PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN - Neue Ansätze in der Industrie- und Technologiepolitik
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PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN D I S K U R S 02/ 2021 Heike Belitz, Martin Gornig, Claudia Kemfert, Ralf Löckener, Torsten Sundmacher PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN Neue Ansätze in der Industrie- und Technologiepolitik
WISO DISKURS 02/ 2021 Die Friedrich-Ebert-Stiftung Die FES ist die älteste politische Stiftung Deutschlands. Benannt ist sie nach Friedrich Ebert, dem ersten demokratisch gewählten Reichspräsidenten. Als parteinahe Stiftung orientieren wir unsere Arbeit an den Grundwerten der Sozialen Demokratie: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Als gemeinnützige Institution agieren wir unabhängig und möchten den pluralistischen gesellschaftlichen Dialog zu den politischen Herausforderungen der Gegenwart befördern. Wir verstehen uns als Teil der sozialdemokratischen Wertegemeinschaft und der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland und der Welt. Mit unserer Arbeit im In- und Ausland tragen wir dazu bei, dass Menschen an der Gestaltung ihrer Gesellschaften teilhaben und für Soziale Demokratie eintreten. Die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik verknüpft Analyse und Diskussion an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik, Praxis und Öffentlichkeit, um Antworten auf aktuelle und grundsätzliche Fragen der Wirtschafts- und Sozialp olitik zu geben. Wir bieten wirtschafts- und sozialpolitische Analysen und entwickeln Konzepte, die in einem von uns organisierten Dialog zwischen Wissenschaft, Politik, Praxis und Öffentlichkeit vermittelt werden. WISO Diskurs WISO Diskurse sind ausführlichere Expertisen und Studien, die Themen und politische Fragestellungen wissenschaftlich durchleuchten, fundierte politische Handlungsempfehlungen enthalten und einen Beitrag zur wissenschaftlich basierten Politikberatung leisten. Über die Autor_innen dieser Ausgabe Dr. Heike Belitz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin, Abteilung Unternehmen und Märkte. Prof. Dr. Martin Gornig ist Forschungsdirektor Industriepolitik und stellvertreten der Leiter der Abteilung Unternehmen und Märkte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und Honorarprofessor für Stadt- und Regionalökonomie an der Technischen Universität Berlin. Prof. Dr. Claudia Kemfert ist Abteilungsleiterin Energie, Verkehr, Umwelt, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung und Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität, Co-Vorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit sowie im Präsidium der deutschen Gesellschaft des Club of Rome. Ralf Löckener ist Diplom-Geograph mit Schwerpunkt Wirtschafts- und Sozial- geographie und geschäftsführender Gesellschafter des Beratungsunternehmens SUSTAIN CONSULT; er berät Unternehmen, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaf- ten auf den Feldern nachhaltiger Unternehmensentwicklung, Regionalförderung und Industriepolitik. Dr. Torsten Sundmacher ist Diplom-Wirtschaftswissenschaftler und Diplom-Sozial wissenschaftler und als Partner im Beratungsunternehmen SUSTAIN CONSULT tätig; Umweltökonomik, Gesundheitsökonomik und Industriepolitik sowie strategische Unternehmensentwicklung bilden seine Arbeitsschwerpunkte. Für diese Publikation sind in der FES verantwortlich Dr. Robert Philipps ist Leiter der Arbeitsbereiche Unternehmen/Mittelstand und Verbraucherpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung. Max Ostermayer ist in der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik für den Arbeitsbereich Klima-, Energie- und Strukturpolitik verantwortlich und leitet den Arbeitskreis Nachhaltige Strukturpolitik.
02/ 2021 WISO DISKURS Heike Belitz, Martin Gornig, Claudia Kemfert, Ralf Löckener, Torsten Sundmacher PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN Neue Ansätze in der Industrie- und Technologiepolitik 2 1 ZUSAMMENFASSUNG 3 2 PROBLEMSTELLUNG 5 3 EINORDNUNG EINER STRATEGISCHEN INDUSTRIEPOLITIK IN DEN WISSENSCHAFTLICHEN DISKURS 7 4 STRATEGISCHE INDUSTRIE- UND TECHNOLOGIEPOLITISCHE INITIATIVEN 7 4.1 Deutschland 9 4.2 Europäische Kommission 11 4.3 USA 12 4.4 Vereinigtes Königreich 13 4.5 China 14 4.6 Zusammenführung: Elemente und Merkmale der industriepolitischenInitiativen 16 5 AKTUELLE HERAUSFORDERUNGEN FÜR DEN INDUSTRIESTANDORT DEUTSCHLAND 16 5.1 Digitalisierung und neue Zukunftstechnologien 18 5.2 Dekarbonisierung der Industrie und der Klimawandel 20 5.3 Entwicklung von Wertschöpfungsketten 25 5.4 Einfluss eines neuen Nationalismus und Protektionismus 28 6 ANSÄTZE EINER NEUEN INDUSTRIEPOLITISCHEN STRATEGIE 32 Abkürzungsverzeichnis 33 Literaturverzeichnis
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 2 1 ZUSAMMENFASSUNG Durch die Digitalisierung und den Klimawandel steht die positiv. Sie sollten begleitend evaluiert, weiterentwickelt und Industriepolitik vor neuen Herausforderungen bei der Unter gegebenenfalls in Zukunft auch ausgebaut werden. stützung des industriellen Strukturwandels. Steigende Derzeit haben wir es zudem mit einer durch die globale Forschungsfixkosten und Investitionen für neue Game-Changer- Corona-Pandemie ausgelösten makroökonomischen Investi- Technologien machen es für Unternehmen und Staaten unum tionskrise zu tun. Allein in Deutschland liegen die Ausrüstungs- gänglich, eine Selektion vorzunehmen und sich auf bestimm- investitionen im zweiten Quartal 2020 um fast 30 Prozent te Technologien zu spezialisieren. Die Bundesregierung sollte unter Vorjahresniveau. Ein geeignetes Instrument für die daher Förderprogramme stärker auf zentrale digitale und Verknüpfung von Industrie- und Investitionspolitik zur Unter- klimaschonende industrielle Zukunftstechnologien ausrichten. stützung des notwendigen industriellen Strukturwandels sind Die Digitalisierung benötigt zugleich neue Kooperations- konkrete technologieorientierte Investitionsfonds. Mit einer formen zwischen Hochschulen, Unternehmen und Staat. Die klaren Festlegung auf die ausgewählten Technologien könnten Trennung zwischen anwendungsnaher öffentlicher Forschung solche gezielten Investitionsförderprogramme neue Partner- und privaten Investitionen für die kommerzielle Umsetzung schaften von Unternehmen und Staat generieren. Diese Part- ist so oft nicht mehr durchhaltbar. Der Staat muss viel stärker nerschaften könnten dann einen Beitrag zum Aufbau von auch in die Umsetzung der Forschung in Produkte investieren. Technologieführerschaft und zur Neuausrichtung von Wert- Die Grenzen von vorwettbewerblicher Forschungsförderung schöpfungsketten leisten. Dabei muss auch die europäische und Investitionsbeihilfe werden daher fließend. Handlungsebene an Bedeutung gewinnen. Aus den Verpflichtungen der Klimaabkommen folgt für Der Staat sollte dabei mit den Unternehmen aber nicht die Industrie insbesondere die Notwendigkeit, grundlegende nur das Risiko, sondern auch die möglichen Erfolge teilen. technologische Innovationen für eine Abkehr von fossilen Entsprechend sind in dem Konzept einer strategischen Energien aus Öl, Kohle und Gas zu realisieren. Der Innovations- Industriepolitik auch Verfahren zu integrieren, wie der Staat und Investitionsbedarf ist enorm, die erforderlichen Techno- an den zu erwartenden Renditen für seine risikoreichen logiesprünge haben oft einen sektorübergreifenden, syste- Invest itionen in neue Technologien beteiligt werden kann, mischen Charakter und werden nur gelingen, wenn der Staat z. B. durch stille Unternehmensbeteiligungen. eine aktive Rolle übernimmt. Dabei geht es sowohl um den Aufbau von Infrastrukturen als auch von Allianzen zur Ent- wicklung konkreter Schlüsseltechnologien und zur Umstellung von Wertschöpfungsketten bis hin zur massiven Unterstüt- zung bei der Finanzierung von Investitionen. Auch geopolitische Tendenzen zu Protektionismus und einem schärferen Wettbewerb im Dreieck Europa-USA-China lassen keinen Spielraum für ein Weiter-so. Entsprechend finden wir 2019 in der deutschen Industriepolitik Ansätze einer Neuorientierung. Die hierzulande traditionell eher passive Industriepolitik, gekennzeichnet durch die Merkmale Technologieoffenheit und vorwettbewerbliche Förderung, wurde durch selektive Elemente wie die europäischen IPCEI-Vorhaben (Important Project of Common European Interest) in den Bereichen Mikroelektronik und Batteriezellen- fertigung, die Wasserstoffstrategie und die SprinD-Agentur für Sprunginnovationen ergänzt. Diese neuen Ansätze sind
PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN WISO DISKURS 3 2 PROBLEMSTELLUNG Deutschland erlebt derzeit im Zuge der Corona-Pandemie die Die Industrie ist also ein elementarer Faktor für den Erhalt des schwerste Rezession der Wirtschaft seit dem Zweiten Welt- Wohlstands in Deutschland und Europa. Daher ist es so wichtig krieg. Der Einbruch ist dabei global viel tiefer und breiter als zu beobachten, vor welchen Herausforderungen dieser Sektor in der Folge der Finanzkrise 2008 (Stern et al. 2020). Der steht. So zeigt sich seit Jahren, dass der Industries ektor in Weg aus der Talsohle wird nur gelingen, wenn die Industrie Deutschland zwar durch eine hohe Kapitalintensität gekenn- als zentraler Schlüsselsektor der deutschen Volkswirtschaft zeichnet ist, der Kapitalstock der deutschen Industrie aber wieder auf Wachstumskurs geführt wird (Belitz et al. 2020). immer mehr überaltert. Ein Grund dafür ist eine ausgeprägte Eine starke und differenzierte Industrie ist aber auch auf Investitionsschwäche (Belitz/Gornig 2019a). Diese betrifft mittlere Frist Garant für den Wohlstand in Deutschland. nicht nur Gebäude und Maschinen, auch in Köpfe – also das So leistet die deutsche Industrie einen wesentlichen Beitrag Wissenskapital – investiert die deutsche Industrie im Vergleich zur Sicherung des Außenwertes des Euro und damit für die zu anderen Ländern weniger. Investitionen sind jedoch ins- Kaufkraft in Deutschland und der Eurozone. In Deutschland besondere in Zeiten notwendiger Modernisierungen aufgrund ist die Industrie für weit mehr als 80 Prozent der Exporte der Digitalisierung und des Klimaschutzes unerlässlich. verantwortlich (Blazejczak et al. 2018). Die Industrie spielt Denn die Möglichkeiten der Digitalisierung stellen besteh- zudem eine bedeutende Rolle für eine ausgewogene Verteilung ende Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten in der des Wohlstands. In diesem Sektor werden viele Maschinen Industrie grundlegend auf den Prüfstand. Durch die Etablierung eingesetzt und damit eine hohe Arbeitsproduktivität erreicht, datenbezogener Services parallel zur Nutzung von Industrie- gleichzeitig herrscht dort eine hohe Tarifbindung. Beides produkten sowie völlig neuer Konstellationen der Zusammenar- zusammen trägt wesentlich zu hohen Löhnen auch in beit von Produzent_innen und Kund_innen über Plattformen mittleren Gehaltssegmenten bei (Bosch/ Weinkopf 2017; oder von Mensch und Maschine in der Produktion werden Gornig/Goebel 2018). Wertschöpfungsketten teilweise neu konfiguriert und neue Gleichzeitig kommt der Industrie in Bezug auf technologi- Wettbewerber wie etwa große Digitalunternehmen drängen schen Fortschritt eine wichtige Rolle zu. Die Industrie ist für in den Industriebereich, um auch diesen Markt zu erobern. den Großteil der Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen Dies erfordert seitens der Industrie nicht nur neue Ideen und der deutschen Wirtschaft verantwortlich. Etwa ein Drittel der Geschäftsmodelle, sondern auch Investitionen in den Maschinen- Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE) aller Unter- p ark wie die Qualifizierung der Beschäftigten. nehmen fällt dabei auf die Automobilindustrie. Ein Indikator für Gleichzeitig muss die deutsche Industrie zur Erreichung technologischen Fortschritt ist die Entwicklung der Produktivität der Klimaziele in den kommenden zehn Jahren die Emissionen und hier insbesondere der totalen Faktorproduktivität. Die totale um etwa 24 Prozent im Vergleich zu heute senken. Dies gelingt Faktorproduktivität bildet dabei jenes Wachstum ab, welches nur, wenn Produktionsprozesse möglichst rasch auf Klima- über die reine Zunahme des Arbeits- und Kapitaleinsatzes hinaus neutralität ausgerichtet werden, ohne dass dabei die kurzfristige vor allem durch Innovationen realisiert wird. Laut empirischer Wettbewerbsfähigkeit verloren geht. Auch dies wird nur Befunde leidet Deutschland – wie die meisten anderen ent- mit mehr Investitionen in Sach- und Wissenskapital gelingen. wickelten Länder – zuletzt unter einer ausgeprägten schwachen Aufgrund der jetzigen Wirtschaftskrise droht sich die Produktivitätsentwicklung (BMF 2017). Von den großen Wirt- Investitionsschwäche der Industrie zu verfestigen und so eine schaftssektoren leistet lediglich die Industrie noch einen spürbaren langanhaltende Wirtschaftskrise und den Verlust der Wett- Beitrag zum Wachstum der totalen Faktorproduktivität. Deutsch- b ewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und der gesamten land ist – angesichts der demografischen Entwicklung und der Wirtschaft zu verursachen. Die Risiken für Investor_innen aktuell zunehmenden Verschuldung – auf diese Produktivitäts nehmen durch Corona weiter zu. Haben schon in den vergan- zuwächse angewiesen. Ohne Produktivitätszuwächse ist der genen Jahren Unsicherheiten über künftige wettbewerbsfähige Wohlstand breiter Teile der Bevölkerung massiv gefährdet. Technologien, ob digital oder konventionell, und über
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 4 geopolitische Rahmenbedingungen durch die America-First- und Innovationen beitragen kann. Im Folgenden werden dazu Strategie und den Brexit die Investitionsneigung eingetrübt, die Potenziale einer strategischen Industriepolitik aufgezeigt, um dürfte diese mit den virusbedingten Gefahren in weiten die notwendigen Prozesse zu initiieren. Ausgangspunkt ist ein Bereichen der Industrie noch weiter abnehmen. Zudem setzt kurzer Blick auf die verschiedenen Ansätze zur Industriepolitik das deutsche Innovationsmodell tendenziell auf inkrementel- und die ausführliche Beschreibung aktueller industriepolitischer le, kleinschrittige Weiterentwicklungen, während die oben Initiativen. Anschließend werden Verknüpfungen zu aktuellen genannten anstehenden Herausforderungen eher den Herausforderungen durch Digitalisierung, Dekarbonisierung Charakter grundlegender Transformationen aufweisen und und Risiken der Globalisierung hergestellt. Darauf aufbauend vielfach mit disruptiven Innovationen einhergehen (müssen). werden Ansätze einer partnerschaftlich organisierten und Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie der Staat strategisch orientierten Industriepolitik aufgezeigt. zur Mobilisierung der dringend notwendigen Investitionen
PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN WISO DISKURS 5 3 EINORDNUNG EINER STRATEGISCHEN INDUSTRIEPOLITIK IN DEN WISSENSCHAFT- LICHEN DISKURS In der Literatur findet sich eine Reihe von Strukturierungsver- aufgrund von Unteilbarkeiten häufig bestimmte Mindestgrößen suchen zu den unterschiedlichen Formen der Industriepolitik von Forschungs- und Produktionsaktivitäten erreicht werden, (Meyer-Stamer 2009; Rehfeld/Dankbaar 2015). Die wohl um technologische Fortschritte zu erzielen. Darüber hinaus grundlegendste Unterscheidung ist die zwischen horizontaler hat die Erzeugung von technologischem Wissen in der Regel und vertikaler Industriepolitik (Rodrik 2014). Unter horizontaler positive externe Effekte. Über Marktanreize allein würde also Politik werden dabei insbesondere allgemeine Rahmenbedin- das technologische Potenzial nicht ausgeschöpft werden. gungen, wie das Rechts- oder Bildungssystem verstanden, Entsprechend sind technologiepolitische Eingriffe des Staates die für die Entwicklung industrieller Strukturen notwendig bei Vorliegen von Spillover-Effekten, Netzwerkexternalitäten sind. Unter vertikaler Politik werden dagegen stärker selektive oder Pfadabhängigkeiten unabdingbar (Mazzucato 2015). Eingriffe in bestimmte Industriebranchen subsumiert. So unstrittig die generelle Notwendigkeit von Technologie Um die unterschiedlichen Politikansätze zu veranschaulichen, politik heute ist, so uneins ist man sich hinsichtlich ihrer hilft ein Blick in die industriepolitische Historie der Bundes- richtigen Ausgestaltung (Belitz/Gornig 2019b). Hierbei lassen republik Deutschland. Nach 1945 setzte die Industriepolitik sich vereinfacht zwei polarisierende Sichtweisen unterscheiden: hierzulande sowohl auf selektive Instrumente wie den Aufbau des VW-Konzerns in Staatsregie als auch auf günstige Rahmen – die liberale, nichtinterventionistische Sicht, die die Fähigkeit setzungen wie die Unterbewertung der D-Mark als generelle des Staates zur Identifizierung von Zukunftstechnologien Exportförderungsstrategie. Diesen Typus nachholender export- und zur Auswahl von förderwürdigen Technologien orientierter Industrialisierung finden wir heute teilweise in bestreitet und die staatliche Aktivität auf Grundlagenfor- China mit seinen Staatskonzernen und Lokal-Content-Forde- schung sowie die Ausformung der wettbewerblichen bzw. rungen. Mit der Ölkrise in den 1970er Jahren änderte sich infrastrukturellen Rahmenbedingungen für neue Technolo- der industriepolitische Fokus in Deutschland. Im Vordergrund gien beschränkt (beispielhaft: SVR 2018); stand der Restrukturierungsbedarf der Industrie. So sollte – – die gestaltende, interventionistische Sicht, die eine neben der Förderung der Kernenergie als Alternative zum Schwerpunktsetzung für unerlässlich hält und dem Staat Öl – insbesondere durch die Subventionierung der Montan- eine aktive Rolle bei der Auswahl und Förderung strate- industrie vermeintlich Zeit für eine Umstrukturierung in gischer Zukunftstechnologien zuschreibt bzw. diese Regionen mit niedergehenden Industrien ermöglicht werden. einfordert (Atkinson 2015). Ähnlich motiviert dürfte heute die Zollpolitik der US-Adminis tration sein, die den Schutz der einheimischen Industrie Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 erlebte die anstrebt. wissenschaftliche Diskussion um die richtige Industriepolitik In den 1980er Jahren orientierte sich die Industriepolitik eine wahre Renaissance (Aghion et al. 2011; Stiglitz et al. in den traditionellen Industrieländern mehr und mehr auf 2013). Arregui Coka et al. (2020) sehen den gegenwärtigen die Förderung des Innovationssystems. Ein Beispiel hierfür ist Wandel der Industriepolitik weltweit im Kontext von Protektio- in Deutschland der Ausbau eines nahezu flächendeckenden nismus und Innovation. Die Industriepolitik müsse eine Grat- Netzes von Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft und von wanderung zwischen dem Schutz und der Förderung legitimer Fachhochschulen. Die aufstrebenden Länder in Südostasien nationaler Eigeninteressen auf der einen sowie der Abwehr wie Südkorea und Taiwan setzten im Kern auf eine Technolo- von wirtschaftlich schädlichem Protektionismus und falschem giep olitik, wenngleich sie sehr viel selektiver auf Hightech- staatlichen Interventionismus auf der anderen Seite vollführen. Industrien ausgerichtet war (Cherif/Hasanov 2019). Für Deutschland fürchten Dohse et al. (2019) einen neuen Der Bedarf an technologiepolitischen Eingriffen leitet sich Trend zur Autarkie unter dem Schlagwort „Technologiesouve- dabei aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht aus unterschied ränität“, der die Wohlstandsvorteile der Globalisierung gefährde. lichen Arten des Marktversagens ab (Fritsch 2018). So müssen Die zurückhaltende Industriepolitik Deutschlands war und sei
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 6 ein großer Erfolg. Die Autoren wenden sich gegen die Sub- (Fagerberg/Hutschenreiter 2020; Lane 2020). Im Vorteil sind vent ionierung nationaler Champions, die dem Mittelstand hier selektive Ansätze einer strategischen Industriepolitik, die knappes Humankapital und Risikokapital entziehen würde. sich auf die Entwicklung konkreter Technologien und deren Andere Wissenschaftler_innen sehen dagegen die Aufgabe Umsetzung im Wertschöpfungsprozess konzentrieren. Ein aktu der Industriepolitik sehr viel strategischer (bspw. Aiginger/ elles Beispiel dafür ist der Aufbau einer Batteriezellenproduk- Rodrik 2020). Industriepolitik geht aus ihrer Sicht weit über tion in Europa (Belitz/Gornig 2020). die Korrektur von Marktversagen hinaus und ist ein Suchprozess Gleichzeitig darf nicht aus den Augen verloren werden, ins Unbekannte, der nicht nur von einem Dialog mit Expert_ dass strategische Industriepolitik nicht nur auf einzelne zentrale innen, Interessengruppen und Bürger_innen profitiert, sondern Missionen (Grand Challenges) ausgerichtet sein kann. Dies auch die Okkupation durch einzelne Interessengruppen und gilt gerade und besonders für Deutschland. Das deutsche In- Populismus vermeiden muss. Zentrales Kennzeichen strategischer novationsmodell ist tendenziell auf inkrementelle, kleinschrittige Industriepolitik ist dabei, dass die Unterstützung des Struktur- Weiterentwicklungen ausgerichtet, während die anstehenden wandels und des Produktivitätswachstums nicht länger ohne Herausforderungen der großen Veränderungen häufig den die Betrachtung der Richtung des technologischen Wandels Charakter grundlegender Transformationen aufweisen und erfolgen kann (Atkinson 2015). So sollte die neue Industrie- vielfach mit disruptiven Innovationen einhergehen (müssen). politik den technologischen Wandel in den Industrieländern Eine strategische Industriepolitik für Deutschland müsste da- in eine umweltfreundlichere Richtung lenken (Aiginger/Rodrik her auch Instrumente zur Unterstützung kleinschrittiger Maß- 2020). Aber auch andere technologische Schwerpunktsetzungen nahmen beinhalten (Löckener/Timmer 2020). Zudem sollte sind denkbar und sinnvoll. eine strategische Industriepolitik neben Elementen der Missi- Noch einen Schritt weiter gehen die Positionen einer onsorientierung stets auch eine themenoffene Herangehens- „neuen Missionsorientierung“ der Industriepolitik (Mazzucato weise enthalten. Die Themenoffenheit hingegen ermöglicht 2013). Unter Missionsorientierung versteht man dabei, dass die bessere Nutzbarmachung des vor Ort in den Betrieben umfangreiche Forschungsprogramme zur Lösung von großen vorhandenen Wissens über chancenreiche Innovationspoten- gesellschaftlichen Problemen aufgesetzt werden. Die For ziale. Missionsorientierte und themenoffene Industriepolitik schungs- und Innovationspolitik in den USA ist traditionell schließen sich also nicht aus, sondern ergänzen sich. missionsorientiert (Ergas 1987), wie etwa das Mondlande Schließlich sollte der Staat mit den Unternehmen nicht projekt anschaulich zeigt. Aber auch die Hightech-Strategie nur das Risiko, sondern auch den Erfolg von Innovationen zur Deutschlands verfolgt seit 2006 das Paradigma der „Missi- Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen teilen (Belitz/ onsorientierung“ (Dachs et al. 2015). Mazzucato (2013) for- Gornig 2019b). Entsprechend sind in einem Konzept einer dert bei der neuen Missionsorientierung darüber hinaus, die strategischen Industriepolitik auch Verfahren zu integrieren, Innovationspolitik des Staates generell an gesellschaftlichen wie der Staat wenigstens eine gewisse Rendite für seine risi- Zielen zu orientieren und dabei Missionen zu verfolgen, koreichen Investitionen in neue Technologien einfahren kann, anstatt einzelne Sektoren, Unternehmen oder Technologien um die unvermeidlichen Verluste auszugleichen: Kapitalbe- zu fördern. Der neue missionsorientierte Ansatz soll sowohl teiligung, Bedingungen für Reinvestitionen, Deckelung von Märkte schaffen und gestalten als auch Marktversagen Preisen oder dadurch, Patente so eng wie möglich zu halten beheben. Ausgangspunkt sind die großen gesellschaftlichen (Mazzucato 2019). Herausforderungen, die komplex und systemisch, miteinander verbunden und dringlich sind. Sie erfordern Einblicke und Erkenntnisse aus vielen verschiedenen Perspektiven. Indem sie sich auf Probleme konzentriert, die sektorübergreifende Lösungen erfordern, erfindet eine missionsorientierte Indus- triestrategie die vertikale Dimension der Industriepolitik neu. Sie macht sie aber auch komplexer und anfälliger für Politik- und Staatsversagen. Schlüsselelemente von missionsorientierter Politik sind: koordinierte öffentliche Investitionen und eine marktgestal- tende Politik, um Experimente und Innovationen zu unters tützen (Kattel/Mazzucato 2018). Dabei sollte der Staat auch die Nachf rage stimulieren und so Erwartungen der Unternehmen über zukünftige Wachstumschancen verbessern (Ryan-Collins et al. 2020). Ein so umfassendes Politikkonzept wie eine integrierte missionsorientierte Innovations-, Investitions- und Industrie- politik erfordert einen enormen Koordinationsaufwand. Leidvolle Erfahrungen musste hier beispielsweise Frankreich in den 1960er Jahren mit dem Modell der „Planification“ machen. Aber auch aktuell sind die systemischen Anforde- r ungen an eine an gesellschaftlichen Missionen orientierte politikfeldübergreifende Industrie- und Innovationspolitik angesichts der Komplexität von Innovationsprozessen enorm
PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN WISO DISKURS 7 4 STRATEGISCHE INDUSTRIE- UND TECHNOLOGIEPOLITISCHE INITIATIVEN In diesem Abschnitt konzentrieren wir uns auf aktuelle indus SÄULE 2 DER INDUSTRIESTRATEGIE: triepolitische Maßnahmen, die Deutschland, die EU, die USA, NEUE TECHNOLOGIEN STÄRKEN UND das Vereinigte Königreich und China in der Entwicklung von PRIVATES KAPITAL MOBILISIEREN neuen Technologien zur Lösung von zentralen gesellschaft lichen Herausforderungen und zu ihrer Umsetzung in Investitio- Das BMWi benennt sogenannte Game-Changer-Technologien, nen in den vergangenen Jahren ergriffen haben oder planen. die „die Karten im globalen Wirtschaftsgeschehen neu mischen“. Deutschland muss als Mitglied der EU seine Industriepolitik Aktuell sind das aus Sicht des BMWi etwa die Künstliche In- mit der Europäischen Kommission abstimmen. Die USA und telligenz (KI), Industrie 4.0., die Bio- und Nanotechnologien, China sind wichtige globale Wettbewerber, die eigene geo- der Leichtbau oder die neuen Werkstoffe. Für die deutsche und sicherheitspolitische Interessen verfolgen. Das Vereinigte und die europäische Wirtschaft müsse es das Ziel sein, nicht Königreich verfolgt nach einer Phase der Deindustrialisierung nur Leitmarkt, sondern auch Leitanbieter dieser Technologien in den zurückliegenden Jahren wieder eine Politik der Stär- zu sein. kung der Industrie und bereitet sich auf den Austritt aus der Mit einem „Zukunftsfonds Deutschland“ mit einem EU vor. Zudem sind die betrachteten Länder und Regionen Volumen von 10 Milliarden Euro sollen insbesondere Finan- mit Deutschland über den Handel und die Präsenz multinatio- zierungsmöglichkeiten von Game-Changer-Technologien naler Unternehmen eng wirtschaftlich verflochten. verbessert werden. Grundsätzlich ist der Zukunftsfonds aber technologieoffen angelegt. Er soll unter anderem deutschen Kapitalsammelstellen einen Anreiz geben, in Wagniskapital 4.1 DEUTSCHLAND zu investieren. Es wird sowohl eine Direktförderung als auch ein umfangreicher Beteiligungsfonds angestrebt.1 Das INDUSTRIESTRATEGIE 2030 staatliche Engagement im Rahmen des „Zukunftsfonds“ geht deutlich über den Rahmen der bestehenden Wagniskapital Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) förderung hinaus und soll damit auch große Investitionen in veröffentlichte nach einer intensiven Diskussionsphase im Zukunftstechnologien ermöglichen. Das Modell bietet auch November 2019 eine Industriestrategie 2030 mit der Unter Erweiterungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene, etwa überschrift „Leitlinien für eine deutsche und europäische durch die Einbindung der Europäischen Investitionsbank Industriepolitik“ (BMWi 2019). Ihr Ziel ist es, gemeinsam mit (BMWi 2019a). den Akteur_innen der Wirtschaft einen Beitrag zu leisten Im Rahmen der Säule 2 wird auch die Hightech-Strategie zur Sicherung und Wiedererlangung von wirtschaftlicher und 2025 für Forschung und Innovationen genannt. Die bereits technologischer Kompetenz, Wettbewerbsfähigkeit und In- im Jahr 2006 initiierte Hightech-Strategie dient der Verbes- dustrieführerschaft auf nationaler, europäischer und globaler serung des Innovationssystems als Voraussetzung sowohl für Ebene in möglichst vielen Bereichen. die Stärkung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit als Die Strategie enthält drei Säulen. Neben der Verbesserung auch für die Fähigkeit, gesellschaftliche Herausforderungen der Rahmenbedingungen für den Industriestandort Deutsch- zu bewältigen. Somit besteht eine hohe Überschneidung mit land (Säule 1) sollen in Säule 2 neue Technologien gestärkt industriepolitischen Zielsetzungen (Dachs et al. 2015). Die und privates Kapital mobilisiert werden. Säule 3 bezieht sich auf die Wahrung der technologischen Souveränität. 1 Der Präsidial- und Nominierungsausschuss des KfW-Verwaltungsrates hat am 1.4.2020 auf der Grundlage von Eckpunkten, die von einer intermi- nisteriellen Facharbeitsgruppe zusammen mit der KfW erarbeitet wurden, die KfW beauftragt, ein detailliertes Realisierungskonzept zu entwickeln (Deutscher Bundestag 2020).
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 8 Hightech-Strategie verfolgt das Paradigma der „neuen Missi- Fördermaßnahmen konzentrieren. Zu den Anwendungsberei- onsorientierung“. Im Unterschied zur „klassischen Missions- chen gehören etwa Mobilität der Zukunft, CO2-arme Indus orientierung“, die Ziele und technologische Entwicklungen trieproduktion, Bioökonomie und Leichtbau. definiert, mit denen sie erreicht werden sollen (beispielsweise Im Themenfeld der Digitalisierung hebt die Bundesregie- bei der Entwicklung von Atomkraft und Raumfahrt), bezieht rung die enormen wirtschaftlichen Potenziale von KI und sich die Förderung nun stärker auf Beiträge zu Problemlösun- Industrie 4.0 hervor. Mit der im Jahr 2018 verkündeten gen für gesellschaftliche Herausforderungen (Klimawandel, KI-Strategie der Bundesregierung sollen Unternehmen dabei demografischer Wandel, Sicherheit), ohne dabei förderungs- unterstützt werden, dieses Potenzial optimal auszuschöpfen würdige Technologien apriori festzulegen. (siehe Bundesregierung o. J.). Die KI-Strategie ist auch ein Dennoch wird der größte Teil der Mittel in der Hightech- Element der im November 2018 beschlossenen Umsetzungs- Strategie nach wie vor für klassische thematisch fokussierte strategie der Bundesregierung zur Digitalisierung (Bundesre- Förderungen kooperativer Forschungsprojekte aufgewendet, gierung 2020a). Diese Digitalisierungsstrategie erstreckt sich die überwiegend in offenen Wettbewerben vergeben werden über fünf Handlungsfelder, die von der Förderung digitaler (Dachs et al. 2015). Immer wieder gab es auch Kritik an der Kompetenzen über die Digitalisierung der Verwaltung bis hin technologischen Schwerpunktsetzung der FuE-Förderung, zur Förderung der digitalen Infrastruktur reichen. Für die In- z. B. von der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) dustrie relevant ist vor allem das Handlungsfeld Innovation und am zu geringen Zuwachs bei der Gewährung von Fördermit- digitale Transformation, mit dem auch die branchenübergrei- teln zur Digitalisierung (EFI 2017). Die Bewertungsmaßstä- fende Förderung der Industrie 4.0 vorangebracht werden soll. be, welche Themen und Technologien schwerpunktmäßig Im Bereich „Mobilität der Zukunft“ ist die Batteriezell gefördert werden, sind dabei nicht immer transparent und fertigung ein Schwerpunktthema der Industriestrategie. Das nachvollziehbar. Festzuhalten bleibt, dass auch die neue BMWi wird mehr als 1 Milliarde Euro für mehrere innovative missionsorientierte Politik mit ihrer größeren Technologieof- Vorhaben in diesem Bereich zur Verfügung stellen, u. a. für fenheit und Orientierung auf Bedarfsfelder letztlich immer die europäischen IPCEI-Vorhaben (siehe auch 3.2). Das BMWi wieder Richtungsentscheidungen fällen und technologische unterstützt gemeinsam mit dem BMBF ab dem Jahr 2020 Prioritäten setzen muss. Die Frage nach der Art und Weise, den Aufbau eines innovationsbasierten, umfassenden „Wert- wie solche Prioritäten festgelegt werden, ist aus ökonomischer schöpfungsverbundes Batterie“ in Deutschland und Europa – Sicht zweifellos die größte Herausforderung für die missions- von der Rohstoff- und Materialproduktion über den Maschinen- orientierte Technologiepolitik. und Anlagenbau bis hin zur Zellproduktion und dem Recycling. Eng vernetzt damit ist die Förderung einer Forschungsfabrik AGENTUR FÜR SPRUNGINNOVATIONEN (SPRIND) im Umfang von 500 Millionen Euro des BMBF (BMWi 2019). Als Bestandteil der Säule 2 wird auch die bereits 2019 ge- NATIONALE WASSERSTOFFSTRATEGIE (NWS) gründete „Agentur zur Förderung von Sprunginnovationen“ (SpringD) erwähnt. Vorbilder sind u. a. die US-amerikanischen Eine umfassende und differenziert ausgearbeitete industrie Agenturen DARPA (Defense Advanced Research Projects Agen- politische Strategie ist die in der Industriestrategie 2030 cy) des Verteidigungsministeriums und ARPA-E (Advanced Re- vom November 2019 angekündigte und im Juni 2020 verab- search Projects Agency–Energy) (siehe auch Abschnitt 3.3). schiedete Nationale Wasserstoffstrategie (Bundesregierung Erstes Ziel der Agentur SprinD ist die Identifikation und Förde- 2020b). Damit schafft die Bundesregierung einen kohärenten rung von Forschungsideen mit Sprunginnovationspotenzial. Handlungsrahmen für die künftige Erzeugung, den Transport, Auch in dieser zunächst technologieoffenen Maßnahme müssen die Nutzung und Weiterverwendung von Wasserstoff und also recht bald Entscheidungen über technologische Prioritäten damit für entsprechende Innovationen und Investitionen. gefällt werden. Dazu werden Ideenwettbewerbe für Spitzen- Wasserstoff hat eine zentrale Rolle bei der Weiterentwick- projekte durchgeführt, die auf die Überführung von Ideen aus lung und Vollendung der Energiewende, denn zu den derzeit FuE in die Anwendung zielen und eine Laufzeit von drei bis noch eingesetzten fossilen Energieträgern sind alternative sechs Jahren haben sollen (BMBF 2018). Mit den ersten drei Optionen erforderlich. Damit Wasserstoff wirtschaftlich wird, Innovationswettbewerben zu den Themen Energieeffizientes sollen die Kostendegressionen bei Wasserstofftechnologi- KI-System, Organersatz aus dem Labor und Weltspeicher testet en vorangebracht werden. Dazu sollen der technologische das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) das Fortschritt und Skaleneffekte vorangetrieben werden. Ein neue Instrument zur Förderung von Sprunginnovationen. besonderer Fokus liegt dabei auf Bereichen, die schon jetzt Die Agentur für Sprunginnovationen soll Innovationen, nahe an der Wirtschaftlichkeit sind und bei denen größere die technologisch radikal neu sind und ein hohes Game- Pfadabhängigkeiten vermieden werden oder die sich nicht Changer-Potenzial haben, zum Durchbruch verhelfen. Vor allem anders dekarbonisieren lassen, etwa zur Vermeidung von sollen disruptive Innovationen häufiger in Deutschland ver- Prozessemissionen in der Stahl- und Chemieindustrie oder in wertet und auf den Markt gebracht werden. bestimmten Bereichen des Verkehrs. Die Bundesregierung möchte mit dem Aktionsplan zur TECHNOLOGIEN UND ANWENDUNGSBEREICHE NWS die Grundlagen für private Investitionen in die wirt- IN DER INDUSTRIESTRATEGIE 2030 schaftliche und nachhaltige Erzeugung, den Transport und die Nutzung von Wasserstoff legen. Durch insgesamt 38 In der Industriestrategie werden sowohl Anwendungsbereiche staatliche Maßnahmen soll bis 2023 der Markthochlauf der umrissen als auch einige Technologien genannt, auf die sich Wasserstofftechnologie erfolgen und sollen die Grundlagen für
PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN WISO DISKURS 9 einen funktionierenden Heimatmarkt angestoßen werden. Weiterentwicklung des Aktionsplans hinwirken. In der NWS Die Maßnahmen liegen in der Verantwortung der jeweils ist somit von vornherein der Gedanke der fortlaufenden zuständigen Ressorts und werden von diesen im Rahmen Weiterentwicklung verankert (BMWi 2020b). der geltenden Haushalts- und Finanzplanansätze finanziert (Bundesregierung 2020b). SÄULE 3 DER INDUSTRIESTRATEGIE: WAHRUNG Beispielhaft seien hier folgende Maßnahmen zur Förde- DER TECHNOLOGISCHEN SOUVERÄNITÄT rung von FuE, Innovation und Investitionen im Bereich der Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie genannt: In ihrer Industriestrategie sieht die Bundesregierung einen erhöhten Prüfbedarf, wenn Drittstaateninvestoren kritische – Die Fortsetzung der Fördermaßnahmen im Rahmen des Infrastrukturen oder wehrtechnische Unternehmen überneh- Nationalen Innovationsprogramms Wasserstoff- und men wollen. Dies gilt auch in Fällen, in denen die Freiheit des Brennstoffzellentechnologie (NIP). Aus dem Energie- und internationalen Kapitalverkehrs in Deutschland von Unter- Klimafonds (EKF) 2 stehen zusätzliche Mittel für die Was- nehmen aus Drittstaaten dazu genutzt wird, Strategien zu serstoff- und Brennstoffzellentechnologie bis 2023 zur verfolgen, die die technologische Souveränität Deutschlands Verfügung. oder Europas gefährden können. Dies gilt insbesondere im – Zur Entwicklung und Förderung von Anlagen zur Erzeu- Bereich sensibler Technologien, zum Beispiel Dual-Use-Tech- gung strombasierter Kraftstoffe, insbesondere von strom- nologien. Know-how-Verluste sollen vermieden werden, und basiertem Kerosin, und fortschrittlicher Biokraftstoffe die Selbstbestimmung in zentralen technologischen Feldern stehen bis 2023 1,1 Milliarden Euro im EKF zur Verfügung. soll erhalten bleiben. Im Einzelfall kann bei sensiblen oder – Der Aufbau einer bedarfsgerechten Tankinfrastruktur zur sicherheitsrelevanten Technologien über die KfW eine befris- Versorgung der Fahrzeuge auch im schweren Straßengüter- tete staatliche Beteiligung an Unternehmen realisiert werden verkehr, im ÖPNV und im Schienenpersonennahverkehr wird („Nationale Rückgriffsoption“). Dazu sollen Strukturen geschaf- gefördert. Der EKF enthält hierfür über alle alternativen fen werden, mit denen die notwendigen Entscheidungen Technologien bis 2023 3,4 Milliarden Euro als Zuschüsse rascher und effizienter als bislang getroffen werden können. zur Errichtung von Tank- und Ladeinfrastruktur. – Unterstützung des Aufbaus einer wettbewerbsfähigen Zulieferindustrie für Brennstoffzellensysteme (Brennstoff- 4.2 EUROPÄISCHE KOMMISSION zellen und Komponenten für Brennstoffzellensysteme) einschließlich Schaffung einer industriellen Basis für eine Im März 2020 hat die EU-Kommission eine neue Industrie- großskalige Brennstoffzellen-Stack-Produktion für Fahr- strategie für Europa veröffentlicht. Sie markiert den Beginn zeuganwendungen. einer neuen industriepolitischen Etappe, ist aber bisher in – Prüfung des Aufbaus eines Technologie- und Innovations weiten Teilen noch eine Absichtserklärung, und es muss sich zentrums für Wasserstofftechnologien zur Ermöglichung zeigen, wie die ambitionierte Strategie umgesetzt wird. von Fahrzeugplattformen für Brennstoffzellenantriebe sowie In der Industriestrategie werden drei Triebkräfte für die die Unterstützung des Aufbaus eines deutschen Brenn- Transformation der Industrie gesehen: stoffzellensystemanbieters für die Logistik/Intralogistik. – der ökologische Wandel; Bis zum Jahr 2030 will das BMWi insgesamt 7 Milliarden Euro – der digitale Wandel; für den Markthochlauf von Wasserstofftechnologien in – die globale Wettbewerbsfähigkeit. Deutschland und zusätzlich noch einmal 2 Milliarden Euro für internationale Partnerschaften bereitstellen (Altmeier 2020). Die Transformationen werden neue Technologien erfordern und damit auch die entsprechenden Investitionen und Inno- GOVERNANCE UND MONITORING DER NWS vationen (EU-Kommission 2020a). Betont wird auch, dass Europa bei der Aufstockung der Investitionen in disruptive Um der Unsicherheit bei langen Vorhaben entgegenzuwirken, und bahnbrechende Forschung und Innovation hin und wie- soll die NWS regelmäßig in einem Drei-Jahres-Turnus aktua der Rückschläge in Kauf nehmen muss. lisiert und gegebenenfalls angepasst werden. Grundlage Ein wichtiges Feld der europäischen Industriestrategie ist wird ein Monitoringverfahren sein, das Marktentwicklungen die Modernisierung und Dekarbonisierung energieintensiver spiegeln und bei Bedarf ein Nachsteuern anstoßen soll. Neben Industrien. So wird die Kommission beispielsweise bahnbre- einem Ausschuss der Staatssekretäre, einer Bund-Länder- chende Technologien unterstützen, die zu einer CO2-freien Plattform und einer Leitstelle Wasserstoff wird auch ein Stahlerzeugung führen. Der Innovationsfonds des Emissions- Wasserstoffrat aus ausgewiesenen Expert_innen gegründet. handelssystems der EU soll dazu beitragen, weitere groß an- All diese Instanzen werden eng miteinander auf die gelegte innovative Projekte zur Förderung sauberer Produkte in allen energieintensiven Sektoren durchzuführen. 2 Zur Umsetzung der Energiewende können Gelder aus dem 2011 ein- Die EU-Kommission will zusätzlich zu den horizontalen gerichteten Energie- und Klimafonds (EKF) genutzt werden. Grundlage des und für spezifische Technologien entworfenen Maßnahmen EKF ist das Gesetz zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und die Risiken und Bedürfnisse verschiedener industrieller Öko Klimafonds“. Der EKF ist ein sogenanntes Sondervermögen und finanziert systeme systematisch analysieren. Bei dieser Analyse wird sich, neben den Bundeszuschüssen, aus den Erlösen des europäischen Emissionshandels. Im Jahr 2019 wurden 4,5 Milliarden Euro für soge- die Kommission eng mit einem Industrieforum zusammen nannte Programmausgaben bereitgestellt (BMWi 2020a). arbeiten, das bis September 2020 eingerichtet werden soll.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 10 Es wird sich aus Vertreter_innen der Industrie, darunter kleine WICHTIGE PROJEKTE VON GEMEINSAMEM und mittlere Unternehmen (KMU), Großunternehmen, von EUROPÄISCHEN INTERESSE – IPCEI Sozialpartnern und Wissenschaftler_innen sowie der Mit- gliedstaaten und der EU-Institutionen zusammensetzen. Insbesondere im Fall von Marktversagen bei der großflächigen Auf den jährlich veranstalteten Industrietagen der Kommission Einführung innovativer Technologien müssen grenzüber- werden weiterhin alle Akteur_innen zusammenkommen greifend private Investitionen und öffentliche Mittel entlang (EU-Kommission 2020b). wichtiger Wertschöpfungsketten mobilisiert werden. Um dies 2021 soll ein Europäischer Innovationsrat (European zu erreichen, wurden von der Europäischen Kommission die Innovation Council – EIC) seine Arbeiten aufnehmen. Er schon erwähnten Important Projects of Common European wird Technologien der nächsten Generation ermitteln, Interest (IPCEI) definiert (EU-Kommission 2020a). Im Rahmen ihre gewerbliche Nutzung beschleunigen und dafür sorgen, dieses neuen Instruments hat die EU-Kommission erst im dass sie zur raschen Expansion von Start-up-Unternehmen Dezember 2019 3,2 Milliarden Euro für eine paneuropäische beitragen (EU-Kommission 2020b). Der EIC fasst die wich- IPCEI-Initiative zur Batteriezellfertigung bewilligt. Damit soll tigsten EU-Instrumente unter einem Dach zusammen. Da- der Aufbau einer strategischen Batterie-Wertschöpfungskette mit beabsichtigt die Europäische Kommission, dass Innova unterstützt werden, die von der Gewinnung der Rohstoffe tion en schneller auf den Markt gelangen und dadurch auch über die Entwicklung innovativer Batteriezellen und -systeme Wachstum und Beschäftigung geschaffen werden (siehe bis zum Recycling der Materialien reicht. Aus Deutschland auch BMWi 2020c). sind BMW, BASF und Varta beteiligt. Aufbauend auf der erfolgreichen Blaupause der Industrie- NEUE WEGE ZUR MOBILISIERUNG allianzen soll auch eine neue europäische Allianz für sauberen PRIVATER INVESTITIONEN Wasserstoff gegründet werden. Allianzen in den Bereichen CO2-arme Industrie, Industrie-Clouds 4 und -Plattformen sowie Die EU-Kommission möchte in einer Zeit, in der die öffent Rohstoffe sollten zu gegebener Zeit folgen (EU-Kommission lichen Haushalte unter Druck stehen, neue Wege zur Mobili 2020a). sierung privater Investitionen erschließen. Hierfür sind InvestEU Mit solchen Innovationsvorhaben treffen die EU-Kommis- und der Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal sion und die beteiligten Staaten Richtungsentscheidungen aufgelegt worden. und setzen technologische Prioritäten. Sie gehen dabei eben- Das Programm InvestEU umfasst einen Fonds, eine Bera so wie die privaten Unternehmen hohe technologische und tungsplattform und ein Portal mit demselben Namen. Mit ei- finanzielle Risiken ein. Wichtig ist, dass die Bewertungsmaß- ner Laufzeit von 2021 bis 2027 baut InvestEU auf dem Erfolg stäbe für die Auswahl der Vorhaben möglichst transparent des Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) und nachvollziehbar sind. Um für eine Förderung im Rahmen des Juncker-Plans auf. 3 Mit Blick auf aktuelle Herausforderun- von IPCEI in Betracht zu kommen, muss ein Projekt (1) einen gen hat die EU-Kommission im Frühjahr 2020 ihren ursprüng- Beitrag zu den strategischen Zielen der EU leisten, (2) mehre- lichen InvestEU-Vorschlag erweitert, um besser auf die Wirt- re Mitgliedstaaten betreffen (mindestens zwei müssen betei- schaftskrise reagieren zu können. Der neue Vorschlag sieht ligt sein), (3) private Finanzierungen durch die Begünstigten vor, die Finanzausstattung für den Politikbereich „Nachhaltige einbeziehen, (4) positive Spillover-Effekte in der gesamten EU Infrastruktur“ auf 20 Milliarden Euro zu verdoppeln und einen erzielen, mit denen mögliche Wettbewerbsverzerrungen be- neuen Politikbereich „Strategische europäische Investitionen“ grenzt werden, und (5) äußerst ehrgeizig unter dem Aspekt mit 31 Milliarden Euro hinzuzufügen, um die strategische der Forschung und Innovation gestaltet sein. Autonomie in Schlüsselsektoren zu fördern und zu sichern. Im Rahmen von IPCEI wurde versucht, auch den beihilfe- Der Fonds InvestEU wird durch eine EU-Haushaltsgarantie in und wettbewerbsrechtlichen Bedenken entgegenzutreten. Höhe von insgesamt 75 Milliarden Euro Investitionsprojekte So sollen die Ergebnisse der Vorhaben der Batteriezellenför- der Europäischen Investitionsbank (EIB-Gruppe) und anderer derung auch der europäischen Wissenschaftsgemeinschaft Finanzpartner besichern, wodurch sich deren Risikotragfä- zur Verfügung stehen und an Unternehmen weitergegeben higkeit erhöht. Der Schwerpunkt des neuen Politikbereichs werden, die nicht an den Vorhaben beteiligt sind. Auf einer „Strategische europäische Investitionen“ liegt auf dem jährlichen öffentlichen Konferenz werden die Ergebnisse vor- Aufbau stärkerer europäischer Wertschöpfungsketten sowie gestellt. Das Vorhaben wird von einem Leitungsgremium über- auf der Unterstützung von Tätigkeiten im Bereich kritischer wacht, dem Vertreter_innen der EU-Kommission, der teilneh- Infrastrukturen und Technologien (Europäische Kommission menden Mitgliedstaaten und der am Projekt teilnehmenden 2020d). Unternehmen angehören. Ferner soll ein beträchtlicher Teil Die Industriestrategie sieht vor, dass die Entwicklung der der zusätzlichen Gewinne der teilnehmenden Unternehmen Technologien auch durch öffentlich-private Partnerschaften über einen Rückforderungsmechanismus den Steuerzah- vorangetrieben werden soll – wie etwa im Rahmen von In- ler_innen wieder zugutekommen. Das Instrument soll auf dustrieallianzen (z. B. die 2017 geschaffene europäische Bat- Grundlage der bisherigen Erfahrungen weiter optimiert und terieallianz und die Mikroelektronikallianz aus Mitgliedstaaten die IPCEI-Mitteilung angepasst werden (BMWi 2019a). und der Industrie) bereits erfolgreich geschehen, die in die sogenannte IPCEI gemündet sind. 3 Stand Juli 2020 wurden durch EFSI 515 Milliarden Euro zusätzliche 4 So soll auch für das europäische Cloud-Projekt GAIA-X das IPCEI-Instru- Investitionen ausgelöst (siehe EU-Kommission 2020c). ment genutzt werden.
PRIORITÄTEN SETZEN, RESSOURCEN BÜNDELN, WANDEL BESCHLEUNIGEN WISO DISKURS 11 STÄRKUNG DER INDUSTRIELLEN UND 4.3 USA STRATEGISCHEN AUTONOMIE EUROPAS Die USA verfolgen nicht ausdrücklich eine Industriestrategie, Um die strategische Autonomie Europas zu stärken, müssen sie nutzen aber schon lange Instrumente zur Förderung von aus Sicht der EU-Kommission auch Abhängigkeiten von neuen Technologien und ihrer Einführung in die Produktion anderen Ländern in Bereichen wie kritische Rohstoffe und und den Markt. Zudem gelten die USA als Musterland mis- Technologien, Lebensmittel, Infrastruktur, Sicherheit sowie sionsorientierter Forschungs- und Technologiepolitik (Ergas andere strategische Sektoren verringert werden. 1987). Insofern sind die USA ein Paradox: Während die Politik Auch mit ausländischen Investitionen können Risiken öffentlich eine marktfundamentalistische Haltung vertritt, verbunden sein, und Europa will in diesem Bereich strategi- unternimmt sie industriepolitische Maßnahmen, etwa zur För- scher vorgehen. Ab Oktober 2020 soll der uneingeschränkt derung grundlegender technologischer Innovationen („general anwendbare Rahmen für die Überprüfung ausländischer purpose technologies“) (Wade 2014). Die weit verbreitete An- Direktinvestitionen dafür sorgen, dass Europas Interessen im sicht, freie Märkte, Eigentumsrechte und der Unternehmergeist Hinblick auf die Sicherheit und öffentliche Ordnung geschützt seien die Garantie für den Erfolg der USA, ist nach Ansicht von sind. So hängt die Sicherheit Europas und seine technologi- Robert Atkinson ahistorisch und naiv. Staatliche Förderung sche Souveränität unter anderem von strategischen digitalen von FuE, steuerliche Förderung, Initiativen zur Entwicklung Infrastrukturen ab. Die Kommission hat daher in den Berei- von Technologien für die Verteidigung u. a. spielen seit Langem chen 5G und Cybersicherheit Maßnahmen ergriffen und wird eine Schlüsselrolle in der US-Technologiepolitik (Atkinson eine kritische Infrastruktur für die Quantenkommunikation 2020). Bei Abwesenheit einer formalen Industriepolitik unter entwickeln. stützen die USA die Industrie indirekt und mit minimaler Zudem wird der Europäische Verteidigungsfonds EU-weit Koordination. Es gibt eine De-facto-Industriepolitik, deren zum Aufbau einer integrierten industriellen Basis im Ver Konturen und Mechanismen kaum hinterfragt werden (Clark/ teidigungsbereich beitragen. Er wird entlang der gesamten Doussard 2019). Wertschöpfungskette der europäischen Verteidigungsindustrie Mazzucato (2013) hat den direkten Beitrag von staatlichen investieren, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit Programmen in den USA zu Innovationen untersucht, die erleichtern und offene und dynamische Lieferketten unter- allgemein als Resultat privater unternehmerischer Investi- stützen. Darüber hinaus wird der Fonds disruptive Technologien tionen angesehen werden. Zum Beispiel zeigt sie, dass viele fördern und auf diese Weise es Unternehmen ermöglichen, Komponenten des iPhone von Apple einschließlich seiner ein höheres Risiko einzugehen. Touchscreen-Technologie ursprünglich dank staatlicher Sub- ventionen und insbesondere von Programmen des US-Ver- KRITIK AUS DEUTSCHLAND teidigungsministeriums entwickelt wurden. Gleiches gilt für die Schlüsselinnovationen Internet und Computer. Singer Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) kritisiert, beschreibt 22 Fällen von wichtigen technologischen Innova- dass die neue europäische Strategie Züge einer paternalisti- tionen, die ihre Ursprünge in staatlich geförderten FuE-Pro- schen Industriepolitik enthalte. Sie wolle „Ziele, Tempo und jekten in den USA haben, so etwa die Google-Suchmaschine, Marschrichtung für die kommenden Jahre“ vorgeben, betone das Human Genome Projekt, das MRT und laktosefreie Milch die Rolle von Wettbewerb und Markt jedoch nur rudimentär. (Singer 2014). Die Kommission verenge die vielfältigen Herausforderungen weitgehend auf den ökologischen und digitalen Wandel. ADVANCED RESEARCH PROJECTS AGENCY Ungeachtet der aktuellen Covid-19-Krise, deren Ausmaß zum (ARPA) Zeitpunkt der Veröffentlichung der Strategie noch nicht absehbar war, stellen jedoch auch andere Megatrends wie Zu den wichtigsten Institutionen zur Entwicklung und die veränderten Rahmenbedingungen der Globalisierung, der Kommerzialisierung von Forschungsergebnissen gehören die demografische Wandel oder zunehmende Sicherheitsrisiken Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) des Herausforderungen für Wirtschaft und Gesellschaft dar und Verteidigungsministeriums (gegründet 1958), die Advanced müssen auf dem industriepolitischen Radar bleiben (BDI 2020). Research Projects Agency–Energy (ARPA-E) des Energiemi- Dem DGB fehlen vor allem noch konkrete Aussagen zur nisteriums (gegründet 2009) und die Intelligence Advanced Finanzierung. Es reiche nicht, auf private Beteiligung (etwa Research Projects Agency (IARPA des Office of the Director of über ÖPP) zu hoffen oder Mittel aus den Strukturfonds in National Intelligence; gegründet 2007) sowie das „Manufac- industriepolitische Projekte umzuleiten. Vielmehr müsse der turing USA Network“. Haushalt kräftig aufgestockt werden. Wenn nur Mittel aus Die drei ARPA-Agenturen haben ambitionierte Modelle zur bestehenden Fonds umgeschichtet werden, ergibt sich in Organisation von Innovationen und sind öffentliche Intermediä- der Summe nicht der notwendige zusätzliche Impuls. Der re zwischen Wissenschaft und Industrie, die eine missionsori- Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert die dauerhafte entierte risiko- und aussichtsreiche Forschung für technologi- Lockerung der Verschuldungsregeln, damit Mitgliedstaaten sche Durchbrüche verfolgen. Sie unterstützen aktiv auch die aktive Industriepolitik betreiben können (DGB 2020a). Weiterentwicklung und Einführung von neuen Technologien in ihren Missionsfeldern (Bonvillian 2018).
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