Sind Städte Klimapioniere? - Leibniz-Institut für Raumbezogene ...
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No 97 | Dezember 2021 I RS AKTUELL Magazin für Raumbezogene Sozialforschung Sind Städte Klimapioniere? _Städte als Handelnde der Klimapolitik _Klima-Governance: Über das Zusammenspiel der Ebenen _Verkehrswende in Kernstadt und Suburbia _Interview: Planungskonflikte um Investitionsprojekte
In dieser Ausgabe Nachrichten aus dem Institut 30 Abschluss des Forschungsprogramms mit internationaler Konferenz zu Digitalisierung und Raumentwicklung 31 Workshop diskutiert Rolle von digita- len Plattformen in der regionalen Ent- wicklung 4 12 32 Abschlusstagung „Die große Kraft des Städtische Klimapolitik Klimapolitische Kollektivs. Kollaboratives Arbeiten in zwischen alten Industrien Steuerung: (Nicht nur) der Architektur vom 20. Jahrhundert und neuen auf die Bundesländer bis in die Gegenwart“ Allianzen kommt es an 33 Besser lernen in Krisen: Konferenz und Publikationen zur Krisenforschung 34 IRS an neuem Zertifikatsstudiengang „Transferscout*in“ beteiligt 35 Neuer Leibniz-Forschungsverbund „Wert der Vergangenheit“ 36 „Wissenschaft muss ein eigener Freiraum bleiben!“ Alumni-Interview mit Thorsten Heimann 18 22 38 Neues DFG-Projekt zur räumlichen Verkehrswende Interview mit Ausbreitung der COVID-19-Pandemie in Suburbia? Eva Eichenauer und 38 Virtueller Besuch aus dem Brandenbur- Manfred Kühn: ger Wissenschaftsministerium im IRS „Es geht um Macht- 39 Einführungswoche des konflikte, nicht um EU-Ausbildungsnetzwerks „Coral“ Stadt-Land-Konflikte“ 40 IRS beim Langen Tag der Stadtnatur 41 51. Brandenburger Regionalgespräch „Raus aufs Land – Leben und Arbeiten im digitalen Wandel“ 42 Historische Forschungsstelle arbeitet Geschichte des Flughafenstandorts Berlin Schönefeld zur Zeit des Nationalsozialismus auf 42 „Internal Migration Industries“: Neuer Artikel zur Wohnraumvermitt- lung an Geflüchtete 43 SFB „Re-Figuration von Räumen“: Visuelles Lesebuch „Räume in Veränderung“ erschienen 44 Neues Schwerpunktheft in PLANERIN: „Endlich ländlich. Kleinstädte und Dörfer lebendig gestalten“ 44 Wanderausstellung „Stadtwende“ startet im Stadtmuseum Brandenburg an der Havel 45 IRS-Betriebsausflug zur Baustelle der Tesla-Gigafactory 46 Personalien 48 Fundstück: Ein Wimpel aus Nordkorea 2 IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021
Liebe Leserinnen und Leser von IRS aktuell, von Ende Oktober bis Mitte November tagten Regierungen und andere Organisatio- nen beim „COP26“-Gipfel in Glasgow, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens nun endlich in konkrete Maßnahmen zu übersetzen und so den Klimawandel zumindest zu begrenzen. Bereits früh zeigte sich dabei, dass die versammelten Regierungsche- finnen und -chefs auch dieses Mal nicht über ihre Schatten springen würden. Sind die Nationalstaaten womöglich überfordert mit einer globalen Steuerungsaufgabe dieser Größe? Wenn ja, wer könnte in die Lücke vorstoßen? Unternehmen? Die Zivilgesell- schaft? Netzwerke von Regionen? In dieser Ausgabe widmen wir uns den Städten und ihrer – möglichen – Rolle als Vorrei- ter der Klimapolitik. Bereits seit Längerem forscht das IRS zu den räumlichen Dimen- sionen der Energiewende. Neu hinzu kam vor drei Jahren die Frage nach klimapoliti- schen Ansätzen in Städten, in Deutschland wie auch im europäischen Rahmen. In den Titelbeiträgen dieses Hefts fragen wir, welche Städte tatsächlich klimapolitisch aktiv werden, wie sie das tun, welche historischen und strukturellen Faktoren die Aktivi- täten beeinflussen, und wie aktuelle Ereignisse sich auswirken (S. 4). Wir „zoomen“ aber auch heraus und fragen, in welchem Verhältnis Kernstadt und Umland stehen, etwa bei der Verkehrswende (S. 18), und wie andere Ebenen – Bund, Land, EU – die Klimapolitik auf lokaler Ebene prägen (S. 12). Schließlich tauchen wir ein in die oft konflikthaften Aushandlungen rund um konkrete Planungsvorhaben, die im Rah- men ökologischer und ökonomischer Transformationen auf die Kommunen zukom- men (Interview auf S. 22). Blättern Sie aber auch gerne durch die Nachrichten aus dem Institut. So erfahren Sie zum Beispiel von IRS-Alumnus Thorsten Heimann, was Kul- tur- und Klimapolitik miteinander zu tun haben (S. 36). Nun noch eine Nachricht in eigener Sache. Mit dem Ende dieses Jahres schließt das IRS sein dreijähriges Forschungsprogramm „Städte und Regionen als offene Hand- lungszusammenhänge“ ab. Eine internationale Online-Konferenz „On/Offline Inter ferences“ am 15. und 16. November führte wesentliche Forschungsergebnisse zum Querschnittsthema „Digitalisierung und sozial-räumlicher Wandel“ zusammen (S. 30). Das Jahr 2022 wird nicht nur ein neues Forschungsprogramm, sondern, als Ergebnis eines nunmehr abgeschlossenen Strategieprozesses, einige organisatorische Neue- rungen für das Institut mit sich bringen. Wir werden Sie dazu auf dem Laufenden halten. So viel sei gesagt: Das Thema, das uns ab dem nächsten Jahr beschäftigen wird, ist Disruption. Nun wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre. Ihr Oliver Ibert Direktor des IRS IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021 3
Städtische Klimapolitik zwischen alten Industrien und neuen Allianzen Städte gelten als Pioniere der Klimapolitik. Doch entspricht dieses Image der Realität, oder trifft es in Wahrheit nur auf wenige, wohlhabende Metropolen zu? Zwei Forschungsprojekte am IRS haben die klimapolitischen Aktivitäten von Städten unter die Lupe genommen. Das Ergebnis: Es gibt viele unter- schiedliche Positionierungen, und alte Ungleichgewichte bestehen fort. Doch gesellschaftlicher Druck hat gerade in den letzten Jahren fast überall etwas bewegt. Städte verursachen weltweit etwa 70 % Welche Städte handeln – der Treibhausgasemissionen – durch und warum? Verkehr, Industrie, Bautätigkeit und die Heizung und Kühlung von Gebäu- Sind Städte also die Pioniere des Kli- den. Zugleich sind sie vom Klimawan- maschutzes und der Klimaanpassung? del besonders betroffen: Hitzewellen, So pauschal stimmt die Aussage nicht. Starkregen und Stürme richten in Zunächst waren es insbesondere wohl- ihnen schwere Sachschäden an und habende europäische Metropolen wie gefährden die Gesundheit der Stadt- Amsterdam, Kopenhagen und Paris, bevölkerung bis hin zu Todesfällen. die eine ehrgeizige sowie öffentlich- keitswirksame Transformationspoli- Seit knapp 30 Jahren engagieren sich tik verfolgten. Dadurch erhielten sie einige Städte deshalb für den Klima- viel Sichtbarkeit auf der Weltbühne, schutz. Sie verringern Treibhausgas- etwa als Austragungsorte von Klima emissionen, indem sie etwa Elektromo- gipfeln und als Namensgeber für Ver- Dr. Wolfgang Haupt bilität, Radwege und den öffentlichen Tel. 03362 793 187 träge wie das Abkommen von Paris. Verkehr ausweiten oder Gebäudemo- wolfgang.haupt@leibniz-irs.de Was ist jedoch mit den Großstädten in dernisierungen fördern. Angesichts der zweiten Reihe, was mit kleineren, immer extremerer Wetterereignisse Wolfgang Haupt ist Stadtforscher und ärmeren oder altindustriell gepräg- kamen in jüngerer Zeit Maßnahmen stellvertretender Leiter der Forschungs- ten Städten? Wer handelt, für Klima- für die Anpassung an den Klimawan- abteilung „Institutionenwandel und schutz und/oder Klimaanpassung, mit regionale Gemeinschaftsgüter“. In seiner del hinzu, etwa Flächenentsiegelung, welchem Fokus und welchem Ehrgeiz? Forschung beschäftigt er sich schwer- Stadt- und Gebäudebegrünung, um punktmäßig mit kommunaler Klima Welche Faktoren bestimmen das Han- natürliche Kühlung und Versicke- politik, transnationalen Klimanetzwerken deln, und kann das Lernen der Städte rung zu fördern. Aktuell werden sol- und interkommunalen Lernprozessen. untereinander ein stimulierender Fak- che Ansätze unter dem Schlagwort der Im Rahmen von zwei Projekten unter- tor sein? „Schwammstadt“ diskutiert. sucht er die klimapolitischen Ansätze deutscher und europäischer Städte. Zwei Forschungsprojekte des IRS Städte werden deshalb in der Klima- adressieren diese Fragen. Im Projekt debatte heute überwiegend als Trei- „Matching Forerunner Cities“ (MaFoCi) ber des Fortschritts wahrgenommen. eruierten Kristine Kern und Wolfgang In seinem Buch „If Mayors Ruled the Haupt von der Forschungsabteilung World“ schrieb der amerikanische Poli- „Institutionenwandel und regionale tologe Benjamin R. Barber den Städ- Gemeinschaftsgüter“ in Kooperation ten sogar die Rolle der zentralen poli- mit der finnischen Åbo Akademi Uni- tischen Gestalter einer vernetzten Welt versity und im Auftrag der finnischen zu – die somit aus seiner Sicht die „dys- Großstadt Turku – einer Klimaschutz- funktionalen“ Nationalstaaten ablösen. Vorreiterstadt, die bis 2029 klimaneu- 4 IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021
tral werden will –, was die Stadt von vertiefende Fallstudien („Pfadanaly- vergleichbar positionierten Städten sen“) in den drei Partnerstädten durch, im Ostseeraum in Sachen Klimapoli- deren Ziel es war, zu verstehen, wie tik lernen kann. Als Vergleichsstädte Städte im Lauf der Zeit überhaupt zu wurden dabei Malmö (Schweden), ihrer eigenen Klimapolitik kommen Groningen (Niederlande) und Rostock – was sie treibt, was sie hemmt, was (Deutschland) ausgewählt. Die drei ihre Besonderheiten ausmacht. Spä- Städte weisen viele strukturelle Ähn- ter, sobald mehr über die strukturellen lichkeiten mit Turku auf: Sie sind ähn- Unterschiede der 104 Untersuchungs- lich groß, gelten in ihren jeweiligen städte bekannt war, wurden solche Ländern als klimapolitische Vorrei- Pfadanalysen für 17 weitere, sehr ter, sind traditionsreiche Hansestädte, unterschiedlich aufgestellte Städte verfügen als alte Universitätsstädte durchgeführt. Insgesamt führte das über eine starke Forschungsinfra- Projektteam so über 70 Interviews mit struktur und mussten im Lauf ihrer Janne Irmisch Vertreter*innen aus Stadtverwaltun- Geschichte ähnliche Strukturwandel- Tel. 03362 793 130 gen, Kommunalpolitik und Zivilgesell- prozesse bewältigen. janne.irmisch@leibniz-irs.de schaft in 20 Städten. Im transdisziplinären Forschungs- Janne Irmisch ist Geographin und Zwischen Klimaschutz und wissenschaftliche Mitarbeiterin der projekt „Urbane Resilienz gegenüber Forschungsabteilung Klimaanpassung extremen Wetterereignissen – Typo- „Institutionenwandel und regionale logien und Transfer von Anpassungs- Gemeinschaftsgüter“. Im Projekt „Urbane Es zeigte sich: Städtische Klimapolitik strategien in kleinen Großstädten und Resilienz gegenüber extremen Wetter- ist zunächst ganz klar eine Ressourcen- Mittelstädten“ (ExTrass), welches das ereignissen“ beschäftigt sie sich mit frage. Große Städte mit einem größe- IRS im Verbund unter anderem mit der kommunaler Klimaschutz- und Klima- ren Budget für Klimapolitik können Universität Potsdam und den Projekt- anpassungspolitik, der klimapolitischen sich Fachabteilungen und feste Stellen Pfadentwicklung in deutschen Mittel- partnerstädten Potsdam, Würzburg für Klimaschutz und/oder Klimaan- und Großstädten sowie dem Transfer und Remscheid vorantreibt, steht die kommunaler Klimaschutz- und passung eher leisten, während kleinere Anpassung an Extremwetter in deut- Anpassungsmaßnahmen. Kommunen oft bestenfalls auf Förder- schen Städten im Vordergrund. Das mittelbasis tätig sind und Klimamana- Team des IRS, bestehend aus Kristine ger*innen nur befristet beschäftigen Kern, Wolfgang Haupt, Peter Eckers- können. Die seit längerem führen- ley und Janne Irmisch, erhob die kli- den Metropolen besetzen weiterhin mapolitische Aktivität, sowohl im die Spitzenplätze in Klimaschutz und Klimaschutz als auch in der Klima- Klimaanpassung (siehe Kasten S. 8), anpassung, in allen kreisfreien deut- wobei der Klimaschutz bereits deutlich schen Städten über 50.000 sowie allen länger etabliert ist und im Lauf der Zeit Städten über 100.000 Einwohner (insg. durch Klimaanpassungsaktivitäten 104 Städte). Mit Hilfe von umfangrei- ergänzt wurde. Dennoch haben sich chen Desktop-Recherchen, Analysen auch einige kleinere Großstädte und von Policy-Dokumenten und Inter- auch Mittelstädte in starke Positionen Podcast Episode 8: views mit Expert*innen identifizier- vorgearbeitet. Dabei ist eine gewisse Städte im Klimawandel: ten die Forschenden klimapolitische Resilienz oder Anpassung? Rollenspezialisierung erkennbar, etwa Strategien und institutionelle Struk- die Unterscheidung zwischen „Leader“ turen, einschließlich personeller Res- und „Pioneer“. Manche Städte sind sourcen. Auch untersuchte das Team überaus aktiv in internationalen Netz- die zeitliche Entwicklung der Konzepte werken, erhalten Preise für ihre Klima- und Strategien sowie ihre Umsetzung und Nachhaltigkeitspolitik und insze- in konkrete Maßnahmen. Indem sie nieren sich als Vorbilder („Leaders“ wie die Funde zählten und mit Punkten beispielsweise Freiburg). Andere ver- bewerteten, konnten sie die klimapoli- fügen über sehr fortschrittliche Kon- tische Aktivität von Städten quantifi- zepte und Maßnahmen, kommuni- zieren und unterschiedlichen Clus- zieren dies aber weniger nach außen, tern zuordnen (siehe Kasten S. 8). Zu denn sie haben weniger Interesse oder Beginn des Projekts führte das Team schlicht keine Kapazitäten, ein inter- 6 IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021
nationales Profil zu bilden („Pioneers“ aus: „Es geht ja immer um Flächen. und einschlägige Forschungsinstitute wie etwa Karlsruhe). Was macht man mit einem Dach? Man verfügen oder darüber hinaus das kann es begrünen – eine klassische Kli- Selbstbild einer Wissenschaftsstadt Auch die Unterscheidung zwischen maanpassungsmaßnahme. Man kann pflegen, ist es deutlich wahrscheinli- Klimaschutz und Klimaanpassung Solarzellen darauf bauen – eine klas- cher, dass sie sich aktiv mit dem Kli- ist für kleinere Städte sehr bedeut- sische Klimaschutzmaßnahme. Man mawandel auseinandersetzen und sam. Manche Städte sind stark auf kann auch beides kombinieren. Dazu entsprechende Strategien entwickeln. Klimaschutz spezialisiert und haben müssen die beiden Bereiche aber koor- Besonders produktiv sind dabei ver- erst spät begonnen, Klimaanpassungs- diniert handeln“. Aus der Sicht von trauensvolle Beziehungen und Aus- konzepte zu entwickeln (z.B. Bonn, Kommunen rückt die Anpassung an tauschformate zwischen Wissenschaft Erlangen, Freiburg). Andere stellen den Klimawandel zunehmend ins und Stadtverwaltung. Ein Beispiel für die Klimaanpassung von Anfang an Zentrum der Aufmerksamkeit. Zwar eine solche etablierte Beziehung ist die in den Vordergrund (z.B. Oberhausen, handelt es sich, wie beim Klimaschutz, im Jahr 2018 geschlossene „Klimapart- Solingen, Wuppertal, Karlsruhe). Wie- nicht um eine Pflichtaufgabe der kom- nerschaft Stadt und Wissenschaft“ in der andere, wie etwa das bayerische munalen Selbstverwaltung (siehe auch Potsdam. Hinderlich für klimapoli- Würzburg, starteten insgesamt spät S. 12), jedoch sind verschiedene Pflicht- tische Aktivität ist es dagegen, wenn in eine eigene Klimapolitik, adres- aufgaben davon berührt: die Sicherung eine Stadtgesellschaft, insbesondere sieren nun aber beide Handlungsfel- der Trinkwasserversorgung etwa, und ihre politischen Netzwerke, von Ver- der gemeinsam. Selbst unter den inter- der Schutz der Bevölkerung vor Katast- treter*innen traditioneller fossiler nationalen Spitzenreitern sind hier rophen. Klimaschutz muss dagegen in Industriebranchen dominiert sind, Unterschiede erkennbar. So gehört einem zunehmend spannungsgelade- und wenn die Identität der Stadt das finnische Turku weltweit zu den nen Umfeld (siehe S. 22) mit anderen stark durch diese Industrien geprägt führenden Städten im Klimaschutz, Zielen der städtischen Bau-, Verkehrs- ist. Beobachtet hat das Forschungs- hat aber im Bereich Klimaanpassung und Energiepolitik in Übereinstim- team diesen Zusammenhang etwa in Nachholbedarf. mung gebracht werden. einzelnen traditionellen Zentren der Automobilproduktion sowie in Zentren Zur Integration von Klimaschutz und Triebkräfte und Hindernisse der Kohleförderung und -verstromung. -anpassung hat das ExTrass-Team im für Klima-Aktivität Mehrere Städte aus dieser Gruppe Lauf der Forschung eine differenzierte gehören zu den klimapolitisch inak- Position entwickelt. Im IRS-Podcast Generell wird die klimapolitische Akti- tivsten der untersuchten Gesamtheit. Society@Space spricht sich Stadtfor- vität von Städten begünstigt durch die scher Wolfgang Haupt für eine enge Präsenz wissenschaftlicher Institutio- Förderlich, insbesondere für den Kli- Abstimmung der Handlungsfelder nen. Wenn Städte über Universitäten maschutz, kann es sein, wenn Städte IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021 7
Zugriff auf Infrastrukturbetriebe der Grundsatzentscheidungen über die Energieversorgung, des öffentlichen Ausgestaltung von Energieversor- Verkehrs oder der Wohnraumversor- gungsnetzen Städte und ihre Klima- gung ausüben können, etwa durch Performance für Jahrzehnte prägen. kommunales Eigentum. Dies zeigt sich wiederum am Beispiel der Stadt Turku, Ähnlich wirken sich Gelegenheitsfens- die über städtische Unternehmen eine ter in der Baupolitik aus. Sofern eine klimawirksame Infrastrukturpolitik Stadt über Planungskapazitäten, güns- gestaltet. Ähnliches zeigt sich in Frei- tige Eigentumsverhältnisse, Investi- burg und Potsdam. Gerade am Beispiel tionskapital, freie Flächen und/oder der Energiepolitik, besonders in der einen gestaltbaren Gebäudebestand aktuell angespannten Lage auf dem verfügt, kann sie zahlreiche Maßnah- Gasmarkt, wird jedoch deutlich, dass men umsetzen, welche zu einer besse- das Ziel der Energiesicherheit unter- ren Anpassung an den Klimawandel schiedlich verstanden und adressiert führen und den Ausstoß von Treib- werden kann: im Sinne einer entschie- hausgasemissionen pro Kopf deutlich denen Hinwendung zu regenerativen verringern. Sind Städte jedoch durch Energien und dezentraler Produktion, naturräumliche Gegebenheiten (z.B. oder im Sinne einer eher defensiven Kessellage, Lage an Flüssen und am Absicherung mit fossilen Energieträ- Meer) und den Gebäudebestand (z.B. gern. Die Forschung hat gezeigt, dass denkmalgeschützt oder wenig kom- Klimaschutz im Welterbe In historischen Innenstädten gibt es häufig und zunehmend Konflikte zwischen denkmalschutzrechtlichen Vorgaben und dem Ziel, Bauten klimagerecht umzugestalten. Ein Team be- stehend aus Forschenden des IRS und der Berner Fachhoch- schule beleuchtet das Zusammenspiel von Kulturerbe und Klimapolitik nun unter einem neuen Blickwinkel. Die Au- tor*innen fragen: Inwiefern beeinflussen sich Klimapoli- tik und Urban Heritage Management gegenseitig? Welche Schnittstellen und Synergien gibt es zwischen beiden? Und was können Städte mit großer denkmalgeschützter Bau- substanz voneinander lernen? Die Fallstudie in den UNESCO-Welterbestädten und „Mat- ching Cities“ (siehe S. 4) Bern und Potsdam zeigt, dass die historischen Strukturen der Städte die heutigen Hand- lungsmöglichkeiten stark eingrenzen – jedoch nicht nur im negativen Sinn. Die Welterbegebiete bieten im Gegen- teil durchaus gute Voraussetzungen für eine nachhaltige, klimaneutrale Stadt: Der mittelalterliche Stadtkern Berns wurde nicht autogerecht umgebaut und bildet so eine Stadt der kurzen Wege. Potsdams großflächige Grün- und Was- serflächen unterstützen die Abmilderung von Klimawandel folgen. In beiden Städten wurden – auch aus Denkmal- schutzinteresse – historische Gebäude energetisch saniert, in der Berner Innenstadt gar Infrastruktur für Fernwärme und E-Mobilität installiert. So beweisen Bern und Potsdam, dass Städte mit historischer Innenstadt nicht nur trotz, son- dern auch aufgrund des Kulturerbes klimapolitische Vorrei- Kern, Kristine; Irmisch, Janne; Odermatt, Colette; Haupt, Wolfgang; Kissling-Näf, Ingrid (2021): ter werden können. Die Studie förderte zudem zahlreiche Cultural Heritage, Sustainable Development, Lernpotenziale zwischen Potsdam und Bern sowie für viele and Climate Policy: Comparing the UNESCO World Heritage Cities of Potsdam and Bern. Sustainability, weitere historische Innenstädte – insbesondere die 90 euro- 13 (16), p. 9131. päischen Welterbestädte – zu Tage. doi.org/10.3390/su13169131 8 IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021
munaler Besitz) eingeschränkt, ste- Städtische öffentlichen Sektor, jedoch ist gesell- hen ihnen weniger Optionen für eine schaftliche Mitbestimmung an der klimaorientierte Baupolitik offen. Hier Klimapolitik ist Politikformulierung dort kaum ver- ist jedoch anzumerken, dass Bereiche ankert. Mit Groningen und Rostock mit historischen Gebäuden oft bereits eine standen im Projekt zwei partizipa- nachhaltig und klimafreundlich Ressourcenfrage. tionsstarke Städte als Vergleichsfälle gestaltet sind – etwa durch eine bestän- zur Verfügung. Besonders Groningen dige Bauweise, kurze Wege und versi- Große Städte in den Niederlanden blickt auf eine ckerungsfreundliche Bodenbeläge wie können sich jahrzehntelange Tradition aktiver bür- Kopfsteinpflaster (siehe Kasten S. 9). gerschaftlicher Initiative zurück, die Fachabteilungen und unter anderem wesentlich zur Trans- Zivilgesellschaft als feste Stellen für formation Groningens zur Fahrrad- Legitimationsquelle und stadt beigetragen hat. Der Unterschied Machtfaktor Klimaschutz und/ erwies sich jedoch als so groß, dass Erkenntnisse aus den Vergleichsstäd- oder Klimaanpassung Gerade in den letzten Jahren gewann ten kaum übertragbar waren. Fündig die zivilgesellschaftliche Dimension eher leisten, wurde das Forschungsteam dagegen in städtischer Klimapolitik massiv an einem Projekt der Stadt Zwickau, das Bedeutung. Das liegt zum Teil am während kleinere wie ExTrass ebenfalls über die BMBF- wachsenden Wunsch nach Partizi- Kommunen oft Förderlinie „Zukunftsstadt“ gefördert pation in der Bevölkerung und in der wird. Die sächsische Industriestadt Politik selbst (siehe S. 22). Das IRS bestenfalls auf gehört erst seit der Eröffnung des VW- untersuchte im Rahmen des MaFoCi- Fördermittelbasis Elektroautowerks im Jahr 2019 zu den Projekts im Auftrag der Stadt Turku wirtschaftlichen Profiteuren einer kli- auch die Möglichkeiten einer verbes- und befristet mafreundlichen Transformation. Die serten zivilgesellschaftlichen Partizi- Bevölkerung blieb jedoch überwiegend agieren können. pation an der städtischen Klimapoli- skeptisch, und Partizipationsstruktu- tik. Turku – wie Finnland insgesamt ren waren generell wenig ausgeprägt. – verfügt zwar über einen äußerst Von Zwickau konnte die Stadtverwal- handlungsfähigen und modernen tung von Turku lernen, wie sich Parti- Städte im Klima-Ranking Ein Team des IRS und der Universität Potsdam hat 104 Groß- und Mittelstädte in Deutschland nach dem Umfang und dem Ambitionsniveau ihrer klimapolitischen Aktivitäten sortiert (siehe S. 6). Daraus entstanden je ein Städteranking für Klimaschutz und für Klimaanpassung, ein kombinier- tes Gesamtranking sowie eine Gruppierung in sechs Cluster von Städten, die mit ihrem Politik-Mix jeweils ähnlich auf- gestellt sind. Berlin ist auf Platz 1 des Gesamtrankings und des Klimaanpassungsrankings. Große Städte dominieren so- wohl die Top 20 des Gesamtrankings als auch die Städte (Gruppe 1), die in Klimaschutz und -anpassung sehr stark sind. Am nächsten dazu liegen Großstädte (Gruppe 2), die in beiden Feldern stark sind, aber einen Schwerpunkt auf Kli- maanpassung legen, wie etwa Dresden, Köln und Duisburg. ken präsente Städte (Gruppe 4) sind u. a. Bochum, Moers Die Forschenden schließen daraus, dass die Ressourcen und und Osnabrück. Im hinteren Bereich der drei Rankings fin- der Vorsprung großer Städte beim Klimaschutz auch häu- den sich überwiegend die kleineren Mittelstädte. Die Studie fig bei der Formulierung von Klimaanpassungsstrategien bezieht sich auf Aktivitäten bis Ende 2018. Die Autor*innen helfen. Manche kleineren Städte belegen Spitzenpositionen planen eine Aktualisierung und Erweiterung des Rankings im Klimaschutz, während sie in der Klimaanpassung weni- auf etwa 190 Städte. ger aktiv sind (Gruppe 3), wie etwa Emden, Kempten und Otto, Antje; Kern, Kristine; Haupt, Wolfgang; Eckersley, Peter; Thieken, Annegret Kaiserslautern. Bei Klimaschutz und -anpassung gleicher- (2021): Ranking Local Climate Policy: Assessing the Mitigation and Adaptation Activities of 104 German Cities. Climatic Change, 167 (5) maßen aktive, jedoch seltener in internationalen Netzwer- link.springer.com/article/10.1007/s10584-021-03142-9 IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021 9
zipationsstrukturen in einem Umfeld gelang, auch tiefsitzende Widerstände ohne ausgeprägte Partizipationskultur zu lösen. „Die lokalen Fridays4Future- IRS DIALOG nach und nach erproben und etablie- Gruppen sind immer weitergegan- ren lassen. Zwar unterscheidet sich 1 2021 gen, waren nie zufrieden und haben das Niveau der zivilgesellschaftlichen Forschungsbericht kontinuierlich Druck gemacht“, erklärt Partizipation von Stadt zu Stadt, doch Wolfgang Haupt, Peter Eckersley, Kristine Kern ExTrass-Projektmitarbeiterin Janne Transfer und Skalierung ist ein zunehmendes Interesse an der von lokaler Klimapolitik Irmisch. „Fridays4Future-Proteste wa- Beteiligung der Bevölkerung fast über- Konzeptionelle Ansätze, Voraussetzungen und Potenziale ren als Schlüsselereignisse auch wirk- all zu verzeichnen. samer als beispielsweise die Ausru- fung des Klimanotstands in vielen Allerdings wurde die Zivilgesellschaft Kommunen“, so Irmisch weiter. Nicht I RS in den letzten Jahren selbst zu einem nur durch Streiks und Demonstratio- Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung Machtfaktor, der klimapolitische Akti- nen, sondern auch durch regelmäßige vität maßgeblich beeinflusste, beson- Haupt, Wolfgang; Eckersley, Peter; Gespräche mit Politik und Verwaltung, ders in Gestalt der Bewegung Fridays- Kern, Kristine (2021): Transfer und erreichten die jungen Aktivist*innen 4Future. In vielen Städten erkannte Skalierung von lokaler Klimapolitik. etwa Sofortmaßnahmen und Mittel- zwar die politische Ebene seit Jahren Konzeptionelle Ansätze, Vorausset- aufstockungen. In der Konsequenz hät- zungen und Potenziale. Forschungs- grundsätzlich die Notwendigkeit kli- ten sich Ortsgruppen anderer Umwelt- bericht. IRS Dialog, 1/2021 mapolitischer Maßnahmen an und organisationen wie BUND und Green- entwickelte umfassende Strategie- peace – durchaus auch aus taktischen konzepte. Fehlende Budgets, Stellen Erwägungen – hinter Fridays4Future und Routinen in der Verwaltung wie gestellt, so dass die Zivilgesellschaft auch eine fehlende Kultur der Aus- auf breiter Front mobilisiert wurde. einandersetzung schafften jedoch effektive institutionelle Barrieren Können Städte voneinander gegen eine Übersetzung von Bekennt- lernen? nissen oder Konzepten in Handlun- gen. Über die untersuchten Städte Insbesondere in den derzeit wenig hinweg zeigte sich nun, dass es der aktiven Kommunen stehen Lokalpoli- Bewegung dank ihrer Beharrlichkeit tiker*innen und Verwaltungen nun vor 10 IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021
der Herausforderung den zunehmen- Turku Urban Research Programme Das Ressourcenproblem insbesondere RESEARCH REPORTS 1/2021 den politischen und gesellschaftlichen kleinerer Stadtkommunen wird sich Druck in geeignete Strategien zu über- dadurch jedoch nicht vollständig lösen führen und die vorgeschlagenen Maß- lassen. Die Festsetzung von Klima- nahmen umzusetzen. Gerade kleinere schutz und Klimaanpassung als kom- und ressourcenärmere Städte tun sich munale Pflichtaufgabe könnte hier- damit schwer. Wohin sich orientieren? bei Abhilfe schaffen, da den Städten In der Öffentlichkeit sind besonders dann – anders als bisher – auch Mittel Kristine Kern, Sam Grönholm, die erfolgreichen und bestens ver- Wolfgang Haupt, Luca Hopman, Nina Tynkkynen, and Pekka Kettunen für diese Aufgaben zugewiesen wür- netzen Leader-Städte sichtbar. Ihr den (siehe S. 12). Dies würde gerade Vorsprung wirkt uneinholbar, ihre Matching Forerunner Cities: Assessing Turku's Climate Policy in Comparison with Malmö, Groningen and Rostock solchen Kommunen helfen, die bis- Entwicklungspfade zu kopieren ist her auch aufgrund fehlender Mittel für die meisten „Nachzügler“-Städte noch gar nicht klimapolitisch aktiv keine Option. Kern, Kristine; Grönholm, Sam; Haupt, geworden sind. Generell blieben die Wolfgang; Hopman, Luca; Tynkkynen, spezifischen Problemlagen von klei- Nina; Kettunen, Pekka (2021): Matching Wie Wolfgang Haupt, Peter Eckers- nen Stadtkommunen in der Forschung Forerunner Cities: Assessing Turku's Cli- ley und Kristine Kern in ihrem For- mate Policy in Comparison with Malmö, bislang noch zu wenig beachtet. Auch schungsbericht „Transfer und Skalie- Groningen and Rostock. Turku Urban das ExTrass-Projekt bezog bisher nur rung von lokaler Klimapolitik“ (IRS Research Programme. die kreisfreien Städte ab 50.000 Ein- Dialog 1/2021) zeigen, ist das klima- Research Report, 1/2021 wohner ein und ließ damit viele klei- politische Lernen von Städten unterei- nere Stadtkommunen außen vor. Das nander noch kaum ausgeprägt. Unpas- Projekt tritt ab 2022 allerdings in eine sende Vorbilder sind eine mögliche zweijährige Transferphase ein, in der Erklärung dafür. Wie bereits gezeigt, die bislang gewonnenen Erkenntnisse kann es sogar für eine bestens aufge- einer noch breiteren Nutzung zuge- stellte Pionierstadt des Klimaschutzes führt werden und weitere Daten erho- wie Turku schwierig sein, geeignete Addressing the Climate ben werden sollen. In dieser zweiten Crisis Vorbilder für die eigene Weiterent- Local action in theory and Phase wird das Projektteam alle deut- practice wicklung zu finden. Der im Rahmen schen Städte ab 50.000 Einwohner in Edited by des MaFoCi-Projekts entwickelte „Mat- Candice Howarth Matthew Lane die Betrachtung einbeziehen. Amanda Slevin ching Cities“-Ansatz kann hier mög- licherweise Abhilfe schaffen. Laut diesem Ansatz sollten klimapolitisch Verantwortliche in Städten versu- Das Projekt „Urbane Resilienz Haupt, Wolfgang: Eckersley, Peter; Kern, chen, bezogen auf eine konkrete Pro- Kristine (2021): How Can ‘Ordinary’ Cities gegenüber extremen Wetterereig- blemstellung, andere Städte zu finden, Become Climate Pioneers? nissen – Typologien und Transfer die sich in einer ähnlichen Situation In C. Howarth, M. Lane, & S. Amanda von Anpassungsstrategien in klei- befinden, aber bereits einen gewis- (Eds.), Addressing the Climate Crisis: Local nen Großstädten und Mittelstäd- sen Erfahrungsvorsprung haben. action in theory and practice (pp. 83-92). ten“ (ExTrass) wird vom Bundesmi- Diese spezifischen Erfahrungen wer- Cham: Palgrave Macmillan. nisterium für Bildung und Forschung doi.org/10.1007/978-3-030-79739-3_8 den für die eigene Situation eine hohe (BMBF) gefördert und an der Uni- praktische Relevanz haben. Eine versität Potsdam koordiniert. Wei- mittelalterlich geprägte Stadt, die in tere Verbundpartner sind die Adelphi hohem Maß vom Tourismus abhängig Research gGmbH, die Landeshaupt- ist, wie Speyer oder Bamberg, sollten stadt Potsdam, die Johanniter- sich dementsprechend andere Vorbil- Unfall-Hilfe e.V., die Stadt Remscheid der suchen als etwa eine altindustriell und die Stadt Würzburg. ExTrass geprägte Stadt wie Cottbus oder Gel- läuft von 2018 bis 2023. senkirchen. Das ExTrass-Team arbei- www.extrass.de tet derzeit an einer Handreichung für Kommunen, die es ihnen erleichtern soll, ihre eigene Position zu reflektie- ren, passende Referenzfälle zu finden und Kontakte aufzubauen. IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021 11
Klimapolitische Steuerung: (Nicht nur) auf die Bundesländer kommt es an Auf welcher Ebene findet Klimapolitik statt? Sind Städte die Treiber oder setzen sie nur Vorgaben um, die auf höherer Ebene beschlossen werden? Tatsächlich wirkt eine Kombination beider Mechanismen – und vieler weiterer, die zwischen diesen Extrempolen liegen. Neben der EU- und der Bundesebene sind in Deutschland besonders die Bundesländer einflussreiche Akteure, die vielfältige – und unterschied- lich ambitionierte – Antworten auf den Klimawandel finden. Städte stehen klimapolitisch wiederum mit allen Ebenen, von regional bis europäisch, in Kontakt. Wie viele andere politische Fragen xen Problemen wie der Klimapolitik auch, wird die Klimapolitik auf unter- wenig Erfolg verspricht. Es fehlen die schiedlichen territorialen und admi- für gemeinsames Lernen nötigen Aus- nistrativen Ebenen verhandelt: auf der tauschbeziehungen, es fehlt die Sen- internationalen (UN), der transnatio- sibilität für unterschiedliche Bedürf- nalen (EU), der nationalen, der sub- nisse, Bedingungen und Fähigkeiten. nationalen (in Deutschland: Bundes- Im Fall von „Horizontal Governance“ länder), regionalen und lokalen bzw. vernetzen sich Akteure einer Ebene, kommunalen Ebene. In der Forschung zum Beispiel Regionen oder Städte, wird der Begriff „Mulitlevel Gover- um voneinander zu lernen und mit- nance“ verwendet, um Steuerungs- einander zu kooperieren. Diese Steue- prozesse zu beschreiben, die über rungsform ist anspruchsvoll. Beson- verschiedene Ebenen hinweg, also im ders gut ausgestattete und vernetzte „Mehrebenensystem“ organisiert wer- Dr. Peter Eckersley Akteure bedienen sich ihrer. Für die den. Wie funktioniert diese Steuerung Tel. 03362 793 187 breite Masse der Gebietskörperschaf- im Feld der Klimapolitik, und welche peter.eckersley@leibniz-irs.de ten fehlt jedoch sowohl die Verbind- Ergebnisse produziert sie? lichkeit als auch die nötige Mittelaus- Peter Eckersley ist Politikwissenschaftler stattung. Es bleibt als dritte Option die und wissenschaftlicher Steuerung im Mitarbeiter der Forschungsabteilung „Vertical Governance“, bei der höhere Mehrebenensystem: „Institutionenwandel und regionale Ebenen zwar Vorgaben machen, bei der Kooperation gewinnt Gemeinschaftsgüter“. Im Projekt „Urbane es aber (formelle wie auch informelle) Resilienz gegenüber extremen Wetter- Austausch- und Aushandlungsbezie- Im Forschungsbericht „The Multi-level ereignissen“ untersucht er die Klima- hungen in jede Richtung gibt, bei der Context for Local Climate Governance politik deutscher Städte. Seine weite- Ebenen übersprungen und auch nicht- ren Forschungsinteressen liegen in den in Germany” benennen Peter Eckers- oder halbstaatliche Akteure (Verbände, Bereichen Lokale Governance, Klima ley, Kristine Kern, Wolfgang Haupt wandel, Policyforschung und NGOs) einbezogen werden können. und Hannah Müller drei Grundty- Austeritätspolitik. Die Forschung zu Klima-Governance pen der Multilevel Governance. Im Fall befindet diese auf den ersten Blick von „Hierarchical Governance“ wer- kompliziert wirkende Steuerungs- den Ziele und Handlungsverpflich- form als die wirkmächtigste der drei. tungen von oben nach unten durch- gereicht. Jede Ebene muss der nächst In der Praxis finden sich zahlreiche höher liegenden folgen und kann der Beispiele für Vertical Governance. darunter liegenden Vorgaben machen. Gerade auf der EU-Ebene herrscht eine Die Governance-Forschung hat gezeigt, Kombination aus hierarchischen und dass diese vor allem für zentralistische kooperativen Elementen vor. Verbind- Staaten typische Steuerungsform zwar liche Vorgaben, wie das im Jahr 2020 effizient anmutet, aber bei komple- neu gefasste Reduktionsziel der EU für 12 IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021
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Treibhausgasemissionen, das eine Ver- gemacht, was sie mit dem relativ star- ringerung um 55 % bis 2030 (gegen- ken Einfluss der Länder in der Bun- über dem Stand von 1990) vorsieht, despolitik (etwa über den Bundesrat) sind das Ergebnis von Aushandlungs- erklären. Der oft als behäbig kritisierte prozessen unter und mit den Mitglieds- Föderalismus erlaubt sowohl koopera- staaten. Verschiedene Initiativen die- tive Politikformulierung als auch Wett- nen der Umsetzung der Ziele, so etwa bewerb und das Experimentieren mit das 2005 eingeführte Handelssystem verschiedenen Ansätzen auf Landes- für Emissionsrechte in der Energie- und kommunaler Ebene. Im Rahmen erzeugung, der Großindustrie und der „Kommunalrichtlinie“ stellt der im innereuropäischen Flugverkehr. Bund erhebliche Finanzmittel für den Für weitere Branchen wie etwa Ver- Klimaschutz in Kommunen zur Ver- kehr, Bau und Landwirtschaft wurden fügung, mit dem „Masterplan 100 % durch die EU ebenfalls Vorgaben for- Klimaschutz“ werden besonders ehr- muliert und mit Richtlinien, wie etwa Dr. Wolfgang Haupt geizige Kommunen gefördert. Dies der Energieeffizienzrichtlinie oder der Tel. 03362 793 187 dient auch der Vernetzung und dem Richtlinie über die Gesamtenergieeffi- wolfgang.haupt@leibniz-irs.de Lernen der Kommunen untereinan- zienz von Gebäuden untersetzt, die von der. Zugleich setzt die Bundesebene Wolfgang Haupt ist Stadtforscher und den Mitgliedsstaaten umzusetzen sind. stellvertretender Leiter der Forschungs- auch verbindliche Ziele, zuletzt mit abteilung „Institutionenwandel und dem Klimaschutzgesetz von 2019, das Die EU arbeitet in ihrer Klimapoli- regionale Gemeinschaftsgüter“. In seiner eine Reduktion von Treibhausgasemis- tik auch in netzwerkartigen Struk- Forschung beschäftigt er sich schwer- sionen bis 2030 um 65 % (gegenüber turen direkt mit Städten und Regio- punktmäßig mit kommunaler Klima 1990) festschreibt, und dem „Klima- nen zusammen, wie Kristine Kern politik, transnationalen Klimanetzwerken schutzplan 2050“, der branchenspe- und interkommunalen Lernprozessen. in ihrem Artikel „Cities as Leaders in zifische Ziele formuliert. Wesentliche Im Rahmen von zwei Projekten unter- EU Multilevel Climate Governance“ sucht er die klimapolitischen Ansätze Impulse setzte das Erneuerbare-Ener- beschreibt. Als Beispiel nennt sie den deutscher und europäischer Städte. gien-Gesetz (EEG) aus dem Jahr 2000, „Covenant of Mayors“, eine Initiative das zunächst durch eine garantierte der EU-Kommission, die städtischen, Einspeisevergütung einen Boom er aber auch ländlichen Kommunen neuerbarer Energien auslöste, im Lauf zahlreiche materielle und immate- der Zeit aber so verändert und durch rielle Unterstützungen zukommen andere Regelungen ergänzt wurde, lässt, wenn sie sich auf klimapoliti- dass besonders der Ausbau der Wind- sche Ziele verbindlich festlegen, ent- energie zuletzt fast zum Erliegen kam. sprechende Strategien entwickeln und Die nach dem Vorbild der „Energie- Berichtspflichten akzeptieren. Zugleich wende“ benannte „Verkehrswende“ helfen die beteiligten Gemeinden und hatte ihren stärksten Effekt bislang im Regionen sich gegenseitig und treiben Bereich der individuellen Elektromo- eine gemeinsame Agenda voran. Die bilität – durch Kaufprämien und den EU unterstützt lokale Gebietskörper- Ausbau der Ladeinfrastruktur. schaften auch durch die Bereitstel- lung von Forschungsdaten über die Starke Unterschiede auf Gemeinsame Forschungsstelle der Landesebene EU-Kommission und die Europäische Umweltagentur. Kommunen können Die Ebene der Bundesländer haben die sich darüber hinaus zertifizieren las- Forschenden als Quelle starker Diffe- sen, etwa mit dem European Energy renzierung ausgemacht. Die klima- Award oder dem European Climate Die Under2 Coalition ist ein 2015 politischen Ansätze der Länder unter- Adaptation Award – Zertifizierungen, gegründetes globales Bündnis von aktu- scheiden sich deutlich, aus mehreren die von mehreren deutschen Bundes- ell 260 subnationalen Gebietseinheiten, Gründen. Durch die Hinwendung ländern finanziell gefördert werden. die gemeinsam Treibhausgasemissionen zu regenerativen Energien wie Wind drastisch reduzieren wollen. Sie reprä- und Sonne gewinnen naturräumliche sentieren zusammen 1,75 Milliarden Auch im Verhältnis zwischen dem Besonderheiten, Siedlungsstruktur Menschen und ca. 50 % der Weltwirt- Bund und den deutschen Bundeslän- schaft. Das Bündnis entstand aus einer und Flächenverfügbarkeit an Bedeu- dern haben Forschende eine große Partnerschaft zwischen Kalifornien und tung. Auch die Wirtschaftsstruktur in Bedeutung kooperativer Ansätze aus- Baden-Württemberg. Verbindung mit dem traditionellen 14 IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021
Energiemix wirken sich aus. Zugleich Die Länder haben Emissionen dort gezählt werden, wo sie haben die Länder eine besondere Ver- anfallen, und nicht dort, wo etwa Ener- bindung zu Städten und Kommunen: eine besondere Ver gie konsumiert wird. Die fünf Länder Zwar garantieren Grundgesetz und bindung zu Städten waren und sind Netto-Energieexpor- Landesverfassungen die kommunale teure. Obwohl alle Kohleländer Klima- Selbstverwaltung. Die Länder haben und Kommunen: schutzinitiativen vorantreiben, bleibt jedoch die Aufsicht über die Kommu- ihr Ambitionsniveau insgesamt hin- Sie können ihnen nen und können ihnen neue Pflicht- ter dem anderer Länder wie auch der aufgaben zuweisen, wobei sie nach neue Pflichtauf Bundesebene zurück. Zwar verab- dem Konnexitätsprinzip verpflichtet schiedete NRW als erstes Bundesland sind, ihnen in diesem Fall auch ent- gaben zuweisen, überhaupt (und als einziges Kohle- sprechende Finanzmittel zuzuweisen. beispielsweise land) ein Klimaschutzgesetz mit ver- Zugleich haben alle 16 Länder Energie- bindlichen Reduktionszielen für Treib- agenturen eingerichtet, um das Ler- Klimaschutz und hausgasemissionen und gründete als nen und die Vernetzung der Kommu- Klimaanpassung. Sie erstes Land in den 1990er Jahren eine nen bei energiepolitischen Fragen zu Energieagentur. Auch beteiligt es sich unterstützen. So beeinflussen die Län- müssen ihnen dann als einziges Kohleland an der Under2 der lokale Klimastrategien. In ihrem Coalition, einem globalen Netzwerk aber auch entspre Forschungsbericht identifizieren Kern, von Regionen, die sich für den Kli- Eckersley, Haupt und Müller fünf kli- chende Finanzmittel maschutz einsetzen. Jedoch war mit mapolitische Grundtypen, in welche dem Wechsel von einer rot-grünen zu sich die Länder einteilen lassen. zuteilen. Baden- einer schwarz-gelben Regierungskoali- Württemberg und tion im Jahr 2017 ein partieller Rück- Zu den Kohleländern gehören Nord- bau klimapolitischer Strukturen und rhein-Westfalen, das Saarland, Sach- Schleswig-Holstein ein Fokuswechsel von Klimaschutz zu sen-Anhalt, Brandenburg und Sachsen, gehen diesen Weg. Klimaanpassung zu beobachten, etwa deren Wirtschaftsstruktur und Ener- bei der Förderung kommunaler Aktivi- gieproduktion deutlich von Abbau und täten wie Zertifizierungen. Branden- Nutzung von Stein- und Braunkohle burg und Sachsen-Anhalt stellen den geprägt sind bzw. waren. Sie haben ten- Ausbau erneuerbarer Energieerzeu- denziell höhere Treibhausgasemissio- gung sowie Initiativen zum Ausbau nen pro Kopf als andere Länder, wozu klimafreundlicher Industriezweige jedoch auch der Umstand beiträgt, dass in den Mittelpunkt ihrer Klimapoli- IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021 15
tik. In seiner Energiestrategie aus dem Städte können als Sinn eines verstärkten lokalen Kli- Jahr 2012 formulierte Brandenburg maschutzes. Beim Ausbau der Wind- beispielsweise das Ziel, den regene- Pioniere neue energie verhalten beide Länder sich rativen Anteil der Energieerzeugung dagegen zurückhaltender als andere Bau- und Verkehrs bis 2030 auf 32 % anzuheben, insbe- Flächenländer. sondere durch die Widmung von 2 % lösungen erproben der Landesfläche für die Windenergie- Die Windenergieländer Niedersach- erzeugung. und Klimaanpassung sen, Schleswig-Holstein und Meck- vorantreiben. lenburg-Vorpommern verfügen über Als Atom- und Solarenergieländer günstige naturräumliche Gegebenhei- deckten Bayern und Baden-Württem Ländliche Gemein ten für Windkraftanlagen und wandel- berg traditionell einen großen Teil den benötigen ten sich im Zuge der Energiewende von ihres Energiebedarfs aus Kernener- Energie importierenden Ländern mit gie und waren in Folge des Beschlus- Förderung von einem hohen Anteil von Nuklearener- ses zum Atomausstieg 2011 gezwungen, gie am Energiemix zu den führenden höheren Ebenen. sich umzuorientieren. Dies geschah in Produzenten von Windenergie, sowohl erster Linie durch einen massiven Aus- Für sie bietet an Land als auch offshore. Regenera- bau der Solarenergie, der allerdings tive Energien wurden zu wichtigen zu einem Großteil privat bzw. durch außerdem regionale Wirtschaftsfaktoren. Zwei Länder, die EEG-Umlage finanziert wurde. Vernetzung eine Schleswig-Holstein und Mecklenburg- Beide Länder haben früh Umwelt- Vorpommern sind heute Netto-Ener- politik (1970er-Jahre) und Klimapolitik Chance. gieexporteure. Alle drei Länder haben (1990er-Jahre) institutionell verankert. sich auf Reduktionen ihrer Treibhaus- Baden-Württemberg verabschiedete gasemissionen verpflichtet, wobei die nach NRW das zweite Landes-Klima- Vorgaben in den beiden westlichen gesetz mit verbindlichen Reduktions- Bundesländern ehrgeiziger und ver- zielen, Bayern verabschiedete ein ent- bindlicher (durch Klimaschutzgesetze) sprechendes Gesetz 2020. Beide Länder ausfallen als in Mecklenburg-Vorpom- gehören der Under2 Coalition an, in mern. Schleswig-Holstein verpflichtet der Baden-Württemberg eine Füh- seine Kommunen zu Klimaschutz. rungsrolle einnimmt. Besonders aus- Niedersachens verfügt zwar bundes- geprägt ist in Baden-Württemberg die weit über die größte regenerative Ener- Unterstützung (etwa durch regionale gieindustrie, subventioniert aber auch Energieagenturen), finanzielle Förde- weiterhin in großem Umfang fossile rung und Verpflichtung der Kommu- Energieträger. nen (über ein verbindliches Abkom- men mit Kommunalverbänden) im 16 IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021
Die Energieimportländer Hessen, Stadtentwicklungs- und Planungspoli- Rheinland-Pfalz und Thüringen ver- tiken voran. In größerem Umfang als IRS DIALOG fügten in der Vergangenheit nicht über die meisten Flächenländer betreiben große fossile oder Kernenergiesekto- 3 2021 die Stadtstaaten außerdem eine ausge- ren und werden auf absehbare Zeit von Research Report prägte Klimaanpassungspolitik, wel- Energieimporten abhängig bleiben, da Peter Eckersley, Kristine Kern, Wolfgang Haupt, Hannah Müller che die hohe Gefährdung der großstäd- The multi-level context for ihnen die räumlichen Voraussetzun- local climate governance in tischen Bevölkerung durch Hitzewellen Germany: the role of the gen für bedarfsdeckende regenerative federal states und Starkregenereignisse reflektiert. Energieerzeugung fehlen. Dennoch sind die Länder klimapolitisch aktiv: Diese differenzierte Aufarbeitung kli- Alle drei gehören der Under2 Coali- mapolitischer Steuerung im Mehr- I RS tion an. Hessen verfügt seit 2008 über ebenensystem zeigt, dass es in der Leibniz Institute for Research on Society and Space eine integrierte Nachhaltigkeitsstrate- Eckersley, Peter; Kern, Kristine; Haupt, Klimapolitik zwar unterschiedliche gie und Reduktionsziele für Treibhaus- Wolfgang; Müller, Hannah (2021): The Geschwindigkeiten und Ambitions- gasemissionen, jedoch nicht über ein Multi-level Context for Local Climate niveaus gibt, dass es für substanzielle Klimaschutzgesetz. Das Land fördert Governance in Germany: The Role of the Fortschritte aber auf die Wechselwir- sehr stark kommunale Aktivitäten im Federal States. Research Report. kungen der verschiedenen Ebenen und IRS Dialog, 3/2021 Rahmen der Nationalen Klimaschutz- die Beziehungen zwischen Gebietsein- initiative („Kommunalrichtlinie“). heiten ankommt. Städte und Stadtge- Rheinland-Pfalz hat sich gesetzlich sellschaften können sichtbar auf kli- auf Reduktionsziele verpflichtet. Bei mapolitische Fortschritte drängen, als der Umsetzung der Ziele liegt der Fokus IRS DIALOG Pioniere nachhaltige Bau-, Verkehrs darauf, die ungewöhnlich vielen sehr und (zum Teil) Energieversorgungs- 1 2019 kleinen Kommunen des Landes bei kli- lösungen erproben, und die Anpas- mapolitischer Kooperation zu unter- Policy Paper sung an den Klimawandel vorantrei- Energiewende dezentral! stützen. Thüringen reduzierte seine Regionale Handlungsräume ben. Im Rahmen der Energiewende Treibhausgasemissionen von 1990 bis der Energiewende und des Klimaschutzes Andreas Röhring und Ludger Gailing werden sie jedoch eher noch abhän- 2020 um 61 % (der größte Rückgang giger von ihrem regionalen Umfeld aller Bundesländer) und deckt heute und großräumigen Versorgungsnet- einen großen Teil seines Energiebe- zen. Flächenländer stehen beim Aus- darfs aus regenerativen Quellen. Als I RS Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung bau erneuerbarer Energien und grüner einziges ostdeutsches Bundesland Industrien vor teils enormen Heraus- außerhalb Berlins verabschiedete es Röhring, Andreas; Gailing, Ludger (2019): forderungen, weisen aber auch enorme Energiewende dezentral! Regionale 2018 ein Klimaschutzgesetz mit ver- Potenziale auf. Kleinstädte und länd- Handlungsräume der Energiewende und bindlichen Reduktionszielen. des Klimaschutzes. Policy Paper. liche Gemeinden benötigen hingegen IRS Dialog, 1/2019 Förderung von höheren Ebenen. Für Die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und sie bietet regionale Vernetzung eine Bremen verfügen nicht über die Vor- Chance handlungsfähiger zu wer- aussetzungen für großflächige regene- den. Regionen sollten es, wie Andreas rative Energieerzeugung. Sie sind von Röhring und Ludger Gailing in ihrem Energieimporten sowie fossiler Ener- Policy Paper „Energiewende dezent- gieerzeugung im eigenen Territorium ral!“ schreiben, vermeiden, lediglich abhängig und decken nach wie vor den den Platz für flächenintensive Solar- Großteil ihres Energiebedarfs aus fos- und Windkraftanlagen bereitzustel- silen Quellen. Zwar haben sich alle drei len („Installationslandschaften“). Länder gesetzlich auf anspruchsvolle Sie sollten sich stattdessen als Hand- Ziele zur Reduktion von Treibhaus- lungsräume begreifen, die auf viel- gasemissionen verpflichtet, jedoch fältige Arten von der Transformation verfügen sie nur auf der Nachfrage- profitieren. Die Klimapolitik auf Lan- seite (etwa im Verkehr sowie bei Bau des-, Bundes- und EU-Ebene steht vor und Gebäudesanierung) über güns- dem Balanceakt, ehrgeizige Ziele und Kern, Kristine (2019): Cities as Leaders tige Voraussetzungen, diese Ziele Anreize vorzugeben, auf Unterstüt- in EU Multilevel Climate Governance: einzuhalten. Klimaschutzmaßnah- Embedded Upscaling of Local Experi- zungsbedarfe einzugehen, vernetzte men treiben sie entsprechend über- ments in Europe. Environmental Politics, Lösungen zu entwickeln und die Ehr- wiegend im Rahmen ihrer jeweiligen 28 (1), 125-145 geizigsten nicht auszubremsen. IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021 17
Verkehrswende in Suburbia? Der Verkehrs- und Logistikbereich ist ein Sorgenkind des Klimaschutzes. Für eine spürbare Verringerung seiner Treibhausgasemissionen werden neue, nachhaltige Konzepte benötigt, die über individuelle E-Mobili- tät hinausgehen und wirksam Verkehrsströme reduzieren. Solche Konzepte werden aber bislang haupt- sächlich im Kontext städtischer Zentren diskutiert; suburbane und ländliche Räume werden zu wenig beachtet. Ein Projektverbund unter Beteiligung des IRS hat deshalb in einem urbanen und einem sub- urbanen Quartier vergleichend untersucht, unter welchen Bedingungen Menschen neuartige Lösungen in Stadtlogistik und Verkehr akzeptieren und nutzen. Seit Jahren hinkt der Verkehrssektor und Logistiklösungen vergleichend beim Klimaschutz hinterher. Wäh- für einen urbanen und suburbanen rend andere Bereiche ihre Treib- Raum untersucht. Konkret geht es hausgasemissionen spürbar senkten, dabei um Sharing-Lösungen für Las- liegen die Emissionen beim Verkehr tenräder und um alternative Zustell- auf dem Niveau von 1990 und gingen systeme wie anbieteroffene Paketsta- erst durch die Corona-Pandemie etwas tionen, die den Zustellverkehr auf der zurück, wie das Umweltbundesamt im „letzten Meile“ verringern sollen. Als Oktober 2021 mitteilte. Die Menschen Fallbeispiele dienen die urban geprägte im „Autoland Deutschland“ tun sich Mierendorff-Insel in Berlin-Charlot- schwer mit Alternativen zum motori- tenburg (der Name verweist auf die sierten Individualverkehr. Auch der Insellage zwischen Spree und Westha- Anstieg des Online-Shoppings und fenkanal) und die Kleinstadt Erkner der Paketzustellungen mit emissions- Dr. Ralph Richter aus dem suburbanen Gürtel um Ber- Tel. 03362 793-215 intensiven Transportern trägt zu den ralph.richter@leibniz-irs.de lin. Neben der Zugehörigkeit zur Met- anhaltend hohen Emissionen bei. ropolregion Berlin haben beide Gebiete Was sind die Gründe für die geringe Ralph Richter ist Soziologe und eine vergleichbare Einwohnerzahl Bereitschaft zur Änderungen des Ver- wissenschaftlicher Mitarbeiter der (rund 15.000 Menschen leben auf der haltens bei Mobilität und Logistik? Forschungsabteilung „Kommunikations- Mierendorff-Insel, 12.000 in Erkner). Bei der Ursachenforschung rücken und Wissensdynamiken im Raum“. Seine Unterschiedlich sind jedoch die räum- Forschungs- und Interessensschwer- spezifische lokale Bedingungen in lichen, siedlungsstrukturellen und inf- punkte liegen auf den Themen ländliche den Blick: Distanzen, die überwun- Entwicklung, soziale Innovation, Sozial- rastrukturellen Gegebenheiten. Hohe den werden müssen, und die unter- unternehmertum sowie Dorf- und Stadt- Bevölkerungsdichte, gründerzeitliche schiedliche Ausstattung verschie- quartiersentwicklung. Blockrandbebauung und eine ausge- dener Raumtypen – innerstädtisch, zeichnete Erschließung mit öffentli- suburban, ländlich – mit Verkehrsin- chen Verkehrsmitteln sind im urba- frastrukturen beeinflussen die Chan- nen Quartier prägend. Geringe Dichte, cen für eine Verlagerung hin zu öko- eine Mischung aus Einfamilien- logischen Alternativen. Die Forschung haus- und Plattenbaugebieten sowie trägt diesen räumlichen Unterschieden eine autozentrierte Infrastruktur prä- allerdings bislang zu wenig Rechnung. gen dagegen das suburbane Quartier. Die Mobilitäts- und Logistikwende hin Seit Mai 2020 hat das Projektteam zu nachhaltigen Verkehrs- und Liefer- beide Gebiete umfassend untersucht, formen wird bisher hauptsächlich mit unter anderem durch Begehungen, Blick auf Metropolen und Großstädte explorative Interviews, Medienana- untersucht. lysen und repräsentative Haushalts- befragungen. Diese Forschungslücke adressiert das Forschungsprojekt „Stadtquartier 4.1“, Vor allem die Ergebnisse der standar- indem es die soziale Akzeptanz und disierten Haushaltsbefragungen lassen Nutzung von nachhaltigen Verkehrs- einen systematischen Vergleich zwi- 18 IRS AKTUELL No 97 | Dezember 2021
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