Momo und die Ausbeutungskultur - Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft und ihre literarische Aufarbeitung in Michael Endes Märchenroman 40 ...
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Im Blickpunkt: Momo und die Ausbeutungskultur 1 Momo und die Ausbeutungskultur Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft und ihre literarische Aufarbeitung in Michael Endes Märchenroman Sowohl in Fromms berühmtem Werk ‚Haben oder Sein‘ als auch in Endes Märchenroman ‚Momo‘ finden wir ein Motiv: Sich dem Diktat des ‚Habens‘ zu widersetzen und sich ganz ins ‚Sein‘ zu begeben. Foto: Mitya Ku via Flickr / CC-Lizenz BY-SA 2.0 – bit.ly/öiew150bild1 „Achtung haben vor der Erde und dem Leben und tischen Systems und polarisiert ‚Zentren‘ und ‚Pe- seiner ganzen Vielfalt. Erkennen das alles, was lebt, ripherie‘, die relational aufeinander bezogen seien: einen Wert an sich hat, unabhängig von seinem früher z.B. das Verhältnis zwischen aufstrebenden Nutzwert für die Menschen.“ Städten und abhängigem Umland, dann zwischen Der erste Grundsatz der Erd-Charta Kolonialmächten und kolonisierten Ländern [1, S. Wir leben in einer Kultur der Ausbeutung. Und das 34f]. Die Beziehung umfasst zum zweiten die Aus- ausbeuterische an unserer Kultur ist eng verknüpft lagerung (Externalisierung) der Kosten wirtschaft- mit der kapitalistischen Wirtschaftsstruktur, in der licher Wertschöpfung, was neben dem Wohlstand mittlerweile alle Länder und deren Bewohner ein- (‚wealth‘) immer auch Übelstand (‚illth‘) schaffe gebunden sind – gleichwohl in sehr unterschied- [Ruskin in 1, S. 43]. Als drittes Kennzeichen be- licher Rollenverteilung. Dass dem so ist, das hat inhaltet Kapitalismus immer auch Einverleibung. etwa der Soziologe Stephan Lessenich in seiner Ob Bodenschätze, ob Arbeitskraft, beides wird Analyse der ‚Externalisierungsgesellschaft‘ gezeigt der Umwelt bzw. dem Umfeld, d.h. der Periphe- [1]. Er beschreibt die Verstärkung sozialer Un- rie entnommen, um daraus Wert zu schöpfen; das gleichheiten als erstes Kennzeichen eines kapitalis- heißt aber, sie dem Zweck des Systems unterzu- Ein Auszug dieses Essays ist im initiativ erschienen (Ausgabe 150 / November 2017, S. 3-7). Die gedruckte Ausgabe können Sie hier bestellen: oeiew.de/publikationen
Im Blickpunkt: Momo und die Ausbeutungskultur 2 ordnen. Viertens kommen kapitalistische Systeme nicht ohne Wachstum aus – mehr noch: das System ist von sich aus auf grenzenloses Wachstum veran- lagt - setzt man ihm nicht äußere Grenzen. Fünf- tens sind kapitalistische Systeme zwar wandelbar in seiner Ausgestaltung, sie sind jedoch nicht autopo- etisch; sie bedürfen damit einer künstlichen Perpe- tuisierung. Ansaugen – Aufstreben im Zentrum – Abstoßen in die Peripherie – diese Dynamik passt auch zu einem Wirbelsturm. Doch ein Hurrikan z.B. klingt ab, bald nachdem er das Festland Ameri- kas erreicht hat. Dort fehlen ihm die physikalischen Bedingungen: die feucht-warme Luft über der son- nengewärmten Meeresfläche. Der wesentliche Un- terschied zwischen dem physikalischen System und einem politisch-sozialem System ist der mensch- liche Wille und seine Ideologie. Allein Menschen in ihrem Gesellschaftsgefüge lassen das System Kapi- talismus (zwar mit Verschiebungen der Machtzen- tren) schon über Jahrhunderte wachsen. Nicht nur neue Territorien wurden in dieser Zeit vereinnah- mt, die Gesellschaft selbst. Systemisch gruppiert sie sich um das Ziel wirtschaftlichen Wachstums und Profits – ein Ziel, das auch die persönliche Orien- Was bleibt von unserer Zeit? Die Skulptur „Passing time“ steht in Christchurch/Australien. Sie besteht aus 105 aufgereihten Kästen, die jeweils ein Jahr von 1906 bis 2010 repräsentieren. tierung und Biographie vieler Menschen vereinnah- Foto: Bruce Aldridge via Flickr / CC-Lizenz BY-SA 2.0 – bit.ly/öiew150bild2 mt. Die Folgen sind auf verschiedenen Ebenen fest- Sein‘ sozial-psychologische Entwicklungen im 18. stellbar: Verödung in Monokulturen in Forst- und Jhdt. als Bedingung dafür fest, dass ‚radikaler He- Landwirtschaft, wie auch in den Ozeanen durch donismus‘ und ‚schrankenloser Egoismus‘ zu Leit- Überfischung; Landflucht der Armen in die Slums prinzipien ökonomischen Verhaltens werden konn- der großen Städte oder als Flüchtlinge in die Frem- ten [2, 13f]. Erich Fromm pointiert den Wandel wie de der reichen Länder; ein Umbruch im gesamten folgt: nicht mehr die Frage „Was ist gut für den Men- Erdklima – physisch aber auch sozial. Im Sinne ka- schen“ menschliches Wirtschaften als vielmehr die pitalistischen Wachstums ist eigentlich die ganze Frage: „Was ist gut für das Wachstum des Systems?“ Erde Peripherie: ihre Bodenschätze samt Flora und [1, 18]. Diese Haltung, die im Laufe des 18. Jahr- Fauna, ja auch die Menschen selbst sind aus dieser hunderts zur ökonomischen Praxis wurde, ist eine Sicht Ressourcen, die man ausbeuten kann und – Verkehrung der Prioritäten; es führte Fromm zu- um das System zu erhalten - ausbeuten muss. Men- folge dazu, dass „(…) wirtschaftliches Verhalten schen kreisen in wirbelnder Betriebsamkeit um sich vom ethischen Verhalten abgetrennt wurde“ [2, selbst. - Oder ist es ein Zentrum, das außerhalb ih- ebd.]. rer selbst liegt? Die beschriebenen Umbrüche im Ökonomischen wie im Sozialen sind Hintergrund und geben den Historie einer Kälteströmung Erzählstoff für seine literarische Verarbeitung – in der Gesellschaft etwa im Kunstmärchen ‚Das kalte Herz‘ von Wil- helm Hauff oder 150 Jahre später im Märchenro- Erich Fromm macht in seinem Buch ‚Haben oder man ‚Momo‘ von Michael Ende. Beide Erzählungen
Im Blickpunkt: Momo und die Ausbeutungskultur 3 spiegeln die jeweils herrschenden Umstände und ale. Es werden an der Geniusgestalt Momo und tragen dadurch, so meine ich, wesentlich zu ihrer ihren Freunden Bedingungen deutlich, unter de- Bewusstwerdung in der Gesellschaft bei [Medium nen eine solche Kultur erblühen kann. 1][3]. Ausgehend von Hauffs ‚Das kalte Herz‘ hat 2) Ende zeigt auf, wie die Hauptpersonen des Ro- Ulrich Grober einen ‚Kältestrom‘ in unserer Gesell- mans an der sozialen Erkaltung leiden und wie schaft aufgespürt, den er als ‚das Kalte-Herz-Syn- sie die Zeichen der Zeit erkennen und diese ent- drom‘ bezeichnet [4, 21f]. In seiner Analyse der wertende Lebenskultur entlarven. ‚Anatomie der Gier‘ macht Grober den Bewusst- 3) In Endes Roman werden der Habencharak- seinswandel des Romanhelden aber auch in der Ge- ter und der Seincharakter (nach Bezeichnungen sellschaft im Schwarzwald zur Zeit des Biedermei- Erich Fromms) kontrastreich gegenübergestellt er-Kapitalismus nachvollziehbar. Es ist auch eine und miteinander konfrontiert. Geschichte der Rezeption von Hauffs ‚Das kalte 4) Nachvollziehbare Schritte auf dem Weg zur Be- Herz‘, die Grober beschreibt: über Walter Benja- freiung und Wiedererlangung selbstbestimmter min, der die Problematik auch für die 1930er Jahre Gestaltungsfähigkeit sind aus dem Verlauf des als wirksam erkannte, nach dem 2. Weltkrieg The- Romans ablesbar. odor W. Adorno, der an diese Kälteströmung an- Ziel dieses Essays ist es, ein Nachsinnen über Wert knüpfte [in: 4, 33 und 56f]. Den psychologischen und Gültigkeit der Motive dieses Märchenromans Faden in Form von Habgier und einer hedonisti- für eine Entwicklung zu einer nachhaltigen Gesell- schen Ideologie verfolgt Grober bis in unsere heu- tige Zeit hinein. Dabei zeigt er Parallelen auf im Le- bensgang von Hauffs Romanhelden Peter Munk mit der autobiographischen Lebensbeschreibung Belfords alias ‚wulf of wallstreat‘ [4, 43f][Film 1]. Grober spannt so den Bogen kapitalistischer Kul- turentwicklung über mehr als zwei Jahrhunderte. Die Ausprägung solcher Lebensauffassung aber auch seine Auswirkung auf die Beteiligten sieht Grober in Teilen unserer Gesellschaft auf einen Kulminationspunkt zutreiben. Die literarische Verarbeitung des Kältemotivs bei ‚Momo‘ Welche Beiträge vermag Michael Endes Märchen- roman ‚Momo‘ zur Verarbeitung der geschilderten sozialen Kälte kapitalistischer Prägung beizutra- gen? Ein literarischer Zugang vermag das Wech- selspiel zwischen Individuum und Gesellschaft bei- spielhaft auszuleuchten. Einsichten, die in ‚Momo‘ einfühlsam und exemplarisch entwickelt wurden, möchte ich in der Analyse auf den Begriff bringen. Folgende Besonderheiten sollen näher betrachtet werden: 1) Ende beschreibt mit Momo und ihren Freunden Wo bleiben das Leben und die Liebe? Das berühmte ‚Balloon Girl‘ des britischen S Künstlers Banksy stellt ebenfalls Fragen, die Momo umtreiben. eine Kultur der Entfaltung menschlicher Potenzi- Foto: vinnie bezoomny via Flickr / CC-Lizenz CC BY-NC-ND 2.0 – bit.ly/öiew150bild4
Im Blickpunkt: Momo und die Ausbeutungskultur 4 schaft in unserer Zeit anzuregen. Handlung ist nicht vorgegeben; er hängt ab von der Initiative einzelner Kinder und vom Einlassen der Eine Kultur der Entfaltung Übrigen auf diese Spielvorgabe. Im Abgleich mit menschlicher Potenziale ihrer Vorerfahrung kommen die Kinder in Über- einstimmung. Sie erleben ihre Handlung als wirk- Im ersten Teil des Märchen-Romans ‚Momo‘ er- lich: also zum einen realistisch und auch wirksam in leben wir eine Kinderschar, vertieft in ihr Phanta- der spielerischen Verarbeitung. siespiel in einem Amphitheater. Ein heftiger Wir- Was hat es auf sich mit den Besonderheiten der belsturm, der mit peitschendem Regen die ganze ‚Geniusgestalt‘ Momo? (Ein Begriff, den Han- Schiffsmannschaft in Bedrängnis brachte, musste na Seinsche verwendet [5].) Sind es Eigenheiten gebändigt werden. Die Kinder machen das ‚Schum- übermenschlicher Art – etwa das Hören der gewal- Schum gummilastikum‘ in seinem Zentrum als Ur- tigen Musik als Momo abends allein mit sich auf sache aus. Der Versuch, es gewaltsam zu bekämpfen die Stille lauscht, oder die Auswirkung ihres Zuhö- schlägt fehl. Doch Momo, im Spiel die Eingeborene rens auf Menschen und auch Tiere? – Mehr als das Momosan, besänftigt den Kreisel mit einem Wie- sind es eigentlich allgemein menschliche Anlagen. genlied, in das alle Kinder einstimmen. Das Wasser Ausgedrückt mit Erich Fromms Begrifflichkeit ist beruhigt sich und es klart auf. Den Regen und die Momo ganz im Sein, eigentumslos, ungebunden. Blitze hatten die Kinder in ihrem Eifer einfach in ihr Wach und empfänglich für alles, was ist. Und sie Spiel einbezogen. Erfüllt vom Spiel gehen die Kin- übte sich im Zuhören. Für Momo war Zuhören aber der ihre Kleider trocknen. Nur Momo bleibt, denn auch das Teilen ihrer Zeit mit Freunden wie ein Le- sie wohnt hier unter dem Aufgang des Amphithea- benselixier – vielleicht weil nichts anderes da war, ters. Wer vertraut ist mit dem Märchenroman, der was ihre Aufmerksamkeit beanspruchte, was ab- erkennt, dass Ende in dieser Episode des Kinder- lenkte? An manchen stillen Momenten „kam es ihr spiels wesentliches der späteren Geschehnisse und so vor, als säße sie mitten in einer großen Ohrmu- auch Einsichten vorwegnimmt bzw. vorbereitet. schel, die in die Sternenwelt hinaus horchte. Und Denn in ihrem Spiel setzen sich die Kinder mit dem es war ihr, als hörte sie eine leise und doch gewal- Wirbelsturm, der auch ein Bild für die kapitalistisch tige Musik, die ihr ganz seltsam zu Herzen ging [3, geprägte Bedrohung ist, in kreativer und produk- S. 22].“ Solche Erfahrungen können prägend sein. tiver Art auseinander. Doch auch der Vollzug eines Momo wurde durch sie zwar nicht furchtlos aber solches Phantasiespiels in einer Spielgemeinschaft doch gefeit (resilient) vor einseitiger Veräußerli- vermag es, imaginierende, inspirierende und initiie- chung; nicht wunschlos aber doch zufrieden und rende Kräfte frei zu setzen. Es ist ein Weg, vielleicht glücklich damit, wie sie lebte. Es ist ein Residuum, der wirkungsvollste, zwei Polaritäten in sich zu ver- eine innere Burg, was sich da im kindlichen Her- einen, nämlich ganz bei sich sein und damit emp- zen bilden kann. ‚Die Innere Burg‘ heißt auch das fänglich für den inspirierenden Quell in sich zum Werk der Mystikerin Teresa von Avila [6]. In der einen und zum anderen ganz hingegeben der Hand- Erfahrung Teresas handelt es sich im Innersten um lung außer mir im gemeinsamen Fluss des Spieles. eine Gottesbegegnung und Vereinigung mit Ihm. Wenigstens ansatzweise will ich die weitreichende Erich Fromm drückt einen ähnlichen Gedanken Behauptung plausibel machen. Die Kinder suchen aus, wenn er vom Glauben an uns selbst schreibt; sich eine Rolle. Kraft ihrer Imagination klinken sie er wird in unserer Zeit möglicherweise leichter zu- sich in die gemeinsam zu durchlebende Phantasie- gänglich sein: „Wir sind uns der Existenz eines welt ein. Sich ganz mit ihrer Charaktere zu verbin- Selbst, eines Kerns unserer Persönlichkeit bewusst, den ist mehr als eine zugewiesene Rolle zu spielen. der unveränderlich ist und unser ganzes Leben lang So erleben sie, d.h. sie denken, fühlen und handeln fortbesteht, wenn sich auch die äußeren Umstände aus dessen Warte. Der Fortgang der spielerischen ändern mögen und wenn auch in unseren Meinun-
Im Blickpunkt: Momo und die Ausbeutungskultur 5 gen und Gefühlen gewisse Änderungen eintreten. freien Willensentscheidung, sein Leben nach Art Dieser Kern ist die Realität hinter dem Wort „Ich“, der Zeitsparer umzustellen. Der Irrtum eines Men- auf der unsere Überzeugung von unserer Identität schen ließe sich korrigieren, wäre nicht auch in der beruht [6, S. 135].“ Es ist der Glaube an ein bestän- Gesellschaft eine irrige Ansicht verbreitet. So ist diges Selbst, der in uns unterschiedlich ausgeprägt der Kampf um die Wahrheit gegen Verschleierung ist und der für vieles Weitere vorausgesetzt ist. Für und Lüge ein wesentliches Erzählmotiv. Vorurteile Michael Endes ‚Momo‘ spielt dennoch die Verbin- der Zeitsparer gegen ‚die Faulenzer und Tagediebe‘ dung zu einer äußeren Quelle eine zentrale Rolle. werden von Momo und ihren Freunden entkräftet. Fließt doch die Zeit den Menschen individuell zu, Momo will das Wesen des grauen Herrn erkennen ausgehend von einer Wirklichkeit, die außerhalb und sie schreckt nicht zurück vor der sich auftu- des physisch fassbaren liegt. enden Leere. So muss dieser sein geheimes Motiv preisgeben: „(…) wir (…) saugen euch aus bis auf Die Zeichen einer die Knochen (…)“ [3, 106]. entwertenden Lebenskultur erkennen Wachstum im Haben und im Sein Ende beschreibt in Teil 2 seines Romans die Zei- chen einer entwertenden Lebenskultur in der groß- Die Gegenüberstellung der grauen Herren - Cha- en Stadt, an deren Rand Momo lebt: den Abriss raktere im Haben - und Momo ganz im Sein, lässt alter Stadtviertel, die durch riesige Neubauvier- sich etwa an der unterschiedlichen Bedeutung von tel ersetzt werden. „Und diese einförmigen Straßen Wachstum festmachen. Auch für die Zeitdiebe ist wuchsen und wuchsen und dehnten sich schon schnur- Wachstum das Ziel – allerdings ein Wachstum in gerade bis zum Horizont.“ Nun wendet Ende den der Haben-Mentalität: Wachstum als Ausweitung Blick auf die Befindlichkeit der Menschen: „Nie- von Macht und Einfluss, als Bemächtigung. An- mand schien zu merken, dass er, indem er Zeit spar- fangs erscheinen die grauen Herren als harmlose te, in Wirklichkeit etwas ganz anderes sparte. Keiner Sammler von Daten über Menschen, die sie in ih- wollte wahrhaben, dass sein Leben immer ärmer, im- rem Notizbüchlein festhalten. Wie sich aber zeigt, mer gleichförmiger und immer kälter wurde.“ Denn: spielen sie ihr Wissen als Macht über Menschen „[...] Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Her- aus. Gerne wären sie entbunden vom mühsamen zen. Und je mehr die Menschen daran sparten, desto Geschäft der Zeitentwendung im Kontakt mit ein- weniger hatten sie“ [3, S. 78]. Ein spiritueller und zelnen Menschen. Sie wähnen für sich dieses Ziel zugleich gesellschaftsumfassender Aspekt des Le- erreichbar, gelänge es ihnen, sich der Quelle aller bens unserer Zeit ist damit angesprochen. Das Be- menschlichen Zeitressourcen zu bemächtigen. Ziel sondere bei ‚Momo‘ ist, dass Michael Ende die Ent- und Streben der Zeitdiebe schlägt im Laufe des Ro- wertung von Lebenszeit beschreibt. Wie lässt sich mans um zum Griff auf die Beherrschung der Quel- Lebenszeit entwerten? Im Märchenroman treten le aller Zeit, also auf die absolute Macht. Ungeach- Agenten auf, die Ende ‚Zeitdiebe‘ nennt. Äußerlich tet der Verluste: das Auslöschen des menschlichen verleiten diese ‚grauen Herren‘, die Menschen dazu, Lebens und der menschlichen Kultur. Es trifft ein gerade ihre persönliche, absichtslose Zeit einzuspa- Bild aus der Botanik: Flechten überwuchern einen ren; auf einer metaphysischen Dimension bringt es Baum, der sie lange nährte. Der ausbeutende Parasit Ende in das Bild des Raubes aus den Blättern der bewirkt aber das Absterben des Baumes. Nach dem Stundenblume, die sich im Herzen des Betroffenen Tod seines Wirtes muss auch der Parasit zu Grunde entfalten will. Der so Beraubte wird zum ‚Zeitspa- gehen. Dem entgegengesetzt kann man Wachstum rer‘, und die Begegnung mit dem Agenten bleibt bei Momo und ihren Freunden beschreiben: hier ist ihm nicht im Bewusstsein. Er verwechselt die ma- es ein Wachsen im Sein. Sein und Sein-Lassen durch nipulative Enteignung seiner Lebenszeit mit seiner innere Einkehr. Wachstum als Durchdringen zur ei-
Im Blickpunkt: Momo und die Ausbeutungskultur 6 genen Wahrheit. Wachstum im Sinne von Auswei- entfalten und sich verströmen und wieder vergehen. tung des geistigen Horizonts und der eigenen Iden- Das Fortschreiten der Zeit beschreibt Ende im Bild tität. Auch im Brücken bauen zum Anderen wächst des Stundenpendels, das jedem Menschen in seinem man. Bei Momo und ihren Freunden geht es viel um Herzen eigen ist [3, ebd.]. Die Zeit verläuft in die- gegenseitiges Verständnis und auch um eine Brücke sem Bild nicht linear; vielmehr strebt jede Stunde zwischen Kindern und Erwachsenen. der Menschenzeit auf einen Höhepunkt hin; sie verläuft anschwellend und wieder abschwellend. Eine gegensätzliche Zeitempfindung - Doch was oder wer prägt die Gestalt der Stun- im Haben und im Sein. denblume, jedes Mal anders? Für Ende gibt es im Geistigen eine Instanz – im Roman ‚Meister Hora‘ Es gehört zur Genialität in Endes ‚Momo‘ den Ge- genannt – die jedem Wesen die Stunden ihrer Le- gensatz zwischen den grauen Herren und ihrer Ori- benszeit zuteilt. Damit ist das Aufgehen immer neu- entierung im Haben und Momo als Geniusgestalt er Stundenblumen im Zeitmaß des Pendels ein Ge- im Sein in ihrem Zeitempfinden zu verdeutlichen. schenk, das dem Menschen von Stunde zu Stunde Ende macht in seiner Erzählung die Gefühlskäl- zufließt. Jede Stunde trägt das Signum des ganzen te der grauen Herren - Persönlichkeitsmerkmale, Kosmos – und Momo erlebt den Kosmos ihr ganz die Fromm als ‚entfremdet‘ und ‚automatenartig‘ zugewandt. „Und es überkam sie etwas, das größer bezeichnet - als Außenseite einer Erkrankung be- war als Angst“ [3, 182]. Ende beschreibt das Signum wusst, die er als ‚tödliche Langeweile‘ bezeichnet [2, jeder Stunde wie eine Botschaft, die den Menschen 269]. Diese Erkrankung, wie eine Entkernung vom erreichen will. Vor ihrem Abschied spricht Meister Menschlichen, bringt Ende im Zeitempfinden der Hora zu Momo: „(…) jede Stunde deines Lebens grauen Herren zum Ausdruck. Die grauen Herren (wird) dir einen Gruß von mir bringen. (…)“[3, verrechnen die Zeit in Sekunden, sie akkumulieren 273]. Nach dem von Ende vermittelten Bild des sie, entrissen aus ihrem menschlichen Zusammen- Menschen in der Weltenordnung, ist der Kosmos hang. Ende macht deutlich, dass die grauen Herren nicht allein von physischen Leben belebt, sondern damit ‚tote Zeit‘ konsumieren, ja, dass dieser ent- er wird lebendig gehalten und genährt durch eine menschlichten Art des Zeitkonsums auch eine Ver- geistige Welt. Wesenhaft ist für Ende der Kosmos, giftung der menschlichen Lebenszeit folgen kann und in seinem Märchenroman treten die Wesen als [3, 266f]. Die vielen Stunden, die man nicht teilen Person auf – in Gestalt der grauen Herren oder von kann, so sprechen die grauen Herren zu Momo, ist Meister Hora – und setzen sich mit Menschen, die „(…) ein Fluch der dich erdrückt, eine Last die dich dafür sensibel sind, in Beziehung. erstickt, ein Meer das dich ertränkt (…)“ [3, 249].“ Dem pathogenen Zeitempfinden stellt Ende ein ge- Zwei parallele Handlungsstränge: sundendes, salutogenes Zeitempfinden gegenüber – dort Vereinnahmung – hier Transformation eine Zeitempfinden im Charakter des Seins. Ende beschreibt es mit dem Bild von ‚Stundenblumen‘ Wenn wir nun aus dem Handlungsablauf bei die im Menschenherzen wachsen – eine Qualität ‚Momo‘ den Weg nachzeichnen wollen, der zu die Momo in Endes Märchenroman erfahren darf: einem guten Ausgang geführt hat, so fallen zwei Jede Blüte war einzigartig und besonders. Indem sie quasi parallele Entwicklungen auf, die auch auf un- sich entfalteten, zeigten sie ihre ureigene Qualität terschiedlichen Ebenen stattfinden. Zum Einen das und Bedeutsamkeit. Dann gingen sie mit der Zeit Einwirken der grauen Herren. Das Paradoxe an ih- über ins Welken – und eine neue Zeitblume kün- nen ist, dass sie zwar gesehen werden, sie aber nicht digte sich an [3, 178f]. Ein organisches Wachstum wirklich bemerkt werden. Michael Ende schreibt: ist an den Stundenblumen ablesbar, d.h. sie stellen „Man sah sie – und sah sie doch nicht. Sie verstan- die Lebenszeit in ihrer Ganzheit dar. Wachsen, sich den es auf unheimliche Weise sich unauffällig zu ma-
Im Blickpunkt: Momo und die Ausbeutungskultur 7 chen, sodass man einfach über sie hinwegsah, oder ih- len. Und trotzdem vollzieht sich – gerade in die- ren Anblick sofort wieder vergaß.“ [3, S. 43] Sie sind sem Jahr der Abgeschiedenheit Momos, in dem in die heimlichen Drahtzieher des Systems und bauen ihr die Worte wachsen, um ihren Freunden von den im Verborgenen ihre Macht aus – ein Einfluss der Stundenblumen im Jahreskreis mitzuteilen – die sich aber gerade im Äußerlichen manifestiert und rettende Entwicklung als eine Transformation: zu- sich in einer materialistischen Lebensauffassung nächst auf geistiger Ebene, dann aber, und davon ausdrückt. Auf der anderen Seite ist der Entwick- berichtet das letzte Kapitel in ‚Momo‘, muss sich lungsweg Momos. Momo ist - ohne zu wissen dass der Wandel auch auf der physischen Ebene in der sie verfolgt wird(!) - auf ihrer ‚geruhsamen Flucht‘ Lebenswelt unserer Gesellschaft durchsetzen. vor den grauen Herren und folgt der Schildkröte Kassiopeia. Paradoxerweise ist das Mädchen hinter Schritte in eine Kultur der Selbstbestimmtheit der Schildkröte für die grauen Herren auf ihrer ‚wil- und der Nachhaltigkeit den Verfolgungsjagd‘ durch die Gassen und Hin- terhöfe der Stadt unsichtbar – und als sie dann doch Was sind nun die Schritte, die zu einer guten Ent- gesehen wird, baut sich vor ihnen die ‚Niemalsgas- wicklung der Geschichte geführt haben? Der erste se‘ auf, die Momo für die Grauen Herren unerreich- Schritt: das Aufdecken pathogener und verschlei- bar macht. Auch die Erklärung Meister Horas im ernder Wirkungen. Etwa Vorurteile, welche die ‚Nirgendhaus‘, dem Ziel ihrer Flucht, dass Kassi- Kinder von ihren Eltern mit zu Momo, Beppo und opeia die nächste halbe Stunde in der Zukunft vo- Gigi bringen: „(…) ihr seid bloß Faulenzer und Ta- raussehen könne, kann das Paradoxon nicht wirk- gediebe. Ihr stehlt dem lieben Gott die Zeit“. Vor- lich auflösen – denn ändern kann Kassiopeia den würfe, die von Beppo, Momo und Gigi entkräftet Gang der Ereignisse nicht. Was will Ende also mit werden – nicht durch Argumente, sondern durch den fast berührungsfreien Parallelwelten, in der sich ihr Auftreten [3 S. 85/86]. Tatsächlich erscheint bei die grauen Herren hüben und Momo drüben bewe- Ende die Auseinandersetzung zwischen Momo und gen, zum Ausdruck bringen? Mir scheint es so, dass ihren Freunden und den grauen Herren wesent- Momo sich in einem anderen Bewusstseinsmodus lich als ein Kampf um Wahrheit, ein Kampf zwi- befindet, einem Erfahrungsraum, zu dem die grau- schen Sein und Schein. Denn das System der grauen en Herren keinen Zugang haben. Somit zeigt sich Herren generiert eine Scheinwelt aus falschen Welt- in der paradoxen Szene die Trennung der Bewusst- anschauungen [‚Sein als Wirklichkeit‘ in 2, S. 96f]. seinsebenen: während die grauen Herren – beson- Der zweite Schritt ist das Aufdecken der Drahtzie- ders gut erkennt man das in der Szene mit dem her bzw. der pathogenen Ursachen. Ein wichtiger Friseur Fusi - auf einer unterbewussten Ebene ope- Wendepunkt im Roman ist die Konfrontation Mo- rieren, bewegt sich Momo im Erfahrungsraum wa- mos mit einem der grauen Herren. Dabei dringt chen Bewusstseins. Dabei kann Momo besonders im sie zur ‚wahren Stimme des grauen Herren‘ durch. Schutzraum bei Meister Hora einen geistigen Er- Momo war in dieser Begegnung in der Lage, das fahrungsweg gehen: sie ergründet das Wesen der unterschwellige Taktieren des grauen Herren ans Zeit und erfährt ihre Quelle in ihrem eigenen Her- Licht zu bringen, d.h. die sonst verborgenen Mo- zen; sie spricht mit Meister Hora über die Bedeu- tive des Zeitdiebs ins Bewusstsein zu holen – und tung von Leben und Tod und erfährt die Einheit zwar in ihr eigenes (eigentlich das Opfer der Ma- von Individuum und der Welt, ihre Beziehung mit nipulation) und in das des Manipulierenden. Ende dem Kosmos. So schafft es Michael Ende, zwei beschreibt die Demaskierung des grauen Herrn, wie konträre Entwicklungen in ihrer Gleichzeitigkeit ein Hervorsprudeln der Wahrheit wider dessen Wil- darzustellen: zum einen erkaltet die Stadt und die len. Auf Seiten Momos eher als intuitives Wahrneh- Umwelt und ist binnen einen Jahres ganz dem Ein- men seiner Stimme „wie von Weitem“ [3, 106]. Das fluss der grauen Herren und ihrem System verfal- Aufdecken und Demaskieren der grauen Herren
Im Blickpunkt: Momo und die Ausbeutungskultur 8 als Hintermänner einer gefährlichen Organisati- tungskultur. Der Untergang der grauen Herren war on des Zeitraubs aktiviert vor allem die Freunde trotz ihrer Übermacht unausweichlich; das ausbeu- Momos zum offenen Protest – eine Kundgebung terische System beendete sich quasi von selbst. In die in Endes Roman von den Kindern ausgeht [3, der Angst um die eigene Existenz entrissen sich 119f]. Die Erwachsenenwelt erreicht sie aber nicht; die grauen Herren ihre letzten Zeitressourcen und vielmehr müssen die in der Protestversammlung löschten sich so gegenseitig aus. Doch ohne Mo- wartenden Kinder enttäuscht und frustriert ab- mos Zutun wäre in Endes Märchenroman nach der ziehen; die Protestbewegung verpufft gewisserma- Stunde Null kein Neuanfang möglich gewesen. ßen; zu etabliert sind die Gewohnheiten einer er- Momo musste mit ihrer lebendigen Stundenblume kalteten Lebenswelt [3, 122f]. Den dritten Schritt zugegen sein. Ihre Aufgaben lassen sich symbolisch geht Momo allein: es ist der schon beschriebene ausdeuten. Zuerst: den Herren des Ausbeutungssy- Rückzug Momos in den Schutzraum Meister Ho- stem den Zugang verwehren zur weiteren Abtötung ras. Michael Ende beschreibt die Entwicklung nicht der im System gefangenen Menschenzeit – ein Bild als ein Untertauchen Momos in den Untergrund, für die Schutzbedürftigkeit unserer intimsten Res- auch nicht als ein Abheben ins Metaphysische, son- source vor fremdem Zugriff. Nach Auslöschung dern als einen natürlichen Lernprozess, der Momo der ‚Plagegeister‘ (Ende) mussten die viele ver- als Schülerin und Meister Hora als Lehrer mit Freu- einnahmte Zeitressourcen erst wieder befreit wer- de erfüllt. Die Schulung bei Meister Hora birgt für den; erst dann wird die Zeit lebendig Verbindung Ende den Keim für etwas wirklich Neues und auch der Zeit mit seinem Eigner hergestellt ist. Diesmal Erlösendes für die ganze Mitwelt. Natürlich muss ist das Bild hierfür das Öffnen der verschlossenen das in der Abgeschiedenheit Erfahrene sich noch in Tresortür – ein Symbol für das verschlossene Herz der Realität beweisen – und das wird eine langwie- der Gesellschaft, das durch eine neue Wärmeströ- rige Bewährungsprobe für Momo. Damit sich der mung im Herzen der Gesellschaft neu zu beleben Wandel auch in der Lebenswelt verankert, muss ist. Momos Werkzeug war allein die Stundenblume Momo zurück in eine inzwischen erkaltete Gesell- ihrer Lebenszeit – das Bild zeigt, wie lebendig ge- schaft. Ende beschreibt die besondere Art von Ein- lebte Zeit Herzen öffnen kann und damit neues Ge- samkeit, die sie erlebt. „Wie eingeschlossen in einer meinschaftsleben entfacht. Entscheidend zur Aus- Schatzhöhle“, denn „es gibt Reichtümer, an denen führung ihres Werks war es, intuitiv das Richtige man zugrunde geht, wenn man sie mit niemandem zur rechten Zeit tun; Anweisungen auf dem Rü- teilen kann“ [3, 237]. Ein weiteres Erzählmotiv ist ckenpanzer der Schildkröte verbildlichen im Mär- Momos Ohnmacht angesichts fremder Übermacht, chenroman diese intuitive Leistung. Der Märchen- aber auch Momos Bewusstwerdung ihrer beson- roman endet mit dem Erzählmotiv der Befreiung. deren Aufgabe angesichts der Not ihrer Freunde. Im gewaltigen Sturm der Freiheit strebte die auf- Denn nachdem alle bis auf Momo - jeder auf sei- getaute Zeit zur Vereinigung mit ihrem Eigner. Der ne Weise - dem Sog des Systems erlegen sind, er- Ausgang des Märchenromans gibt Anlass zum Op- kennt Momo, dass jetzt allein sie noch helfen kann timismus. „Dann wurde ein Fest gefeiert, so ver- [3, 246]. „Ich habe bis jetzt darauf gewartet“, sagt gnügt, wie nur Momos Freunde es zu feiern ver- Meister Hora, „dass die Menschen selbst sich von die- stehen (…) [3, 296f].“ In welchen Geist die neue sen Plagegeistern befreien würden. Sie hätten es ge- Kultur atmen wird, es liegt wieder unverstellt in der konnt, denn sie selbst haben ihnen ja auch zum Da- Freiheit der gestaltenden Menschen. sein verholfen (…)“ [3, 207]. Offensichtlich ist jetzt ein Eingreifen nötig, und zwar ebenso metaphy- sisch. Stillstand der Zeit für alle Lebewesen - das be- deutet für die grauen Herren den Zusammenbruch ihres Zeit-Nachschubs wie ihrer ganzen Ausbeu-
Im Blickpunkt: Momo und die Ausbeutungskultur 9 ‚Die Stadt des Seins‘, so nennt Fromm seine Visi- Persönliche und gesellschaftliche Vision on und auch die Aufgabe unserer Kulturepoche, für deren Verwirklichung er gesellschaftlich-politische Unter der Überschrift ‚Ein Märchen wird erwach- Schritte aufzeigt [1, 193; 166f]. Als ‚wacher Uto- sen‘ hat der Dokumentarfilmer Oliver Sachs 2013, pist‘ fasst er auch die Schwierigkeiten ins Auge, „die also 40 Jahre nach Erscheinen von ‚Momo‘ den es beim Aufbau einer neuen Gesellschaft zu über- Märchenroman des 1995 verstorbenen Schriftstel- winden gilt [1, 166]“. Sowohl für Fromm wie auch lers Michael Ende dokumentiert [Film 1]. In der für Ende gibt es, ursächlich für die Symptome einer Initiativ vom März 2014 erschien unter dem Titel ökologisch-gesellschaftlichen Krise, auch eine so- ‚Momo neu erzählt‘ ein recht persönlicher Artikel, zialpsychologische und eine spirituelle Dimension. mit dem er die Botschaft aus ‚Momo‘ neu ins Be- Hierauf richten sie in ihrer Analyse bzw. Erzählung wusstsein der Leser brachte [7]. Tatsächlich kann ihren Fokus. Endes Erzählung ‚Momo‘ als Aufruf zu einer per- sönlichen Neuorientierung verstanden werden. Momo und die Achtung ‚Momos‘ gesellschaftliche Botschaft verbindet sich vor dem Wert des Lebens für mich besonders mit Fromms ‚humanistischem Protest‘ [2, 147f]. Die Orientierung am Sein ist für Was können wir in unserer Zeit von Momo lernen? Fromm wie auch für Ende ein ‚starkes Potential der Und inwiefern ist für uns eine Qualität wie resili- menschlichen Natur‘ [1, 190]. Das glückliche Ende ente Selbstbestimmtheit hilfreich? Insbesondere bei Momo bestätigt: ein Neuorientierung vom Ha- wenn wir die Grundsätze der Erd-Charta verwirk- ben zum Sein ist möglich, wenn die Umstände dies lichen wollen, um voranzuschreiten auf dem „Weg erlauben. Doch anders als im Märchenroman kann der vor uns liegt“ hin zu einer Zeit, „in der eine sich ein gesellschaftlicher Wandel nicht aus Taten neue Ehrfurcht vor dem Leben (erwacht), […] in Einzelner vollziehen. Fromm setzt bei der Gesell- der nachhaltige Entwicklung entschlossen auf den schaft an: ihm zufolge kommt es darauf an, einer Weg gebracht (wird) […]“ [Ausblick in der Erd- Gesellschaftstruktur Nährboden zu geben, welche Charta]. Im Zusammenhang mit der Botschaft in die Orientierung am Sein fördert. Er vergleicht das Momo scheint mir vor allem der erste Grundsatz Ablösen von der Existenzweise des Habens hin zu der Erd-Charta zentral im Mittelpunkt zu sehen: der des Seins mit dem „Ausschlagen eines Pendels „Achtung haben vor der Erde und dem Leben und in eine andere Richtung“, oder auch mit einer ‚Rich- seiner ganzen Vielfalt. Erkennen das alles, was lebt, tungsänderung‘ [1, ebd.]. „Jeden Schritt in die neue einen Wert an sich hat, unabhängig von seinem Nutz- Richtung folgt der nächste, und wenn die Richtung wert für die Menschen.“ Denn eben diese Achtung stimmt, ist jeder Schritt von großer Bedeutung [1, vor dem Wert des Lebens um seiner selbst willen ebd.].“ fehlt einem System wie dem Kapitalismus im Kern. In ‚Praxis der Liebe‘ formuliert Fromm ausgehend „Der Kapitalismus ist blind gegenüber sozialen, hu- von der Frage, was den Menschen liebesfähig ma- manitären oder soziologischen Fragen. Menschen che, eine Vision, mit der er die seit dem 18. Jhd. werden zu Kostenfaktoren, die Natur ausgebeu- herrschende Verkehrung der Prioritäten wieder auf tet und andere Länder und Kulturen zu Zulieferern die Füße stellt: „Der Wirtschaftsapparat muss ihm bzw. Abnehmer degradiert [8].“ Wenn die Gesell- (dem Menschen) dienen, und nicht er ihm. Er muss schaft einem blinden System folgt, so schlägt sich am Arbeitsprozess aktiven Anteil nehmen, anstatt dessen Blindheit nieder in den Gewohnheiten der nur (wie ein Aktionär)(…) am Profit beteiligt zu Zeitkultur. Ein nachhaltiger Wandel in der Gesell- sein“. Und: wenn „die soziale, liebevolle Seite des schaft, wie auch die Nachhaltigkeit unserer Kultur Menschen nicht von seiner gesellschaftlichen Exi- überhaupt, hängt auf der persönlichen Ebene ab stenz getrennt, sondern mit ihr eins wird [8, 145].“ von Erfahrungen und Einsichten, die uns gedank-
Im Blickpunkt: Momo und die Ausbeutungskultur 10 lich, empfindungsmäßig und motivationsgebend die mir gerade vor dem Hintergrund von Momos prägen und verändern. Eben das macht unsere Le- Geschichte einsichtiger erscheinen. Sie betreffen benszeit zu einer nachhaltig gelebten Zeit, zu einer die angesprochenen Facetten von ‚Nachhaltig- Zeit, die selbst zur Ressource wird, keimhaft für die keit‘ im Sinne von Dauerhaftigkeit: Zum ersten die Zukunft. Als solche Zeit – diesen Wunsch gibt uns Nachhaltigkeit in verantwortungsvoller Voraus- die Erd-Charta mit auf den Weg - soll sich unsere sicht: es geht darum anzuerkennen, dass kapitalisti- Zeit ins Gedächtnis einprägen. Die ‚freudige Feier sches Wachstum - verbunden mit dem ihm eigenen des Lebens‘ – was können die Menschen dann fei- Nutzendenken - sich der Nachhaltigkeit verwei- ern? Wir feiern, wieder verbunden zu sein, mit uns gert. Zum Zweiten: Nachhaltigkeit im Ändern un- selbst und mit der Erde. seres Denkens und unserer Gewohnheiten: wir dür- fen erkennen, dass die Krise in unserer Zeit auch Nachhaltigkeit und unser Umgang mit der Zeit Chancen beinhaltet, unser Denken und Tun nach- haltig zu verändern. Zum Dritten: Nachhaltigkeit Ausgehend von ‚Momo‘ haben wir eine Perspekti- im Umgang mit unserer Zeit: Wir haben die Chan- ve auf die zeitlichen Aspekte von ‚Nachhaltigkeit‘ ce, sich öffnende Zeitfenster zu erkennen und zu (engl. sustainability). Dann assoziiert für mich die- nutzen. Mut machen auf dem Weg unseres Wan- ser Begriff zuerst Dauerhaftigkeit und Beständig- dels im Herzen wie in der Gesellschaft könnte uns keit; dies aber in verschiedentlicher Hinsicht: Da- das, was wir bei ‚Momo‘ über Sternstunden lesen: mit menschliche Kultur von Dauer ist, muss sie „(…) wenn es jemanden gibt, der sie erkennt, dann nachhaltig mit ihrer Umwelt umgehen, sich ein- geschehen große Dinge auf der Welt.“ [3, S. 162] Be- fügen in ihre Rhythmen, und vorsorgen auch für sondere Zeiten, die mir in persönlicher Begegnung gute Lebensbedingungen in der Zukunft. Auch Er- geschenkt sind, das konnten wir in der Frühjahrsta- fahrungen und Einsichten können uns nachhaltig gung 2014 der ÖIEW mit Oliver Sachs und seiner prägen oder uns auch verändern – von Dauer ist Aufarbeitung von ‚Momo‘ erfahren. Auch wenn es das nur, wenn es sich in den tiefen Schicht im Men- noch nicht Sternstunden (im engeren Sinne) sind schen einprägt: gedanklich, empfindungsmäßig, ja – man erkennt das wohl erst im nach hinein, so sogar motivationsgebend. Was ist von unserer Le- kann ich mich darin üben, diese Zeit wahrzuneh- benszeit von Dauer? – Verstreicht sie nur, oder gibt men, sie recht zu würdigen und zu nutzen. Nach- es auch mit unserer Zeit einen nachhaltigen Um- haltig genutzte Zeit in diesem Sinne ist für mich er- gang? Wir können unsere Erinnerung befragen. füllte Zeit. Damit rückt uns auch die Nachhaltigkeit Nachhaltig gelebte Zeit prägt sich dem Gedächtnis sehr nah ans Herz, denn, so Michael Ende [3, S. 78]: ein; sie wird selbst zur Ressource, keimhaft für die „Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.“ Zukunft. Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen, Godehard Münzer Literaturhinweise und Impressum auf Seite 11 →
Im Blickpunkt: Momo und die Ausbeutungskultur 11 Zum Weiterlesen Impressum initiativ – Rundbrief der ÖIEW [1] Stephan Lessenich: ‚Neben uns die Sintflut – Ökumenische Initiative Eine Welt Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis.‘ Ergänzung zu Ausgabe 150 / November 2017 [2]. Erich Fromm: ‚Haben oder Sein‘ (1981) Erscheinungsdatum: [3] Michael Ende: ‚Momo – ein Märchenroman‘ 24. November 2017 (1973) Herausgeberin: [4] Ulrich Grober: ‚Der leise Atem der Zukunft Ökumenische Initiative Eine Welt e.V. – vom Aufstieg nachhaltiger Werte in Zeiten der Erd-Charta Koordinierungsstelle in Deutschland Krise‘ (2016) dort Kapitel 1: ‚Das Kalte-Herz- V.i.S.d.P.: Syndrom – Anatomie der Gier‘ Anja Becker [5] Hanna Seinsche: ‚Momo als Geniusgestalt. Redaktionsanschrift: Untersuchungen zu Michael Endes ÖIEW-Geschäftsstelle, Mittelstr. 4, Märchenroman‘ Quelle: www.mythos-magazin.de 34474 Diemelstadt-Wethen, [6] Teresa von Avila ‚Die innere Burg‘ in: Tel. 05694-1417, Fax 05694-1532, Norbert Nikolaus, Sai-Brief Ausgabe 138 E-Mail: info@oeiew.de [7] Oliver Sachs: ‚Momo neu erzählt‘ in Initiativ vom März 2014 [8] Norbert Bertold und Bernd Winkelmann (Akademie Solidarische Ökonomie) in: Publik Forum 5/2017: ‚Müssen wir den Kapitalismus überwinden? – Pro‘ Filme: [Medium 1] Wilhelm Hauff: ‚Das kalte Herz‘ vertont u.a. auch als Schallplatte [Film 1] Verfilmung der Autobiographie von Jordan Belford: ‚wulf of wallstreat‘ [Film 2] Oliver Sachs: ‚Ein Märchen wird erwachsen‘ – Filmdokumentation zu 40 Jahre Momo
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