LAG - MAGAZIN DISKRIMINIERUNG AUFGRUND SEXUELLER ORIENTIERUNG - LERNEN AUS DER GESCHICHTE

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LAG - MAGAZIN DISKRIMINIERUNG AUFGRUND SEXUELLER ORIENTIERUNG - LERNEN AUS DER GESCHICHTE
LaG - Magazin

 Diskriminierung
    aufgrund
   sexueller
  Orientierung
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Zur Diskussion
Bildung verqueeren................................................................................................................ ..5
Sexuelle Vielfalt in den Geschichtsunterricht!
Geschichtsdidaktische Überlegungen zu geschlechterpolitischen Auseinandersetzungen
um Bildungspläne................................................................................................................11
Homosexuellenverfolgung in Bayern......................................................................................16
Unerzählte Geschichten - Verfolgung und Diskriminierung aufgrund von sexueller
Orientierung und Geschlechterrollen als Thema der internationalen historisch-politischen
Jugendbildungsarbeit.............................................................................................................20
Die Wanderausstellung „Die Ausgestoßenen“ von Richard Grune in der Erlangener
Orangerie. – Ein homosexueller KZ-Häftling verarbeitet seine Erfahrungen aus der
Gefangenschaft. .....................................................................................................................24

Empfehlung Fachbuch
Lieben, lügen, leben. Biografien und Erinnerungen zwischen (Un-)Sichtbarkeit und Agency.
Selbstbestimmung gleichgeschlechtlich L(i)ebender von den fünfziger Jahren bis heute...28
Sex and the Weimar Republic. German homosexual emancipation and the rise of the
Nazis..........................................................................................................................................31

Empfehlung Podcast
„Wenn deine Liebe nicht sein darf“........................................................................................34

Empfehlung Web
Beratungsangebote zu geschlechtlicher und sexueller Identität im Internet....................... 36
Berliner Stadtrundgänge des Queer History Month..............................................................38

Empfehlung Zeitschrift
Homosexualität im Nationalsozialismus – Zwei Leseempfehlungen....................................42

                                                                                          Magazin vom 30.01.2019 2
Einleitung

Liebe Leser_innen,                               Verfolgung homosexueller Männer in Bay-
wir begrüßen Sie zur ersten Ausgabe des          ern vom Kaiserreich bis in die Nachkriegs-
LaG-Magazins im Jahr 2019. Die vorlie-           zeit.
gende Edition ist gemeinsam mit unserem          Luiza Kuhlenkampff, Klaas Opitz und Anne
langjährigen Kooperationspartner, dem            Schieferdecker berichten über internatio-
Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge,         nale Jugendseminare zu geschlechtlicher
entstanden. Mit dem Titel „Diskriminierung       und sexueller Vielfalt, die der Volksbund
aufgrund sexueller Orientierung“ wollen wir      Deutsche Kriegsgräberfürsorge mit jungen
einerseits darauf aufmerksam machen, dass        Teilnehmenden aus Bosnien, Polen und
die Benachteiligungen aufgrund der indivi-       Deutschland durchgeführt hat. Gleichzeitig
duellen sexuellen Ausrichtung oder der ge-       gibt der Beitrag einen Ausblick auf einen
schlechtlichen Verortung längst nicht über-      neuen Projektzyklus, der in diesem Jahr
wunden sind. Im Gegenteil. In Zeiten einer       stattfinden soll.
allgemeinen gesellschaftlichen Rechtsdrift       Der Antifaschist und Zeichner Richard Gru-
werden auch genderpolitische Errungen-           ne wurde von den Nationalsozialisten auf-
schaften zunehmend infrage gestellt. Gleich-     grund seiner Homosexualität verfolgt und
zeitig möchten wir Ihnen Anregungen für          in verschiedene Konzentrationslager ver-
die eigene Bildungspraxis geben, um diese,       schleppt. Mit der Ausstellung „Die Ausge-
wie die Autor_innen des Eingangstextes es        stoßenen“ verarbeitete Grune seine Lager-
nennen, zu „verqueeren“ und somit inklusi-       erfahrungen und wollte zur Aufklärung über
ver zu gestalten.                                das NS-System beitragen. Anna Levandovs-
Der Titel des Essays von Anna Dienerowitz        ka geht auf Stationen des Lebensweges des
und Stefan R. Schmid ist Programm. Die           Künstlers ein.
beiden Autor_innen geben praktische Anre-        Unser Dank geht an alle Autor_innen, die
gungen dafür, wie LSBTIAQ* im Unterricht         mit ihren Beiträgen diese Ausgabe ermög-
und Schulalltag thematisiert werden können       licht haben.
und stellt verschiedene queere Projekte vor.
                                                 In eigener Sache
Nina Reusch befasst sich mit dem geschlech-
                                                 Am 18.Februar wird unser Lernort Keibel-
terpolitischen Rollback, der von der AfD
                                                 straße von Bildungssenatorin Sandra Schee-
und anderen extrem rechten Gruppierun-
                                                 res eröffnet. Ab dem 19.Februar ist es mög-
gen forciert wird. In ihrem Beitrag appel-
                                                 lich, diesen nach Terminvereinbarung zu
liert sie für kritische Interventionen seitens
                                                 besuchen. Unsere Bildungsangebote finden
der Geschichtswissenschaft und -didaktik in
                                                 Sie auf der Webseite des Lernorts. Wir freu-
diesen rückschrittlichen Diskurs.
                                                 en uns auf Ihren Besuch!
                                                 Das nächste LaG-Magazin erscheint am 27.
Albert Knoll gibt einen Überblick über die       Februar 2019. Die Ausgabe dokumentiert

                                                          Magazin vom 30.01.2019 3
Einleitung

Vorträge, Gespräche und Diskussionen der
Vernetzungsfachtagung „Was noch erinnert
werden kann - Aufarbeitung lokaler NS-Ge-
schichte in Brandenburg mit Jugendlichen“,
die am 13. und 14. Dezember 2018 vom Lan-
desjugendring Brandenburg gemeinsam mit
der Stiftung Brandenburgische Gedenkstät-
ten veranstaltet wurde.

Ihre LaG-Redaktion

                                             Magazin vom 30.01.2019 4
Zur Diskussion

Bildung verqueeren                             Benachteiligung und Unterdrückung les-
                                               bischer, schwuler, bisexueller, asexueller,
Von Anna Dienerowitz und Stefan R. Schmid      trans*, intergeschlechtlicher und weiterer
„Schwul“ ist immer noch eines der meist-       queerer Menschen (LSBTIAQ*) mitschwingt
verbreiteten Schimpfwörter auf deutschen       (Eribon 2004: 79). Eine Geschichte, die sich
Schulhöfen. Das hat die Antidiskriminie-       durch verschiedenste wissenschaftliche
rungsstelle des Bundes in einer repräsenta-    Disziplinen zieht, ihr Extrem im Holocaust
tiven Umfrage 2017 herausgefunden. Trotz       fand und sich in den darauffolgenden Jahr-
der zahlreichen Fortschritte in der Gleich-    zehnten fortsetzte. Der Themenkomplex
stellungspolitik und der gestiegenen Akzep-    LSBTIAQ* spielt also nicht nur eine Rolle
tanz unter Menschen, deren bei der Geburt      im Alltagsleben zahlreicher Schüler_innen
zugeschriebenes biologisches Geschlecht        und ist auf Schulhöfen in Form von Dis-
mit ihrer geschlechtlichen Identität über-     kriminierung präsent, er findet sich in ei-
einstimmt (cis) und die Menschen eines         ner Vielzahl schulischer Fächer wieder und
anderen Geschlechts lieben und begehren        hat eine Geschichte, die bis heute auch auf
(hetero), besteht also noch immer eine nicht   Schulhöfen fortwirkt. Die Behandlung des
zu unterschätzende Feindlichkeit gegenüber     Themas durch Lehrkräfte kann nicht nur
LSBTIAQ*. Und sie zeigt sich nicht zuletzt     Schüler_innen in ihrer Selbstfindung und
im schulischen Umfeld und damit in einer       Selbstbestimmung stärken, sondern auch
persönlich äußerst prägenden Lebensphase       einen Beitrag dazu leisten, die vielfach er-
besonders stark.                               höhten Suizidraten unter queeren Jugendli-
                                               chen zu senken.
Dass die Liebe zweier Menschen zueinander
etwas Schlechtes sein könnte ist keineswegs    Dieser Artikel versucht deshalb mit einigen
ein Gedanke der Schüler_innen angeboren        Anregungen aufzuzeigen, wie LSBTIAQ*
ist, sondern ein Gedanke der erlernt wird.     im Unterricht und Schulalltag thematisiert
Nicht wenige Kinder dürften ihre Eltern        werden können. Wir wollen dabei auch die
eher verschämt fragen, was „schwul“ eigent-    Gelegenheit nutzen, queere Aufklärungs-
lich bedeutet, nachdem sie es erstmalig als    projekte vorzustellen und ihre Möglichkei-
Schimpfwort in einem negativen Zusam-          ten und Grenzen zu beleuchten.
menhang gehört haben. Fragt man den Du-        In der Vermittlung queerer Themenkom-
den ist „schwul“ – ähnlich wie „behindert“     plexe gibt es in erster Linie zwei Strate-
– in seiner überwiegenden Verwendungs-         gien, welche sich gegenseitig ergänzen.
weise keineswegs ein Schimpfwort, sondern      Zum einen kann mithilfe einer Dramati-
vielmehr eine menschliche Eigenschaft wie      sierung die Sichtbarkeit von LSBTIAQ*-
eben auch “klein” und “braunäugig”. Als        Menschen erhöht werden, wodurch für das
Schimpfwort funktioniert diese Bezeich-        Thema notwendige Grundinformationen
nung nur weil in ihr eine Geschichte der       vermittelt sowie der Grundstein für einen

                                                        Magazin vom 30.01.2019 5
Zur Diskussion

respektvollen Umgang mit dem Thema ge-         Begriffe, hinterfragen Geschlechterrollen,
legt werden. Zum anderen kann anhand           Vorurteile und Klischees und stehen den
einer Normalisierung, also dem gelegentli-     Schüler_innen für Fragen zur Verfügung.
chen Erwähnen, die Selbstverständlichkeit      Durch diesen Wissenserwerb soll die sexu-
des Themas gezeigt und eine eigentlich all-    elle und geschlechtliche Selbstbestimmung
tägliche Realität nebenbei vermittelt wer-     der Schüler_innen gestärkt werden, die Ak-
den. Beide Bausteine sind für sich genom-      zeptanz von LSBTIAQ* erhöht und Gewalt
men wichtig: Ohne eine Normalisierung          präventiv verhindert werden. Die Teamer_
kann die Dramatisierung zur Exotisierung       innen selbst sind überwiegend LSBTIAQ*
verkommen, sodass queere Menschen und          und es wird viel Wert darauf gelegt, dass ein
Handlungen gleich Exponaten zu lebens-         möglichst breites Spektrum an Identitäten
fremden Erscheinungen verkommen, wo-           von den eingesetzten Teamer_innen abge-
durch weitere Vorurteile und Diskrimi-         deckt und repräsentiert wird.
nierung verstärkt werden können. Ebenso        Das Vorgehen folgt dabei der Kontakthy-
wenig entschuldigt eine einmalige Behand-      pothese, welche besagt, dass ein einzelner
lung des Themas das Ignorieren queeren         positiver Kontakt mit einer Minderheit die
Lebens im Schulalltag. Im Gegenzug kann        Vorurteile gegenüber dieser Gruppe im All-
auch eine Normalisierung ins Leere lau-        gemeinen stark verringert (Klocke 2016: 5).
fen, wenn Missverständnisse und Vorurtei-
                                               Außerdem wird auf den Peer-Ansatz gesetzt,
le nicht mithilfe einer Dramatisierung aus
                                               also der Altersunterschied zu den Schüler_
dem Weg geräumt werden und ein notwen-
                                               innen möglichst gering gehalten, um eine
diges Wissensfundament gelegt wird.
                                               Identifikation der Schüler_innen mit den
          Dramatisierung als Strategie         Teamer_innen zu erleichtern und eine of-
In Lehrplänen und Runderlassen vieler          fene Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Zu-
Bundesländer wurde bereits die Thematisie-     träglich ist hierbei auch, wenn die Lehrer_
rung geschlechtlich-sexueller Identität vor-   innen den Einheiten nicht beiwohnen oder
geschrieben und damit eine Dramatisierung      zumindest auf eine Einmischung verzichten,
durch die Lehrkräfte veranlasst. Neben Ver-    sodass eine Öffnung der Schüler_innen er-
einigungen queerer Lehrer (z. B. AG Schwule    leichtert wird. Das bedeutet jedoch nicht,
Lehrer GEW) sowie zahlreichen Materialien      dass die Lehrkräfte über Inhalte im Dunkeln
und Informationsangeboten, die Lehrer_in-      gelassen werden: den Einheiten gehen enge
nen bei der Dramatisierung unterstützen        Absprachen mit den Lehrer_innen voraus.
können, gibt es vielerorts queere Bildungs-    Diese Gespräche helfen auch den Teamer_
projekte, welche sich für die Vermittlung in   innen, die Situation richtig einzuschätzen,
Schulen einsetzen und für Unterrichtsein-      auf die Klassendynamik und etwaige heikle
sätze zur Verfügung stehen. Die Teamer_in-     Themen angemessen zu reagieren.
nen behandeln in ihren Einheiten zentrale

                                                        Magazin vom 30.01.2019 6
Zur Diskussion

Methodisch hat sich in den vergangenen          verschiedenen Vorurteilen auseinanderset-
Jahren ein breites Repertoire herausgebil-      zen möchten. Die Teamer_innen antworten
det, das thematischen Schwerpunkten so-         mit persönlichen Erlebnissen oder Erfah-
wie zeitlichen und räumlichen Umständen         rungen von Freund_innen, erklären, dass
angepasst werden kann. Während die meis-        Erfahrungen von Person zu Person sehr un-
ten Anfragen an die Projekte aufgrund der       terschiedlich sein können und versuchen,
Pubertät für achte bis zehnte Klassen ge-       gesellschaftliche Strukturen deutlich zu ma-
stellt werden, ist eine Anpassung für sehr      chen. Die Aktivität der Schulklassen ist hier-
viel jüngere oder ältere Schüler möglich.       bei natürlich sehr unterschiedlich und auf
Je früher Kinder und Jugendliche mit dem        eine geringere Aktivität kann gut mit ande-
Themenkomplex schulisch in Kontakt kom-         ren Methoden reagiert werden. Zumeist rei-
men, desto einfacher ist es, Vorurteilen ent-   chen die häufig vorgegebenen 90 Minuten
gegen zu wirken. Hinzu kommt, dass Kinder       allerdings nicht aus, um das Interesse der
oftmals weit vor ihrer Pubertät bemerken,       Schüler_innen vollständig zu stillen. Mithil-
dass sie trans*, homo- oder bisexuell (bzw.     fe von Feedbackrunden werden die Projekte
-romantisch) sind und nach einem Begriff        ständig evaluiert, verbessert und zielgrup-
für ihre Andersartigkeit und einen Umgang       pengerecht angepasst.
damit suchen. Auch aufgrund der politisch       2011 hat sich der Bundesverband Quee-
aufgeladenen Atmosphäre sei hier nochmals       re Bildung e. V. gegründet, um Bildungs-
betont, dass diese Projekte keine Sexual-       projekte in diesem Bereich zu vernetzen,
kunde, sondern Antidiskriminierungs- und        die Bildungsarbeit und den Methodenpool
Aufklärungsarbeit betreiben. So kann es bei     auszubauen und Qualitätsstandards für die
jüngeren Altersstufen in erster Linie um die    Projekte zu entwickeln. Auf der Homepage
Frage gehen, was Menschen zum Glück-            des Vereins können die Standards eingese-
lich sein brauchen, dass für viele Liebe und    hen werden, zu denen die sich die beteilig-
Partnerschaft wichtig sind und dass manche      ten Bildungsprojekte verpflichtet haben, um
Menschen eben auch Menschen des eigenen         ihre Arbeit zu verbessern und um mit dem
Geschlechts lieben.                             Vertrauen von Schulen und Politik verant-
In den höheren Klassen ist in der Gestaltung    wortlich und transparent umzugehen. Teil
der Einheiten neben der Begriffsklärung ein     der Qualitätsstandards sind unter anderem
zentraler Bestandteil, den Schüler_innen        die fachliche und didaktische Schulung der
ausreichend Raum für (anonyme) Fragen           Teamer_innen, Maßnahmen zum Kinder-
zu lassen, oft auch sehr persönlich auf die     und Jugendschutz sowie die Altersange-
Biographie der Teamer_innen bezogen. Die        messenheit von Antworten auf Fragen zu
Schüler_innen haben es damit selbst in der      Sexualität. Die 35 beteiligten Initiativen
Hand, ob sie sich vor allem mit den Themen      sowie 37 weitere Projekte sind in nahezu
Liebe, Coming-Out, Diskriminierung oder         allen Winkeln Deutschlands vertreten und

                                                          Magazin vom 30.01.2019 7
Zur Diskussion

können auf der Homepage des Bundesver-         können sehr vielfältige Workshopteams auf-
bands gefunden werden. Hervorzuheben           gestellt und viele Schulen in England und
seien an dieser Stelle auch die Initiativen    teilweise Schottland erreicht werden. Bald
des SCHLAU-Netzwerks, welches mit rund         werden 100.000 Schüler_innen einen DRM
400 Ehrenamtlichen jährlich bis zu 18.000      Workshop mitgemacht haben. Eine Zahl, die
Schüler_innen in fünf Bundesländern er-        umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt,
reicht.                                        dass in Großbritannien noch bis 2003 die
            Blick nach Großbritannien          Section 28 in Kraft war, die es Gemeinden,
                                               Schulen und Kommunen verbot positiv über
Eine besonders hohe Professionalisierung
                                               Homosexualität zu berichten. Dieses 1988
der Arbeit queerer Aufklärungsprojekte
                                               unter Thatcher verabschiedete Gesetz führ-
kann in Großbritannien beobachtet werden.
                                               te zu großer Verunsicherung darüber, ob
Anna Dienerowitz arbeitet zurzeit bei Di-
                                               und wie in Schulen über Homosexualität
versity Role Models (DRM) in London, eine
                                               geredet werden kann und somit größten-
Organisation deren Aufgabe die Aufklärung
                                               teils dazu, dass nichts bzw. nichts Positives
und Weiterbildung zu queeren Themen an
                                               darüber gesagt wurde und homofeindliches
Schulen ist. DRM verfolgt hier einen ganz-
                                               Mobbing ungeahndet blieb. Insofern sind
heitlichen Ansatz, d. h. es werden nicht nur
                                               die Projekte einer Organisation wie Diversi-
Workshops für Schüler_innen durchgeführt,
                                               ty Role Models umso beachtlicher.
sondern auch für Lehrkräfte, die Schullei-
tung und die Elternschaft. Somit kann da-                 Normalisierung als Strategie
für gesorgt werden, dass die ganze Schulge-    Auch wenn das Einladen eines queeren
meinde zu LSBTIAQ* aufgeklärt ist und für      Schulprojekts vielfältige Vorteile bringt, ist
Selbstbestimmtheit und Vielfalt einstehen      es gleichzeitig wichtig, dies nicht als einmali-
kann. Wie auch in Projekten in Deutsch-        ge und einzige Erwähnung queerer Themen
land ist ein großer Teil der Workshops den     stehen zu lassen. Es geht nicht nur darum
persönlichen Erfahrungsberichten einzel-       queere Themen ausdrücklich und spezifisch
ner LSBTIAQ* oder allies (Unterstützer_in-     zu behandeln, sondern auch darum, queere
nen) und der Möglichkeit für Fragen seitens    Themen als Ausdruck der Vielfalt unserer
der Schüler_innen gewidmet. Gleichzei-         heutigen Gesellschaft im allgemeinen und
tig werden mit Hilfe der Workshopleitung       alltäglichen Unterricht mitzudenken und
die Begriffe LSBTIAQ* erarbeitet und über      -behandeln. Einige nicht aufwendige Mög-
homo-/bi- und transfeindliche Sprache dis-     lichkeiten wären die Folgenden:
kutiert. Durch eine anonyme Umfrage zu         • Die queere Identität von historischen Fi-
Beginn und zu Ende lassen sich hier schon      guren sowie Künstler_innen und Wissen-
häufig neue Erkenntnisse bzw. Verhal-          schaftler_innen mit erwähnen, wenn diese
tensänderungen der Schüler_innen erken-        im Unterricht behandelt werden.
nen. Mit fast 480 freiwilligen Role Models

                                                         Magazin vom 30.01.2019 8
Zur Diskussion

• In Beispielaufgaben oder -sätzen auch       Möglichkeiten finden sich z.B. auf der Web-
queere Menschen mit einbeziehen.              site der Bildungsinitiative Queerformat. Die
• Im Politik- und Geschichtsunterricht die    Thematisierung muss dabei nicht zwingend
Entwicklung der Rechte für LSBTIAQ* in        ausführlich sein. Kurze Erwähnungen kön-
der Welt betrachten, lesbische Vorkämp-       nen bereits viel bewirken.
ferinnen für Feminismus (z. B. Anita Aug-     Beide Strategien zusammengenommen
spurg) oder Vorkämpfer für LSBTIAQ*-          können die Sichtbarkeit von LSBTIAQ* er-
Rechte (z. B. Magnus Hirschfeld) und die      höhen, Diskriminierung verringern und
Verfolgung von LSBTIAQ* durch das Nazi-       die Schüler_innen in ihrer Persönlichkeit
regime behandeln.                             stärken. Der Schutz von LSBTIAQ*-Per-
• In den verschiedenen Sprachunterrichten     sonen ist nicht nur ein moralisches Gebot,
Bücher auswählen, welche auch queere Au-      sondern auch ein bedeutender Teil der De-
tor_innen oder Charaktere haben bzw. dies     mokratieerziehung in einer pluralistischen
kurz thematisieren sowie in den Fremdspra-    Gesellschaft. Daher kann auch der beste
chen LSBTIAQ* Vokabeln lernen.                Unterricht nicht ersetzen, was selbstver-
                                              ständlich gefordert ist: Zivilcourage - auch
• Im Deutschunterricht problematisieren,
                                              dann, wenn “schwul” scheinbar harmlos als
dass Thomas Mann seine Novelle “Der Tod
                                              Schimpfwort verwendet wird.
in Venedig” als Abschied von seiner eigenen
Homosexualität betrachtete.                                   Literatur- und Linkliste

• In Geographie Bevölkerungsbewegungen        AG Schwule Lehrer GEW. Hinweise zu Be-
von LSBTIAQ* vom Land in die Stadt unter-     ratungsgesprächen mit lesbischen Schüle-
suchen.                                       rinnen und schwulen Schülern. Online ver-
                                              fügbar unter: https://www.schwulelehrer.
• In Sport Kampagnen wie “Fußballfans ge-
                                              de/lehrer/.
gen Homophobie” thematisieren.
                                              Antidiskriminierungsstelle des Bundes
• In Biologie auf homosexuelle Verhaltens-
                                              (2007). Einstellungen gegenüber Lesben,
weisen bei Tieren eingehen und bei der
                                              Schwulen und Bisexuellen in Deutschland.
Sexualaufklärung darauf aufmerksam ma-
                                              Ergebnisse einer bevölkerungsrepräsentati-
chen, dass es nicht nur heterosexuelle, va-
                                              ven Umfrage.
ginale Sexualkontakte gibt und beim Thema
Verhütung auf die Bedeutung von HIV-Tests     Bildungsinitiative Queerformat. Materiali-
und -Behandlung sowie PrEP (Prä-Exposi-       en Schule. Online verfügbar unter: https://
tions-Prophylaxe) eingehen.                   www.queerformat.de/category/material-
                                              schule/.
Dies sind nur einige wenige Ideen für
eine leicht umsetzbare Inklusion quee-
rer Thematiken im Unterricht. Weitere

                                                       Magazin vom 30.01.2019 9
Zur Diskussion

Bundesverband Queere Bildung. Der Bun-
desverband. Online verfügbar unter: http://
queere-bildung.de/ueber-uns/der-bundes-
verband.php.
Eribon, Didier (2004). Insult and the Ma-
king of the Gay Self.
Klocke, Ulrich (2016). Homophobie und
Transphobie in Schulen und Jugendeinrich-
tungen: Was können pädagogische Fach-
kräfte tun?. Informations- und Dokumen-
tationszentrum für Antirassismusarbeit e.V.
(Hrsg.).
SCHLAU NRW. Bildungs- und Antidiskri-
minierungsarbeit zu geschlechtlicher und
sexueller Vielfalt. Online verfügbar unter:
https://www.schlau.nrw/infos/.

                           Über die Autor_innen:
      Anna Dienerowitz hat Deutsch, Französisch
    und Englisch auf Gymnasiallehramt in Leipzig
       studiert. Ihre Staatsexamensarbeit schrieb
        sie über die Situation Trans*Jugendlicher
                              an Berliner Schulen.

                          Stefan R. Schmid hat im
                  Bachelor Politikwissenschaft und
        Wirtschaftswissenschaften in Halle (Saale)
  studiert und macht nun seinen Politik-Master in
   Leipzig. Als Teamer war er in queeren Bildungs-
  projekten in Hamburg und Sachsen-Anhalt tätig.

                                                     Magazin vom 30.01.2019 10
Zur Diskussion

Sexuelle Vielfalt in den                         intergeschlechtlichen Menschen (LSBTTI)
Geschichtsunterricht!                            in Sachsen-Anhalt“, das 2015 verabschiedet
                                                 wurde. Dieses Aktionsprogramm beinhal-
                                                 tet unter anderem bildungspolitische Maß-
Geschichtsdidaktische
Überlegungen zu                                  nahmen und formuliert als Zielperspektive
geschlechterpolitischen                          für allgemein- und berufsbildende Schulen:
Auseinandersetzungen um                          „LSBTTI-Themen finden sich im Schulall-
Bildungspläne                                    tag und in Schulmaterialien repräsentiert.
                                                 Schulen bieten sowohl für homo- und bise-
Von Nina Reusch                                  xuelle, transgender, transsexuelle und inter-
                   Die Bildungspolitik           geschlechtliche Lehrer_innen als auch für
                   als Austragungsort            Schüler_innen eine offene, wertschätzende
       geschlechterpolitischer Kämpfe            Atmosphäre.“ (Ministerium für Justiz und
                                                 Gleichstellung Sachsen-Anhalt 2015: S. 15)
 „Wir wenden uns gegen alle Versuche des
Staates, in die Erziehungshoheit der Eltern      Die AfD ist nur eine von vielen Akteur_in-
einzugreifen, die natürlichen Vorstellungen,     nen, die in den letzten Jahren mit einer
die sich unsere Kinder von Familienleben         reaktionären und homophoben geschlech-
und Geschlechterrollen bilden, systema-          terpolitischen Agenda in die Bildungspoli-
tisch zu verunsichern und unsere Kinder          tik eingreifen. Auslöser waren die Vorstöße
in dem Glauben zu erziehen, die Ehe sei          verschiedener Bundesländer, im Rahmen
nur eine beliebige Form des Zusammenle-          von Antidiskriminierungspolitiken die Ak-
bens, die gleichwertig neben allen anderen       zeptanz für Vielfalt als fächerübergreifendes
Formen steht. Insbesondere lehnen wir die        Ziel schulischer Bildung in die Lehrpläne
herrschende ‚Antidiskriminierungspolitik‛        hineinzuschreiben. Kinder und Jugendliche
ab, die sich einseitig an den angeblichen        sollen „ein offenes, diskriminierungsfreies
Lebensvorstellungen sexueller Minderhei-         und wertschätzendes Verständnis für die
ten ausrichtet. Die traditionelle Familie soll   Verschiedenheit und Vielfalt der partner-
Vorbild bleiben. Sie gehört zum Kern der         schaftlichen Beziehungen, sexuellen Orien-
deutschen Leitkultur.“ (AfD-Fraktion Sach-       tierungen und geschlechtlichen Identitäten
sen-Anhalt 2016)                                 in unserer Gesellschaft“ erwerben, wie es
                                                 etwa im „Lehrplan zur Sexualerziehung“ des
Mit diesen Worten meldete sich die AfD-
                                                 Landes Hessen formuliert ist. (Hessisches
Fraktion im Landtag Sachsen-Anhalt im
                                                 Kultusministerium 2016: S.3)
November 2016 mit der „Magdeburger Er-
klärung zur Frühsexualisierung“ zu Wort.         Die Einführung dieses neuen Lehrplans
Hintergrund war das „Aktionsprogramm für         provozierte in Hessen im Sommer 2017
die Akzeptanz von Lesben, Schwulen, Bise-        heftige Proteste. Die Argumentationsstra-
xuellen, Transgendern, Transsexuellen und        tegien waren bereits zwei Jahre zuvor in

                                                          Magazin vom 30.01.2019 11
Zur Diskussion

Baden-Württemberg eingeübt worden, wo           die sogenannte „Gender-Ideologie“. (vgl.
2015 ein breites Bündnis mittels Demons-        Demo für Alle 2018, Petition zum Bildungs-
trationen, einer Petition und einer breiten     plan 2015)
öffentlichen Kampagne die Verabschiedung        An diesen Beispielen der jüngsten Zeit wird
eines progressiven Entwurfs für den Bil-        zweierlei deutlich. Zum ersten ist die Bil-
dungsplan verhinderte.                          dungspolitik momentan ein wichtiger Ort
Hinter den Kampagnen in Hessen und Ba-          des Ausfechtens gesellschaftspolitischer
den-Württemberg stehen verschiedene In-         Kämpfe. Zum Zweiten zeigt sich in den oben
itiativen und Bündnisse wie das „Aktions-       beschriebenen Protesten eine enge Ver-
bündnis Ehe und Familie“, die Initiative        schränkung von bildungspolitischer und
„Besorgte Eltern Baden-Württemberg“ oder        geschlechterpolitischer Argumentation: Die
das das Bündnis „Demo für Alle“, das unter      aufgeregten Debatten über Bildungspoli-
dem Motto „Ehe und Familie vor! Stoppt          tik sind Teil rechter geschlechterpolitischer
Gender-Ideologie und Sexualisierung un-         Strategien.
serer Kinder“ agiert. Diese Bündnisse, die             Sexualität und Geschlecht als
den Kampf gegen eine Vielfalt bejahende            Themen des Geschichtsunterrichts
Bildungspolitik mit Demonstrationen und
                                                Was hat all das nun mit Geschichte und his-
Petitionen sehr öffentlichkeitswirksam füh-
                                                torischer Bildung zu tun? Und wie kann die
ren, setzen sich aus verschiedensten christ-
                                                historische Bildungsarbeit zur Akzeptanz
lich-fundamentalistischen, konservativen
                                                sexueller und geschlechtlicher Vielfalt bei-
und rechten Verbänden zusammen und sind
                                                tragen und sich an den bildungspolitischen
teilweise eng personell mit der AfD verfloch-
                                                Auseinandersetzungen um Geschlechter-
ten, werden aber auch von anderen konser-
                                                verhältnisse beteiligen?
vativen Politiker_innen unterstützt (vgl.
Teidelbaum 2015: S. 6-8).                       Die Geschichtswissenschaft und Geschichts-
                                                didaktik kann und muss sich in diese De-
Die Argumentationsstrategien sind in allen
                                                batten einmischen, so meine erste These.
Fällen dieselben: Die angebliche Frühsexu-
                                                Allein, dass konservative und rechte Bünd-
alisierung von Kindern wird kritisiert, die
                                                nisse vordergründig mit Biologie und Mo-
Sexualpädagogik der Vielfalt unter Verdacht
                                                ral argumentieren, sollte Historiker_innen
der geistigen Nähe zur Pädosexualität ge-
                                                geradezu herausfordern: denn ist es nicht
stellt und das alleinige Erziehungsrecht der
                                                ihr Kerngeschäft das vermeintlich Natürli-
Eltern gefordert. Es gelte die traditionellen
                                                che als historisch zu erweisen, und Moral-
und christlich fundierten Formen von Ehe,
                                                und Wertvorstellungen zu historisieren?
Familie und Geschlechterrollen zu schützen.
                                                In diesem Fall zum Beispiel die „traditio-
Die Argumentationen sind in der Regel of-
                                                nelle“ Familie und Ehe, die Konservative
fen homophob und transphob und wettern
                                                und Rechte gern schützen möchten: dieses
gegen Gender-Mainstreaming und gegen

                                                         Magazin vom 30.01.2019 12
Zur Diskussion

Familienideal kann historisch als bürgerli-     sein sollten.
ches Ideal der Moderne kontextualisiert wer-    Solche historischen Lernprozesse tragen zur
den, das in Deutschland als wirklich gelebte    Kenntnis über und Akzeptanz von Vielfalt
gesellschaftliche Alltagspraxis maximal in      bei und können eine Reflexion über alltägli-
den 1950er und 1960er Jahren Bestand hat-       che homo- und transphobe Diskriminierun-
te (und das auch nur in Westdeutschland).       gen (die ja auch unter Jugendlichen nicht
Und selbst in dieser Hochphase wurde das        selten sind) vor einem historischen Kon-
Ideal im Alltag immer wieder gebrochen –        text der Diskriminierung und Verfolgung
so etwa durch Frauen und Männer, die in         von LSBTIQ anstoßen. Zugleich liefert eine
gleichgeschlechtlichen Beziehungen lebten       Auseinandersetzung mit Geschlechter- und
oder gleichgeschlechtliche sexuelle Kontak-     Sexualitätengeschichte Anstöße zur eigenen
te pflegten.                                    geschlechtlichen und sexuellen Orientie-
Wenn die Schule ein Ort sein soll, an dem       rung und Identitätsfindung von Jugendli-
Schüler_innen sich fächerübergreifend mit       chen (vgl. Reusch 2019).
Vielfalt im Allgemeinen und sexueller und       Bezugnehmend auf die anfangs zitierte
geschlechtlicher Vielfalt im Besonderen         „Magdeburger Erklärung“ der AfD kann zur
auseinandersetzen, so ist die Thematisie-       Rolle des Geschichtsunterrichts also festge-
rung von Geschlecht und Sexualität nicht        halten werden: Ja, der Geschichtsunterricht
nur Sache der Sexualkunde, sondern auch         soll die angeblich „natürlichen“ Vorstellun-
des Geschichtsunterrichts. Wir brauchen ei-     gen von Geschlecht dekonstruieren, und er
nen Geschichtsunterricht, so meine zweite       soll Kindern und Jugendlichen zeigen, dass
These, der positive Auseinandersetzungen        außer der heterosexuellen Ehe noch andere
mit Diversität und Vielfalt fördert. Dies ist   Formen des Zusammenlebens möglich sind.
möglich, indem geschlechtliche und sexuel-      Und nicht zuletzt soll der Geschichtsunter-
le Vielfalt historisch und im Zusammenhang      richt nationalistische und heteronormative
von Geschlechter- und Sexualitätsgeschich-      Vorstellungen einer „deutschen Leitkultur“
te betrachtet werden.                           dekonstruieren.
Geschlecht und Sexualität sind historisch,                Ein Praxisbeispiel: Das Queer
sie sind wandelbar. Geschlechtliche und se-                    History-Projekt in Berlin
xuelle Vielfalt, Abweichungen von heterose-
                                                Wie eine Einbindung von geschlechtlicher
xuellen und zweigeschlechtlichen Normen
                                                und sexueller Vielfalt in den Geschichts-
hat es zu jeder Zeit gegeben. Und auch diese
                                                unterricht praktisch aussehen kann,
Normen selbst unterliegen dem historischen
                                                möchte ich am Beispiel des Queer Histo-
Wandel. Das sind die wichtigsten Erkennt-
                                                ry-Projekts in Berlin kurz aufzeigen. Das
nisse, die ein Ziel einer Thematisierung von
                                                Projekt startete 2011 mit dem Vorhaben,
Geschlecht und Sexualität im Geschichtsun-
                                                sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in den
terricht und der historischen Bildungsarbeit

                                                          Magazin vom 30.01.2019 13
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Geschichtsunterricht und in die universitäre   Selbstreflexion und ist selbst nicht frei von
Lehrer_innenbildung hineinzutragen.            Ungleichheitsverhältnissen – so wird aktu-
Gemeinsam mit Lehramtsstudierenden             ell im bislang sehr weiß geprägten Netzwerk
wurden Unterrichtsmaterialien entwickelt,      diskutiert, wie der Queer History Month auf
die von der rechtlichen Situation homosexu-    personeller wie inhaltlicher Ebene intersek-
eller und transgeschlechtlicher Menschen,      tionaler und vor allem weniger weiß gedacht
über Empfängnisverhütung, vergeschlecht-       und umgesetzt werden kann.
lichte Arbeitsmigration bis hin zu einem       Sowohl auf institutioneller bildungspoliti-
geschlechterhistorischen und postkolonia-      scher als auch auf praktischer Ebene, das
len Blick auf den osmanischen Harem ver-       wird deutlich, gibt es viele Möglichkeiten,
schiedene Themen umfassen (vgl. Marzin-        sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in den
ka/Reusch 2018: S. 2). Die Materialien sind    Unterricht einzubinden. Der Geschichts-
Planungen einzelner Unterrichtseinheiten       unterricht kann und sollte ein Ort sein, der
samt dazugehöriger Quellen und Arbeits-        für vielfältige Lebensweisen und gegen den
aufträge und können von Lehrkräften auf        bildungs- wie geschlechterpolitischen Back-
dem Portal queerhistory.de frei herunterge-    lash der letzten Jahre eintritt: indem er ver-
laden und im Unterricht eingesetzt werden.     meintlich Natürliches dekonstruiert, indem
Zudem wurde gemeinsam mit der Berliner         er die Vielfalt von Geschlecht und Sexualität
Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und       in der Geschichte sichtbar macht und indem
Wissenschaft und der Agentur für Bildung       er den Schüler_innen Instrumente an die
– Geschichte, Politik und Medien e.V. der      Hand gibt, die Geschlechternormen ihrer
Queer History Month ins Leben gerufen, der     eigenen Gesellschaft kritisch zu reflektieren.
von einem Netzwerk aus verschiedenen Bil-                                        Literatur
dungseinrichtungen und Archiven getragen       AfD-Fraktion im Landtag Sachsen-An-
wird. Inspiriert wurde er vom Black History    halt (2016): Magdeburger Erklärung zur
Month, hat allerdings im Gegensatz zu die-     Frühsexualisierung, https://cdn.afd.tools/
sem nur eine regionale Reichweite und ist      sites/75/2016/11/16180505/Magdeburger-
allein auf schulische Bildung bezogen. Hier    Erkl%C3%A4rung-Initiatoren.pdf .
können Schüler_innen sich, unterstützt von
                                               Demo für Alle (2018): Petition Übergriffige
Bildungseinrichtungen, in eigenen Projek-
                                               „Sexualpädagogik der Vielfalt“ stoppen!, ht-
ten mit sexueller und geschlechtlicher Viel-
                                               tps://www.citizengo.org/de/ed/165423-ue-
falt in der Geschichte auseinandersetzen
                                               bergriffige-sexualpaedagogik-der-vielfalt-
(vgl. ebd., S. 2f.). Der Queer History Month
                                               stoppen.
ist als offenes Format gedacht, in dem Ar-
chive ihre Türen öffnen, Lesungen, Podien
oder andere Veranstaltungen stattfinden
können. Das Netzwerk lebt dabei auch von

                                                         Magazin vom 30.01.2019 14
Zur Diskussion

Hessisches Kultusministerium (2016):          Reusch, Nina (2019): Von der Pluralisierung
Lehrplan Sexualerziehung für allgemein-       historischer Subjekte zur Historisierung von
bildende und berufliche Schulen in Hessen,    Geschlecht, Sexualität und Körper: Sexuelle
https://kultusministerium.hessen.de/sites/    und geschlechtliche Vielfalt in der histori-
default/files/media/hkm/lehrplan_sexual-      schen Bildungsarbeit. In: Oliver Musenberg
erziehung_formatiert_neu.pdf.                 et al.: Historische Bildung inklusiv. Zur Re-
Marzinka, Birgit/ Reusch, Nina (2018):        konstruktion, Vermittlung und Aneignung
Queer History – von der Hochschullehre in     vielfältiger Vergangenheiten, Bielefeld:
die Schulpraxis. In: Freie Universität Ber-   transcript [im Erscheinen].
lin. Toolbox Gender und Diversity in der      Teidelbaum, Lucius (2015): "Kein Bildungs-
Lehre. URL: www.genderdiversitylehre.fu-      plan unter der Ideologie des Regenbogens".
berlin.de/toolbox/_content/pdf/Marzinka-      Homo- und transphobe Straßenproteste ge-
Reusch-2018.pdf.                              gen den Entwurf eines neuen Bildungsplans
Ministerium für Justiz und Gleichstellung     in Stuttgart. In: Lucie Billmann (Hg.): Un-
Sachsen-Anhalt (2015): Aktionsprogramm        heilige Allianz. Das Geflecht von christlichen
für die Akzeptanz von Lesben, Schwulen,       Fundamentalisten und politisch Rechten
Bisexuellen, Transgendern, Transsexuel-       am Beispiel des Widerstandsgegen den Bil-
len und intergeschlechtlichen Menschen        dungsplan in Baden-Württemberg, S. 6-14,
(LSBTTI), https://mj.sachsen-anhalt.de/       https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_up-
themen/geschlechtlich-sexuelle-vielfalt/      loads/pdfs/Materialien/Materialien8_Un-
aktionsprogramm-fuer-die-akzeptanz-von-       heilige_Allianz.pdf.
lsbtti/.
Petition zum Bildungsplan (2015): Zukunft
– Verantwortung – Lernen: Kein Bildungs-
plan 2015 unter der Ideologie des Regen-
bogens,      https://www.openpetition.de/                                      Über die Autorin:

petition/online/zukunft-verantwortung-             Dr. Nina Reusch hat Neuere und Neueste Ge-
                                               schichte, Gender Studies und Soziologie studiert.
lernen-kein-bildungsplan-2015-unter-der-       Sie arbeitet seit November 2016 als wissenschaft-
ideologie-des-regenbogens.                       liche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Didaktik
                                                der Geschichte der FU Berlin und ist Vorstands-
                                               mitglied bei der Agentur für Bildung - Geschichte,
                                                                         Politik und Medien e.V.

                                                        Magazin vom 30.01.2019 15
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Homosexuellenverfolgung in                     verhört, ihre Wohnungen wurden durch-
Bayern                                         sucht, bis die Sittenpolizei Briefe fand. Sie
                                               verglich die Namen mit den Eintragungen in
Von Albert Knoll
                                               der „Rosa Liste“, in der alle Homosexuellen
Seit Beginn der Machtergreifung waren ho-      registriert wurden. Die Sitte triumphierte:
mosexuelle Männer Zielscheibe nationalso-      wieder konnte sie ein „schwules Nest“ aus-
zialistischer Verfolgungspolitik. Die Behör-   heben.
den konnten sich dabei auf die Bereitschaft
                                               Der §175 RStGB, der seit 1872 in Kraft war,
der Bevölkerung zur Denunziation verlassen.
                                               bestrafte „Widernatürliche Unzucht“ un-
Die Polizeirazzien nahmen in Bayern ihren
                                               ter Männern mit Gefängnis, auch wenn der
Anfang, so dass München auch hinsichtlich
                                               Sexualakt einvernehmlich und unter Er-
der Homosexuellenverfolgung ihrem Ruf als
                                               wachsenen ausgeübt wurde. Hugo Kalb, der
„Hauptstadt der Bewegung“ gerecht wurde.
                                               häufig im neuen Medium Radio zu hören
Nach 1945 galten homosexuelle Männer als
                                               war, gab sich den Künstlernamen „Welle“.
vergessene Opfergruppe und waren weiter
                                               Er trat den Verfolgungsbehörden anfangs
der Verfolgung ausgesetzt.
                                               sehr selbstbewußt entgegen. In die Hand-
        Homosexuellenverfolgung seit           schriftenprobe des polizeilichen Personal-
                    dem Kaiserreich            befragungsbogens schrieb er „ich bin ho-
Hugo Kalb stammte aus Würzburg, 1,70 m         mosexuell und fühle mich sehr wohl dabei,
groß, schlank, geboren im November 1896,       hoffentlich bringt uns die neue Zeit unsere
Sohn der Kaufmannseheleute Hugo und            Freiheit“. Die 1920er Jahre versprachen
Anna. Als ihm Würzburg etwas zu klein und      Wandlung.
provinziell wurde, zog er nach München,        Doch sie führten auch zum Aufstieg des Na-
um dort Schauspieler zu werden. Der auf-       tionalsozialismus. Schon früh (1928) schrieb
geweckte junge Mann war homosexuell. Im        die Nazipartei in ihre Statuten, dass, wer
Hochsommer 1922 feierte er mit Freunden        „mannmännliche oder weibweibliche Liebe“
in Schwabing. Auf der Party gab es Alko-       praktiziere, ihr Feind sei.
hol, Schnaps und Schwedenpunsch, wie es
                                                                      Verschärfung der
später im Polizeiprotokoll hieß. Die jungen
                                                                  Verfolgung nach 1933
Männer kamen sich näher, berührten sich,
einige entkleideten sich. Um halb zwei Uhr     Gleich nach dem Tag der nationalso-
nachts riefen die Nachbarn die Polizei: oben   zialistischen    Machtübernahme       setz-
im 4. Stock, seien „Päderasten“. („Päderast“   ten Verfolgungsmaßnahmen auch gegen
wurde landläufig diffamierend für „Homo-       Homosexuelle ein. Die sexualpolitische Re-
sexueller“ verwendet.) Die jungen Leute        formbewe-gung der Weimarer Zeit wurde
wurden auf Verdacht der „Widernatürli-         zerschlagen, Treffpunkte wurden überwacht
chen Unzucht“ festgenommen. Sie wurden         und Ziel brutaler Anschläge. Im Februar

                                                        Magazin vom 30.01.2019 16
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1933 erließ der preußische Innenminister       und auf Bedürfnisanstalten. Die Gäste der
ein Verbot aller Homosexuellenlokale, bald     beiden Schwulenloka¬le "Schwarzfischer"
darauf mussten zahlreiche Publikationen        und "Arndthof" wurden abtransportiert.
ihr Erscheinen einstellen. Die Polizeidi-      Insgesamt wurden mehrere hundert Per-
rektion Nürnberg-Fürth meldete, dass sie       sonen festgenommen, davon 145 allein in
„schon seit Mitte des Jahres 1933 strenge      München. 39 von ihnen wurden in Schutz-
Maßnahmen gegen das Unwesen der Homo-          haft genom¬men und in das KZ Dachau ge-
sexuellen ergriffen hatte.“ Im Februar 1934    bracht. Vergleichbare Aktionen folgten auch
erfolgte die Einführung der vorbeugenden       in anderen deutschen Großstädten. Gleich-
Polizeihaft für sogenannte Berufsverbre-       zeitig mit der Razzia in Lokalen und Treff-
cher; dazu zählten alle Personen von über 21   punkten der schwulen Szene wurde eine
Jahren, die Sexualkontakte mit unter 16jäh-    Reihe von Homosexuellen anhand der seit
rigen hatten. Die Maßnahme wurde gerecht-      dem Kaiserreich bestehenden und in der
fertigt, um die präventive Wirkung der kri-    Weimarer Zeit fortgeführten „Rosa Liste“
minalpolizeilichen Tätigkeit zu stärken.       festgenommen.
Bis zum 30. Juni 1934 gab es in Bayern al-     Gauleiter Adolf Wagner war mit dem Er-
lenfalls gezielte Einzelaktionen gegen Ho-     gebnis jedoch nicht zufrieden und hegte
mosexuelle. Das änderte sich schlagartig als   Zweifel, ob die Polizeibehör¬den mit allem
die SA-Elite beseitigt wurde. Ernst Röhm       Nachdruck bei der Sache gewesen seien.
als SA-Chef fiel einem internen Macht-         Insbesondere die hohe Zahl von Arbeitern
kampf zum Opfer. Seine homosexuelle Ver-       unter den Festgenommenen lief Wagners
anlagung hatte bis dahin bei Kritikern die     Intention zuwider, mit dieser Aktion gleich-
gesamte nationalsozialistische Bewegung        zeitig einen Schlag gegen die Intellektuellen
in die Nähe gleichgeschlechtlicher Affinität   zu führen, da er der Überzeugung war, dass
gerückt. Nun distanzierte sich Hitler von      „wie allgemein bekannt diese Verirrung
seinem einstigen Duzfreund und ließ ihn er-    menschlichen Trieblebens, hauptsächlich in
morden.                                        den Kreisen der sog. Intelligenz und einer
Wenige Tage nach der „Nacht der langen         gewissen übersättigten Bürgerlichkeit ver-
Messer“, wurde eine großangelegte Raz-         breitet ist.“
zia ange-kündigt, bei der „ein schlagar-       Im Einklang mit den Razzien wurde eine sys-
tiges Vorgehen in ganz Bayern beabsich-        tematische Erfassung von Homosexuellen
tigt“ war. Gauleiter Adolf Wagner befahl       in Rosa Listen vorangetrieben. Das betraf
die Durchführung am Abend des 20. Ok-          auch Hugo Kalb. 1935 nahm ihn die Würz-
tober 1934. Allein in München waren bei        burger Polizei erneut fest und verhängte
dieser Aktion mehr als 50 Polizei¬beamte       eine mehrwöchige Schutzhaft über ihn. Als
im Einsatz. Die Razzia erstreckte sich auf     er im darauffolgenden Jahr im Münchner
Parkanlagen wie den Engli¬schen Garten         Volkstheater in dem Bauernschwank „Wer

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zuletzt lacht“ die Hauptrolle übernehmen       unter dem Leiter Josef Meisinger damit be-
sollte, schritt die Stapo-Leitstelle München   schäftigt, den inkriminierten Personenkreis
ein und forderte, dass sein Auftritt im Hin-   möglichst lückenlos zu erfassen. Nach vier
blick auf seine homosexuelle Veranlagung       Jahren Arbeit hatte die als oberste Polizei-
verhindert werden müsse. Kalb erhielt Be-      behörde tätige Reichszentrale 41.000 Daten
rufsverbot.                                    von Männern gespeichert, die als homose-
                       Verfestigung der        xuell bestraft worden waren oder als solche
                  Verfolgungsinstanzen         verdächtigt wurden.

Es vergingen nur wenige Monate, bis die ver-   Homosexuelle wurden schließlich zu Staats-
schärfte Verhaftungspraxis (mit anschlie-      feinden erklärt. So entwarf der Reichsfüh-
ßender Sicherungsverwahrung) juristisch        rer SS, Heinrich Himmler, anlässlich der
untermauert wurde. Mit der im Juni 1935        Gruppenführerbesprechung in der SS-Elite-
beschlossenen     Strafgesetzbuchänderung      schule in Bad Tölz am 18. Februar 1937 das
wurde der zu strafende Tatbestand „wider-      Zerrbild einer sich seuchenartig ausbrei-
natürliche Unzucht“ ausgeweitet. Von nun       tenden Homosexualität und beschwor den
an waren nicht mehr nur „beischlafähnliche     Untergang des Deutschen Reiches: ”Es gibt
Handlungen“ zwischen Männern strafwür-         unter den Homosexuellen Leute, die stehen
dig, sondern jedes homosexuelle Verhalten.     auf dem Standpunkt: was ich mache, geht
In dieser Fassung blieb der Paragraph bis      niemandem etwas an, das ist meine Privat-
1969 bestehen.                                 angelegenheit. Alle Dinge, die sich auf dem
                                               geschlechtlichen Sektor bewegen, sind je-
Im Zuge derselben Strafgesetznovelle wurde
                                               doch keine Privatangelegenheit eines ein-
auch der sogenannte Analogieparagraph er-
                                               zelnen, sondern sie bedeuten das Leben und
lassen, der es jedem Richter überließ, nach
                                               das Sterben des Volkes.“ Die Homosexuel-
dem „gesunden Volksempfinden“ zu ent-
                                               len führen in den Augen Heinrich Himmlers
scheiden. Der §175 war jetzt zu einem beson-
                                               zum Untergang Deutschlands. Die NS-Be-
ders gut einsetzbaren Strafverfolgungsmit-
                                               völkerungspolitik indoktrinierte, dass jeder,
tel gegen missliebige Kreise geworden, die
                                               der nicht für die optimale Reproduktionsfä-
in den Jugendbünden, der katholi¬schen
                                               higkeit sorge, Deutschlands Feind sei.
Kirche oder der Wehrmacht vermutet wur-
den. Die Anzahl der nach § 175 Verurteilten                  Homosexuelle Männer in
stieg von 1933 bis 1938 um das zehnfache                       Konzentrationslagern
auf 8.500 im Jahr. Die „Homosexuellenfra-      Im November 1934 also wenige Tage
ge“ wurde zu einer politischen Frage stili-    nach Einlieferung der bei der Razzia fest-
siert.                                         genommenen Homosexuellen trat Ru-
Die Reichszentrale zur Bekämpfung von Ab-      dolf Höß als Block und Rapportführer
treibung und Homosexualität war seit 1936      in die Wachtruppe des KZ Dachau ein.

                                                        Magazin vom 30.01.2019 18
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Nach Kriegsende behauptete der spätere           daß nur Helden in Dachau gestorben sind...
Lagerführer von Auschwitz, die Isolierung        Sie müssen sich daran erinnern, daß viele
der schwulen Häftlinge und die erschwerten       Verbrecher und Homosexuelle in Dachau
Haftbedingungen seien auf seine Initiative       waren. Wollen Sie ein Ehrenmal für solche
hin geschehen, um sie umzuerziehen.              Leute?“
Von 1933 bis 1944 wurden etwa 50.000 bis         Die sozialliberale Koalition ent¬schärfte den
63.000 Männer wegen Homosexualität ab-           §175, einvernehmlicher Sexualkontakt zwi-
geurteilt. Viele - die Schätzungen liegen bei    schen erwachsenen Männern wurde straf-
5.000 bis 10.000 - erhielten im Anschluss an     frei. Doch erst 1994 wurde der Paragraph
die Gefängnisstrafe unbefristet Schutzhaft.      vollständig aufgehoben. Erst im Jahr 2002
Im Konzentrationslager waren sie wehrlo-         konnte sich der Bundestag dazu entschlie-
se Opfer der SS-Willkür. Ausgrenzung und         ßen, die Urteile nach §175 der Jahre 1933
mangelnde Solidarität der Mithäftlinge auf-      bis 1945 aufzuheben. Dazu konnten sich
grund von Vorurteilen führten dazu, dass         die Parlamentarier_innen hinsichtlich der
mehr als die Hälfte die Haft nicht überlebte.    Nachkriegsurteile erst 2017 entschließen,
            Kontinuität der Verfolgung           als nur noch eine Minderheit der ca. 50.000
                 in der Nachkriegszeit           Betroffenen am Leben war.

Der §175, der einvernehmliche Sexuali-
tät zwischen erwachsenen Männern unter
Strafe stellte, existierte in seiner 1935 ver-
schärften Form noch bis 1969 weiter. Die
Verfolgungsquote nahm nach 1945 stetig zu
und die Zahl der Anklagen erreichte im Jahr
                                                                                  Über den Autor:
1959 einen neuen Höchststand von 8.737 in
                                                       Der Historiker Albert Knoll arbeitet als Ar-
der Bundesrepublik Deutschland. Homose-               chivar der KZ-Gedenkstätte Dachau und ist
xuelle KZ-Gefangene kamen bald nach ihrer            Vorstand des Vereins Forum Homosexualität
                                                   München. 2015 erschien von ihm das Buch „Der
(vermeintlichen) Befreiung durch alliierte          Rosa-Winkel-Gedenkstein: Die Erinnerung an
Kräfte wieder in ein Gefängnis                               die Homosexuellen im KZ Dachau“.

Diese Stimmung der restaurativen Nach-
kriegsära verdeutlicht ein Interview, das der
englische Journalist Llew Gardner mit dem
damaligen Dachauer Bürgermeister Hans
Zauner geführt hat. So standen 1960 im
Londoner „Sunday Express“ folgende Worte
des Stadtoberhauptes zu lesen: „Bitte, ma-
chen Sie nicht den Fehler und glauben Sie,

                                                           Magazin vom 30.01.2019 19
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Unerzählte Geschichten -                       sich auch in der historisch-politischen Bil-
Verfolgung und Diskriminie-                    dungsarbeit in Deutschland wider und mo-
rung aufgrund von sexueller                    tivierte uns, gemeinsam mit unserem lang-
Orientierung und Geschlechter-                 jährigen Projektpartner IPAK (‚Trotzdem‘),
rollen als Thema der interna-                  einer Jugendorganisation aus dem bosni-
tionalen historisch-politischen                schen Tuzla, und der polnischen Organisa-
Jugendbildungsarbeit                           tion Efekt Domina zwischen 2016 und 2017
                                               das dreiteilige Projekt „The Right to Love“
Von Luiza Kulenkampff, Klaas Opitz und
                                               durchzuführen. Dieses widmete sich zum
Anne Schieferdecker
                                               einen der historischen Perspektive und zum
Schon seit 1953 veranstaltet der Volksbund     anderen der Wahrnehmung und Würdigung
Deutsche Kriegsgräberfürsorge internatio-      geschlechtlicher und sexueller Vielfalt heu-
nale Workcamps und Jugendbegegnungen           te. Jede der drei beteiligten Organisationen
an Kriegsgräberstätten und Gedenkorten,        war einmal Gastgeberin und setzte durch ihr
die unter dem Motto „Gemeinsam für den         jeweiliges Profil unterschiedliche Schwer-
Frieden“ stehen. Sie dienen der kritischen     punkte.
Auseinandersetzung mit der Geschichte und
                                                              Ein Recht auf Liebe? –
fördern Begegnung und Dialog zwischen
                                               		             Projektzyklus 2016/2017
jungen Menschen. Somit sind die Jugend-
begegnungen und Workcamps sowohl eine          In Polen lag der Fokus auf der Formierung
Form der internationalen Jugendbildungs-       eines “sicheren Raumes”, in dem sich die
arbeit, als auch ein außerschulisches For-     Teilnehmer_innen in einer vertrauensvol-
mat des historisch-politischen Lernens. Als    len Atmosphäre kennenlernten und einen
solches haben sie zum Ziel, dass junge Men-    Zugang zum Thema fanden. Zentrale Be-
schen gemeinsam aktuelle, gesellschafts-       griffe wurden erörtert und Mechanismen
politische Themen und Herausforderungen        von Diskriminierung reflektiert. Die Teil-
aus ihren Lebenswelten im Spiegel der his-     nehmenden setzten sich in Kleingruppen
torischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts      mit der rechtlichen Situation in ihren Län-
reflektieren.                                  dern auseinander. Gibt es Antidiskriminie-
                                               rungsparagraphen in den jeweiligen Ver-
 Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt
                                               fassungen? Lässt sich ein “Recht zu lieben”
als Thema für internationale Jugend-
                                               formulieren? In verschiedenen Diskussions-
                        begegnungen
                                               runden und auch im Abgleich mit der All-
Erst in den letzten Jahren gewann die Aufar-   gemeinen Erklärung der Menschenrechte,
beitung und Beschäftigung mit dem Thema        konnten hier spannende Denkanstöße ge-
Verfolgung aufgrund von sexueller Orientie-    wonnen werden. Ein Besuch bei der NGO
rung in der NS-Zeit zunehmende Aufmerk-        Lambda Warszawa erlaubte uns einen Ein-
samkeit in der Öffentlichkeit. Das spiegelt    blick in den Arbeitsalltag von LGBTIQ*-

                                                        Magazin vom 30.01.2019 20
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Aktivist_innen und die damit verbundenen       Beide betreuen und beraten junge Menschen,
Schwierigkeiten und Herausforderungen.         die sich selbst als schwul, lesbisch, bisexuell,
Mit unserem handlungsorientierten Ansatz       trans*, inter* oder queer bezeichnen. Dass
stellten wir uns “Hate Speech” und übten       die Vereine auf Klingelschilder verzichten,
Strategien ein, mit dieser Form der Diskri-    verhängte Fenster und Hinterausgänge ha-
minierung im Alltag umzugehen.                 ben, um ihren Klient_innen auch einen
In Deutschland befassten wir uns vor allem     wirklichen Schutzraum bieten zu können,
mit der Diskriminierung in der Vergangen-      verdeutlichte uns wie herausfordernd und
heit. Die Verfolgung von Homosexuellen         wichtig diese Arbeit ist. Für eine besonders
nach §175 und dessen Verschärfung durch        tiefe Auseinandersetzung nutzten wir in der
das NS-Regime prägten die Auseinanderset-      pädagogischen Arbeit die Ausdrucksform
zung. Bei Führungen und Workshops wurde        des Forumtheaters nach Augusto Boal. Mit
die Situation der Betroffenen und ihr Kampf    dem „Theater der Unterdrückten“ und ins-
um Anerkennung im Zuge der Aufarbeitung        besondere dem Forumtheater fühlten sich
der Schrecken des NS-Regimes beleuchtet.       die Teilnehmenden in Menschen mit Dis-
An Gedenkstätten und Denkmälern für die        kriminierungserfahrung ein und suchten so
Opfer des Nationalsozialismus in Berlin        nach Handlungsoptionen, Formen von Dis-
befassten wir uns mit Formen der Erinne-       kriminierung und Unterdrückung heute zu
rungskulturen. Auch war das biografische       überwinden.
Lernen ein wesentlicher Bestandteil unserer    Das positive Feedback der Teilnehmenden
Arbeit, der uns einen persönlichen, greif-     sowie eine breite öffentliche Anerkennung
baren Zugang zur Geschichte ermöglichte:       zeugen vom Erfolg des Projektes und zeigen
Während einer Exkursion nach Hamburg,          die Relevanz des Themas für die historisch-
wo insbesondere in den Stadtteilen St. Ge-     politische und die internationale Jugend-
org und St. Pauli Stolpersteine an Menschen    bildung. Hier möchten wir anknüpfen und
erinnern, die aufgrund ihrer sexuellen Ori-    haben einen weiteren Projektzyklus aus-
entierung und/oder geschlechtlichen Iden-      geschrieben, der die Ergebnisse von „The
tität verfolgt wurden, beschäftigten wir uns   Right to Love“ aufgreift und einzelne Ele-
intensiv mit konkreten Schicksalen.            mente stärker in den Fokus rückt.
Wie relevant und nötig das Werben für eine      Auf der Suche nach den unerzählten
offene, vielfältige Gesellschaft noch heute       Geschichten – Projektzyklus 2019
ist, erfuhren wir insbesondere während des     Im Folgeprojekt „Stories untold“ betonen
dritten Projektteils in Bosnien. Hier tra-     wir die historische Perspektive noch ein-
fen wir Aktivist_innen der Organisationen      mal stärker und betrachten die Entwick-
Sarajevski Otvoreni Centar und Tuzlan-         lung der sozialen und rechtlichen Situation
ski Otvoreni Centar, die für die Rechte von    von LGBTIQ* in Polen, Deutschland und
LGBTIQ*-Personen kämpfen.

                                                         Magazin vom 30.01.2019 21
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