PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN - Neue Ansätze in der Industrie- und Technologiepolitik

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PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN - Neue Ansätze in der Industrie- und Technologiepolitik
PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN

                                                                              D I S K U R S
02/ 2021

Heike Belitz, Martin Gornig, Claudia Kemfert, Ralf Löckener, Torsten Sundmacher

PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN
BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN
Neue Ansätze in der Industrie- und
Technologiepolitik
PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN - Neue Ansätze in der Industrie- und Technologiepolitik
WISO DISKURS
02/ 2021

Die Friedrich-Ebert-Stiftung
Die FES ist die älteste politische Stiftung Deutschlands. Benannt ist sie nach
Friedrich Ebert, dem ersten demokratisch gewählten Reichspräsidenten. Als
parteinahe Stiftung orientieren wir unsere Arbeit an den Grundwerten der Sozialen
Demokratie: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Als gemeinnützige Institution
agieren wir unabhängig und möchten den pluralistischen gesellschaftlichen
Dialog zu den politischen Herausforderungen der Gegenwart befördern. Wir
verstehen uns als Teil der sozialdemokratischen Wertegemeinschaft und der
Gewerkschaftsbewegung in Deutschland und der Welt. Mit unserer Arbeit
im In- und Ausland tragen wir dazu bei, dass Menschen an der Gestaltung ihrer
Gesellschaften teilhaben und für Soziale Demokratie eintreten.

Die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der
Friedrich-Ebert-Stiftung
Die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik verknüpft Analyse und Diskussion
an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik, Praxis und Öffentlichkeit,
um Antworten auf aktuelle und grundsätzliche Fragen der Wirtschafts- und
Sozial­p olitik zu geben. Wir bieten wirtschafts- und sozialpolitische Analysen
und entwickeln Konzepte, die in einem von uns organisierten Dialog
zwischen Wissenschaft, Politik, Praxis und Öffentlichkeit vermittelt werden.

WISO Diskurs
WISO Diskurse sind ausführlichere Expertisen und Studien, die Themen und
politische Fragestellungen wissenschaftlich durchleuchten, fundierte politische
Handlungsempfehlungen enthalten und einen Beitrag zur wissenschaftlich
basierten Politikberatung leisten.

Über die Autor_innen dieser Ausgabe
Dr. Heike Belitz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Institut für
Wirtschaftsforschung Berlin, Abteilung Unternehmen und Märkte.
Prof. Dr. Martin Gornig ist Forschungsdirektor Industriepolitik und stellvertreten­
der Leiter der Abteilung Unternehmen und Märkte am Deutschen Institut für
Wirt­schaftsforschung und Honorarprofessor für Stadt- und Regionalökonomie an
der Technischen Universität Berlin.
Prof. Dr. Claudia Kemfert ist Abteilungsleiterin Energie, Verkehr, Umwelt,
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung und Profes­sorin für Energiewirtschaft und
Energiepolitik an der Leuphana Universität, Co-Vorsitzende des Sachverständigenrats
für Umweltfragen beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit sowie im Präsidium der deutschen Gesellschaft des Club of Rome.
Ralf Löckener ist Diplom-Geograph mit Schwerpunkt Wirt­schafts- und Sozial­-
geographie und geschäftsführender Gesellschafter des Beratungsunternehmens
SUSTAIN CONSULT; er berät Unternehmen, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaf-
ten auf den Feldern nachhaltiger Unternehmensentwicklung, Regional­förderung
und Industriepolitik.
Dr. Torsten Sundmacher ist Diplom-Wirtschaftswissenschaftler und Diplom-Sozial­
wissenschaftler und als Partner im Beratungsunternehmen SUSTAIN CONSULT tätig;
Umweltökonomik, Gesundheitsökonomik und Industriepolitik sowie stra­tegische
Unternehmensentwicklung bilden seine Arbeitsschwerpunkte.

Für diese Publikation sind in der FES verantwortlich
Dr. Robert Philipps ist Leiter der Arbeitsbereiche Unternehmen/Mittelstand und
Verbraucherpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Max Ostermayer ist in der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik für den
Arbeitsbereich Klima-, Energie- und Strukturpolitik verantwortlich und leitet den
Arbeitskreis Nachhaltige Strukturpolitik.
02/ 2021                                                                                    WISO DISKURS

Heike Belitz, Martin Gornig, Claudia Kemfert, Ralf Löckener, Torsten Sundmacher

PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN
BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN
Neue Ansätze in der Industrie- und
Technologiepolitik

 2    1        ZUSAMMENFASSUNG
 3    2        PROBLEMSTELLUNG
 5    3	EINORDNUNG EINER STRATEGISCHEN
         INDUSTRIEPOLITIK IN DEN WISSENSCHAFTLICHEN DISKURS
 7    4	STRATEGISCHE INDUSTRIE- UND TECHNOLOGIEPOLITISCHE INITIATIVEN
 7    4.1      Deutschland
 9    4.2      Europäische Kommission
11    4.3      USA
12    4.4      Vereinigtes Königreich
13    4.5      China
14    4.6      Zusammenführung: Elemente und Merkmale der industriepolitischenInitiativen

16    5	AKTUELLE HERAUSFORDERUNGEN FÜR DEN INDUSTRIESTANDORT
         DEUTSCHLAND
16    5.1 	   Digitalisierung und neue Zukunftstechnologien
18    5.2 	   Dekarbonisierung der Industrie und der Klimawandel
20    5.3 	   Entwicklung von Wertschöpfungsketten
25    5.4      Einfluss eines neuen Nationa­lis­mus und Protektionismus

28    6        ANSÄTZE EINER NEUEN INDUSTRIE­POLITISCHEN STRATEGIE

32    Abkürzungsverzeichnis
33    Literaturverzeichnis
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik                                                                       2

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ZUSAMMENFASSUNG

Durch die Digitalisierung und den Klimawandel steht die           positiv. Sie sollten begleitend evaluiert, weiterentwickelt und
Industriepolitik vor neuen Herausforderungen bei der Unter­­­     gegebenenfalls in Zukunft auch ausgebaut werden.
stützung des industriellen Strukturwandels. Steigende                 Derzeit haben wir es zudem mit einer durch die globale
Forschungsfixkosten und Investitionen für neue Game-Changer-      Corona-Pandemie ausgelösten makroökonomischen Investi­-
Technologien machen es für Unternehmen und Staaten un­um­         tionskrise zu tun. Allein in Deutschland liegen die Ausrüstungs-
gänglich, eine Selektion vorzunehmen und sich auf bestimm-        investitionen im zweiten Quartal 2020 um fast 30 Prozent
te Technologien zu spezialisieren. Die Bundesregierung sollte     unter Vorjahresniveau. Ein geeignetes Instrument für die
daher Förderprogramme stärker auf zentrale digitale und           Verknüpfung von Industrie- und Investitionspolitik zur Unter-
klimaschonende industrielle Zukunftstechnologien ausrichten.      stützung des notwendigen industriellen Strukturwandels sind
     Die Digitalisierung benötigt zugleich neue Kooperations-     konkrete technologieorientierte Investitionsfonds. Mit einer
formen zwischen Hochschulen, Unternehmen und Staat. Die           klaren Festlegung auf die ausgewählten Technologien könnten
Trennung zwischen anwendungsnaher öffentlicher Forschung          solche gezielten Investitionsförderprogramme neue Partner-
und privaten Investitionen für die kommerzielle Umsetzung         schaften von Unternehmen und Staat generieren. Diese Part-
ist so oft nicht mehr durchhaltbar. Der Staat muss viel stärker   nerschaften könnten dann einen Beitrag zum Aufbau von
auch in die Umsetzung der Forschung in Produkte investieren.      Technologieführerschaft und zur Neuausrichtung von Wert-
Die Grenzen von vorwettbewerblicher Forschungsförderung           schöpfungsketten leisten. Dabei muss auch die europäische
und Investitionsbeihilfe werden daher fließend.                   Handlungsebene an Bedeutung gewinnen.
     Aus den Verpflichtungen der Klimaabkommen folgt für              Der Staat sollte dabei mit den Unternehmen aber nicht
die Industrie insbesondere die Notwendigkeit, grundlegende        nur das Risiko, sondern auch die möglichen Erfolge teilen.
technologische Innovationen für eine Abkehr von fossilen          Entsprechend sind in dem Konzept einer strategischen
Energien aus Öl, Kohle und Gas zu realisieren. Der Innovations-   Industriepolitik auch Verfahren zu integrieren, wie der Staat
und Investitionsbedarf ist enorm, die erforderlichen Techno-      an den zu erwartenden Renditen für seine risikoreichen
logiesprünge haben oft einen sektorübergreifenden, syste-         Inves­t itionen in neue Technologien beteiligt werden kann,
mi­schen Charakter und werden nur gelingen, wenn der Staat        z. B. durch stille Unternehmensbeteiligungen.
eine aktive Rolle übernimmt. Dabei geht es sowohl um den
Aufbau von Infrastrukturen als auch von Allianzen zur Ent­-
wicklung konkreter Schlüsseltechnologien und zur Umstellung
von Wertschöpfungsketten bis hin zur massiven Unterstüt-
zung bei der Finanzierung von Investitionen.
     Auch geopolitische Tendenzen zu Protektionismus und
einem schärferen Wettbewerb im Dreieck Europa-USA-China
lassen keinen Spielraum für ein Weiter-so. Entsprechend
finden wir 2019 in der deutschen Industriepolitik Ansätze
einer Neuorientierung. Die hierzulande traditionell eher
passive Industriepolitik, gekennzeichnet durch die Merkmale
Technologieoffenheit und vorwettbewerbliche Förderung,
wurde durch selektive Elemente wie die europäischen
IPCEI-Vorhaben (Important Project of Common European
Interest) in den Bereichen Mikroelektronik und Batteriezellen-
fertigung, die Wasserstoffstrategie und die SprinD-Agentur
für Sprunginnovationen ergänzt. Diese neuen Ansätze sind
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PROBLEMSTELLUNG

Deutschland erlebt derzeit im Zuge der Corona-Pandemie die             Die Industrie ist also ein elementarer Faktor für den Erhalt des
schwerste Rezession der Wirtschaft seit dem Zweiten Welt­-             Wohlstands in Deutschland und Europa. Daher ist es so wichtig
krieg. Der Einbruch ist dabei global viel tiefer und breiter als       zu beobachten, vor welchen Herausforderungen dieser Sektor
in der Folge der Finanzkrise 2008 (Stern et al. 2020). Der             steht. So zeigt sich seit Jahren, dass der Industrie­s ektor in
Weg aus der Talsohle wird nur gelingen, wenn die Industrie             Deutschland zwar durch eine hohe Kapitalintensität gekenn-
als zentraler Schlüsselsektor der deutschen Volkswirtschaft            zeichnet ist, der Kapitalstock der deutschen Industrie aber
wieder auf Wachstumskurs geführt wird (Belitz et al. 2020).            immer mehr überaltert. Ein Grund dafür ist eine aus­ge­prägte
    Eine starke und differenzierte Industrie ist aber auch auf         Investitionsschwäche (Belitz/Gornig 2019a). Diese betrifft
mittlere Frist Garant für den Wohlstand in Deutschland.                nicht nur Gebäude und Maschinen, auch in Köpfe – also das
So leistet die deutsche Industrie einen wesentlichen Beitrag           Wissenskapital – investiert die deutsche Industrie im Vergleich
zur Sicherung des Außenwertes des Euro und damit für die               zu anderen Ländern weniger. Investitionen sind jedoch ins-
Kaufkraft in Deutschland und der Eurozone. In Deutschland              besondere in Zeiten notwendiger Modernisierungen aufgrund
ist die Industrie für weit mehr als 80 Prozent der Exporte             der Digitalisierung und des Klimaschutzes unerlässlich.
verantwortlich (Blazejczak et al. 2018). Die Industrie spielt                Denn die Möglichkeiten der Digitalisierung stellen besteh-
zudem eine bedeutende Rolle für eine ausgewogene Verteilung            ende Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten in der
des Wohlstands. In diesem Sektor werden viele Maschinen                Industrie grundlegend auf den Prüfstand. Durch die Etablierung
eingesetzt und damit eine hohe Arbeitsproduktivität erreicht,          datenbezogener Services parallel zur Nutzung von Industrie­-
gleichzeitig herrscht dort eine hohe Tarifbindung. Beides              produkten sowie völlig neuer Konstellationen der Zusammenar-
zusammen trägt wesentlich zu hohen Löhnen auch in                      beit von Produzent_innen und Kund_innen über Plattformen
mittleren Gehaltssegmenten bei (Bosch/ Weinkopf 2017;                  oder von Mensch und Maschine in der Produktion werden
Gornig/Goebel 2018).                                                   Wertschöpfungsketten teilweise neu konfiguriert und neue
    Gleichzeitig kommt der Industrie in Bezug auf technologi-          Wettbewerber wie etwa große Digitalunternehmen drängen
schen Fortschritt eine wichtige Rolle zu. Die Industrie ist für        in den Industriebereich, um auch diesen Markt zu erobern.
den Großteil der Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen              Dies erfordert seitens der Industrie nicht nur neue Ideen und
der deutschen Wirtschaft verantwortlich. Etwa ein Drittel der          Geschäftsmodelle, sondern auch Investitionen in den Maschinen-
Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE) aller Unter-              ­p ark wie die Qualifizierung der Beschäftigten.
nehmen fällt dabei auf die Automobilindustrie. Ein Indikator für             Gleichzeitig muss die deutsche Industrie zur Erreichung
technologischen Fortschritt ist die Entwicklung der Produktivität       der Klimaziele in den kommenden zehn Jahren die Emissionen
und hier insbesondere der totalen Faktorproduktivität. Die totale       um etwa 24 Prozent im Vergleich zu heute senken. Dies gelingt
Faktorproduktivität bildet dabei jenes Wachstum ab, welches             nur, wenn Produktionsprozesse möglichst rasch auf Klima­-
über die reine Zunahme des Arbeits- und Kapitaleinsatzes hinaus         neutralität ausgerichtet werden, ohne dass dabei die kurzfristige
vor allem durch Innovationen realisiert wird. Laut empirischer          Wettbewerbsfähigkeit verloren geht. Auch dies wird nur
Befunde leidet Deutschland – wie die meisten anderen ent-               mit mehr Investitionen in Sach- und Wissenskapital gelingen.
wickelten Länder – zuletzt unter einer ausgeprägten schwachen                Aufgrund der jetzigen Wirtschaftskrise droht sich die
Produktivitätsentwicklung (BMF 2017). Von den großen Wirt-              Investitionsschwäche der Industrie zu verfestigen und so eine
schaftssektoren leistet lediglich die Industrie noch einen spürbaren    langanhaltende Wirtschaftskrise und den Verlust der Wett-
Beitrag zum Wachstum der totalen Faktorproduktivität. Deutsch-          ­b ewerbs­fähigkeit der deutschen Industrie und der gesamten
land ist – angesichts der demografischen Entwicklung und der             Wirtschaft zu verursachen. Die Risiken für Investor_innen
aktuell zunehmenden Verschuldung – auf diese Produktivitäts­             nehmen durch Corona weiter zu. Haben schon in den vergan-
zuwächse angewiesen. Ohne Produktivitätszuwächse ist der                 genen Jahren Unsicherheiten über künftige wettbewerbsfähige
Wohlstand breiter Teile der Bevölkerung massiv gefährdet.                Technologien, ob digital oder konventionell, und über
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik                                                                         4

geopolitische Rahmenbedingungen durch die America-First-          und Innovationen beitragen kann. Im Folgenden werden dazu
Strategie und den Brexit die Investitionsneigung eingetrübt,      die Potenziale einer strategischen Industriepolitik aufgezeigt, um
dürfte diese mit den virusbedingten Gefahren in weiten            die notwendigen Prozesse zu initiieren. Ausgangspunkt ist ein
Bereichen der Industrie noch weiter abnehmen. Zudem setzt         kurzer Blick auf die verschiedenen Ansätze zur Industriepolitik
das deutsche Innovationsmodell tendenziell auf inkrementel-       und die ausführliche Beschreibung aktueller industriepolitischer
le, kleinschrittige Weiterentwicklungen, während die oben         Initiativen. Anschließend werden Verknüpfungen zu aktuellen
genannten anstehenden Herausforderungen eher den                  Herausforderungen durch Digitalisierung, Dekarbonisierung
Charakter grundlegender Transformationen aufweisen und            und Risiken der Globalisierung hergestellt. Darauf aufbauend
vielfach mit disruptiven Innovationen einhergehen (müssen).       werden Ansätze einer partnerschaftlich organisierten und
    Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie der Staat   strategisch orientierten Industriepolitik aufgezeigt.
zur Mobilisierung der dringend notwendigen Investitionen
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EINORDNUNG EINER STRATEGISCHEN
INDUSTRIEPOLITIK IN DEN WISSENSCHAFT-
LICHEN DISKURS

In der Literatur findet sich eine Reihe von Strukturierungsver-      aufgrund von Unteilbarkeiten häufig bestimmte Mindestgrößen
suchen zu den unterschiedlichen Formen der Industriepolitik          von Forschungs- und Produktionsaktivitäten erreicht werden,
(Meyer-Stamer 2009; Rehfeld/Dankbaar 2015). Die wohl                 um technologische Fortschritte zu erzielen. Darüber hinaus
grundlegendste Unterscheidung ist die zwischen horizontaler          hat die Erzeugung von technologischem Wissen in der Regel
und vertikaler Industriepolitik (Rodrik 2014). Unter horizontaler    positive externe Effekte. Über Marktanreize allein würde also
Politik werden dabei insbesondere allgemeine Rahmenbedin-            das technologische Potenzial nicht ausgeschöpft werden.
gungen, wie das Rechts- oder Bildungssystem verstanden,              Entsprechend sind technologiepolitische Eingriffe des Staates
die für die Entwicklung industrieller Strukturen notwendig           bei Vorliegen von Spillover-Effekten, Netzwerkexternalitäten
sind. Unter vertikaler Politik werden dagegen stärker selektive      oder Pfadabhängigkeiten unabdingbar (Mazzucato 2015).
Eingriffe in bestimmte Industriebranchen subsumiert.                     So unstrittig die generelle Notwendigkeit von Technologie­
      Um die unterschiedlichen Politikansätze zu veranschaulichen,   politik heute ist, so uneins ist man sich hinsichtlich ihrer
hilft ein Blick in die industriepolitische Historie der Bundes­-     richtigen Ausgestaltung (Belitz/Gornig 2019b). Hierbei lassen
­­republik Deutschland. Nach 1945 setzte die Industriepolitik        sich vereinfacht zwei polarisierende Sichtweisen unterscheiden:
hierzulande sowohl auf selektive Instrumente wie den Aufbau
des VW-Konzerns in Staatsregie als auch auf günstige Rahmen­         –   die liberale, nichtinterventionistische Sicht, die die Fähig­keit
setzungen wie die Unterbewertung der D-Mark als generelle                des Staates zur Identifizierung von Zukunftstechnologien
Exportförderungsstrategie. Diesen Typus nachholender expor­t-            und zur Auswahl von förderwürdigen Technologien
­orientierter Industrialisierung finden wir heute teilweise in           bestrei­tet und die staatliche Aktivität auf Grundlagenfor-
 China mit seinen Staatskonzernen und Lokal-Content-Forde-               schung sowie die Ausformung der wettbewerblichen bzw.
 rungen. Mit der Ölkrise in den 1970er Jahren änderte sich               infrastrukturellen Rahmenbedingungen für neue Techno­lo-
 der industriepolitische Fokus in Deutschland. Im Vordergrund            gien beschränkt (beispielhaft: SVR 2018);
 stand der Restrukturierungsbedarf der Industrie. So sollte –        –   die gestaltende, interventionistische Sicht, die eine
 neben der Förderung der Kernenergie als Alternative zum                 Schwerpunktsetzung für unerlässlich hält und dem Staat
 Öl – insbesondere durch die Subventionierung der Montan-                eine aktive Rolle bei der Auswahl und Förderung strate­-
 ­­industrie vermeintlich Zeit für eine Umstrukturierung in              gischer Zukunftstechnologien zuschreibt bzw. diese
 Regionen mit niedergehenden Industrien ermöglicht werden.               einfordert (Atkinson 2015).
 Ähnlich motiviert dürfte heute die Zollpolitik der US-Adminis­
 tration sein, die den Schutz der einheimischen Industrie            Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 erlebte die
 anstrebt.                                                           wissenschaftliche Diskussion um die richtige Industriepolitik
      In den 1980er Jahren orientierte sich die Industriepolitik     eine wahre Renaissance (Aghion et al. 2011; Stiglitz et al.
 in den traditionellen Industrieländern mehr und mehr auf            2013). Arregui Coka et al. (2020) sehen den gegenwärtigen
 die Förderung des Innovationssystems. Ein Beispiel hierfür ist      Wandel der Industriepolitik weltweit im Kontext von Protek­­tio­-
 in Deutschland der Ausbau eines nahezu flächendeckenden             nismus und Innovation. Die Industriepolitik müsse eine Grat­-
 Netzes von Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft und von           wanderung zwischen dem Schutz und der Förderung legitimer
 Fachhochschulen. Die aufstrebenden Länder in Südostasien            nationaler Eigeninteressen auf der einen sowie der Abwehr
 wie Südkorea und Taiwan setzten im Kern auf eine Technolo­-         von wirtschaftlich schädlichem Protektionismus und falschem
 gie­p olitik, wenngleich sie sehr viel selektiver auf Hightech-     staatlichen Interventionismus auf der anderen Seite vollführen.
 Industrien ausgerichtet war (Cherif/Hasanov 2019).                  Für Deutschland fürchten Dohse et al. (2019) einen neuen
      Der Bedarf an technologiepolitischen Eingriffen leitet sich    Trend zur Autarkie unter dem Schlagwort „Technologiesouve-
 dabei aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht aus unter­schied­     ränität“, der die Wohlstandsvorteile der Globalisierung gefährde.
 lichen Arten des Marktversagens ab (Fritsch 2018). So müssen        Die zurückhaltende Industriepolitik Deutschlands war und sei
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik                                                                           6

ein großer Erfolg. Die Autoren wenden sich gegen die Sub­-          (Fagerberg/Hutschenreiter 2020; Lane 2020). Im Vorteil sind
ven­t ionierung nationaler Champions, die dem Mittelstand           hier selektive Ansätze einer strategischen Industriepolitik, die
knappes Humankapital und Risikokapital entziehen würde.             sich auf die Entwicklung konkreter Technologien und deren
     Andere Wissenschaftler_innen sehen dagegen die Aufgabe         Umsetzung im Wertschöpfungsprozess konzentrieren. Ein aktu­
der Industriepolitik sehr viel strategischer (bspw. Aiginger/       elles Beispiel dafür ist der Aufbau einer Batteriezellenproduk-
Rodrik 2020). Industriepolitik geht aus ihrer Sicht weit über       tion in Europa (Belitz/Gornig 2020).
die Korrektur von Marktversagen hinaus und ist ein Suchprozess           Gleichzeitig darf nicht aus den Augen verloren werden,
ins Unbekannte, der nicht nur von einem Dialog mit Expert_          dass strategische Industriepolitik nicht nur auf einzelne zentrale
innen, Interessengruppen und Bürger_innen profitiert, sondern       Missionen (Grand Challenges) ausgerichtet sein kann. Dies
auch die Okkupation durch einzelne Interessengruppen und            gilt gerade und besonders für Deutschland. Das deutsche In-
Populismus vermeiden muss. Zentrales Kennzeichen strategischer      novationsmodell ist tendenziell auf inkrementelle, kleinschrittige
Industriepolitik ist dabei, dass die Unterstützung des Struktur­-   Weiterentwicklungen ausgerichtet, während die anstehenden
wandels und des Produktivitätswachstums nicht länger ohne           Herausforderungen der großen Veränderungen häufig den
die Betrachtung der Richtung des technologischen Wandels            Charakter grundlegender Transformationen aufweisen und
erfolgen kann (Atkinson 2015). So sollte die neue Industrie­-       vielfach mit disruptiven Innovationen einhergehen (müssen).
politik den technologischen Wandel in den Industrieländern          Eine strategische Industriepolitik für Deutschland müsste da-
in eine umweltfreundlichere Richtung lenken (Aiginger/Rodrik        her auch Instrumente zur Unterstützung kleinschrittiger Maß-
2020). Aber auch andere technologische Schwerpunktsetzungen         nahmen beinhalten (Löckener/Timmer 2020). Zudem sollte
sind denkbar und sinnvoll.                                          eine strategische Industriepolitik neben Elementen der Missi-
     Noch einen Schritt weiter gehen die Positionen einer           onsorientierung stets auch eine themenoffene Herangehens-
„neuen Missionsorientierung“ der Industriepolitik (Mazzucato        weise enthalten. Die Themenoffenheit hingegen ermöglicht
2013). Unter Missionsorientierung versteht man dabei, dass          die bessere Nutzbarmachung des vor Ort in den Betrieben
umfangreiche Forschungsprogramme zur Lösung von großen              vorhandenen Wissens über chancenreiche Innovationspoten-
gesellschaftlichen Problemen aufgesetzt werden. Die For­            ziale. Missionsorientierte und themenoffene Industriepolitik
schungs- und Innovationspolitik in den USA ist traditionell         schließen sich also nicht aus, sondern ergänzen sich.
missionsorientiert (Ergas 1987), wie etwa das Mondlande­                 Schließlich sollte der Staat mit den Unternehmen nicht
projekt anschaulich zeigt. Aber auch die Hightech-Strategie         nur das Risiko, sondern auch den Erfolg von Innovationen zur
Deutschlands verfolgt seit 2006 das Paradigma der „Missi-           Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen teilen (Belitz/
onsorientierung“ (Dachs et al. 2015). Mazzucato (2013) for-         Gornig 2019b). Entsprechend sind in einem Konzept einer
dert bei der neuen Missionsorientierung darüber hinaus, die         strategischen Industriepolitik auch Verfahren zu integrieren,
Innovationspolitik des Staates generell an gesellschaft­lichen      wie der Staat wenigstens eine gewisse Rendite für seine risi-
Zielen zu orientieren und dabei Missionen zu verfolgen,             koreichen Investitionen in neue Technologien einfahren kann,
anstatt einzelne Sektoren, Unternehmen oder Technologien            um die unvermeidlichen Verluste auszugleichen: Kapitalbe-
zu fördern. Der neue missionsorientierte Ansatz soll sowohl         teiligung, Bedingungen für Reinvestitionen, Deckelung von
Märkte schaffen und gestalten als auch Marktversagen                Preisen oder dadurch, Patente so eng wie möglich zu halten
beheben. Ausgangspunkt sind die großen gesellschaftlichen           (Mazzucato 2019).
Herausforderungen, die komplex und systemisch, miteinander
verbunden und dringlich sind. Sie erfordern Einblicke und
Erkenntnisse aus vielen verschiedenen Perspektiven. Indem
sie sich auf Probleme konzentriert, die sektorübergreifende
Lösungen erfordern, erfindet eine missionsorientierte Indus-
triestrategie die vertikale Dimension der Industriepolitik neu.
Sie macht sie aber auch komplexer und anfälliger für Politik-
und Staatsversagen.
     Schlüsselelemente von missionsorientierter Politik sind:
koordinierte öffentliche Investitionen und eine marktgestal-
tende Politik, um Experimente und Innovationen zu
unter­s tützen (Kattel/Mazzucato 2018). Dabei sollte der Staat
auch die Nach­f rage stimulieren und so Erwartungen der
Unternehmen über zukünftige Wachstumschancen
verbessern (Ryan-Collins et al. 2020).
     Ein so umfassendes Politikkonzept wie eine integrierte
missionsorientierte Innovations-, Investitions- und Industrie­-
politik erfordert einen enormen Koordinationsaufwand.
Leidvolle Erfahrungen musste hier beispielsweise Frankreich
in den 1960er Jahren mit dem Modell der „Planification“
machen. Aber auch aktuell sind die systemischen Anforde­-
­r ungen an eine an gesellschaftlichen Missionen orientierte
 politikfeldübergreifende Industrie- und Innovationspolitik
 angesichts der Komplexität von Innovationsprozessen enorm
PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN                                        WISO DISKURS                       7

4

STRATEGISCHE INDUSTRIE- UND
TECHNOLOGIEPOLITISCHE INITIATIVEN

In diesem Abschnitt konzentrieren wir uns auf aktuelle indus­    SÄULE 2 DER INDUSTRIESTRATEGIE:
triepolitische Maßnahmen, die Deutschland, die EU, die USA,      NEUE TECHNOLOGIEN STÄRKEN UND
das Vereinigte Königreich und China in der Entwicklung von       PRIVATES KAPITAL MOBILISIEREN
neuen Technologien zur Lösung von zentralen gesellschaft­
lichen Herausforderungen und zu ihrer Umsetzung in Investitio-   Das BMWi benennt sogenannte Game-Changer-Technologien,
nen in den vergangenen Jahren ergriffen haben oder planen.       die „die Karten im globalen Wirtschaftsgeschehen neu mischen“.
Deutschland muss als Mitglied der EU seine Industriepolitik      Aktuell sind das aus Sicht des BMWi etwa die Künst­liche In-
mit der Europäischen Kommission abstimmen. Die USA und           telligenz (KI), Industrie 4.0., die Bio- und Nanotechnologien,
China sind wichtige globale Wettbewerber, die eigene geo-        der Leichtbau oder die neuen Werkstoffe. Für die deutsche
und sicherheitspolitische Interessen verfolgen. Das Vereinigte   und die europäische Wirtschaft müsse es das Ziel sein, nicht
Königreich verfolgt nach einer Phase der Deindustrialisierung    nur Leitmarkt, sondern auch Leitanbieter dieser Technologien
in den zurückliegenden Jahren wieder eine Politik der Stär-      zu sein.
kung der Industrie und bereitet sich auf den Austritt aus der         Mit einem „Zukunftsfonds Deutschland“ mit einem
EU vor. Zudem sind die betrachteten Länder und Regionen          Volumen von 10 Milliarden Euro sollen insbesondere Finan-
mit Deutschland über den Handel und die Präsenz multinatio-      zierungsmöglichkeiten von Game-Changer-Technologien
naler Unternehmen eng wirtschaftlich verflochten.                verbessert werden. Grundsätzlich ist der Zukunftsfonds aber
                                                                 technologieoffen angelegt. Er soll unter anderem deutschen
                                                                 Kapitalsammelstellen einen Anreiz geben, in Wagniskapital
4.1 DEUTSCHLAND                                                  zu investieren. Es wird sowohl eine Direktförderung als
                                                                 auch ein umfangreicher Beteiligungsfonds angestrebt.1 Das
INDUSTRIESTRATEGIE 2030                                          staatliche Engagement im Rahmen des „Zukunftsfonds“ geht
                                                                 deutlich über den Rahmen der bestehenden Wagniskapital­
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi)          förderung hinaus und soll damit auch große Investitionen in
veröffentlichte nach einer intensiven Diskussionsphase im        Zukunftstechnologien ermöglichen. Das Modell bietet auch
November 2019 eine Industriestrategie 2030 mit der Unter­        Erweiterungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene, etwa
überschrift „Leitlinien für eine deutsche und europäische        durch die Einbindung der Europäischen Investitionsbank
Industriepolitik“ (BMWi 2019). Ihr Ziel ist es, gemeinsam mit    (BMWi 2019a).
den Akteur_innen der Wirtschaft einen Beitrag zu leisten              Im Rahmen der Säule 2 wird auch die Hightech-Strategie
zur Sicherung und Wiedererlangung von wirtschaftlicher und       2025 für Forschung und Innovationen genannt. Die bereits
technologischer Kompetenz, Wettbewerbsfähigkeit und In-          im Jahr 2006 initiierte Hightech-Strategie dient der Verbes-
dustrieführerschaft auf nationaler, europäischer und globaler    serung des Innovationssystems als Voraussetzung sowohl für
Ebene in möglichst vielen Bereichen.                             die Stärkung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit als
    Die Strategie enthält drei Säulen. Neben der Verbesserung    auch für die Fähigkeit, gesellschaftliche Herausforderungen
der Rahmenbedingungen für den Industriestandort Deutsch-         zu bewältigen. Somit besteht eine hohe Überschneidung mit
land (Säule 1) sollen in Säule 2 neue Technologien gestärkt      industriepolitischen Zielsetzungen (Dachs et al. 2015). Die
und privates Kapital mobilisiert werden. Säule 3 bezieht sich
auf die Wahrung der technologischen Souveränität.
                                                                 1 Der Präsidial- und Nominierungsausschuss des KfW-Verwaltungsrates
                                                                 hat am 1.4.2020 auf der Grundlage von Eckpunkten, die von einer intermi-
                                                                 nisteriellen Facharbeitsgruppe zusammen mit der KfW erarbeitet wurden,
                                                                 die KfW beauftragt, ein detailliertes Realisierungskonzept zu entwickeln
                                                                 (Deutscher Bundestag 2020).
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik                                                                       8

Hightech-Strategie verfolgt das Paradigma der „neuen Missi-        Fördermaßnahmen konzentrieren. Zu den Anwendungsberei-
onsorientierung“. Im Unterschied zur „klassischen Missions-        chen gehören etwa Mobilität der Zukunft, CO2-arme Indus­
orientierung“, die Ziele und technologische Entwicklungen          trieproduktion, Bioökonomie und Leichtbau.
definiert, mit denen sie erreicht werden sollen (beispielsweise         Im Themenfeld der Digitalisierung hebt die Bundesregie-
bei der Entwicklung von Atomkraft und Raumfahrt), bezieht          rung die enormen wirtschaftlichen Potenziale von KI und
sich die Förderung nun stärker auf Beiträge zu Problemlösun-       Industrie 4.0 hervor. Mit der im Jahr 2018 verkündeten
gen für gesellschaftliche Herausforderungen (Klimawandel,          KI-Strategie der Bundesregierung sollen Unternehmen dabei
demografischer Wandel, Sicherheit), ohne dabei förderungs-         unterstützt werden, dieses Potenzial optimal auszuschöpfen
würdige Technologien apriori festzulegen.                          (siehe Bundesregierung o. J.). Die KI-Strategie ist auch ein
     Dennoch wird der größte Teil der Mittel in der Hightech-      Element der im November 2018 beschlossenen Umsetzungs-
Strategie nach wie vor für klassische thematisch fokussierte       strategie der Bundesregierung zur Digitalisierung (Bundesre-
Förderungen kooperativer Forschungsprojekte aufgewendet,           gierung 2020a). Diese Digitalisierungsstrategie erstreckt sich
die überwiegend in offenen Wettbewerben vergeben werden            über fünf Handlungsfelder, die von der Förderung digitaler
(Dachs et al. 2015). Immer wieder gab es auch Kritik an der        Kompetenzen über die Digitalisierung der Verwaltung bis hin
technologischen Schwerpunktsetzung der FuE-Förderung,              zur Förderung der digitalen Infrastruktur reichen. Für die In-
z. B. von der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI)    dustrie relevant ist vor allem das Handlungsfeld Innovation und
am zu geringen Zuwachs bei der Gewährung von Fördermit-            digitale Transformation, mit dem auch die branchenübergrei-
teln zur Digitalisierung (EFI 2017). Die Bewertungsmaßstä-         fende Förderung der Industrie 4.0 vorangebracht werden soll.
be, welche Themen und Technologien schwerpunktmäßig                     Im Bereich „Mobilität der Zukunft“ ist die Batteriezell­
gefördert werden, sind dabei nicht immer transparent und           fer­tigung ein Schwerpunktthema der Industriestrategie. Das
nachvollziehbar. Festzuhalten bleibt, dass auch die neue           BMWi wird mehr als 1 Milliarde Euro für mehrere innovative
missionsorientierte Politik mit ihrer größeren Technologieof-      Vorhaben in diesem Bereich zur Verfügung stellen, u. a. für
fenheit und Orientierung auf Bedarfsfelder letztlich immer         die europäischen IPCEI-Vorhaben (siehe auch 3.2). Das BMWi
wieder Richtungsentscheidungen fällen und technologische           unterstützt gemeinsam mit dem BMBF ab dem Jahr 2020
Prioritäten setzen muss. Die Frage nach der Art und Weise,         den Aufbau eines innovationsbasierten, umfassenden „Wert­-
wie solche Prioritäten festgelegt werden, ist aus ökonomischer     schöpfungsverbundes Batterie“ in Deutschland und Europa –
Sicht zweifellos die größte Herausforderung für die missions-      von der Rohstoff- und Materialproduktion über den Maschinen-
orientierte Technologiepolitik.                                    und Anlagenbau bis hin zur Zellproduktion und dem Recycling.
                                                                   Eng vernetzt damit ist die Förderung einer Forschungs­fabrik
AGENTUR FÜR SPRUNGINNOVATIONEN (SPRIND)                            im Umfang von 500 Millionen Euro des BMBF (BMWi 2019).

Als Bestandteil der Säule 2 wird auch die bereits 2019 ge-         NATIONALE WASSERSTOFFSTRATEGIE (NWS)
gründete „Agentur zur Förderung von Sprunginnovationen“
(SpringD) erwähnt. Vorbilder sind u. a. die US-amerikanischen      Eine umfassende und differenziert ausgearbeitete industrie­
Agenturen DARPA (Defense Advanced Research Projects Agen-          politische Strategie ist die in der Industriestrategie 2030
cy) des Verteidigungsministeriums und ARPA-E (Advanced Re­-        vom November 2019 angekündigte und im Juni 2020 verab-
search Projects Agency–Energy) (siehe auch Abschnitt 3.3).         schiedete Nationale Wasserstoffstrategie (Bundesregierung
Erstes Ziel der Agentur SprinD ist die Identifikation und Förde-   2020b). Damit schafft die Bundesregierung einen kohärenten
rung von Forschungsideen mit Sprunginnovationspotenzial.           Handlungsrahmen für die künftige Erzeugung, den Transport,
Auch in dieser zunächst technologieoffenen Maßnahme müssen         die Nutzung und Weiterverwendung von Wasserstoff und
also recht bald Entscheidungen über technologische Prioritäten     damit für entsprechende Innovationen und Investitionen.
gefällt werden. Dazu werden Ideenwettbewerbe für Spitzen-              Wasserstoff hat eine zentrale Rolle bei der Weiterentwick-
projekte durchgeführt, die auf die Überführung von Ideen aus       lung und Vollendung der Energiewende, denn zu den derzeit
FuE in die Anwendung zielen und eine Laufzeit von drei bis         noch eingesetzten fossilen Energieträgern sind alternative
sechs Jahren haben sollen (BMBF 2018). Mit den ersten drei         Optionen erforderlich. Damit Wasserstoff wirtschaftlich wird,
Innovationswettbewerben zu den Themen Energieeffizientes           sollen die Kostendegressionen bei Wasserstofftechnologi-
KI-System, Organersatz aus dem Labor und Weltspeicher testet       en vorangebracht werden. Dazu sollen der technologische
das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) das         Fortschritt und Skaleneffekte vorangetrieben werden. Ein
neue Instrument zur Förderung von Sprunginnovationen.              besonderer Fokus liegt dabei auf Bereichen, die schon jetzt
    Die Agentur für Sprunginnovationen soll Innovationen,          nahe an der Wirtschaftlichkeit sind und bei denen größere
die technologisch radikal neu sind und ein hohes Game-             Pfadabhängig­keiten vermieden werden oder die sich nicht
Changer-Potenzial haben, zum Durchbruch verhelfen. Vor allem       anders dekarbonisieren lassen, etwa zur Vermeidung von
sollen disruptive Innovationen häufiger in Deutschland ver-        Prozessemissionen in der Stahl- und Chemieindustrie oder in
wertet und auf den Markt gebracht werden.                          bestimmten Bereichen des Verkehrs.
                                                                       Die Bundesregierung möchte mit dem Aktionsplan zur
TECHNOLOGIEN UND ANWENDUNGSBEREICHE                                NWS die Grundlagen für private Investitionen in die wirt-
IN DER INDUSTRIESTRATEGIE 2030                                     schaftliche und nachhaltige Erzeugung, den Transport und
                                                                   die Nutzung von Wasserstoff legen. Durch insgesamt 38
In der Industriestrategie werden sowohl Anwendungsbereiche         staatliche Maßnahmen soll bis 2023 der Markthochlauf der
umrissen als auch einige Technologien genannt, auf die sich        Wasserstofftechnologie erfolgen und sollen die Grundlagen für
PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN                                             WISO DISKURS                     9

einen funktionierenden Heimatmarkt angestoßen werden.                     Weiterentwicklung des Aktionsplans hinwirken. In der NWS
Die Maßnahmen liegen in der Verantwortung der jeweils                     ist somit von vornherein der Gedanke der fortlaufenden
zuständigen Ressorts und werden von diesen im Rahmen                      Weiterentwicklung verankert (BMWi 2020b).
der geltenden Haushalts- und Finanzplanansätze finanziert
(Bundesregierung 2020b).                                                  SÄULE 3 DER INDUSTRIESTRATEGIE: WAHRUNG
   Beispielhaft seien hier folgende Maßnahmen zur Förde-                  DER TECHNOLOGISCHEN SOUVERÄNITÄT
rung von FuE, Innovation und Investitionen im Bereich der
Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie genannt:                     In ihrer Industriestrategie sieht die Bundesregierung einen
                                                                          erhöhten Prüfbedarf, wenn Drittstaateninvestoren kritische
–  Die Fortsetzung der Fördermaßnahmen im Rahmen des                      Infrastrukturen oder wehrtechnische Unternehmen überneh-
   Nationalen Innovationsprogramms Wasserstoff- und                       men wollen. Dies gilt auch in Fällen, in denen die Freiheit des
   Brennstoffzellentechnologie (NIP). Aus dem Energie- und                internationalen Kapitalverkehrs in Deutschland von Unter-
   Klimafonds (EKF) 2 stehen zusätzliche Mittel für die Was-              nehmen aus Drittstaaten dazu genutzt wird, Strategien zu
   serstoff- und Brennstoffzellentechnologie bis 2023 zur                 verfolgen, die die technologische Souveränität Deutschlands
   Verfügung.                                                             oder Europas gefährden können. Dies gilt insbesondere im
– Zur Entwicklung und Förderung von Anlagen zur Erzeu-                    Bereich sensibler Technologien, zum Beispiel Dual-Use-Tech-
   gung strombasierter Kraftstoffe, insbesondere von strom-               nologien. Know-how-Verluste sollen vermieden werden, und
   basiertem Kerosin, und fortschrittlicher Biokraftstoffe                die Selbstbestimmung in zentralen technologischen Feldern
   stehen bis 2023 1,1 Milliarden Euro im EKF zur Verfügung.              soll erhalten bleiben. Im Einzelfall kann bei sensiblen oder
– Der Aufbau einer bedarfsgerechten Tankinfrastruktur zur                 sicherheitsrelevanten Technologien über die KfW eine befris-
   Versorgung der Fahrzeuge auch im schweren Straßengüter-                tete staatliche Beteiligung an Unternehmen realisiert werden
   verkehr, im ÖPNV und im Schienenpersonennahverkehr wird                („Nationale Rückgriffsoption“). Dazu sollen Strukturen geschaf-
   gefördert. Der EKF enthält hierfür über alle alternativen              fen werden, mit denen die notwendigen Entscheidungen
   Technologien bis 2023 3,4 Milliarden Euro als Zuschüsse                rascher und effizienter als bislang getroffen werden können.
   zur Errichtung von Tank- und Ladeinfrastruktur.
 – Unterstützung des Aufbaus einer wettbewerbsfähigen
   Zulieferindustrie für Brennstoffzellensysteme (Brennstoff-             4.2 EUROPÄISCHE KOMMISSION
   zellen und Komponenten für Brennstoffzellensysteme)
   einschließlich Schaffung einer industriellen Basis für eine            Im März 2020 hat die EU-Kommission eine neue Industrie-
   großskalige Brennstoffzellen-Stack-Produktion für Fahr-                strategie für Europa veröffentlicht. Sie markiert den Beginn
   zeuganwendungen.                                                       einer neuen industriepolitischen Etappe, ist aber bisher in
– Prüfung des Aufbaus eines Technologie- und Innovations­                 weiten Teilen noch eine Absichtserklärung, und es muss sich
   zentrums für Wasserstofftechnologien zur Ermöglichung                  zeigen, wie die ambitionierte Strategie umgesetzt wird.
   von Fahrzeugplattformen für Brennstoffzellenantriebe sowie                 In der Industriestrategie werden drei Triebkräfte für die
   die Unterstützung des Aufbaus eines deutschen Brenn-                   Transformation der Industrie gesehen:
   stoffzellensystemanbieters für die Logistik/Intralogistik.
                                                                          –   der ökologische Wandel;
Bis zum Jahr 2030 will das BMWi insgesamt 7 Milliarden Euro               –   der digitale Wandel;
für den Markthochlauf von Wasserstofftechnologien in                      –   die globale Wettbewerbsfähigkeit.
Deutschland und zusätzlich noch einmal 2 Milliarden Euro für
internationale Partnerschaften bereitstellen (Altmeier 2020).             Die Transformationen werden neue Technologien erfordern
                                                                          und damit auch die entsprechenden Investitionen und Inno-
GOVERNANCE UND MONITORING DER NWS                                         vationen (EU-Kommission 2020a). Betont wird auch, dass
                                                                          Europa bei der Aufstockung der Investitionen in disruptive
Um der Unsicherheit bei langen Vorhaben entgegenzuwirken,                 und bahnbrechende Forschung und Innovation hin und wie-
soll die NWS regelmäßig in einem Drei-Jahres-Turnus aktua­                der Rückschläge in Kauf nehmen muss.
lisiert und gegebenenfalls angepasst werden. Grundlage                        Ein wichtiges Feld der europäischen Industriestrategie ist
wird ein Monitoringverfahren sein, das Marktentwicklungen                 die Modernisierung und Dekarbonisierung energieintensiver
spiegeln und bei Bedarf ein Nachsteuern anstoßen soll. Neben              Industrien. So wird die Kommission beispielsweise bahnbre-
einem Ausschuss der Staatssekretäre, einer Bund-Länder-                   chende Technologien unterstützen, die zu einer CO2-freien
Plattform und einer Leitstelle Wasserstoff wird auch ein                  Stahlerzeugung führen. Der Innovationsfonds des Emissions-
Wasserstoffrat aus ausgewiesenen Expert_innen gegründet.                  handelssystems der EU soll dazu beitragen, weitere groß an-
All diese Instanzen werden eng miteinander auf die                        gelegte innovative Projekte zur Förderung sauberer Produkte
                                                                          in allen energieintensiven Sektoren durchzuführen.
2 Zur Umsetzung der Energiewende können Gelder aus dem 2011 ein-              Die EU-Kommission will zusätzlich zu den horizontalen
gerichteten Energie- und Klimafonds (EKF) genutzt werden. Grundlage des   und für spezifische Technologien entworfenen Maßnahmen
EKF ist das Gesetz zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und     die Risiken und Bedürfnisse verschiedener industrieller Öko­
Klimafonds“. Der EKF ist ein sogenanntes Sondervermögen und finanziert
                                                                          systeme systematisch analysieren. Bei dieser Analyse wird
sich, neben den Bundeszuschüssen, aus den Erlösen des europäischen
Emissionshandels. Im Jahr 2019 wurden 4,5 Milliarden Euro für soge-       die Kommission eng mit einem Industrieforum zusammen­
nannte Programmausgaben bereitgestellt (BMWi 2020a).                      arbeiten, das bis September 2020 eingerichtet werden soll.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik                                                                                   10

Es wird sich aus Vertreter_innen der Industrie, darunter kleine       WICHTIGE PROJEKTE VON GEMEINSAMEM
und mittlere Unternehmen (KMU), Großunternehmen, von                  EUROPÄISCHEN INTERESSE – IPCEI
Sozialpartnern und Wissenschaftler_innen sowie der Mit-
gliedstaaten und der EU-Institutionen zusammensetzen.                 Insbesondere im Fall von Marktversagen bei der großflächigen
Auf den jährlich veranstalteten Industrietagen der Kommission         Einführung innovativer Technologien müssen grenzüber-
werden weiterhin alle Akteur_innen zusammenkommen                     greifend private Investitionen und öffentliche Mittel entlang
(EU-Kommission 2020b).                                                wichtiger Wertschöpfungsketten mobilisiert werden. Um dies
     2021 soll ein Europäischer Innovationsrat (European              zu erreichen, wurden von der Europäischen Kommission die
Innovation Council – EIC) seine Arbeiten aufnehmen. Er                schon erwähnten Important Projects of Common European
wird Technologien der nächsten Generation ermitteln,                  Interest (IPCEI) definiert (EU-Kommission 2020a). Im Rahmen
ihre gewerbliche Nutzung beschleunigen und dafür sorgen,              dieses neuen Instruments hat die EU-Kommission erst im
dass sie zur raschen Expansion von Start-up-Unternehmen               Dezember 2019 3,2 Milliarden Euro für eine paneuropäische
beitragen (EU-Kommission 2020b). Der EIC fasst die wich-              IPCEI-Initiative zur Batteriezellfertigung bewilligt. Damit soll
tigsten EU-Instrumente unter einem Dach zusammen. Da­-                der Aufbau einer strategischen Batterie-Wertschöpfungskette
mit beabsichtigt die Europäische Kommission, dass Innova­             unterstützt werden, die von der Gewinnung der Rohstoffe
tio­n en schneller auf den Markt gelangen und dadurch auch            über die Entwicklung innovativer Batteriezellen und -systeme
Wachstum und Beschäftigung geschaffen werden (siehe                   bis zum Recycling der Materialien reicht. Aus Deutschland
auch BMWi 2020c).                                                     sind BMW, BASF und Varta beteiligt.
                                                                           Aufbauend auf der erfolgreichen Blaupause der Industrie-
NEUE WEGE ZUR MOBILISIERUNG                                           allianzen soll auch eine neue europäische Allianz für sauberen
PRIVATER INVESTITIONEN                                                Wasserstoff gegründet werden. Allianzen in den Bereichen
                                                                      CO2-arme Industrie, Industrie-Clouds 4 und -Plattformen sowie
Die EU-Kommission möchte in einer Zeit, in der die öffent­            Rohstoffe sollten zu gegebener Zeit folgen (EU-Kommission
lichen Haushalte unter Druck stehen, neue Wege zur Mobili­            2020a).
sierung privater Investitionen erschließen. Hierfür sind InvestEU          Mit solchen Innovationsvorhaben treffen die EU-Kommis-
und der Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal             sion und die beteiligten Staaten Richtungsentscheidungen
aufgelegt worden.                                                     und setzen technologische Prioritäten. Sie gehen dabei eben-
    Das Programm InvestEU umfasst einen Fonds, eine Bera­             so wie die privaten Unternehmen hohe technologische und
tungsplattform und ein Portal mit demselben Namen. Mit ei-            finanzielle Risiken ein. Wichtig ist, dass die Bewertungsmaß-
ner Laufzeit von 2021 bis 2027 baut InvestEU auf dem Erfolg           stäbe für die Auswahl der Vorhaben möglichst transparent
des Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI)          und nachvollziehbar sind. Um für eine Förderung im Rahmen
des Juncker-Plans auf. 3 Mit Blick auf aktuelle Herausforderun-       von IPCEI in Betracht zu kommen, muss ein Projekt (1) einen
gen hat die EU-Kommission im Frühjahr 2020 ihren ursprüng-            Beitrag zu den strategischen Zielen der EU leisten, (2) mehre-
lichen InvestEU-Vorschlag erweitert, um besser auf die Wirt-          re Mitgliedstaaten betreffen (mindestens zwei müssen betei-
schaftskrise reagieren zu können. Der neue Vorschlag sieht            ligt sein), (3) private Finanzierungen durch die Begünstigten
vor, die Finanzausstattung für den Politikbereich „Nachhaltige        einbeziehen, (4) positive Spillover-Effekte in der gesamten EU
Infrastruktur“ auf 20 Milliarden Euro zu verdoppeln und einen         erzielen, mit denen mögliche Wettbewerbsverzerrungen be-
neuen Politikbereich „Strategische europäische Inves­titionen“        grenzt werden, und (5) äußerst ehrgeizig unter dem Aspekt
mit 31 Milliarden Euro hinzuzufügen, um die strategische              der Forschung und Innovation gestaltet sein.
Autonomie in Schlüsselsektoren zu fördern und zu sichern.                  Im Rahmen von IPCEI wurde versucht, auch den beihilfe-
Der Fonds InvestEU wird durch eine EU-Haushaltsgarantie in            und wettbewerbsrechtlichen Bedenken entgegenzutreten.
Höhe von insgesamt 75 Milliarden Euro Investitionsprojekte            So sollen die Ergebnisse der Vorhaben der Batteriezellenför-
der Europäischen Investitionsbank (EIB-Gruppe) und anderer            derung auch der europäischen Wissenschaftsgemeinschaft
Finanzpartner besichern, wodurch sich deren Risikotragfä-             zur Verfügung stehen und an Unternehmen weitergegeben
higkeit erhöht. Der Schwerpunkt des neuen Politikbereichs             werden, die nicht an den Vorhaben beteiligt sind. Auf einer
„Strategische europäische Investitionen“ liegt auf dem                jährlichen öffentlichen Konferenz werden die Ergebnisse vor-
Aufbau stärkerer europäischer Wertschöpfungsketten sowie              gestellt. Das Vorhaben wird von einem Leitungsgremium über-
auf der Unterstützung von Tätigkeiten im Bereich kritischer           wacht, dem Vertreter_innen der EU-Kommission, der teilneh-
Infrastrukturen und Technologien (Europäische Kommission              menden Mitgliedstaaten und der am Projekt teilnehmenden
2020d).                                                               Unternehmen angehören. Ferner soll ein beträchtlicher Teil
    Die Industriestrategie sieht vor, dass die Entwicklung der        der zusätzlichen Gewinne der teilnehmenden Unternehmen
Technologien auch durch öffentlich-private Partnerschaften            über einen Rückforderungsmechanismus den Steuerzah-
vorangetrieben werden soll – wie etwa im Rahmen von In-               ler_innen wieder zugutekommen. Das Instrument soll auf
dustrieallianzen (z. B. die 2017 geschaffene europäische Bat-         Grundlage der bisherigen Erfahrungen weiter optimiert und
terieallianz und die Mikroelektronikallianz aus Mitgliedstaaten       die IPCEI-Mitteilung angepasst werden (BMWi 2019a).
und der Industrie) bereits erfolgreich geschehen, die in die
sogenannte IPCEI gemündet sind.

3 Stand Juli 2020 wurden durch EFSI 515 Milliarden Euro zusätzliche   4 So soll auch für das europäische Cloud-Projekt GAIA-X das IPCEI-Instru-
Investitionen ausgelöst (siehe EU-Kommission 2020c).                  ment genutzt werden.
PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN                                    WISO DISKURS                 11

STÄRKUNG DER INDUSTRIELLEN UND                                   4.3 USA
STRATEGISCHEN AUTONOMIE EUROPAS
                                                                 Die USA verfolgen nicht ausdrücklich eine Industriestrategie,
Um die strategische Autonomie Europas zu stärken, müssen         sie nutzen aber schon lange Instrumente zur Förderung von
aus Sicht der EU-Kommission auch Abhängigkeiten von              neuen Technologien und ihrer Einführung in die Produktion
anderen Ländern in Bereichen wie kritische Rohstoffe und         und den Markt. Zudem gelten die USA als Musterland mis-
Technologien, Lebensmittel, Infrastruktur, Sicherheit sowie      sionsorientierter Forschungs- und Technologiepolitik (Ergas
andere strategische Sektoren verringert werden.                  1987). Insofern sind die USA ein Paradox: Während die Politik
     Auch mit ausländischen Investitionen können Risiken         öffentlich eine marktfundamentalistische Haltung vertritt,
verbunden sein, und Europa will in diesem Bereich strategi-      unternimmt sie industriepolitische Maßnahmen, etwa zur För-
scher vorgehen. Ab Oktober 2020 soll der uneingeschränkt         derung grundlegender technologischer Innovationen („general
anwendbare Rahmen für die Überprüfung ausländischer              purpose technologies“) (Wade 2014). Die weit verbreitete An-
Direkt­investitionen dafür sorgen, dass Europas Interessen im    sicht, freie Märkte, Eigentumsrechte und der Unternehmergeist
Hinblick auf die Sicherheit und öffentliche Ordnung geschützt    seien die Garantie für den Erfolg der USA, ist nach Ansicht von
sind. So hängt die Sicherheit Europas und seine technologi-      Robert Atkinson ahistorisch und naiv. Staatliche Förderung
sche Souveränität unter anderem von strategischen digitalen      von FuE, steuerliche Förderung, Initiativen zur Entwicklung
Infrastrukturen ab. Die Kommission hat daher in den Berei-       von Technologien für die Verteidigung u. a. spielen seit Langem
chen 5G und Cybersicherheit Maßnahmen ergriffen und wird         eine Schlüsselrolle in der US-Technologiepolitik (Atkinson
eine kritische Infrastruktur für die Quantenkommunikation        2020). Bei Abwesenheit einer formalen Industriepolitik unter­
entwickeln.                                                      stützen die USA die Industrie indirekt und mit minimaler
     Zudem wird der Europäische Verteidigungsfonds EU-weit       Koordination. Es gibt eine De-facto-Industriepolitik, deren
zum Aufbau einer integrierten industriellen Basis im Ver­        Konturen und Mechanismen kaum hinterfragt werden (Clark/
tei­di­gungsbereich beitragen. Er wird entlang der gesamten      Doussard 2019).
Wertschöpfungskette der europäischen Verteidigungsindustrie          Mazzucato (2013) hat den direkten Beitrag von staatlichen
investieren, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit             Programmen in den USA zu Innovationen untersucht, die
erleichtern und offene und dynamische Lieferketten unter-        allgemein als Resultat privater unternehmerischer Investi-
stützen. Darüber hinaus wird der Fonds disruptive Technologien   tionen angesehen werden. Zum Beispiel zeigt sie, dass viele
fördern und auf diese Weise es Unternehmen ermöglichen,          Komponenten des iPhone von Apple einschließlich seiner
ein höheres Risiko einzugehen.                                   Touchscreen-Technologie ursprünglich dank staatlicher Sub-
                                                                 ventionen und insbesondere von Programmen des US-Ver-
KRITIK AUS DEUTSCHLAND                                           teidigungsministeriums entwickelt wurden. Gleiches gilt für
                                                                 die Schlüssel­innovationen Internet und Computer. Singer
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) kritisiert,      beschreibt 22 Fällen von wichtigen technologischen Innova-
dass die neue europäische Strategie Züge einer paternalisti-     tionen, die ihre Ursprünge in staatlich geförderten FuE-Pro-
schen Industriepolitik enthalte. Sie wolle „Ziele, Tempo und     jekten in den USA haben, so etwa die Google-Suchmaschine,
Marschrichtung für die kommenden Jahre“ vorgeben, betone         das Human Genome Projekt, das MRT und laktosefreie Milch
die Rolle von Wettbewerb und Markt jedoch nur rudimentär.        (Singer 2014).
Die Kommission verenge die vielfältigen Herausforderungen
weitgehend auf den ökologischen und digitalen Wandel.            ADVANCED RESEARCH PROJECTS AGENCY
Ungeachtet der aktuellen Covid-19-Krise, deren Ausmaß zum        (ARPA)
Zeitpunkt der Veröffentlichung der Strategie noch nicht
absehbar war, stellen jedoch auch andere Megatrends wie          Zu den wichtigsten Institutionen zur Entwicklung und
die veränderten Rahmenbedingungen der Globalisierung, der        Kommerzialisierung von Forschungsergebnissen gehören die
demografische Wandel oder zunehmende Sicherheitsrisiken          Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) des
Herausforderungen für Wirtschaft und Gesellschaft dar und        Verteidigungsministeriums (gegründet 1958), die Advanced
müssen auf dem industriepolitischen Radar bleiben (BDI 2020).    Research Projects Agency–Energy (ARPA-E) des Energiemi-
    Dem DGB fehlen vor allem noch konkrete Aussagen zur          nisteriums (gegründet 2009) und die Intelligence Advanced
Finanzierung. Es reiche nicht, auf private Beteiligung (etwa     Research Projects Agency (IARPA des Office of the Director of
über ÖPP) zu hoffen oder Mittel aus den Strukturfonds in         National Intelligence; gegründet 2007) sowie das „Manufac-
industriepolitische Projekte umzuleiten. Vielmehr müsse der      turing USA Network“.
Haushalt kräftig aufgestockt werden. Wenn nur Mittel aus             Die drei ARPA-Agenturen haben ambitionierte Modelle zur
bestehenden Fonds umgeschichtet werden, ergibt sich in           Organisation von Innovationen und sind öffentliche Intermediä-
der Summe nicht der notwendige zusätzliche Impuls. Der           re zwischen Wissenschaft und Industrie, die eine missionsori-
Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert die dauerhafte          entierte risiko- und aussichtsreiche Forschung für technologi-
Lockerung der Verschuldungsregeln, damit Mitgliedstaaten         sche Durchbrüche verfolgen. Sie unterstützen aktiv auch die
aktive Industriepolitik betreiben können (DGB 2020a).            Weiterentwicklung und Einführung von neuen Technologien
                                                                 in ihren Missionsfeldern (Bonvillian 2018).
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