), Gottesdienste und Katechese
     strichelter Innenkreis) hilfreich: konkretes Handeln   gehören zur ausdrücklichen Verkündigung („Dienst
     findet immer in einer bestimmten Situation statt,      am Glauben“).

                                                                                he Dime
                      narische Dime                                        onisc       ns
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                 „Zeugnis ohne Worte“                                   „Zeugnis des Wortes“
                   Dienst am Leben                                      Dienst am Glauben

                 Die Sehnsucht nach dem Evangelium                          Sich von der Not anderer
                        erkennen und davon                                       berühren lassen
                             sprechen                                             und handeln

     Eine ganzheitliche Evangelisierung umfasst aber        chen wird oder werden darf. In Liturgie und Kateche-
     immer beide Dimensionen, die diakonische und die       se stehen Glaube und Kirche im Vordergrund, aber
     missionarische, so dass die jeweiligen Settings of-    ebenso wenig darf hier der Blick für die Nöte von
     fen bleiben sollten für die jeweils andere Dimension   Menschen außen vor bleiben. Jedes Setting legt zu-
     (blaue Kreisfläche). Das diakonische Setting sollte    nächst einen Schwerpunkt nahe, bleibt aber durch-
     also nicht zur Folge haben, dass in solchen Einrich-   lässig für die jeweils andere Dimension.
     tungen nicht über Gott und den Glauben gespro-
11

                                          Wirken des Geistes

                narische Dime                                                   onisc
                                                                                     he Dime
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                                                  „Wann ist was

                                            n
                                                    in welcher
                  Setting                          Form dran?“                     Setting
            „Zeugnis ohne Worte“                 Die Liebe weiß,             „Zeugnis des Wortes“
              Dienst am Leben                   wann sie reden und       Dienst am Glauben
                                                wann sie schweigen
                                                       soll.

                                                 nach Benedikt XVI. in
           Die Sehnsucht nach dem Evangelium                                   Sich von der Not anderer
                  erkennen und davon               Deus caritas est                 berühren lassen
                       sprechen                                                      und handeln

                       Diakonisch-Missionarische Spiritualität

Wann und in welcher Form die jeweils andere Di-              Pfeile an: durch das „Wirken des Heiligen Geistes“
mension zum Tragen kommt, ist eine Frage geist-              und durch die Pflege einer „Diakonisch-Missionari-
licher Unterscheidung. Dabei kommen sowohl die               schen Spiritualität“. Denn nach Evangelii Nuntiandi
Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse von Menschen              ist der Geist Gottes der eigentlich Handelnde (vgl. EN
als auch die Leidenschaft für das Evangelium zum             75), der in allen Situationen wirken kann und diese
Tragen. „Die Liebe weiß, wann sie reden und wann             öffnet für das Zeugnis des Glaubens mit oder ohne
sie schweigen soll.“ Dieses Unterscheidungskrite-            Worte. Christinnen und Christen, die aus einer dia-
rium ist angelehnt an eine von Benedikt XVI. in der          konischen und missionarischen Spiritualität heraus
Enzyklika „Deus caritas est“ formulierte Aussage:            leben, werden die Offenheit für dieses Wirken des
„Der Christ weiß, wann es Zeit ist, von Gott zu re-          Heiligen Geistes immer mehr einüben, um besser
den, und wann es recht ist, von ihm zu schweigen             erkennen zu können, wann etwas in welcher Form
und nur einfach die Liebe reden zu lassen.“ (DC 31)          dran ist. Wodurch eine solche diakonisch-missionari-
Die Verhältnisbestimmung von Wort und Tat muss               sche Spiritualität gekennzeichnet ist, beschreibt das
also vom Unterscheidungskriterium der Liebe her              folgende Zitat. Es stammt aus der Enzyklika „Evan-
immer wieder neu vorgenommen werden und hat                  gelii Gaudium“ (EG), die 2013 von Papst Franziskus
damit nichts Statisches. Wodurch diese geistliche            als Aufruf zu einer neuen Evangelisierung veröffent-
Unterscheidung genährt wird, zeigen die beiden               licht wurde.
12
     Diakonisch-Missionarische Spiritualität

        Evangelisierende mit Geist sind Verkünder des     Die Kirche braucht dringend die Lunge des
        Evangeliums, die beten und arbeiten. Vom          Gebets, und ich freue mich sehr, dass in allen
        Gesichtspunkt der Evangelisierung aus nüt-        kirchlichen Einrichtungen die Gebetsgruppen,
        zen weder mystische Angebote ohne ein star-       die Gruppen des Fürbittgebets und der beten-
        kes soziales und missionarisches Engagement       den Schriftlesung sowie die ewige eucharisti-
        noch soziales oder pastorales Reden und Han-      sche Anbetung mehr werden.
        deln ohne eine Spiritualität, die das Herz ver-   Zugleich ‚gilt [es], die Versuchung einer inti-
        wandelt. Diese aufspaltenden Teilangebote         mistischen und individualistischen Spiritualität
        erreichen nur kleine Gruppen und haben keine      zurückzuweisen, die sich nicht nur mit den For-
        weitreichende Durchschlagskraft, da sie das       derungen der Liebe, sondern auch mit der Logik
        Evangelium verstümmeln.                           der Inkarnation … schwer in Einklang bringe
        Immer ist es notwendig, einen inneren Raum        ließe.‘
        zu pflegen, der dem Engagement und der Tä-        Es besteht die Gefahr, dass einige Zeiten des
        tigkeit einen christlichen Sinn verleiht. Ohne    Gebets zur Ausrede werden, sein Leben nicht
        längere Zeiten der Anbetung, der betenden         der Mission zu widmen, denn die Privatisierung
        Begegnung mit dem Wort Gottes, des auf-           des Lebensstils kann die Christen dazu führen,
        richtigen Gesprächs mit dem Herrn verlieren       zu einer falschen Spiritualität Zuflucht zu neh-
        die Aufgaben leicht ihren Sinn, werden wir vor    men. (EG 262)
        Müdigkeit und Schwierigkeiten schwächer und
        erlischt der Eifer.
13
Was ist das Evangelium?
Von der sprachlichen Wurzel her bedeutet Evange-       Glaubwürdigkeitskrise der Kirche tritt die eigentli-
lisierung ganz einfach die Verkündigung des Evan-      che Botschaft noch mehr in den Hintergrund.
geliums und Evangelium bedeutet „frohmachende          Zur Zeit gibt es viele kirchliche Einzelthemen und oft
Botschaft“ oder „gute Nachricht“.                      ist die theologische Sprache so kompliziert, dass sich
Was aber sind die Inhalte des Evangeliums, die ver-    das Evangelium in der Tat nicht so leicht erkennen
kündet werden sollen, und was ist die Botschaft, die   lässt. Auch viele Gläubige tun sich damit schwer, den
Freude auslöst?                                        Kern des christlichen Glaubens für säkulare Zeitge-
Nach knapp zweitausend Jahren Christentum gibt         nossen auf den Punkt zu bringen. Wenn aber das
es vieles, das Menschen heutzutage – positiv wie       Evangelium in einem säkularen Kontext wahrge-
negativ – mit dem Glauben und der Kirche in Ver-       nommen werden soll, kommt es umso mehr darauf
bindung bringen. In der öffentlichen Wahrnehmung       an, dass das entscheidend Christliche einfach und
stehen meist kirchenpolitische und moralische Fra-     prägnant zum Ausdruck kommt.
gestellungen im Vordergrund. Durch die aktuelle

 Versuchen Sie es selbst!

Das Evangelium in drei Sätzen – wie würden Sie es formulieren?

      1.

      2.

       3.

Die folgende Übersicht präsentiert die Inhalte des     Aus den Zitaten (links) wird jeweils ein zentrales
Evangeliums, wie sie in Evangelii Nuntiandi und        Stichwort (rechts) festgehalten.
Evangelii Gaudium vorgestellt werden.
14
     Was ist das Evangelium?                                         nach Evangelii Nuntiandi

     Jesus selbst, Frohbotschaft Gottes. (EN 7)                           •   Jesus selbst

     Christus verkündet an erster Stelle das Reich Gottes …               •   Reich Gottes
     Der Herr liebt es, unter vielen verschiedenen Formen das Glück zu
     beschreiben, diesem Reich anzugehören. (EN 8)

     Evangelisieren besagt zuallererst, auf einfache und direkte Weise    •   Gott
     Zeugnis zu geben von Gott, der sich durch Jesus Christus geof-       •   Offenbarung
     fenbart hat im Heiligen Geist. Zeugnis davon zu geben, dass er       •   Jesus Christus
     in seinem Sohn die Welt geliebt hat; dass er in seinem mensch-       •   Heiliger Geist
     gewordenen Wort allen Dingen das Dasein gegeben und die              •   Ursprung des Daseins
     Menschen zum ewigen Leben berufen hat. (EN 26)                       •   Ewiges Leben

     Es wird aber erst zur wirklichen Evangelisierung, wenn aufgezeigt    •   Schöpfer
     wird, dass der Schöpfer für den Menschen keine anonyme und           •   Gott als Vater
     ferne Macht ist: er ist der Vater. Also sind wir untereinander       •   Menschen als Kinder Gottes
     Brüder in Gott. (EN 26)                                              •   und Geschwister

     Als Mittelpunkt seiner Frohbotschaft verkündet Christus das          •   Heil
     Heil, dieses große Gottesgeschenk, das in der Befreiung von          •   Befreiung von Unterdrückung
     allem besteht, was den Menschen niederdrückt, vor allem aber             und von Sünde und Bösem
     in der Befreiung von der Sünde und vom Bösen, in der Freude,         •   Freude
     Gott zu erkennen und von ihm erkannt zu werden, ihn zu schau-        •   Gott erkennen und
     en und ihm anzugehören. (EN 9)                                           ihm angehören

     Die Evangelisierung wird auch immer klar verkünden müssen,           •   Menschwerdung
     dass in Jesus Christus, dem menschgewordenen, gestorbenen            •   Tod und Auferstehung Jesu
     und auferstandenen Sohne Gottes, das Heil einem jeden Men-
     schen angeboten ist. (EN 27)

     Die Verkündigung der Liebe Gottes zu uns und unserer Liebe zu        •   Liebe Gottes zu uns
     Gott; die Verkündigung der Bruderliebe zu allen Menschen.            •   unsere Liebe zu Gott
     (EN 28)                                                              •   Geschwisterliebe
15
Was ist das Evangelium?                                              nach Evangelii Gaudium
„Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss         •    Begegnung mit Ereignis
oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis,         •    Begegnung mit Person
mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und            •    neuer Lebenshorizont
damit seine entscheidende Richtung gibt.“ (EG 7)                        •    Richtungsentscheidung

Allein dank dieser Begegnung – oder Wiederbegegnung – mit der           •    Begegnung mit der
Liebe Gottes, die zu einer glücklichen Freundschaft wird, werden             Liebe Gottes
wir von unserer abgeschotteten Geisteshaltung und aus unserer           •    Freundschaft
Selbstbezogenheit erlöst. (EG 7)                                        •    Erlösung

Jesus, der Evangelisierende schlechthin und das Evangelium in           •    Jesus - das Evanglium in Person
Person. (EG 209)

Aus einer Lektüre der Schrift geht außerdem klar hervor, dass das       •    Persönliche Beziehung zu Gott
Angebot des Evangeliums nicht nur in einer persönlichen Bezie-               und
hung zu Gott besteht. … Das Angebot ist das Reich Gottes (vgl.          •    Einsatz für das Reich Gottes
Lk 4,43); es geht darum, Gott zu lieben, der in der Welt herrscht.
In dem Maß, in dem er unter uns herrschen kann, wird das Gesell-
schaftsleben für alle ein Raum der Brüderlichkeit, der Gerechtig-
keit, des Friedens und der Würde sein. (EG 180)

Mitunter verlieren wir die Begeisterung für die Mission, wenn wir       •    Antwort auf Bedürfnisse
vergessen, dass das Evangelium auf die tiefsten Bedürfnisse der         •    Freundschaft mit Jesus und
Menschen antwortet. Denn wir alle wurden für das erschaffen,                 geschwisterliche Liebe
was das Evangelium uns anbietet: die Freundschaft mit Jesus und
die brüderliche Liebe. Wenn es gelingt, den wesentlichen Inhalt
des Evangeliums angemessen und schön zum Ausdruck zu brin-
gen, wird diese Botschaft sicher zu den tiefsten Sehnsüchten der
Herzen sprechen. (EG 265)

Angesichts der vielen Inhalte drängt sich nun die     Was ist der Kern und was ist die inhaltliche Linie, die
Frage auf, was der wesentliche Inhalt des Evange-     der Evangelisierung Dynamik und Profil verleihen
liums ist.                                            können?
16
     Dynamik der Evangelisierung

           Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest,   Gott über alle erhöht und ihm den Namen ver-
           Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich    liehen, der größer ist als alle Namen, damit alle
           und wurde wie ein Sklave und den Menschen          im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihr
           gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er      Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder
           erniedrigte sich und war gehorsam bis zum          Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr zur
           Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn           Ehre Gottes, des Vaters. (Phil 2,6-10)

     In seinem Brief an die Gemeinde in Philippi beschreibt   Die Dynamik der Evangelisierung geht also
     der Apostel Paulus die grundlegende Dynamik des          ursprünglich und bleibend von Gott aus, der in Jesus
     Evangeliums: Gott selbst macht sich auf den Weg zu       den Menschen aufsucht, um Begegnung mit ihm zu
     den Menschen, um ihnen einen Weg zum Himmel              feiern.
     zu eröffnen. Jesus teilt das menschliche Leben, um
     es zu erlösen.

     Das folgende Schaubild baut sich in drei Schritten       Im zweiten Schritt werden die wesentlichen Inhalte
     auf und verknüpft die Dynamik der Evangelisierung        des Evangeliums in Stichworten diesem Weg
     mit den Inhalten des Evangeliums. Im ersten Schritt      zugeordnet.
     wird Gottes Weg zum Menschen in einem Satz               Abschließend fügen sich Stichworte, die die Antwort
     zusammengefasst.                                         des Menschen umschreiben, in die Dynamik ein.

                       GOTT                                                         LEBEN IN FÜLLE

                          teilt unser
                            Leben,

                                                     MENSCH
17

                                 Dynamik der Evangelisierung
                                    … mit den Inhalten des Evangeliums…

                       GOTT                                                                        LEBEN IN FÜLLE

      Schöpfer        …wird                                                                            …das in die     Ewiges Leben
                      Mensch                                                                         ewige Gemein-
                                                                                                     schaft mit ihm
                                                                                                        mündet.
        Vater                                                                                                         Reich Gottes

                           teilt unser                                                             …und für
           Jesus             Leben,                                                                andere,        geschwister-
                                                                                                                   liche Liebe

                Liebe Gottes
                                                             MENSCH
                                    um uns zu suchen                                zu einem Leben         unsere Liebe
                   zu uns                                                              mit ihm…              zu Gott

                                                           uns zu befreien…                     Heiliger Geist
                               Freude

                                             Heil                                   Freundschaft
                                                         Erlösung durch Kreuz         mit Jesus
                                                          und Auferstehung

Für Theorie und Praxis der Evangelisierung ist ent-                    schaft an. Das ist die erste und wichtigste Botschaft,
scheidend, dass die einzelnen Inhalte des Evange-                      die alle weiteren Inhalte durchdringen muss, um sie
liums immer dieser grundlegenden Dynamik zuge-                         in das Gesamtgeschehen einzuordnen und ins rech-
ordnet werden: Gott geht selbst auf die Menschen                       te Licht zu rücken.
zu und bietet ihnen Gemeinschaft, ja sogar Freund-

                                 Dynamik der Evangelisierung
                                         …mit der Antwort des Menschen.

                       GOTT                                                                        LEBEN IN FÜLLE

      Schöpfer        …wird              Begegnung mit einer Person      neuer Lebenshorizont          …das in die     Ewiges Leben
                      Mensch                                                                         ewige Gemein-
                                                                                                     schaft mit ihm
                                                                                                        mündet.
        Vater                                Gott erkennen            Richtungsentscheidung                           Reich Gottes

                           teilt unser                                                             …und für
           Jesus             Leben,                                                                andere,        geschwister-
                                                       Zustimmung des Herzens                                      liche Liebe

                Liebe Gottes
                                                             MENSCH
                                    um uns zu suchen                                zu einem Leben            unsere Liebe
                   zu uns                                                              mit ihm…                 zu Gott

                                                           uns zu befreien…                     Heiliger Geist
                               Freude

                                             Heil                                   Freundschaft
                                                         Erlösung durch Kreuz         mit Jesus
                                                          und Auferstehung
18
     Dynamik der Evangelisierung

     Dass am Anfang des Christseins die Begegnung mit        Richtung gibt, unterstreicht noch einmal das folgen-
     einem Ereignis bzw. einer Person steht, die dem Le-     de Zitat aus Evangelii Gaudium:
     ben einen neuen Horizont und seine entscheidende

           Man kann eine hingebungsvolle Evangelisierung nicht mit Ausdauer betreiben, wenn man nicht
           aus eigener Erfahrung davon überzeugt ist,
           dass es nicht das Gleiche ist, Jesus kennen gelernt zu haben oder ihn nicht zu kennen,
           dass es nicht das Gleiche ist, mit ihm zu gehen oder im Dunkeln zu tappen,
           dass es nicht das Gleiche ist, auf ihn hören zu können oder sein Wort nicht zu kennen,
           dass es nicht das Gleiche ist, ihn betrachten, anbeten und in ihm ruhen zu können oder es nicht
           tun zu können. …
           Wir wissen sehr wohl, dass das Leben mit ihm viel erfüllter wird und dass es mit ihm leichter ist,
           in allem einen Sinn zu finden. Deswegen verkünden wir das Evangelium. (EG 266)

     Die Freude, Gott zu kennen und mit ihm durchs Le-       verzweckte Begegnung mit ihren Mitmenschen ein-
     ben gehen zu können, lässt bei den Glaubenden die       lassen, die auf echtem Interesse an der Geschichte
     Dynamik entstehen, dieses Glück mit anderen teilen      der anderen basiert und offen ist für das Wirken des
     zu wollen.                                              Geistes.
     Evangelisieren bedeutet dann, einzutreten in diese      Schon der Apostel Paulus betont gegenüber den
     Dynamik von Gott her und mit Leidenschaft und Ge-       Gläubigen in Philippi, dass er als Verkündiger des
     lassenheit mitzuwirken an dieser Geschichte Gottes      Evangeliums noch nicht am Ziel ist und noch nicht
     mit den Menschen und mit der gesamten Mensch-           alles vom Glauben begriffen hat, sondern vor allem
     heit - situationsgerecht mit oder ohne Worte, offen-    jemand ist, der von Jesus Christus ergriffen worden
     siver oder zurückhaltender.                             ist (vgl. Phil 3,12). Wer evangelisiert, tritt also nicht
     Diese Dynamik qualifiziert auch die Art und Weise       wie ein Wissender oder Besitzender auf, sondern
     der Evangelisierung: man kann nach Papst Franzis-       wie jemand, der etwas erfahren hat und davon er-
     kus „nicht vom Balkon herunter“ evangelisieren. Es      zählen möchte. Wer evangelisiert, ist zugleich auf-
     geht darum, die Position der (moralischen) Überle-      merksam dafür, welches Zeugnis in welcher Situati-
     genheit oder des (Besser-)Wissens zu verlassen und      on angebracht und gefragt ist. Wer das Evangelium
     „unbewaffnet“ auf andere Menschen zu zugehen.           in einer Begegnung in Wort oder Tat bezeugen will,
     Wie Gott, der sich in Jesus auf das menschliche Le-     sollte aber auch immer bereit sein, sich selbst durch
     ben mit seinen Höhen und Tiefen eingelassen hat,        andere evangelisieren zu lassen.
     so sollen sich Christinnen und Christen auf eine un-
19
Kurzdefinition

 EVANGELISIERUNG zielt auf
 • die Umwandlung der Menschen nach dem Bild Christi

 • und die Umwandlung der Welt hin zum Reich Gottes

 • durch das Wirken des Geistes

 • im Bezeugen des Evangeliums,

 • nämlich der Liebe Gottes zu uns und unserer Liebe zu Gott

 • und der geschwisterlichen Liebe zu allen Menschen.

 Erläuterungen
 Diese Kurzdefinition vereint verschiedene Aussagen der zuvor zitierten kirchlichen Dokumente und
 versucht, das Profil der Evangelisierung angesichts aktueller Herausforderungen zum Ausdruck zu
 bringen:

 • Es geht und ging schon immer um Verwandlung und Erneuerung als Ziel der Verkündigung –
  umso mehr in Zeiten starker gesellschaftlicher und kirchlicher Veränderungen.

 • Jede/r Einzelne ist auf einen persönlichen Umkehrweg gerufen und hat zugleich den Auftrag
   zur Veränderung der Welt und der sozialen Verhältnisse.

 • Der Geist Gottes ist der eigentlich Handelnde, der wirksam wird im Zeugnis von Menschen
   in Wort und Tat.

 • Die Liebe Gottes zu uns fragt nach unserer Liebe zu Gott und zu allen Menschen.

 • Mit der Person Jesu ist jedem Christen eine starke persönliche Vision geschenkt und mit
  dem Reich Gottes hat die Kirche eine starke globale Vision.
20

     Christinnen und Christen sind immer in einem kon-       heute leben. Aus dem Zukunftsbild stammen die
     kreten gesellschaftlichen Umfeld unter konkreten        ersten drei Zitate. Demnach müssen Gläubige er-
     gesellschaftlichen Bedingungen dazu berufen, das        leben, dass viele gewohnte Traditionen abbrechen
     Evangelium zu bezeugen. Ein wichtiger Schritt der       und sich der christliche Glaube im Wettbewerb mit
     Evangelisierung ist daher auch, die Wirklichkeit an-    anderen Angeboten befindet.
     zuerkennen. Die folgenden Zitate sollen dabei hel-
     fen, besser zu verstehen, in welchen Kontexten wir      Teilen Sie die folgenden Einschätzungen?

     Glaubensverlust

          Die Wirklichkeit wahrnehmen und anerken-           fällt auch vielen Christinnen und Christen im-
          nen                                                mer schwerer.
          ... Der christliche Glaube verliert schleichend    Die Kenntnis anderer religiöser Traditionen
          auch bei getauften Christen zunehmend seine        und Überzeugungen wächst und mit ihr die
          selbstverständliche Akzeptanz und Plausibili-      Tendenz, verschiedene religiöse Traditionen in-
          tät.                                               dividuell zu vermischen. Ein beispielloser Tradi-
          Die Annahme eines transzendenten, lebendi-         tionsabbruch prägt alle Bereiche des pastora-
          gen, mit den Menschen in Beziehung stehen-         len Handelns heute und führt häufig zu einem
          den und für die Menschen handelnden Gottes         Gefühl des Ausgeliefertseins. (ZB 22f.)

     Marktsituation

           Nach ihrem eigenen Selbstverständnis ist es       Zugleich bringt das Erzbistum Paderborn den
           Auftrag der Kirche, die Wahrheit des Evange-      Anspruch des Evangeliums mutig zur Geltung.
           liums zu verkünden. Die Vorstellung, dabei in     Dies ist immer verbunden mit dem Ruf zum
           einem Wettbewerb mit anderen Anbietern auf        Umdenken und zum Neuanfang, mit dem An-
           dem Markt zu sein, ist hiermit schwer verein-     gebot von evangeliumsgemäßen Lebenswe-
           bar. Doch gerade um der Wahrheit des Evange-      gen, mit klaren Orientierungspunkten, worin
           liums willen muss die heutige ‚Marktsituation‘    das entscheidend Christliche besteht und wo
           ernst genommen und auf eine hohe Qualität         das unterscheidend Christliche gefordert ist.
           der Angebote und Dienste geachtet werden.         (ZB 32)
           (ZB 24f.)

     Freie Wahl und Zustimmung

          Das Denken vieler Christen in den Kategorien       So ist von einem ‚permanenten Zustimmungs-
          von Angebot und Nachfrage und die freie Wahl       vorbehalt der Gläubigen‘ gegenüber der Kirche
          des Abstandes zur ‚offiziellen‘ Kirche sowie der   und ihren Angeboten auszugehen. Die größ-
          nur gelegentliche Zugriff auf ihre ‚Angebote‘      te Zahl der Getauften scheint ohne eine feste
          sind in allen Bereichen der Pastoral selbstver-    Bindung im Kontakt mit der Kirche bleiben zu
          ständlich geworden und werden es wohl künf-        wollen. (ZB 24)
          tig bleiben.
21

Dass Menschen heute frei auswählen und ihre Zu-                                (religions)soziologische Analyse der Postmoderne
stimmung nicht unüberlegt geben, hat auch positi-                              präsentiert. Die folgenden drei Zitate sind von ihm
ve Effekte. Schon in Evangelii Nuntiandi findet die –                          zusammengestellt und beschreiben gut, wie sich
bereits erwähnte – „Zustimmung des Herzens“ eine                               die gegenwärtige Abwendung vieler Menschen von
positive Würdigung und ist ein zentraler Aspekt der                            Religion vollzieht. Bei den meisten Menschen kann
vollen Wirksamkeit der Evangelisierung. Mit dem                                man heute von einer religiösen „Indifferenz“ gegen-
Herzen kann jedenfalls nur zustimmen, wer in inne-                             über der Gottesfrage sprechen, was bedeutet, dass
rer Freiheit lebt.                                                             sie die Frage nach Gott einfach offen lassen.
In den vergangenen Jahren hat Jan Loffeld, Professor
für Praktische Theologie in Utrecht, bei verschiede-                           Wie erleben Sie dieses Phänomen in Ihrem Umfeld
nen Veranstaltungen im Erzbistum Paderborn eine                                und was löst das bei Ihnen aus?

Abwendung von Religion

         Oft steht hinter der Abwendung von Religion                           so weit gehen, dass dem Einzelnen der Gottes-
         und Kirche nicht eine bewusst vollzogene in-                          dienstbesuch schließlich gleichgültig wird und
         dividuelle Wahl, sondern lediglich eine Auf-                          er über einen möglichen Kirchbesuch gar nicht
         merksamkeitsverschiebung. Wenn der Einzelne                           mehr nachdenkt. … . Handeln ist eben nicht im-
         nicht am Gottesdienst teilnimmt, wägt er oft                          mer motivational begründet oder das Ergebnis
         gar nicht ab. Vielmehr hat er … einfach anderes                       einer rationalen Wahl, sondern läuft Motiven,
         zu tun. Gute kircheninterne Gründe, dem Got-                          guten Gründen, Einstellungen zuweilen sogar
         tesdienst fernzubleiben, etwa schlechte Predig-                       voraus und steht daher zu ihnen nicht selten in
         ten oder störender Gesang, spielen für ihn keine                      einem spannungsvollen Verhältnis. Die Abwen-
         zentrale Rolle. Ausschlaggebend ist es, dass es                       dung von der Kirche vollzieht sich hier nicht als
         für ihn etwas Wichtigeres als den Gottesdienst                        Ergebnis einer rationalen Kosten/Nutzen-Ab-
         gibt. Die mit der Konzentration auf anderes ver-                      wägung, sondern praktisch, lautlos, unreflek-
         bundene Aufmerksamkeitsverschiebung kann                              tiert und geradezu automatisch.

Detlef Pollack / Gergely Rosta: Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt a.M. 2015, 466.

 Religiöse Indifferenz

         Über 70% der Bevölkerung verstehen sich we-                           Bezüge aufgewachsen (‚konfessionsfrei‘). …
         der als engagierte Glaubende noch als bewuss-                         Indifferenz folgt ihren eigenen Gesetzen und
         te Atheisten; sie sind irgendwo dazwischen,                           Interessen, öffnet ihre Türen dort, wo sie es will,
         lassen die Gottesfrage offen, weil sie davon                          lässt sich auf Beziehungen ein zu ihren Bedin-
         kaum betroffen sind, wollen wenig oder keine                          gungen. Sie entzieht sich einer ihr überflüssig
         Kirchenbindung, weil sie deren Relevanz nicht                         erscheinenden Kirche, sie sucht jedoch nach
         sehen. … Viele sind Kirchenmitglieder, ohne in-                       Relevanz in einer komplexen Welt. Was Be-
         tensiver am Leben der Gemeinden teilzuneh-                            deutung hat, was sich als wichtig erweist, das
         men (‚kirchendistanziert‘), manche sind ausge-                        findet Interesse, bekommt Gehör, erhält Raum.
         tretene Getaufte (‚konfessionslos‘), andere seit
         Generationen ohne irgendwelche religiösen

Hans-Hermann Pompe: Unbestimmt und offen. Indifferenz als theologische Herausforderung, in: Ders. / Daniel Hörsch (Hg.): Indifferent? Ich bin normal.
Indifferenz als Irritation für kirchliches Denken und Handeln (Kirche im Aufbruch, Bd. 23), Leipzig 2017, 19f.; 25.
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     „Apatheismus“

            Die Apatheisten sind der Religion gegenüber                        gen, die sich als Atheisten bezeichnen. Bei ehe-
            apathisch, gleichgültig – und zwar nicht nur                       maligen Christen ist ihre Empörung ein Beweis
            gegenüber religiösen Antworten, sondern auch                       dafür, dass ihnen die Kirche noch immer nicht
            gegenüber den Fragen, die der Glaube stellt.                       gleichgültig ist. Wenn ein Apatheist negative
            Ein Apatheist lässt sich nicht vom Glauben und                     Äußerungen über die Kirche wiederholt, tut er
            von den Überlegungen zum Thema Religion                            dies meist ohne Erbitterung, weil sie sich eher
            behelligen, er verliert nicht einmal Zeit damit,                   auf ein übernommenes Klischee beziehen, über
            gegen den Glauben zu polemisieren … .                              das er nicht mehr nachdenkt – Gott, die Kirche
            Empörte Kritiker der Kirche finden sich sowohl                     und die Religion gehören nicht zu den Themen,
            unter den Gläubigen als auch unter denjeni-                        denen er seine Aufmerksamkeit schenkt.

     Tomáš Halík, Mit der Hypothese Gott – oder ohne sie, in: Ders. / Anselm Grün / Winfried Nonhoff: Gott los werden?Wenn Glaube und Unglaube sich um-
     armen, Münsterschwarzach 22016, 57-59.

     Evangelisierung angesichts religiöser Indifferenz

                         Der angezeigte pastorale und habituelle Paradigmenwechsel angesichts dieser
                                  Phänomene wäre: Gott ist nicht notwendig, aber möglich!
                           Religion als anthropologisches Potential, nicht als zwingendes Existential.

     Die These von Loffeld hat vor allem eine praktische                       Menschen von der frohen Botschaft ansprechen las-
     Bedeutung. Auch wenn es theologisch richtig ist,                          sen, gilt es, unsere gesellschaftliche Realität ernst zu
     von der Notwendigkeit Gottes zu sprechen, hat die                         nehmen. Ausgehend von dem Paradigmenwechsel
     Gottesfrage praktisch kaum noch Auswirkungen auf                          stellt Loffeld daher die Frage, was sich durch die rea-
     die Lebensweise der meisten Menschen. In unserer                          le Möglichkeit Gottes ändert.
     „apatheistischen“ Gesellschaft spielen Glaubensfra-
     gen eine immer kleinere Rolle. Der angedachte Para-                       Macht Gott einen Unterschied und wenn ja,
     digmenwechsel knüpft hier an: Religion ist für viele                      welchen?
     heute nicht mehr zwingend notwendig, sondern                              Probieren Sie es aus und nehmen sich einmal Zeit
     möglich, sie ist ein Potential.                                           für die folgenden Fragen.
     Wenn es unser Anliegen ist, dass sich auch heute
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    Wesentliche Fragen sind zu stellen –
    ohne in die Abwertung anderer zu verfallen:
                         • Was bedeutet es, einen Gott zu haben und: keinen Gott zu haben?
                         • Welchen heilsamen und von daher relevanten Unterschiede kann
                           der Glaube machen?

       ??
                         • Welche andere, gelassenere oder optimistischere Perspektive auf
                           die Wirklichkeit ist für uns nur aus dem Glauben an Gott heraus
                           möglich?
                         • Wie/wo ist es dieser Glaube, der über menschliche Möglichkeiten
                           hinaus oder genau in ihnen Befreiung, Entlastung, (Er-)Lösung
                           schenkt?
                         • Wie/wo werden Erfahrungen im Glauben gemacht/geschenkt,
                           hinter die jemand nicht mehr zurückmöchte?
                                                                                                                          nach Jan Loffeld

Um den gesellschaftlichen Kontext von Evangeli-                                   Daten zur religiösen Identität allgemein und zur ka-
sierung noch besser zu verstehen, sind empirische                                 tholischen Identität im Besonderen sehr aufschluss-
                                                                                  reich.

Spiritueller Klimawandel

Religiöse Identität allgemein ist weltweit nicht mehr                             Todesfälle sowie Ein- und Austritte. Die US-amerika-
stabil, sondern sehr fluide. Alle größeren Religions-                             nische Theologin Sherry Weddell forscht seit Jahren
gemeinschaften verlieren und gewinnen gleichzei-                                  zur Identität und Praxis von erwachsenen Katholi-
tig eine beachtliche Zahl an Mitgliedern. Auch bei                                ken.
den christlichen Kirchen gibt es zeitgleich große                                 Nachfolgend einige Daten, mit denen sie arbeitet:
Zugewinne und große Verluste über Geburten und

•     53% der erwachsenen US-Amerikaner haben den Glauben ihrer Kindheit abgelegt; 9% haben sich ab-
      gewandt, sind aber später wieder zurückgekehrt.

•     Die am stärksten wachsende Gruppe ist die der „religiös ungebundenen“, was nicht gleichbedeutend ist
      mit „nichtgläubig“; 30% der „religiös ungebundenen“ gehören formal einer Religionsgemeinschaft an;
      30% würden einer Religion beitreten, „haben aber die richtige noch nicht gefunden“;

•     54% der US-Amerikaner, die ohne Glauben aufgewachsen sind, entscheiden sich als Erwachsene für
      eine Religion.

Vgl. Sherry A. Weddell: Forming Intentional Disciples. The Path to Knowing and Following Jesus, Huntington 2012, 19-21.
Das Buch wird bei D&D Medien im Januar 2020 auf Deutsch erscheinen.
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     Auch wenn die religiöse Landschaft in den USA viel-                               der Glaube der Kindheit meist nicht mehr durch,
     fältiger und gesellschaftlich stärker präsent ist, las-                           andererseits hindert das Aufwachsen ohne Glaube
     sen sich aus den dort erhobenen Daten Trends und                                  nicht daran, später zu einer religiösen Identität zu
     Erkenntnisse für Westeuropa ableiten.                                             finden. Dass in der wachsenden Gruppe der „religiös
     Diese Daten belegen zunächst, dass eine stabile, das                              ungebundenen“ die (bewusste) Entscheidung für
     Leben durchgehend prägende religiöse Identität und                                eine Religion verstärkt im Erwachsenenalter fällt,
     Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nicht                                zeigt, welche neuen Möglichkeiten für Evangelisie-
     mehr der erwartbare Normalfall ist. Einerseits trägt                              rung aus dieser Situation erwachsen.

     Katholische Identität

     •     30% aller US-Amerikaner, die katholisch aufgewachsen sind, sind immer noch „praktizierend“
           (d.h. Messbesuch wenigstens einmal im Monat).
     •     38% verstehen sich als katholisch, besuchen aber selten oder nie die Messe.
     •     32% verstehen sich als Erwachsene nicht mehr als Katholiken. Davon gehören 3% nun einer nichtchrist-
           lichen Religion und 15 % einer protestantischen Tradition an; 14 % betrachten sich als „religiös unge-
           bunden“.
     •     Nur 60% aller Katholiken glauben an einen persönlichen Gott, 29% glauben an Gott als eine „unpersön-
           liche Macht“, 8% glauben, dass Gott „anders“ ist und 1 % glaubt an gar keinen Gott.
     •     Nur 48% der Katholiken glauben daran, dass auch eine persönliche Beziehung mit diesem Gott möglich
           ist.

     Vgl. Sherry A. Weddell: Forming Intentional Disciples. The Path to Knowing and Following Jesus, Huntington 2012, 24f.; 43f.

     Zwei Drittel der US-Amerikaner, die katholisch auf-                               Dass die Möglichkeit einer persönlichen Gottes-
     gewachsen sind, verstehen sich im Erwachsenenal-                                  beziehung für die Mehrheit nicht selbstverständ-
     ter immer noch als Katholiken, auch wenn die Praxis                               lich zum katholischen Glaubensverständnis gehört,
     unterschiedlich ist. Hält man sich vor Augen, dass im                             stellt die Art und Weise der Verkündigung in Frage.
     Zentrum des Evangeliums eine Person steht, ist es                                 Man kann hier zurecht von einer Krise des Glaubens
     sehr irritierend, dass nur zwei Drittel aller Katholi-                            sprechen.
     ken an einen persönlichen Gott glauben.

     Kirchenkrise in Deutschland
     Seit Jahrzehnten ist in Deutschland von einer Glau-                                gemeinschaft ein bislang ungeahntes Ausmaß von
     bens- oder Kirchenkrise die Rede. Bis zum Jahr 2010                                Versagen und Schuld in ihren eigenen Reihen offen-
     standen dabei die rückläufige Zahl der Priesterberu-                               bart und mit diesem Versagen außerdem nicht evan-
     fungen und der Gläubigen im Fokus. Seither und ak-                                 geliumsgemäß umgeht?
     tuell ist die Missbrauchskrise der Kontext, in dem sich                            Auch viele Getaufte sehen sich veranlasst, sich nun
     auch das Thema der Evangelisierung in deutschen                                    endgültig von dieser Kirche zu distanzieren, so dass
     Diözesen und in der Weltkirche bewegt. Zur Glau-                                   sich die seit Jahren relativ hohen Austrittzahlen wohl
     benskrise ist eine Glaubwürdigkeitskrise hinzugekom-                               weiter erhöhen werden. Wenn in den Grundlagen zur
     men, die die Bemühungen um Evangelisierung ins                                     Evangelisierung bisher von „distanzierten Getauften“
     Herz trifft. Wer soll dem Evangelium der Gottes- und                               die Rede ist, sind in erster Linie diejenigen gemeint, die
     Nächstenliebe und der Botschaft von Umkehr, Verge-                                 zwar Distanz, aber immer noch losen Kontakt halten
     bung und neuem Leben glauben, wenn die Glaubens-                                   wollen.
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