Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V - Flüchtlingsrat Niedersachsen
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. GESCHÄFTSBERICHT 2012 Überblick zu den politischen Rahmenbedingungen und Aktivitäten des Flüchtlingsrats Niedersachsen im Jahr 2012 VORGELEGT AUF DER MITGLIEDERVERSAMMLUNG DES FLÜCHTLINGSRATS NIEDERSACHSEN AM 25. MAI 2013 Flüchtlingsrat Niedersachsen – Geschäftsbericht 2012 Seite 1
Flüchtlingsrat Niedersachsen – Geschäftsbericht 2012 Seite 3
INHALTSVERZEICHNIS 1 POLITISCHE RAHMENBEDINGUNGEN..........................................................................7 1.1 FLÜCHTLINGE WELTWEIT UND ASYLANTRÄGE IN DEN INDUSTRIENATIONEN........................................7 1.2 FLÜCHTLINGE IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND.................................................................7 1.3 ENTSCHEIDUNGEN DES BUNDESAMTES FÜR MIGRATION UND FLÜCHTLINGE 2012..............................8 1.4 FLÜCHTLINGE IN DEUTSCHLAND...............................................................................................12 2 FLÜCHTLINGSPOLITIK IN NIEDERSACHSEN...........................................................18 2.1 FLÜCHTLINGSAUFNAHME UND FLÜCHTLINGSUNTERBRINGUNG........................................................18 2.2 INTEGRATION.........................................................................................................................23 2.3 SITUATION UND PERSPEKTIVEN FÜR LANGJÄHRIG GEDULDETE FLÜCHTLINGE....................................31 2.4 ABSCHIEBUNG/RÜCKKEHR.......................................................................................................40 2.5 ABSCHIEBUNGSHAFT...............................................................................................................61 2.6 DIE ARBEIT DER HÄRTEFALLKOMMISSION.................................................................................63 2.7 MISSACHTUNG DER RECHTE VON MINDERJÄHRIGEN FLÜCHTLINGEN ..............................................66 3 VEREINSARBEIT IN 2012...................................................................................................70 3.1 VORSTAND UND MITGLIEDER..................................................................................................70 3.2 PERSONAL............................................................................................................................71 3.3 FINANZIELLE PERSPEKTIVEN DER WEITEREN VEREINSARBEIT.........................................................71 FINANZIELLE DARSTELLUNG DES VEREINS..............................................................72 3.4 HOMEPAGE UND MAILING-LISTE.............................................................................................73 3.5 FLÜCHTLINGSRAT. ZEITSCHRIFT FÜR FLÜCHTLINGSPOLITIK IN NIEDERSACHSEN.....................73 3.6 PRESSEERKLÄRUNGEN UND POLITISCHE INITIATIVEN IM JAHR 2012...............................................74 3.7 PROJEKTE DES FLÜCHTLINGSRATS.............................................................................................77 3.8 ARBEITSGRUPPEN AUF LANDESEBENE: ......................................................................................86 3.9 SELBSTORGANISIERUNGSPROZESSE VON FLÜCHTLINGEN:...............................................................89 3.10 ARBEIT VON INITIATIVEN......................................................................................................91 3.11 WEITERBILDUNG..................................................................................................................93 3.12 RECHTSHILFE .....................................................................................................................95 Flüchtlingsrat Niedersachsen – Geschäftsbericht 2012 Seite 4
Zahlen und Fakten 2012
Zahlen und Fakten 2012 Einleitung Wie angekündigt, fällt der Geschäftsbericht des Flüchtlingsrats Niedersachsen für das Jahr 2012 nicht ganz so ausführlich aus wie in vergangenen Jahren. Aktuelle flüchtlingspolitische Tendenzen und Entwicklungen auf internationaler und bundesdeutscher Ebene sind diesmal sehr viel knapper gehalten – dafür beschäftigen wir uns in diesem Bericht ausführlich mit den flüchtlingspolitischen Entwicklungen und Debatten in Niedersachsen und setzen unsere Aktivitäten dazu in Relation. Wir hoffen, damit für unsere Mitglieder ein lesenswertes Informations- und Nachschlagewerk geschaf- fen zu haben. Kapitel 1 widmet sich der Darstellung der Situation von Flüchtlingen in Europa und in Deutschland. Kapitel 2 behandelt die landespolitischen Aspekte und Entwicklungen. Ausführlich stellen wir noch einmal die wenig menschenfreundlichen Formen und Spielarten niedersächsischer Flüchtlingspoli- tik dar und beschreiben die Debatten, Einzelfälle und Themen, die sich am Ende auch auf den Wahlkampf auswirkten. Ministerpräsident David McAllister erklärte seine Wahlniederlage am Ende selbst mit der rigiden Härte der von Innenminister Uwe Schünemann betriebenen Flüchtlingspolitik: "Das hätte ich nach einem Wahlsieg geändert. Die Leute tun doch niemandem etwas, und wenn man sich die demografische Entwicklung anschaut, müssen wir über jeden froh sein, der kommt."1 Kapitel 3 beschreibt die Vereinsarbeit im engeren Sinn. Wir erläutern Aktivitäten und Projekte der Geschäftsstelle sowie der Initiativen im Jahr 2012, um so für eine Transparenz der geleisteten Ar- beit zu sorgen. In diesem Zusammenhang danken wir allen Mitarbeiter_innen und allen Initiativen und Einzelpersonen, die durch ihr Engagement vor Ort für eine konkrete Unterstützung von Flücht- lingen und für die Herstellung von Öffentlichkeit zu flüchtlingspolitischen Fragestellungen gesorgt haben. Der Paradigmenwechsel in der niedersächsischen Flüchtlingspolitik ist eingeleitet, die Weichen- stellungen hin zu einem menschenrechtlich orientierten Umgang mit Flüchtlingen sind getan. Wir werden diesen Prozess begleiten – solidarisch, kritisch, und natürlich unbestechlich. Wir freuen uns über jede ernst gemeinte Kritik und wünschen Ihnen und euch eine anregende Lek- türe. Hildesheim, den 25.05.2012 Der Vorstand des Flüchtlingsrat Niedersachsen: Norbert Grehl-Schmitt Anke Egblomassé Dr. Gisela Penteker Dündar Kelloglu Sigrid Ebritsch 1 Vgl. Welt am Sonntag, 26.01.2013
Zahlen und Fakten 2012 1 Politische Rahmenbedingungen 1.1 Flüchtlinge weltweit und Asylanträge in den Industrienationen Die Statistik des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) vom Jahresende 2011 benennt die größ- ten Flüchtlingsgruppen auf der Welt. Ihre Herkunftsländer sind gekennzeichnet durch lang andau- ernde blutige Konflikte, Krieg und Terror. Doch 80% der Flüchtlinge verbleiben, teils jahrelang, in Nachbarstaaten, die selbst oft arm sind. Seit Anfang 2012 haben allein die Nachbarstaaten Syriens über einer Millionen Flüchtlingen die Tore geöffnet. In Deutschland haben 2012 nur knapp über 6.000 syrische Flüchtlinge Asyl gesucht. 2 1.2 Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland Im Jahr 2012 ist die Zahl der Asylsuchenden im Ver- Asylerstanträge in Deutschland 2012 gleich zum Vorjahr (45.741 Erstanträge) um etwa 41% 1 Serbien 8.477 + 85 % 2 Afghanistan 7.498 ‐3% auf 64.539 gestiegen. Das hört sich viel an, doch setzt 3 Syrien 6.201 + 135 % man diese Zahl in Relation zu den Asylbewerberzahlen 4 Irak 5.352 ‐8% vergangener Jahre, relativiert sich dieser Eindruck 5 Mazedonien 4.546 + 302 % 6 Iran 4.348 + 30 % schnell: Zum einen sind die Zahlen seit Anfang der 90er 7 Pakistan 3.412 + 34 % Jahre stetig gesunken, bis auf einen Tiefstwert von 8 Russland 3.202 + 90 % knapp über 19.000 Asylanträgen im Jahr 2007. In Relati- 9 Bosnien + Herzegowina 2.025 + 564 % on zu niedrigen Werten fällt eine prozentuale Steigerung 10 Kosovo 1.906 + 37 % andere 17.572 + 33 % dann immer vergleichsweise hoch aus. Die Höchststände Summe gesamt 64.539 + 41 % Anfang der neunziger Jahre, aber auch die bereits dras- Quelle: BAMF tisch gesunkenen Zahlen Mitte/Ende der 90er Jahre und um die Jahrtausendwende herum sind noch längst nicht erreicht.3 Generell ist festzustellen, dass die Zahl der Flüchtlinge, die im Jahr 2012 einen Asylantrag in Deutschland gestellt haben, moderat gestiegen ist ¾ Die größte Gruppe der Antragsteller_innen kommt mit 8.477 Flüchtlingen im Jahr 2012 aus Serbien. 90% der Antragsteller_innen sind Roma 4. ¾ 7.498 Flüchtlinge sind aus Afghanistan nach Deutschland geflohen. Neben Kriegsfolgen spielt häufig Gewalt gegen Frauen eine nicht unerhebliche Rolle bei der Flucht.5 ¾ An dritter Stelle der Hauptherkunftsländer steht 2012 Syrien: 6.201 Menschen sind in diesem Jahr nach Deutschland geflohen und haben einen Asylantrag gestellt. Rund 25% werden als 2 Eine ausführliche Darstellung der weltweiten Entwicklung der Flüchtlingszahlen findet Sie unter: http://ww- w.unhcr.org/cgi-bin/texis/vtx/home/opendocPDFViewer.html?docid=5149b81e9&query=global%20trends %202012 3 Siehe Das Bundesamt in Zahlen 2012 - Asyl 4 Vgl. www.freiepresse.de/NACHRICHTEN/DEUTSCHLAND/Asylbewerberzahlen-steigen-2011-zum-vierten- Mal-in-Folge-artikel7885605.php 5 Vgl. www.frauenrat.de/deutsch/infopool/informationen/informationdetail/back/58/jahres_archiv/2012/article/afgha- nistan-frauenrechte-keine-verhandlungsmasse/Frauenrechte.html
Zahlen und Fakten 2012 Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt, rund 70% erhalten sog. subsi- diären Schutz. ¾ Die Antragszahlen aus dem Irak sind mit 5.352 gleichbleibend hoch. Auch hier ist die Men- schenrechtssituation sehr kritisch. ¾ Aus Mazedonien kamen 4.546 Flüchtlinge, überwiegend Roma. ¾ Auch die Zahl der Asylgesuche aus dem Iran hat sich mit 4.348 erneut erhöht. Die UN-Vollver- sammlung hat in einer Resolution die Menschenrechtsverletzungen angeprangert. 2012 sind 13.112 Folgeanträge gestellt worden. Die Zahl der Erst- und Folgeanträge beträgt insge- samt 77.651 und ist um 46% (2010: 53.347) gestiegen. 1.3 Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge 2012 Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist dem Innenminister unterstellt. Zum einen entscheidet es, ob Asylsuchenden Asyl, die Flüchtlingseigenschaft oder Abschiebungsschutz zuer- kannt wird; zum anderen, ob aufgrund einer Verbesserung der Menschenrechtslage im Herkunfts- land die Anerkennung wieder abzuerkennen ist (Widerruf). Das Bundesamt prüft außerdem, ob es entsprechend der Dublin II-Verordnung zuständig für ein Asylverfahren ist, oder ob eine Überstellung in den dafür zuständigen Staat gemäß Dublin II – Verordnung zu erfolgen hat. Im Fol- genden soll die Entscheidungspraxis näher beleuchtet und bewertet werden. Im Jahr 2012 hat das Bundesamt 61.862 Entscheidungen über Asylanträge getroffen. Diese deutli- che Erhöhung der Entscheidungszahlen ist v.a. auf das Bestreben des Bundesinnenministers Friedrich zurückzuführen, die Verfahren von Flüchtlingen aus dem Balkan möglichst schnell abzu- schließen. Angemessene Qualitätsstandards wurden bei dieser aber in vielen Fällen nicht einge- halten: Auf Betreiben des Bundesinnenministeriums führte das Bundesamt ab Herbst 2012 für Flüchtlinge aus Serbien und Mazedonien pauschale Ablehnungs-Schnellverfahren durch. Da es beim BAMF an Personal mangelt und diese Ablehnungen für Balkanflüchtlinge vorrangig zu erledi- gen waren, wurden Asylverfahren von Flüchtlingen aus Afghanistan, Irak, Iran oder Syrien trotz gu- ter Anerkennungschancen nur verzögert bearbeitet. Insgesamt eine inakzeptable Situation. Es muss mehr qualifiziertes Personal beim Bundesamt eingestellt werden, um zügige Verfahren zu er- reichen und – eigentlich selbstverständlich: Schnellverfahren darf es nicht geben. Jeder Einzelfall muss sorgfältig, unvoreingenommen und völkerrechtskonform geprüft werden. 8.764 Flüchtlinge (14,2%) wurden als Flüchtlinge anerkannt (Vorjahr: 16,4%). Bei weiteren 8.376 Personen (13,5%) wurden Abschiebungsverbote festgestellt, weil ihnen im Herkunftsland bei- spielsweise die Todesstrafe, Folter oder Gefahr für Leib und Leben droht. Diese Menschen sind quasi anerkannte Schutzbedürftige zweiter Klasse. Im Zuge der EU-Politik und Rechtsprechung nähert sich ihre rechtliche Situation schrittweise an die der GFK-Flüchtlinge an, eine vollständige Angleichung ist notwendig und gerechtfertigt. Die Zuerkennung des subsidiären Schutzes erfolgt seit 2005 immer häufiger, die Zahl der so Ge- schützten hat sich im Jahr 2012 aber gegenüber dem Vorjahr noch einmal mehr als verdoppelt (2011: 5,9%), was v.a. auf Entscheidungen betr. syrischer Flüchtlinge zurückzuführen ist.
Zahlen und Fakten 2012 Die Unterschiede in der Anerkennungspraxis zwischen den Herkunftsländern sind enorm: Die Schutzquote variiert von (verordneten) 0% Aner- kennungen für serbische und mazedonische Asylsuchende über 39% für Afghanen, 54% für Iraner bis hin zu 96% für syrische Flüchtlinge. Sieht man sich Hauptherkunftsländer wie Afgha- nistan oder Irak an, die langjährige Krisen- oder Kriegsgebiete sind, liegt der Schutzbedarf der Menschen vielfach auf der Hand. Im Vergleich mit anderen EU-Staaten schneidet Deutschland aber nicht immer gut ab: Die erstinstanzliche Schutzquote für Afghanen beispielsweise lag anderswo deutlich höher: In Italien bei 76%, in Schweden bei über 60% Belgien ebenfalls bei fast 60%, in Frankreich bei 50% und in Spanien (bei einer sehr geringen Antragszahl) sogar bei 88%. Insgesamt erhielten in Deutschland fast 28% aller Asylsuchenden in der ersten Instanz einen Schutzstatus, Tendenz steigend. Diese Schutzquote ist noch höher, wenn formalen Ablehnungs- gründe herausgerechnet und die Gerichtsentscheidungen mitberücksichtigt werden: Denn zum einen wurden 2012 rund 23% der Asylanträge gar nicht inhaltlich geprüft. Dies betrifft vor allem „Dublin-Fälle“, in denen man einen anderen EU-Staat für zuständig erklärt. Rechnet man sie her- aus, kommt man bereits auf eine Schutzquote von 36%. Zum anderen werden die erstinstanzlichen Entscheidungen des Bundesamts häufig im anschlie- ßenden Klageverfahren korrigiert: 2012 erhielten so 38% der zuvor abgelehnten afghanischen Klä- ger_innen doch noch einen Schutzstatus. Eine ähnlich hohe Quote gibt es bei Iraner/innen mit 37%, aber auch bei pakistanischen (23%) oder irakischen Asylsuchenden (14%) werden die Be- wertungen des Bundesamts häufig in Frage gestellt. Überblick über die Schutzquoten bei den Hauptherkunftsländern der Flüchtlinge: Syrien: 95,7% Russische Föderation: 14,1% Irak: 60,2% Kosovo: 1,9% Iran: 54,2% Bosnien-Herzegowina: 1,1% Afghanistan: 39,0% Serbien: 0,1% Pakistan: 18,1% Mazedonien: 0,1%
Zahlen und Fakten 2012 Besonders ins Auge sticht die hohe Anerkennungsquote für Flüchtlinge aus Syrien: Zu Beginn des Jahres 2012 war das BAMF noch sehr zurückhaltend mit Syrien-Entscheidungen. Die meisten Fälle blieben lange liegen, augen- scheinlich hoffte man auf eine schnelle Beendi- gung des Krieges. Erst seit Mitte 2012 wird kein Asylantrag von syrischen Staatsangehörigen aus inhaltlichen Gründen abgelehnt. Die Fälle, die nicht positiv entschieden werden, sind vorwie- gend Dublin-Fälle, also solche, für die die Zustän- digkeit einem anderen EU-Staat zugeschoben wird. 1.3.1 Über das Dublin-System verweigert Deutschland Schutz und Moral Die Dublin II-Verordnung regelt allgemein gesprochen die Verteilung von Asylsuchenden auf die Dublin-Staaten.6 Die Verordnung greift, sobald in einem Mitgliedsstaat ein Asylantrag gestellt wird. Verantwortlich für die Durchführung des Verfahrens ist der Dublin-Staat, über den die Einreise in die europäische Union erfolgte, bzw. zugelassen wurde. Nach der Verordnung kann nur ein einzi- ges Asylverfahren innerhalb der EU durchgeführt werden. Als Nachweis für den Grenzübertritt wer- den Fingerabdrücke in einer europaweiten Datenbank gespeichert (EURODAC) oder sonstige Be- weise für eine Einreise in einen Dublin-Staat genutzt. Bei einer Asylantragstellung in Deutschland wird überprüft, ob es Einträge für die Person in EURODAC gibt oder andere Beweise vorliegen, die auf die Zuständigkeit eines anderen Dublin-Staates für das Asylverfahren hinweisen. Ist das der Fall, wird in der Regel ein förmlicher Antrag auf Übernahme des Asylsuchenden bei den zuständi- gen Behörden des Staates gestellt, den die deutschen Behörden für zuständig halten. Entsprechen die zuständigen Behörden der Anfrage (oder antworten sie nicht innerhalb von drei Monaten), gilt der in Deutschland gestellt Antrag als “unzulässig”, und eine Überstellung in den zuständigen Du- blin-Staat wird eingeleitet, es sei denn das Bundesamt macht Gebrauch vom Selbsteintrittsrecht und führt selbst das Asylverfahren durch. In 11.469 Fällen (18% der Asylanträge) hat die Bundesrepublik 2012 Übernahmeersuchen nach der Dublin II-Verordnung gestellt, das heißt, andere EU-Staaten zuständigkeitshalber um die Über- nahme der Betroffenen gebeten. Obwohl die Bundesrepublik aufgrund der weiterhin katastropha- len Situation für Flüchtlinge in Griechenland nicht dorthin abschiebt und die betreffenden Asylver- fahren selbst durchführt, ist der Anteil der Dublinfälle nur leicht gesunken (2011: 20%). In absolu- ten Zahlen ist die Zahl der Dublin-Fälle sogar um rund 2.400 gestiegen. Unter dem Strich begüns- tigt das unfaire Dublin-System die Flüchtlingsabwehrpolitik der Bundesrepublik: In über 3.000 Fäl- len fand eine Überstellung ins EU-Ausland statt, während Deutschland mit rund 1.500 Flüchtlingen nur knapp halb so viele über das Dublin-System aufnahm. 6 Vertragspartner sind neben den EU-Staaten auch Norwegen, Island und die Schweiz.
Zahlen und Fakten 2012 Hauptbetroffene der Dublin-Abschiebungen waren Flüchtlinge aus Afghanistan (311), der Russi- schen Föderation (257), aus Georgien (254), Serbien (180), Kosovo (171) und Irak (161). Mehr als jede 5. Überstellung ging nach Italien, eines der aufgrund seiner schlechten Aufnahmebedingun- gen am meisten in der Kritik stehenden Länder. Auch Abschiebungen nach Ungarn, Malta und Bul- garien wurden von den Verwaltungsgerichten 2012 in einer Vielzahl von Fällen gestoppt, weil Flüchtlingen in diesen Ländern Recht- und/oder Obdachlosigkeit droht. Problematisch sind aber auch die zahlreichen Überstellungen von Irakflüchtlingen nach Schweden, da der skandinavische Staat – im Unterschied zu Deutschland – abgelehnte Asylsuchende in den Zentralirak abschiebt. Die Bundesregierung lehnt jede Reform des Dublin II – Systems ab. Bezeichnend für die deutsche Position sind Reaktionen der Bundesregierung auf Reformvorschläge anderer EU-Staaten. Sie wies dabei auf die Verantwortung der südlichen EU-Staaten für die Etablierung eines funktionierenden Asylsystems hin und hob die finanzielle und personelle Hilfe- leistung Deutschlands und anderer Staaten hervor. Ein aus flüchtlingspolitischer Perspektive ge- rechteres und solidarischeres Verteilungssystem lehnte sie aber ab.7 Diesen Mangel an Solidarität innerhalb der EU nennt Pro Asyl „organisierte Verantwortungslosigkeit“8 gegenüber den Schutzsu- chenden, die unter dem politischen Konflikt zwischen nördlichen und südlichen EU-Staaten zu lei- den haben. Selbst die inzwischen zahlreichen Entscheidungen ober- und höchstgerichtlicher In- stanzen, in denen Überstellungen aufgrund von fehlenden Rechtsschutzmöglichkeiten verboten wurden, hat innerhalb der europäische Politik (noch) zu keinen echten Reformbestrebungen ge- führt. Unerträglich sind in unseren Augen auch die langen Wartezeiten für Flüchtlinge. Das BAMF ist – gestützt auf eine Entscheidung des hessischen Verwaltungsgerichtshofs - der Auffassung, dass die Überstellungsfrist von sechs Monaten durch verwaltungsgerichtliche Eilentscheidungen unter- brochen werden, mit der Folge, dass die Frist nach Abschluss des Klageverfahrens vor vorn be- ginnt. Flüchtlinge leben zuweilen jahrelang mit einer Duldung in Deutschland und warten auf eine rechtskräftige Entscheidung zur Frage, ob ein Asylverfahren in Deutschland überhaupt durchzufüh- ren ist. Wenn dann nach Jahren das Verwaltungsgericht zu der Entscheidung kommt, dass ein Asylverfahren in einem anderen Dublin II – Vertragsstaat durchzuführen ist, haben sich die Betrof- fenen längst in Deutschland eingelebt und wollen aus verständlichen Gründen nicht noch einmal in einem anderen Land von vorn anfangen. 7 http://www.handelsblatt.com/politik/international/innenministertreffen-eu-laender-streiten-um-gemeinsa- me-asylpolitik/6115884.html 8 http://www.proasyl.de/de/news/detail-zurueck-zu-home/news/deutschland_haelt_am_gescheiterten_asylzu- staendigkeitssystem_fest/
Zahlen und Fakten 2012 1.4 Flüchtlinge in Deutschland Nachfolgendes Schaubild zeigt zum Stichtag 31.12.2012, mit welchem Status rund 464.000 Flücht- linge in Deutschland leben: 1.4.1 Aner- kannte Flüchtlinge und subsidiär Geschützte Am 31.12.2012 befanden sich laut Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Lin- ken 115.260 anerkannte Flüchtlinge in Deutschland. 40.690 dieser Flüchtlinge wurden als Asylbe- rechtigte nach Art. 16 a GG anerkannt, wobei wie schon in den Jahren zuvor die größten Gruppen aus den drei Herkunftsländern Türkei, Iran und Afghanistan kamen. Fast 91% von ihnen haben einen unbefristeten Aufenthaltstitel. Bei den 74.570 Personen, die nach § 60 Abs. 1 als Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonventionen anerkannt wurden, ist der Anteil der Personen mit einen unbefristeten Aufenthaltstitel deutlich niedriger: Nur 58% haben eine Niederlassungserlaubnis, während 40% eine befristete Aufenthaltserlaubnis besitzen. Grund für die hohe Quote an befriste- ten Aufenthaltserlaubnissen unter den GFK-Flüchtlingen ist die 2005 eingeführte dreijährige Befris- tung des Aufenthalts nach der Asylanerkennung. Innerhalb der letzten drei Jahre 2010 bis 2012 wurden insgesamt rund 21.500 Menschen nach der GFK anerkannt. Rund 8.000 GFK-Anerkannte mehr haben aber immer noch ein befristetes Aufenthaltsrecht. Hier handelt es sich vor allem um a) im Gerichtsverfahren anerkannte Flüchtlinge innerhalb der Dreijahresfrist (geschätzt etwa 2.500) und b) Flüchtlinge im laufenden Widerrufsverfahren (anhängige Widerrufsverfahren Ende 2012: 4.203). Die mit weitem Abstand größte Gruppe der Asylberechtigten (15.000) kamen – meist vor mehr als 15 Jahren – aus der Türkei, der weitaus größte Teil der GFK-Anerkannten nach § 60 Abs.1 Auf- enthG (33.000) floh aus dem Irak.
Zahlen und Fakten 2012 Darüber hinaus lebten am 31.12.2012 36.005 subsidiär geschützte Flüchtlinge in Deutschland, die nach § 25 Abs. 3 eine Aufenthaltserlaubnis bekamen. Der deutliche Anstieg um 8.000 gegenüber dem Vorjahr geht im Wesentlichen auf die Gruppe der syrischen Flüchtlinge zurück. Für sie sind die gesetzlichen Möglichkeiten, eine Niederlassungserlaubnis zu erhalten, wesentlich restriktiver gefasst als für Asylberechtigte und Flüchtlinge, künftig soll ein Teil von ihnen aber rechtlich besser gestellt werden. Die mit Abstand größte Gruppe der subsidiär Geschützten stellen noch immer af- ghanische Staatsbürger (10.600), syrische Flüchtlinge folgen nun mit knapp 6.000.. 1.4.2 Asylbewerber_innen 40.690 Flüchtlinge befanden sich zum 31.12.2012 mit einer Aufenthaltsgestattung im Asylverfah- ren. Dieser Status gilt für die Dauer des Asylverfahrens. 1.4.3 Flüchtlinge mit Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG Zur Ermöglichung eines Bleiberechts für langjährig geduldete Flüchtlinge sind in Deutschland seit den 80er Jahren eine Vielzahl von befristeten Bleiberechtsregelungen beschlossen und umgesetzt worden. Zum Ende des Jahres 2012 waren 45.669 Flüchtlinge mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 in Deutschland 1.4.4 Geduldete und nicht geduldete Ausreisepflichtige Die Duldung ist kein Aufenthaltstitel, sondern bedeutet lediglich, dass die Abschiebung ausgesetzt ist, weil sie aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht durchgeführt werden kann. Nach § 60 a Abs. 1 kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen bei Ausländergruppen aus bestimmten Herkunftsländern die Abschiebung aussetzen. Bundesweit be- saßen zum 31.12.2012 nur 3.415 Personen eine Duldung nach dieser Regelung. In der Regel ist die Abschiebung nach § 60 a Abs. 2 ausgesetzt, also aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht möglich. Die Gesamtzahl der Geduldeten beläuft sich zum Stichtag 30.12.2012 insgesamt auf 85.344 (2011: 87.136) Personen. Fast 42% der Geduldeten (35.731 Personen) leben seit mehr als sechs Jahren in Deutschland. Bedingt wohl vor allem durch die Bleiberechtsregelungen ist dieser Prozentsatz in den letzten Jah- ren gesunken, bewegt sich aber immer noch auf einem viel zu hohen Niveau. Bei 26% (22.345 Personen) ist die Abschiebung sogar seit über zehn Jahren ausgesetzt. Hier ist zahlenmäßig ge- genüber dem letzten Jahr (22.505) kaum Bewegung auszumachen. Gerade diese extrem-langzeit- geduldeten Menschen, die nicht von den Bleiberechtsregelungen profitieren konnten, scheinen die geringsten Chancen auf eine aufenthaltsrechtliche Perspektive zu haben. Die unsägliche Praxis der Kettenduldungen wird also trotz breiter Proteste aus der Zivilgesellschaft und trotz hehrer Ver- sprechungen der Politik fortgesetzt. Kritisch ist insbesondere auch die im Vergleich zum Vorjahr leicht gestiegene Zahl von ausreise- pflichtigen Personen zu bewerten, die weder über einen Aufenthaltstitel noch über eine Duldung verfügten. Zum 31.12.2012 lebten 33.003 Personen in Deutschland, die unmittelbar ausreisepflich-
Zahlen und Fakten 2012 tig waren. Auch diese Zahl verdeutlicht den hohen Ausreisedruck für viele in Deutschland lebende Flüchtlinge. Die Praxis der faktischen Duldung – also die Aussetzung der Abschiebung ohne be- hördlichen Nachweis – ist nach Meinung des Bundesverwaltungsgerichts rechtswidrig: Solange Flüchtlinge sich in Deutschland aufhalten, haben sie auch einen Anspruch darauf, dass die Auslän- derbehörde ihnen darüber eine Bescheinigung aushändigt. 1.4.5 Flüchtlinge mit einer Aufenthaltserlaubnis nach §25 Abs.5 AufenthG Flüchtlinge, die weder Asyl noch eine Flüchtlingsanerkennung noch subsidiären Schutz erhalten haben, können eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 bekommen, wenn die Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und kein Verschulden des Ausländers (etwa wegen Passvernichtung) vorliegt. Zum 31.12.2012 besaßen 48.153 Personen eine Aufenthaltser- laubnis nach § 25 Absatz 5, von denen ein großer Teil von Übergangsregelungen vom alten Aus- ländergesetz (AuslG) zum neuen Aufenthaltsgesetz profitieren konnte, das zum 1.1.2005 in Kraft trat. Auch Flüchtlinge aus Syrien können derzeit nicht abgeschoben werden und daher ggfs. eine Aufenthaltserlaubnis nach dieser Regelung für sich beanspruchen. Da die Chancen auf Gewäh- rung eines Schutzstatus für diesen Personenkreis aber gegenwärtig sehr groß sind, ist den Betrof- fenen eher anzuraten, einen Asylfolgeantrag zu stellen. Gruppen, die nach dieser Regelung eine Aufenthaltserlaubnis erhalten können, sind im Übrigen z.B. Familienangehörige von subsidiär ge- schützten Flüchtlingen oder auch traumatisierte Flüchtlinge, deren Behandlung im Herkunftsland nicht möglich ist oder denen eine gravierende Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes im Herkunftsland droht. In manchen Bundesländern wird eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG auch an Flüchtlinge erteilt, die in Deutschland lange leben, als integriert gelten und ihnen die Ausreise nicht (mehr) zumutbar ist. Bereits im Jahre 2004 gab es im Kontext der Debatte um ein neues Auslän- derrecht im Bundestag einen Konsens zur Abschaffung der Kettenduldungen. Der Gesetzesbe- gründung lässt sich entnehmen, dass dies v.a. über den § 25 Abs. 5 erreicht werden sollte: „Durch die Anwendung der Regelung soll sichergestellt werden, dass die Praxis der Kettenduldungen be- endet wird. (...) Kein Ausreisehindernis liegt vor, wenn zwar eine Abschiebung nicht möglich ist (...) eine freiwillige Ausreise jedoch möglich und zumutbar ist.“ Deshalb sei im Rahmen der Prüfung der Frage, ob eine Ausreisemöglichkeit bestehe, immer auch die subjektive Möglichkeit – und damit implizit auch die Zumutbarkeit – der Ausreise zu prüfen. 1.4.6 Flüchtlinge mit einem Aufenthalt nach § 25 a AufenthG Seit dem 1.7.2011 ist die Bleiberechtsregelung des § 25 a (AufenthG) in Kraft. Danach können ge- duldete „gut integrierte Jugendliche und Heranwachsende“ eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, wenn sie vor ihrem 14. Geburtstag nach Deutschland geflohen und sechs Jahre in Deutschland zur Schule gegangen sind (oder einen Schulabschluss erreicht haben). Ende 2012 waren 2.408 Personen im AZR verzeichnet, die von dieser Regelung profitiert haben. Davon waren 1.963 un- mittelbar begünstigte Jugendliche und dementsprechend nur wenige Familienangehörige.
Zahlen und Fakten 2012 Wichtig an dieser neuen gesetzlichen Regelung ist, dass sie ohne Stichtag formuliert ist.. Sie er- möglicht darüber hinaus bereits vor Erreichen der Volljährigkeit ein von den Eltern unabhängiges Aufenthaltsrecht. Unter bestimmten Bedingungen wird dann der Jugendliche zum „Stammberech- tigten“, und seine Eltern und minderjährigen Geschwister können von seinem Aufenthalt abgeleitet, ebenfalls ein Aufenthaltsrecht erlangen. Eltern und Geschwister von Heranwachsenden (ab Vollen- dung des 18. Lebensjahres bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres) können von der Regelung jedoch nicht profitieren. 1.4.7 Vorübergehender Aufenthalt (§25 Abs. 4 S.1 AufenthG) Wer auf der Grundlage des § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitär- en Gründen erhalten hat, darf sich nur für einen kurzen Zeitraum in Deutschland aufhalten. Diese Aufenthaltserlaubnis darf nur an solche Personen erteilt werden, die „nicht vollziehbar ausreise- pflichtig” sind, also nicht an Geduldete, die von Abschiebung bedroht sind. Als Gründe für eine Auf- enthaltserlaubnis auf dieser Rechtsgrundlage kommt z.B. in Frage, dass die Behörde den Betroffe- nen die Möglichkeit einräumt, das Schuljahresende abzuwarten, in einem Prozess als Zeuge oder Zeugin auszusagen oder einen schwer kranken Angehörigen zu pflegen. Abhängig vom Grund für die Aufenthaltserlaubnis ist diese zeitlich befristet, manchmal auf nur wenige Wochen. Fällt der Grund für die Erteilung weg, wird die Erlaubnis nicht mehr verlängert. Eine Verlängerung ist allen- falls ausnahmsweise bei Vorliegen einer ”außergewöhnlichen Härte” nach §°25 Abs. 4 Satz 2 Auf- enthG möglich. In der Regel steht nach dem Wegfall des Grundes für die Erlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG die Ausreise oder Abschiebung im Raum. Mit fast 9.057 ist die Zahl der Perso- nen mit einer AE nach § 25 Abs. 4 S. 1 erstaunlich hoch. 1.4.8 Humanitäres Aufenthaltsrecht nach § 25 Abs. 4 S. 2 AufenthG Mit Ausstellung dieser Aufenthaltserlaubnis hat die Ausländerbehörde anerkannt, dass eine ”au- ßergewöhnliche Härte” vorliegt. Die Verwaltungsvorschriften machen den Ausländerbehörden dazu restriktive Vorgaben. Angesichts von dennoch fast 10.000 (9.878) Menschen, die mit einer solchen AE im Bundesgebiet leben, ist zu vermuten, dass diese Rechtsvorschrift in der Praxis nicht selten als Auffangregelung genutzt wird. Besonders hoch ist der Anteil der Flüchtlinge mit AE nach § 25 Abs. 4 S. 2 mit 2.389Personen in Niedersachsen. 1.4.9 Aufnahmeaktionen / Resettlement (§ 23 II AufenthG) Insgesamt lebten am 31.12.2012 mehr als 3.000 Flüchtlinge mit einer Aufenthaltserlaubnis nach §°23 Abs. 2 im Bundesgebiet. Hierbei handelt es sich v.a. um Flüchtlinge aus dem Irak, die in den Jahren 2009 – 2011 im Bundesgebiet im Rahmen einer „einmaligen Aufnahmeaktion“ in Deutsch- land eine Heimat fanden. Im Rahmen des 2011 beschlossenen Resettlement-Programms wurden 2012 insgesamt 300 Flüchtlinge aufgenommen, davon 200 Menschen aus dem tunesischen Flüchtlingslager Choucha und 100 irakische Flüchtlinge aus der Türkei. Die Bedingungen dieser Aufnahme sind insbesondere hinsichtlich des Aufenthaltsstatus (statt einer Niederlassungserlaub- nis erhalten die aufgenommenen Personen zunächst zur eine befristete Aufenthaltserlaubnis), des
Zahlen und Fakten 2012 fehlenden GFK-Status und der damit verbundenen Restriktionen vor allem beim Familiennachzug noch verbesserungswürdig. Wenigstens haben die Innenminister zugesagt, dass ein Aufenthalt auf Dauer nicht in Frage steht (sofern nicht schwerwiegende Straftaten o.ä. Gründe vorliegen). Ob dies für die 2013 angekündigte Aufnahme von syrischen Flüchtlingen auch gelten wird, ist derzeit noch offen. Das BMI will eine befristete Aufnahme, einige Bundesländer (u.a. Niedersachsen) for- dern einen Daueraufenthalt. 1.4.10 Aufnahmeerklärung (§ 22 AufenthG) 509 Personen besaßen am 31.12.2012 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 22 AufenthG. Nach die- ser Regelung kann AusländerInnen aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Eine Aufenthaltserlaubnis ist zu erteilen, wenn das BMI oder die von ihm bestimmte Stelle zur Wahrung politischer Interessen der BRD die Aufnahme er- klärt hat. Die geringe Zahl der AE verdeutlicht die seltene und restriktive Anwendung dieses Para- graphen. U.a. wurden auf dieser Grundlage Flüchtlinge aus Malta in der Bundesrepublik aufge- nommen (sog. Relocation). Ein prominentes Beispiel für eine Aufnahme im Einzelfall ist die vietna- mesische Familie Nguyen aus Hoya, die im Januar 2012 nach bundesweiten Protesten auf der Grundlage einer Aufnahmeerklärung des Landes Niedersachsen wieder nach Deutschland zurück- kehren konnte. 1.4.11 Härtefälle (§ 23a AufenthG) Die Härtefallkommission ist die letzte Möglichkeit für vollziehbar ausreisepflichtige Drittstaatsange- hörige (Geduldete), eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Sie kann angerufen werden und gibt nach internen Beratungen eine Empfehlung an den Innenminister zu der Frage ab, ob ein Flücht- ling oder eine Flüchtlingsfamilie trotz eines abgelehnten Asylantrags contra legem ein Aufenthalts- recht erteilt werden soll, weil im Einzelfall besondere Umstände vorliegen. Der Innenminister muss den Empfehlungen nicht folgen. Am 31.12.2012 besaßen 5.968 (2011: 5.695) eine Aufenthaltser- laubnis nach § 23 a. Seit 2006 gibt es in jedem Bundesland eine Härtefallkommission. 1.4.12 Opfer von Menschenhandel §25 Abs. 4a AufenthG Opfern von Menschenhandel zur sexuellen oder zur Arbeitsausbeutung kann eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn sein bzw. ihr Mitwirken für ein Strafverfahren erforderlich ist und er bzw. sie als Zeuge bzw. Zeugin aussagen will. Zum 31.12.2012 haben lediglich 56 Per- sonen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4a erhalten. 1.4.13 Jüdische ZuwanderInnen und Kontingentflüchtlinge (§23 Abs. 2 AufenthG) Die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen/Zuwanderern richtet sich nach § 23 Abs. 2 und § 75 Nummer 8 AufenthG. Bis zum 31.12.2012 wurden insgesamt 214.209 jüdische ZuwanderInnen in- klusive Familienangehörigen in Deutschland aufgenommen. Bis zum Inkrafttreten des Aufenthalts-
Zahlen und Fakten 2012 gesetzes erhielt dieser Personenkreis noch eine Anerkennung als Flüchtling. Seit dem 01.01.2005 erhalten jüdische ZuwanderInnen bei Erfüllung bestimmter Bedingungen eine Niederlassungser- laubnis. Die Aufnahmevoraussetzungen sind im Laufe der Jahre verschärft worden und die Zuzugszahlen zurückgegangen. Diese Voraussetzungen für die Einreise müssen bereits im Herkunftsland erfüllt werden. Dazu wird eine Integrationsprognose erstellt und die eigenständige Sicherung des Le- bensunterhaltes muss absehbar sein. Weiterhin müssen deutsche Sprachkenntnisse nachgewie- sen werden, und die Aufnahme in eine jüdische Gemeinde muss möglich sein. Im Jahr 2011 wur- den lediglich 1.015 jüdische EinwanderInnen in Deutschland aufgenommen. 9 Für 2012 liegen uns noch keine Zahlen vor. Im Jahr 2008 wurden im Rahmen von § 23 Abs. 2 außerdem ein festes Kontingent von 2500 be- sonders schutzbedürftige irakische Flüchtlinge aus Syrien und Jordanien in Deutschland aufge- nommen. 9 Vgl. www.dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/083/1708311.pdf
Zahlen und Fakten 2012 2 Flüchtlingspolitik in Niedersachsen Grundsätzlich liegt Flüchtlingsschutz im Zuständigkeitsbereich des Bundes. Wenn das Bundesamt einem Flüchtling Schutz gewährt, sind die Ausländerbehörden an diese Entscheidung gebunden und müssen sie umsetzen. Bei Beurteilungen über zielstaatsbezogene Verfolgungstatbeständen und die sich daraus ergebenen Konsequenzen für Abschiebungen hat die lokale Ausländerbehör- de in der Regel keinen eigenen Gestaltungsspielraum. Wenn allerdings Gründe geltend gemacht werden, die nichts mit der Verfolgung im Herkunftsland zu tun haben, ist die lokale Ausländerbehörde unter der Fachaufsicht der Landesinnenministerien zuständig. Dabei kann es sich beispielsweise um die individuelle Prüfung von Kriterien einer Blei- berechtsregelung handeln. Darüber hinaus entscheiden die Ausländerbehörden über die Erteilung eines Aufenthaltsrechts z.B. wegen Fehlens von Auffangstrukturen für minderjährige Flüchtlinge im Herkunftsland, wegen eines bestehenden Pflegebedarfs von Angehörigen, wegen einer Beschäfti- gungsperspektive im Anschluss an eine Berufsausbildung oder der Unzumutbarkeit/Unmöglichkeit einer Ausreise, wegen Heirat etc. Neben der Prüfung aufenthaltsrechtlicher Fragestellungen ist das Bundesland zuständig für die Ausgestaltung des Aufenthaltes und für die Durchführung von Abschiebungen. Die nachfolgenden Beiträge gliedern sich nach den Stichworten „Niedersächsisches Aufnahmege- setz“, „Integration“, „Härtefallkommission“, und „Abschiebung / Rückkehr“. Wir bewerten die Ge- schehnisse im Jahre 2012 rückblickend und geben einen Ausblick auf die nach der niedersächsi- schen Landtagswahl im Januar 2013 zu erwartende bzw. schon feststellbare weitere Entwicklung. Diese Landtagswahl stellt einen Wendepunkt in der niedersächsischen Flüchtlingspolitik dar. Der rot-grüne Koalitionsvertrag verspricht neben einen „Paradigmenwechsel in der Abschiebepolitik“10 auch das Schaffen einer „Willkommenskultur“11. Aus diesem Grund wird in den jeweiligen Kapiteln ein kleiner Einblick in die wichtigsten Neuausrichtungen des Koalitionsvertrags folgen. 2.1 Flüchtlingsaufnahme und Flüchtlingsunterbringung 2.1.1 Das niedersächsische Aufnahmegesetz In Niedersachsen regelt das niedersächsische Aufnahmegesetz die Aufnahme, Unterbringung und Verteilung von Asylsuchenden, Geduldeten und weiteren vom Land unterzubringenden Gruppen. Nach dem „Königsteiner Schlüssel“12 ist das Land Niedersachsen verpflichtet, 9,4% der in 10 Vgl. Koalitionsvertrag unter www.gruene-niedersachsen.de/fileadmin/docs_lv/downloads/Dokumente/koali- tonsvereinbarung-rotgruennds.pdf 11 Ebd. 12 Der Königsteiner Schlüssel dient zur quotengerechten Verteilung von Flüchtlingen auf die verschiedenen Bundesländer. Er setzt sich zu zwei Dritteln aus dem Steueraufkommen und zu einem Drittel aus der Bevöl- kerungszahl der Länder zusammen.
Zahlen und Fakten 2012 Deutschland lebenden Asylsuchenden aufzunehmen. Die Unterbringung der Asylsuchenden in Niedersachsen wird von der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen (LAB NI) mit Hauptsitz in Braunschweig koordiniert. Zunächst werden Flüchtlinge in den Erstaufnahmeeinrichtungen in Braunschweig und Friedland aufgenommen. Am 27. Oktober 2011 legte die Landesregierung einen Gesetzentwurf zur Änderung des nieder- sächsischen Aufnahmegesetzes vor, der nach Anhörung der Verbände – unter anderem auch des Flüchtlingsrats – im März 2012 mit einigen kleinen Änderungen beschlossen wurde. Der Flücht- lingsrat kritisierte den Entwurf13 aus mehreren Gründen: ¾ Eine von den kommunalen Spitzenverbänden geforderte angemessene Erhöhung der Pau- schalsätze zur Erstattung der Kostenaufwendungen der Kommunen verweigerte die Landesre- gierung unter Verweis auf deren angeblich unzureichende Abschiebungsbemühungen14. Die bewilligte pauschalierte Kostenerstattung wurde lediglich von 4.270 € auf 4.826 € pro Person und Jahr erhöht.15 ¾ Unbefriedigend und ärgerlich war die Nichtberücksichtigung aller Forderungen nach einer schnellen und unbürokratischen Verteilung von Asylsuchenden auf die Kommunen. Bis heute verschwendet das Land Millionen für die Aufrechterhaltung von Lagerplätzen des Landes, die ein Vielfaches dessen kosten, was den Kommunen für die Unterbringung zugestanden wird. ¾ Auch den Grundsatz einer an der Wahrung der Familieneinheit orientierten Unterbringung von Flüchtlingen in Privatwohnungen wollte die Landesregierung nicht in das niedersächsische Auf- nahmegesetz aufnehmen. ¾ Schließlich versäumte es die Landesregierung, die nach der EU-Aufnahmerichtlinie vorge- schriebene besondere Heraushebung und Privilegierung sog. „vulnerabler Gruppen“ im Rah- men der Neufassung des Aufnahmegesetzes angemessen sicherzustellen. Besonders skandalös erschienen die Versuche der Landesregierung, den tatsächlichen Kostenbe- lastungen der Kommunen, die für das Jahr 2009 durchschnittliche Ausgaben pro Flüchtling und Jahr in Höhe von 5.590 € berechnet haben, mit Angriffen auf die Kommunen zu begegnen. Diese würden, so die Landesregierung, nicht schnell und rücksichtslos genug abschieben: “Die nicht konsequente Umsetzung oder der mangelnde Vollzugswille bei aufenthaltsbeendenden Maßnah- men führen dazu, dass ausreisepflichtige Personen weiterhin geduldet werden und öffentliche Leistungen beziehen sowie der Anteil der Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfänger nach § 2 AsylbLG weiterhin steigt”, hieß es in der Gesetzesbegründung. 13 Vgl.www.nds-fluerat.org/8254/aktuelles/stellungnahmen-des-fluechtlingsrats-im-rahmen-von-landtagsan- hoerungen/ 14 www.nds-fluerat.org/7990/aktuelles/landesregierung-verweigert-liberalisierung-des-aufnahmegesetzes/ 15 Davon entfallen 2.307,15 € auf die Hilfe zum Lebensunterhalt, 2.176,02 € auf Unterkunft sowie Heizung und Krankheits-, Pflege- und Schwangerschaftsversorgung, 5,20 € auf Schulbeihilfen sowie 337,73 € für Personal- und Sachlosten der Kommune.
Zahlen und Fakten 2012 Schünemanns Landtagsrede vom 09.11.2011 las sich wie eine Kampfansage an die Kommunen, die eine weniger rigiden Kurs in der Flüchtlingspolitik verfolgen. Zur Begründung für eine niedrigere Kostenabgeltung führte Schünemann aus: “Ich will Ihnen dies an einem Beispiel verdeutlichen: Einige Kreistage und Räte haben Resolutio- nen verabschiedet, in denen sie sich gegen die Rückführung von Roma in das Kosovo ausspre- chen. Die an sich ausreisepflichtigen Personen verbleiben in Niedersachsen und – als Empfänger von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz – auch in der Kostenabgeltungspflicht des Landes. Von der Größenordnung her geht es teilweise um ein Drittel der Gesamtzahl der Perso- nen, für die die Kommune eine Kostenabgeltung erhält. Diese Beispiele zeigen, dass die tatsächli- chen Ausgaben nach der Asylbewerberleistungsstatistik keine solide Basis für die Kostenabgel- tung bilden.”16 2.1.2 Das Konzept der “multifunktionalen Nutzung” der landeseigenen Lager Bis zum Ende der Legislaturperiode von Schwarz-Gelb wurden Flüchtlinge zum Teil verpflichtet, nach dem Abschluss der Erstaufnahme, die gesetzlich nach spätestens drei Monaten zu beenden ist, in den zentralen Lagern der Landesaufnahmeeinrichtungen in Braunschweig und Bram- sche-Hesepe zu wohnen. Im Rahmen einer sogenannten „multifunktionalen Nutzung“ dienten die Lager also als „Gemeinschaftsunterkünfte“ - mit dem Ergebnis, dass Flüchtlinge z.T. über Jahre dort leben mussten. Nur die Flüchtlinge, die aus Kapazitätsgründen nicht in Gemeinschaftsunter- künften der Landesaufnahmeeinrichtung unterkamen, wurden auf die Kommunen verteilt. Ungeachtet des Engagements der Mitarbeiter_innen der LAB Niedersachsen zur Gestaltung eines „sozialen Raums” innerhalb der Einrichtungen erfolgte die Lagerunterbringung in Niedersachsen mit dem Ziel, eine Teilhabe von Flüchtlingen am gesellschaftlichen Leben nach Möglichkeit zu ver- hindern. Nach dem erklärten Willen des niedersächsischen Innenministeriums sollte der Aufenthalt im Lager nicht attraktiv sein, vielmehr sollen die Bewohner_innen davon überzeugt werden, dass eine Rückkehr, Ausreise oder einfach nur das Verschwinden die beste Lösung sei. In einer der Ordnungspolitik eigenen, aber dennoch paradoxen Logik des „Forderns und Förderns” profitierten nur diejenigen im Lager Bramsche von Qualifizierungsangeboten und anderen Hilfen, die zugesagt hatten, Deutschland freiwillig verlassen zu wollen. Das niedersächsische Innenministerium drückte das wie folgt aus: „[Die] Durchsetzung der Pflicht abgelehnter Asylbewerber, das Land zu verlas- sen, spricht für die Nutzung landeseigener Einrichtungen”. Und weiter: „So können Personen durch die Mitarbeiter der Einrichtungen sehr viel wirkungsvoller als bei einer dezentralen Unter- bringung zum freiwilligen Verlassen des Landes veranlasst werden”. Hingegen führe „das Leben in 16 http://www.nds-fluerat.org/wp-content/uploads/2011/11/PI-224-LT-TOP-11-Gesetzentwurf-zur- %C3%84nderung-des-Aufnahmegesetzes-2.pdf
Zahlen und Fakten 2012 einer Gemeinde erfahrungsgemäß zu einer faktischen Verfestigung des Aufenthalts”. 17 Flüchtlinge sollten also gezielt daran gehindert werden, soziale Kontakte aufzubauen, die als hilfreiche Unter- stützung dienen und Schutzsuchende in ihrer Mitte aufnehmen könnten. Aufgrund der höheren Flüchtlingszahlen wurden Flüchtlinge 2012 schneller auf die Kommunen verteilt als in den Vorjahren, was u.a. zur Folge hatte, dass auch die Proteste von Flüchtlingen v.a. in Bramsche gegen die Lagerunterbringung zurück gingen. Aber auch 2012 kam es zu mehreren Protesten18 nach einem Suizidversuch19 in Bramsche. Die rot-grüne Koaltion verspricht in ihrem Koaltionsvertrag, dass jeder Flüchtling das Recht auf an- gemessene Beratung und Betreuung habe. Außerdem soll die Funktion der landeseigenen Lager in Braunschweig, Friedland und Bramsche auf die Erstaufnahme beschränkt werden. Ein neues Unterbringungskonzept des Landes liegt noch nicht vor. 2.1.3 Unterbringung in den Kommunen Für die Unterbringung in den Kommunen gibt es bisher weder Mindeststandards noch Kontrollin- stanzen, die die Einhaltung der EU-Richtlinie zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern_innen in den Mitgliedstaaten 2003/9/EG (Aufnahmerichtlinie) überprüfen. Die Kommunen klagen zu Recht über eine unzureichende Kostenerstattung, da die pauschalisierten Erstattungsleistungen des Landes an die Kommunen sich nicht an den tatsächlichen Kosten orien- tieren. Derzeit erstattet das Land den Kommunen lediglich 4.826 € pro Jahr und Flüchtling; die tat- sächlichen Kosten liegen jedoch erheblich darüber (Beispiel Lüneburg: 6.552 €). Als Begründung der Unterfinanzierung dienten der alten Landesregierung stets ordnungsrechtliche Erwägungen: Die Kommunen wurden zu einer „konsequenten Abschiebung“ von Flüchtlingen gedrängt. Unat- traktive und schlechte Lebensbedingungen sollten eine „freiwillige“ Ausreise von Flüchtlingen be- günstigen. Für die Art der Anschlussunterbringung nach einer Verteilung aus den Erstaufnahmeeinrichtungen macht das Land Niedersachsen den Kommunen keine inhaltlichen Vorgaben. Die überwiegende Mehrzahl der verteilten Flüchtlinge wohnt in eigenen Wohnungen, wie aus einer 2011 durchgeführ- ten Umfrage der Landesregierung an die Kommunen (Stichtag 01.06.2010) hervor geht. 20 Danach lebten: 75,2 % in Wohnungen des privaten Wohnungsmarktes 11,1 % in gemeindeeigenen Wohnungen 2,6 % in ”vorgegebenen Wohngemeinschaften” 10,6 % in ”kommunalen Gemeinschaftsunterkünften” 17 Die Zitate sind einem Schreiben des niedersächsischen Innenministeriums an den Flüchtlingsrat aus dem Januar 2008 zur Rechtfertigung der Lagerunterbringung entnommen. 18 Vgl. www.nds-fluerat.org/8625/aktuelles/osnabrueck-bramscher-fluechtlinge-besetzen-schlossgarten/ 19 Vgl. www.nds-fluerat.org/8603/aktuelles/Suizidversuch-in-der-landesaufnahmebehoerde-bramsche/ 20 Neuere Erhebungen liegen uns leider nicht vor
Zahlen und Fakten 2012 0,5 % in Obdachlosenunterkünften Über 86 % aller von den Kommunen unterzubringenden Flüchtlinge lebten damit zum Stichdatum in eigenen Wohnungen. Diese Form der Unterbringung ist nicht nur integrationspolitisch angezeigt, sondern auch aus Kostengesichtspunkten sinnvoll: Alle Untersuchungen (Heidelberg, Leverkusen, Köln, …) belegen, dass eine Wohnungsunterbringung erheblich kostengünstiger ist als eine GU- Unterbringung (siehe etwa Heidelberg, Berlin, Köln oder Leverkusen). Immerhin fast 30% (12 der 42 befragten niedersächsischen Kommunen) brachten zum Stichtag 01.06.2010 die von ihnen zu versorgenden Flüchtlinge ausschließlich in gemeindeeigenen Wohnungen und Wohnungen des privaten Wohnungsmarktes unter. Nicht jede „dezentrale“ Unterkunft ist allerdings die bessere Alternative: Zuweilen werden Flüchtlin- ge in übelsten Wohnungen untergebracht. In manchen Landkreisen (etwa in Helmstedt und Diep- holz) werden Flüchtlinge gern auch in Obdachlosenunterkünften untergebracht. Vielfach sind die Flüchtlingen zugewiesenen Unterkünfte auch nur schlecht oder gar nicht ausgestattet. Die über- wiegende Mehrzahl der Städte und Landkreise verzichtet allerdings auf diese fragwürdige Form der Unterbringung. Es kann aus Sicht des Flüchtlingsrats durchaus Gründe dafür geben, dass eine Kommune im In- teresse einer erfolgreichen Aufnahme und vor dem Hintergrund eines angespannten Wohnungs- marktes und fehlender Wohnungen eine Erstaufnahme neu ankommender Flüchtlinge in Gemein- schaftsunterkünften organisiert. Zentralisierte Sammelunterkunft bedeutet aber immer auch Aufhe- bung der privaten Autonomie sowie Deprivation für die untergebrachten Menschen. Dass die Un- terbringung in Sammelunterkünften Flüchtlinge isoliert, ausgrenzt und krank machen kann, ist in verschiedenen Studien hinlänglich belegt worden. Insofern bedarf es in jedem Fall eines integrier- ten Konzepts, das die Dauer der Aufnahme in GUs auf höchstens sechs Monate begrenzt und be- gleitende Angebote zum Spracherwerb, zur Orientierung und zur Anerkennung vorhandener Quali- fikationen macht. Nur wenige Kommunen machen sich Gedanken über nachhaltige Konzepte von der Aufnahme zur Integration von Flüchtlingen in die Kommune. In Hannover, wo der Austausch zwischen zivilgesell- schaftlichen Organisationen und der Stadtverwaltung am Runden Tisch eine lange Tradition hat, gibt es zumindest gute Ansätze für einen verantwortlichen Umgang mit Unterbringungsfragen. Auf Kritik stößt hier jedoch das Fehlen einer zeitlichen Begrenzung für die Unterbringung in Gemein- schaftsunterkünften in Verbindung mit einem “Auszugsmanagement”, wie es etwa das Konzept der Stadt Köln vorsieht. Auch die Stadt Osnabrück, die vom örtlichen Verein “Exil e.V.” für ihre Pläne zur ad-hoc-Anmietung unzumutbarer Unterkünfte im Dezember 2012 scharf kritisiert wurde, ist der- zeit damit beschäftigt, ein Konzept für eine nachhaltige Unterbringungspolitik zu entwickeln. Etliche Kommunen verzichten jedoch auf jegliche Konzeptentwicklung und nachhaltige Planung. Es spricht für sich, dass es in einigen niedersächsischen Städten Ende 2012 zu Unterbringungs- engpässen gekommen ist, obwohl die Zahl der unterzubringenden Flüchtlinge derzeit viel niedriger ist als noch vor zehn Jahren. Problemverschärfend kommt hinzu, dass viele Städte den sozialen Wohnungsbau zurückgefahren haben und auch hinsichtlich der Unterbringung von Obdachlosen vor Schwierigkeiten stehen. Ein kommunales Gesamtkonzept muss alle von einer Kommune ggfs. unterzubringenden Gruppen im Auge behalten und darf diese Gruppen nicht gegeneinander aus-
Sie können auch lesen