Suffizienz an Hochschulen im ländlichen Raum - Leuphana

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Suffizienz an Hochschulen im ländlichen Raum - Leuphana
Michael Flohr ■ Luca Markus (Hg.)

Suffizienz
an Hochschulen im ländlichen Raum

                                    Gefördert durch die
                                    Europäische Union
Suffizienz an Hochschulen im ländlichen Raum - Leuphana
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Unterstützung der Europäischen Union erstellt.
Für den Inhalt der Publikation sind im Namen
des netzwerk n e.V. ausschließlich die Herausgeber
verantwortlich. Die Publikation gibt nicht die
Position der Europäischen Union wieder.

Impressum
Herausgeber: Michael Flohr, Luca Markus

netzwerk n e.V.
c/o Thinkfarm e.V.
Oberlandstraße 25-36
12099 Berlin

Lektorat: Michael Flohr, Gesine Wilbrandt
Illustrationen: Lukas Rosen, elrosen.com,
elrosenillustration@web.de
Layout: Michael Flohr, Lukas Rosen
Zeichnung des suffizienten Campus im Grünen:
Lena Sierk
1. Auflage: 800 Stück, Juli 2020, 100 % Recycling-
Papier (Blauer Engel), alkoholfreier Druck,
Biofarben, Verzicht auf umweltbelastende UV-
Strahlung bei der Farbtrocknung
Druckerei: hinkelsteindruck, Lausitzer Platz 15,
10997 Berlin | u.a. Ökostrombezug, nachhaltiges
Entsorgungskonzept
Suffizienz an Hochschulen im ländlichen Raum - Leuphana
   Inhalt
6	 Vorwort: Inhalt, Rahmung und Zielrichtung | Michael Flohr
8      Meine suffiziente Hochschule – ein Blick aus der Zukunft | Luca Markus
10     Suffizienz in ländlichen Räumen | Yasmine Willi
14     Suffizienz und Umweltpsychologie | Karen Hamann und Josephine Tröger im Gespräch

       Entschleunigung
16     Hochschule Aalen: Virtueller Lehr- und Erlebnispfad KARN
20     Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde: Silence Space
24     Leuphana Universität Lüneburg: Lebenswelt Campus
29		           Europa-Universität Flensburg: Radeln zum Campus

30     Achtsame Hochschulen in der digitalen Gesellschaft | Reyk Albrecht, Mike Sandbothe

       Entflechtung
32     Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde: Regulierung dienstlicher Kurzstreckenflüge
36     Donau-Universität Krems: Klimaresilienzerhebungen
40     Studentenwerk Schleswig-Holstein: Klimaschutz-Mensa Flensburg
44     Hochschule Neubrandenburg: Reallabor Kleinproduzenten
48     Hochschule Trier: Umwelt-Campus Birkenfeld

52     Suffizienz und Suffizienzpolitik | Claudia Wenzl, Angelika Zahrnt

       Entkommerzialisierung
56     Universität Vechta: gemueserausch Solidarische Landwirtschaft
60     Cusanus Hochschule: Masterstudiengang » Ökonomie – Nachhaltigkeit – Gesellschaftsgestaltung «
64     Europa-Universität Flensburg: KlimaMap
68     Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt: Foodsharing
72     Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt: Kapuzinergarten Eden – Klimagarten Eichstätt
77		           BTU Cottbus-Senftenberg: BTU Bienen e.V.

77		           Fachhochschule Graubünden: Strategische Initiative Nachhaltigkeit in der Lehre

77		           Universität Passau: Zweisprachiger Leitfaden für einen nachhaltigen (Studien-)Alltag

77		           Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde: Fairteiler

78     Suffizienz: vier verbreitete Missverständnisse | Niko Paech

       Entrümpelung
80     Hochschule Coburg: CREAPOLIS Makerspace
83		           Universität Hohenheim: Greening Repaircafé

84     Leuphana Universität Lüneburg: Zwischenraum
88     Universität Bayreuth: RadBox
91		           Technische Hochschule Deggendorf: BikeStation im EcoLab

92     Hochschule Emden-Leer: Fahrradverleihsystem

96     Kleines Lexikon der Suffizienz
98     Kurzvorstellung netzwerk n
Suffizienz an Hochschulen im ländlichen Raum - Leuphana
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Suffizienz an Hochschulen im ländlichen Raum - Leuphana
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Zeichnung: Lena Sierk
Suffizienz an Hochschulen im ländlichen Raum - Leuphana
Vorwort
    Inhalt, Rahmung und Zielrichtung
    Im Juni 2016 saß ich mit Johannes Geibel inmitten                      Ressourcen innerhalb der planetaren Tragfähigkeit
    einer illustren Runde von großen und bekannten In-                     bleibt. Übersetzt heißt das, Genügsamkeit sowie
    teressenvertretungen. Das Bundeskanzleramt hatte                       das » richtige « und » notwendige « Maß des Umwelt-
    das netzwerk n anlässlich der Anhörung zum Ent-                        verbrauchs auf individueller oder organisationaler
    wurf der Neuauflage der Deutschen Nachhaltigkeits-                     Ebene anzuvisieren. Konkret weisen folgende Stich-
    strategie eingeladen. Jede eingeladene Organisation                    wörter auf Suffizienz hin: Reduktion, Substitution
    konnte eine Stellungnahme einreichen und ihre                          und Anpassung des Ressourcenverbrauchs, ebenso
    Kritik während der Anhörung mündlich vorbrin-                          wie Eigenproduktion oder gemeinsame, langlebige
    gen – für unser noch junges, studentisch geprägtes                     Nutzung von Gütern – diese Strategien sind über-
    Netzwerk war es noch ungewohnt, überhaupt an                           dies unmittelbar mit einem achtsamen, bewussten
    diesem politischen Prozess zu partizipieren. Bemer-                    Umgang mit Mensch und Umwelt verbunden.
    kenswert war, wie geeint die oftmals im Detail dann                    Zudem rücken wir nicht die häufig prominent in der
    doch zerstrittene Zivilgesellschaft ihre Einschätzun-                  wissenschafts- und hochschulpolitischen Debatte
    gen und Grundüberzeugungen verbalisierte und                           vertretenen Hochschulen der großen städtischen
    den Entwurf kritisierte. Dieser Entwurf steht für                      Zentren ins Scheinwerferlicht, sondern fokussie-
    mich exemplarisch für den unhinterfragten poli-                        ren bewusst die mehr als 110 Hochschulen im
    tischen Konsens in Deutschland: Das Verständnis                        ländlichen Raum 3, die dort oftmals als regionale
    der starken Nachhaltigkeit findet keinen Einzug in                     Ankerpunkte mit Vorbild- und Innovationsfunk-
    politische Strategien, die unzähligen Zielkonflikte                    tion fungieren. Es ist grundsätzlich auffällig, dass
    zwischen Wirtschaftswachstum und einer nach-                           in Deutschland zumeist kleinere und mittlere
    haltigen Entwicklung werden konsequent ignoriert                       Hochschulen wie die Hochschule für nachhaltige
    und Rebound-Effekte sind offenbar in den Augen                         Entwicklung Eberswalde, die Leuphana Universität
    politischer Entscheider*innen irrelevant.1 Zuletzt                     Lüneburg oder der Umwelt-Campus Birkenfeld vor­
    – und damit schließt sich der Bogen zum Thema                          angehen und Nachhaltigkeit am konsequentesten
    dieses Hefts – war der Entwurf » von Effizienz- und                    in ihre Strukturen überführt haben.
    Konsistenzzielen und -maßnahmen durchzogen. « 2
                                                                           Die Beispiele sind systematisch aufgearbeitet, um
    Mit anderen Worten: Das Fundament der Nachhal-
                                                                           die Nachahmung und Adaption möglichst nied-
    tigkeitsstrategie bildet ausschließlich eine Wette
                                                                           rigschwellig zu ermöglichen. Allerdings werden
    auf technische Innovationen in der Zukunft. Zwei-
                                                                           diejenigen bemerken, die mit unseren Sammlun-
    felsohne sind Effizienz und Konsistenz wesentliche
                                                                           gen vertraut sind, dass wir sowohl die inhaltliche
    und unentbehrliche Nachhaltigkeitsstrategien,
                                                                           Vorstellung im Sinne der Zugänglichkeit und Ver-
    doch ohne Suffizienz ist ein nachhaltiger Pfad des
                                                                           ständlichkeit weiterentwickelt als auch die grafische
    menschlichen Lebens auf unserem Planeten mit
                                                                           Gestaltung deutlich überarbeitet haben. Die vielfach
    endlichen Ressourcen unerreichbar. Denn: Erst
                                                                           zitierten vier E's nach Wolfgang Sachs – Entschleu-
    die Suffizienz fragt nach dem » Warum « und » Ob «
                                                                           nigung, Entflechtung, Entkommerzialisierung und
    des Ressourcenverbrauchs und setzt in der Gegen-
                                                                           Entrümpelung 4 – dienen als inhaltliches Raster, in
    wart beim Handeln eines jeden Individuums und
                                                                           das wir intuitiv und gewiss nicht allgemeingültig
    einer jeden Organisation an. Letztlich brachte eine
                                                                           und disjunkt alle Beispiele nach ihrem primären Fo-
    Stichwortsuche der Begriffe » effizient « und » Effizi-
                                                                           kus eingeteilt haben. Beiträge, die unterschiedliche
    enz « im Entwurf der Nachhaltigkeitsstrategie 111
                                                                           Perspektiven auf das Thema Suffizienz einnehmen,
    Ergebnisse – » suffizient « und » Suffizienz « fanden
                                                                           ergänzen und rahmen inhaltlich die Vorstellung der
    sich dagegen: null (!) Mal.
                                                                           Good Practices.
    Mit dieser Good Practice-Sammlung setzen wir
                                                                           Mit knapp 40 Einreichungen auf unseren Call
    einen Kontrapunkt zur bequemen, aber zugleich
                                                                           wurden unsere Erwartungen erheblich übertroffen.
    für künftige Generationen riskanten Wette auf eine
                                                                           Vor allem beeindruckt die Vielfalt, wie Menschen
    alleinig effiziente und konsistente Zukunft. Wir
                                                                           und Initiativen Suffizienz in Hochschulen und der
    nehmen die Gegenwart in den Blick und stellen An-
                                                                           unmittelbaren Umgebung verankert haben bzw.
    sätze, Projekte und Strukturen erprobter, etablierter
                                                                           verankern wollen. Das Spektrum reicht von Sharing-
    und gelingender Suffizienz an Hochschulen vor. Suf-
                                                                           und Verleih-Angeboten, Repair Cafés, Maker Spa-
    fizienz bedeutet für uns, dass Konsummuster reflek-
                                                                           ces, Lehrangeboten, einem Zero Emission-Konzept,
    tiert und verändert werden, sodass die Nutzung von
                                                                           Foodsharing, Regulierung dienstlicher Kurzstre-
    1   Zu den Begriffen » starke Nachhaltigkeit « und » Rebound « siehe
        unser Lexikon am Ende des Hefts.                                   3   Abgrenzung des ländlichen Raums nach Küpper (2016): Abgren-
    2   Stellungnahme netzwerk n zum Entwurf der Deutschen Nachhaltig-         zung und Typisierung ländlicher Räume. Thünen Working Paper 68.
        keitsstrategie: https://t1p.de/ex1p.                               4   Zu den Begriffen siehe Wenzl und Zahrnt in diesem Heft.

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Suffizienz an Hochschulen im ländlichen Raum - Leuphana
ckenflüge, Campus-Bienen, Urban Gardening, Si-                                                      Verwendungsempfehlung der Sammlung
   lence Space, wiederverwendbaren Thermobechern,
                                                                                                             als Bildungsmaterial in formalen und informel-
   Klima-Mapping, Forschungsprojekten, Klimaresili-
                                                                                                             len Bildungskontexten an und außerhalb von
   enz und gesundes Arbeiten bis Reallabor.
                                                                                                             Hochschulen
                                                                                                             als Inspiration und Anleitung zum Wandel für
   Ziele unseres Hefts
                                                                                                             Nachhaltigkeitsinitiativen und -akteure an Hoch-
       Suffizienz als Nachhaltigkeitsstrategie auf die                                                       schulen – seien sie studentisch, statusgruppen-
       Agenda von Hochschulen setzen                                                                         übergreifend, aus der Verwaltung, von Lehrstüh-
       Austausch und Vernetzung anregen                                                                      len etc. – und in der kommunalen Politik
       den ländlichen Raum als Erprobungsort von                                                             als starkes Argument in hochschulpolitischen
       Suffizienz in das Bewusstsein rücken                                                                  und regionalen Transformationsprozessen
       suffiziente und zukunftsweisende Verhaltens-
       weisen und Lebensmodelle an Hochschulen                                                         Ich hoffe, dass diese Sammlung Euch und Ihnen
       initiieren und verbreiten                                                                       Motivation und Inspiration liefert und gleichzeitig
       strukturelle Veränderungen für eine Integration                                                 aufzeigt, was auch an Eurer und Ihrer eigenen Hoch-
       von Suffizienz in die hochschulischen Bereiche                                                  schule möglich ist. Wagt Neues, werft Ballast ab und
       Lehre, Forschung, Betrieb & Campusleben,                                                        zeigt, wie vielfältig und erfüllend Suffizienz für eine
       Governance und Transfer anstoßen                                                                nachhaltige Entwicklung umzusetzen ist.

                                                                                                       Dr. Michael Flohr
                                                                                                       ist für das netzwerk n tätig und arbeitet zu
                                                      Studentenwerk Schleswig-Holstein
                                                                                                       den Themen nachhaltige Hochschulent-
      Entschleunigung
                                                      Klimafreundliche Mensa Flensburg                 wicklung, nachhaltige Digitalisierung und Kulturpolitik.
      Entflechtung
                                                                                                       ■ Webseite: https://nachhaltigkeit-politik-kultur.de
      Entkommerzialisierung                              Europa-Universität Flensburg
                                                         KlimaMap
      Entrümpelung                                       Radeln zum Campus

      Hochschule Emden-Leer                    Leuphana Universität Lüneburg                        Hochschule Neubrandenburg
      Fahrradverleihsystem                     Lebenswelt Campus                                    Reallabor Kleinproduzenten
                                               Zwischenraum

                                                                                                              Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde
                                                                                                              Silence Space
                     Universität Vechta
                                                                                                              Regulierung dienstlicher Kurzstreckenflüge
                     gemueserausch Solidarische Landwirtschaft
                                                                                                              Fairteiler

                                                                                                                  BTU Cottbus-Senftenberg
                                                                                                                  BTU Bienen e.V.
                                                 Friedrich-Schiller-Universität Jena
                                                 Ernst-Abbe-Hochschule Jena
                                                 Technische Universität Ilmenau
                                                 Achtsame Hochschulen in
                                                 der digitalen Gesellschaft

Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung                            Hochschule Coburg
Masterstudiengang „Ökonomie – Nachhaltigkeit –                            CREAPOLIS Makerspace
Gesellschaftsgestaltung“
                                                                                    Universität Bayreuth
                                                                                    RadBox
       Hochschule Trier
       Umwelt-Campus Birkenfeld
                                                                        Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
                                                                        Kapuzinergarten Eden
                                                                        Foodsharing              Technische Hochschule Deggendorf
                                                                                                 BikeStation im EcoLab
                           Universität Hohenheim
                           Greening Repaircafé               Hochschule Aalen
                                                             Virtueller Lehr- und                          Universität Passau
                                                             Erlebnispfad KARN                             Zweisprachiger Leitfaden für einen
                                                                                                           nachhaltigen (Studien-)Alltag

                                                                                                                       Donau-Universität Krems
                                                                                                                       Klimaresilienzerhebungen

                              Fachhochschule Graubünden
                              Strategische Initiative Nachhaltigkeit in der Lehre

                                                                                                                                                                  7
Suffizienz an Hochschulen im ländlichen Raum - Leuphana
Meine suffiziente
    Hochschule
    Ein Blick aus der Zukunft
     Wir schreiben das Jahr 2052. Ich steige von meinem         Forschungscommunity zum Einsatz der Permakultur
     Fahrrad und schiebe die letzten Meter bis zu den           und moderner Subsistenz entstanden.
     Fahrradständern meiner alten Uni; zuletzt habe             Ich frage, wie denn so der Studierendenalltag sei –
     ich den Campus vor dreißig Jahren besucht. Ich             sehr selbstbestimmt und partizipativ, so könne man
     bin gespannt, was sich in dieser Zeit alles verändert      das zusammenfassen, ist der Tenor der Gruppe. So
     hat. Erstmal gilt es aber, einen freien Fahrradbü-         sei der Anteil von Pflichtmodulen zugunsten eines
     gel zu finden – manches bleibt eben doch gleich.           höheren Anteils an General Studies-Inhalten redu-
     Doch schon auf dem Weg zum Campus fällt mir viel           ziert worden, sodass viel Raum für selbstbestimm-
     fundamental Neues ins Auge – die öde Brachland-            tes Lernen und studentisches Engagement bleibe
     schaft auf und um das Gelände ist einer Vielfalt an        – dieses sei mittlerweile nämlich auch anrechenbar,
     Gemüsegärten, Wildblumenwiesen und gemein-                 natürlich unter strengen Auflagen. Besonders sozi-
     schaftlichen Orten des Austauschs, Innehaltens             al-ökologische Initiativen hätten davon profitiert,
     und Verweilens gewichen. Überall sind Menschen             würden von Hochschulen intensiv gefördert und
     unterschiedlichen Alters, diskutieren, lesen, singen,      in wichtige Entscheidungen eingebunden. Diese
     machen Sport.                                              Gruppen seien es auch, die einfach loslegten und
     Ich stelle mein Fahrrad ab und laufe auf den großen        kreative Impulse für Suffizienz an ihrer Uni setzten;
     Hörsaal der Wirtschaftswissenschaften zu, dessen           regelmäßig greife die Hochschulgemeinschaft auf
     Fassade fast komplett begrünt ist – ein Paradies           diese Erprobungen zurück und verankere sie in der
     für Insekten und Vögel, die das Gebäude in eine            gesamten Organisation.
     summende und singende Oase verwandeln. Ob das              Durch diesen Studienaufbau, der mehr auf Qualität
     wohl ein Neubau ist? Oder immer noch der gleiche           statt auf Quantität setzt, sind personelle und räum-
     Betonklotz von damals? Ich gehe weiter, bin schon          liche Kapazitäten in den Studiengängen frei gewor-
     spät dran. In der letzten Reihe ist noch ein Platz frei,   den, die in eine engere Beratung und Betreuung der
     ich setze mich und lausche gespannt den Worten             Studierenden sowie eine gezielte Förderung fließen,
     der Gastdozentin aus Kolumbien, die per Video live         damit verstärkt weniger privilegierte Menschen
     zugeschaltet ist. Schnell wird deutlich, dass suffizi-     Zugang zu Hochschulbildung erhalten. Gemeinsam
     ente Formen des Wirtschaftens auch in der Lehre            mit einer Reform der Studienzulassung führten diese
     zentral sind und eine klare Normverschiebung weg           Maßnahmen zu einer größeren sozialen Durchlässig-
     von der Dominanz einer Wachstums- und Effizi-              keit und geringerem Notendruck – Konkurrenz um
     enzorientierung hin zu einer theoretischen und             Studienplätze sei ein Fremdwort. Auch die Zahl der
     methodischen Pluralität stattgefunden hat – einge-         Studienabbrecher*innen sei deutlich gesunken, wie
     bettet in die ökologischen Grenzen des Planeten.           ich höre. Dennoch sei hier immer noch viel zu tun,
     Auch ist die Vorlesung deutlich interaktiver und           merkt ein Student an.
     abwechslungsreicher als früher. Studierende fragen
                                                                Zwei von ihnen müssen weiter zu einem Workshop,
     häufig nach, diskutieren mit der Professorin, neh-
                                                                wir verabschieden uns. Ich blicke ihnen nach. Es ist
     men an Umfragen teil und müssen kurze Aufgaben
                                                                immer noch viel zu tun, die Worte hallen in mir nach.
     erledigen, stellen Bezüge zum eigenen Leben und
                                                                Vor meinem inneren Auge erscheinen die Nachhaltig-
     gegenwärtigen Phänomenen her.
                                                                keitsbemühungen zu meiner Studienzeit. Damals, als
     Danach komme ich mit einigen Studierenden ins              sämtliche Klimaabkommen auf der Kippe standen
     Gespräch. Ich bin neugierig über die Vielfalt im           und gesellschaftliche Konflikte dazu führten, die
     Studium im Rahmen eines maßvollen Wirtschaf-               Lebensgrundlage der folgenden Generationen fast zu
     tens. Sie berichten, dass Suffizienz und Konzepte zu       zerstören und ein selbstbestimmtes, gerechtes und
     Degrowth mittlerweile in den meisten Disziplinen           respektvolles Miteinander von Menschen unabhän-
     Einzug gehalten hätten – in den Ingenieurswissen-          gig ihrer Klasse, Race und Gender in weiter Ferne
     schaften werde zu konvivialer Technik geforscht            schien.
     und gelehrt, die Sozialwissenschaften widmeten
                                                                Und als überdies jene, die sich für Nachhaltigkeit in-
     sich verstärkt Initiativen, die genügsames, gemein-
                                                                teressierten, Suffizienz belächelten, in ihren Nachhal-
     schaftliches und selbstbestimmtes Leben und
                                                                tigkeitsberichten in einer Randnotiz vermerkten und
     Arbeiten praktizieren, in der Biologie sei eine große

8
Suffizienz an Hochschulen im ländlichen Raum - Leuphana
sich wieder der » Realpolitik « widmeten. Damals, als
eine Generation von Schüler*innen, Studierenden
                                                        Luca Markus
und weiteren Engagierten laut wurde, um für eine        ist studentischer Mitarbeiter im netzwerk n
                                                        und studiert Psychologie an der Universität
lebenswerte und gerechte Zukunft zu kämpfen, und        Bremen. Seine Schwerpunkte sind psycholo-
einen radikalen Umbau unseres Wirtschafts- und          gische Aspekte von Degrowth und Grundbe-
Gesellschaftssystems forderte. Langsam wird mir         dürfnisse.
bewusst, was diese Streiks, Bemühungen und Arbeit
der unzähligen Initiativen für unser Zusammenle-
ben und in der Hochschullandschaft bewirkt haben.
Gedankenversunken gehe ich im Schatten der Obst-
bäume zur Mensa; mein Magen knurrt.
Auf dem Speiseplan finde ich bis auf ein Essen aus-
schließlich Gerichte auf pflanzlicher Basis. Obwohl
die Auswahl überschaubar ist, dauert die Ent-
scheidung eine gefühlte Ewigkeit; ich bin hin- und
hergerissen zwischen den vielfältigen Gerüchen und
Farben. Ich nehme einen Linsensalat, balanciere
mit meinem Tablett zwischen den Reihen hindurch
und setze mich neben eine Gruppe, vermutlich
wissenschaftliche Mitarbeiter*innen. Ich belausche
unauffällig ihr Gespräch. Sie unterhalten sich über
die Modifikationen der Open Source-Plattform,
über die seit Jahren sämtliche Forschungsergebnis-
se publiziert werden – transparent und global für
alle zugänglich.
Jegliche Hektik ist von diesem Ort verschwunden,
keine Spur von schneller Nahrungsaufnahme
zwischen Vorlesungen. Viele Menschen sitzen
noch eine ganze Weile, unterhalten sich oder lesen.
Noch lange bleibe ich sitzen und beobachte das
Geschehen. Dann trete ich ins Freie, erkunde meine
Lieblingsecken von damals und Gebäude, in denen
ich nie gewesen bin. Mir fällt auf, wie effektiv und
vielfältig Räume genutzt werden – in einem Hörsaal
findet eine Lesung statt, in einem Seminarraum
wird meditiert, die Sporthalle dient heute als Ort
zum Blutspenden. Gleichzeitig findet ein Biologie-
seminar in einem der Nutzgärten statt.
Ich merke, dass meine Uni kein isolierter Elfenbein-
turm mehr ist, sondern Verantwortung in und mit
der Gesellschaft übernimmt. In Reallaboren und
Transferprojekten wird ein reger Wissensaustausch
mit Menschen und Initiativen aus der Umgebung
gefördert – seien es suffiziente Raumnutzungs-
konzepte, solidarische Landwirtschaft oder neue
Formen der Mobilität. Zudem werden Studierende
und vielfältige Akteur*innen der Zivilgesellschaft
in Entscheidungsprozesse, was wie erforscht wird,
transparent mit einbezogen und beteiligen sich an
Forschungsprojekten.
Ich verbringe noch eine ganze Zeit an verschiedenen
Orten und kehre, vollgepackt mit Eindrücken, zu
meinem Rad zurück. Als ich eine Person von Fahr-
rad zu Fahrrad gehen sehe, seufze ich ein bisschen
genervt. Immer noch dieselben unnützen Werbe-
flyer auf dem Gepäckträger.
Doch als ich mich nähere, muss ich lächeln. Auf
jedem Fahrrad liegt eine kleine Pflanze.

                                                                                                      9
Suffizienz an Hochschulen im ländlichen Raum - Leuphana
Suffizienz in
 ländlichen Räumen
     Suffizienz beschreibt das Bemühen, individuelle           Der Begriff ländlicher Raum weckt viele, auch stereo-
     und gesellschaftliche Konsum- und Produktions-            type und dichotome Assoziationen – sowohl in der
     muster dahingehend zu verändern, dass mensch-             gesellschaftlichen Wahrnehmung wie auch in politi-
     liche Bedürfnisse ressourcenschonend, lokal und           schen Diskussionen. Für die einen stehen ländliche
     sozialverträglich gestillt werden. Im Gegensatz zu        Räume für sich leerende und entvölkerte Regionen,
     den bisher von Politik und Gesellschaft priorisierten     verfallene Häuser, Arbeitslosigkeit, » klamme « Kom-
     produktorientierten Effizienz- und Konsistenzstra-        munen, Unterversorgung und Populismus – abge-
     tegien stehen bei Suffizienzstrategien das Verhalten      hängte Regionen ohne Perspektive. Für andere reprä-
     von Konsument*innen im Zentrum. Dabei spielt die          sentieren ländliche Räume unberührte Natur, Ruhe,
     Veränderung der individuellen Erwartungen an die          Gesundheit, Platz zum Wohnen – ein romantisiertes
     Lebensqualität eine tragende Rolle. Suffizienzstra-       Bild einer ländlichen Idylle (Penke 2012: 17; Arl
     tegien zielen darauf ab, einen » Mehrwert im Sinne        2019: 2; Franzen et al. 2008: 9). Feststeht, dass es den
     von Freiheit, weniger Stress, Zeitgewinn, Detox,          ländlichen Raum nicht gibt, sondern eine Vielfalt an
     mehr soziale Interaktion, Gesundheit und neues            ländlichen Räumen existiert, die sich in ihrer Lage,
     Lebensgefühl « (Burger et al. 2019: 3) zu erzeugen.       ihren sozioökonomischen Rahmendbedingungen,
     Ausgehend von der Einsicht, dass maßvoller Genuss         Entwicklungspotenzialen und ihrer Lebensqualität
     die Lebensqualität nicht schmälern muss (Linz             stark unterscheiden. Ländliche Räume sind » vielfar-
     2015: 5) und im Wissen über die Grenzen der glo-          big und tiefgründig zugleich, von sehr unterschiedli-
     balen Ressourcen und Energieträger, sind in den           chen Wachstumsprozessen betroffen; [ihre] ausge-
     letzten Jahren eine wachsende Zahl an suffizienten        prägten regionalen und lokalen Individualitäten, […]
     Initiativen und Angeboten entstanden, die ein res-        vielschichtigen Potenziale und Probleme, entziehen
     sourcenleichtes Leben ermöglichen: Unverpackt-Lä-         sich einer schnellfüßigen Darstellung und Generali-
     den, Tauschbörsen, Repair-Cafés und Sharing-An-           sierung « (Henkel 2020: 25).
     gebote unterstützen Interessierte dabei, ihren            Zur statistischen Abgrenzung der ländlichen Räume
     Konsum zu begrenzen, zu reduzieren oder diesem            werden in Deutschland häufig Verdichtungs-, Zent-
     vollständig zu entsagen (Folkers & Paech 2020: 143)       ralitäts- und / oder Erreichbarkeitsmerkmale sowie
     -– also suffizient zu gestalten.                          die Bevölkerungsdichte betrachtet (Franzen et al.
     Bislang finden sich solche Angebote und Initiati-         2008: 2). Der neuste Raumordnungsbericht aus dem
     ven besonders im urbanen Raum. An sich ist der            Jahr 2017 vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und
     (Wohn-)Ort für einen suffizienten Lebensstil nicht        Raumforschung (BBSR) unterscheidet zwischen den
     ausschlaggebend, da dieser in erster Linie von der        Kreistypen ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen
     persönlichen Einstellung, Gewohnheiten, Verhal-           und dünn besiedelte ländliche Kreise. Dabei macht
     tensweisen und Werten abhängt. Dennoch können             erster Typ knapp 28 % der Fläche und rund 17 % der
     politische und gesellschaftliche Rahmenbedingun-          Bevölkerung und letzter rund 40 % der Fläche und
     gen dabei helfen, dass Suffizienz im Alltag leichter      knapp 14 % der Bevölkerung Deutschlands aus (BBSR
     erprobt und gelebt werden kann. Städte fungieren          2017: 10).
     seit jeher als › Reallabore ‹, in denen alternative Le-   Andere Abgrenzungsansätze beziehen verstärkt
     bens- und Arbeitsformen getestet und Experimente          landschaftliche Merkmale mit ein. So benutzt das
     gewagt werden können. Städte bieten einer großen          Thünen-Institut – neben der Bevölkerungs- und Sied-
     Anzahl an Menschen alle Daseinsgrundfunktionen            lungsdichte – folgende Landnutzungs-Kriterien, um
     und stellen die dafür notwendige Infrastruktur            verschiedene Typen ländlicher Räume zu unterschei-
     bereit (Kopatz 2016: 3).                                  den: Anteil an landwirtschaftlich genutzter Flächen,
     Doch wie sieht es mit Suffizienz im ländlichen            Wälder und Gewässer, Vorhandensein niedrigge-
     Raum aus? Inwiefern könnten Suffizienzstrategien          schossiger und aufgelockerter Bebauung und die
     ländliche Räume dabei unterstützen, lebenswerte           Entfernung zu Oberzentren. Nach dieser Analyse lebt
     Räume zu schaffen – trotz Mangel an finanziellen,         knapp 57 % der Bevölkerung in ländlichen Räumen
     materiellen und sozialen Ressourcen. Tatsäch-             auf ca. 91 % der Fläche Deutschlands (Küpper 2016).
     lich gibt es bis heute kaum Erkenntnisse darüber,         Nicht nur die Assoziationen und Abgrenzungsan-
     welche Bedeutung Suffizienz in ländlichen Räumen          sätze für ländliche Räumen sind vielfältig, sondern
     hat und wie Suffizienzstrategien gefördert werden         auch deren Charakteristika und Herausforderungen.
     könnten.                                                  Besonders strukturschwache Regionen sehen sich

10
damit konfrontiert, dass die Bevölkerung überaltert      rung der Lebensstile: Selbstversorgung statt Erwerbs-
und junge, gut ausgebildete Fachkräfte wegziehen.        arbeit, Produktion statt Konsum, Re-Lokalisierung
Fehlende Steuereinnahmen können ein Loch in              statt globale Abhängigkeit (BBSR 2015: 9). Suffiziente
die Kasse vieler Kommunen reißen, was den Abbau          Ansätze werden bereits heute in verschiedenen Berei-
öffentlicher Infrastruktur und Dienstleistungen be-      chen in ländlichen Räumen erprobt und erfolgreich
schleunigen kann. In manchen Fällen ist der Verlust      umgesetzt. Sie stehen häufig im Zusammenhang mit
von regionaler Identität und Solidarität zu beobach-     Bewegungen und Initiativen wie den transition towns
ten (BMEL 2019: 18ff.). Vielen ländlichen, struktur-     oder den Ökodörfern (Hopkins 2014; Schulz 2017;
schwachen Kommunen fällt es daher zunehmend              Kliemann 2016). Konkrete Beispiele für Suffizienz
schwer, Grunddaseinsfunktionen angesichts                im ländlichen Raum gibt es einige: Bürger-, Bücher-,
begrenzter finanzieller und materieller Ressourcen       und Ärztebusse, genossenschaftlich organisierte
sicherzustellen.                                         Lebensmittelläden mit Erweiterung um Dienstleis-
Um diese Kommunen zu unterstützen, existieren            tungen von Post oder Medikamentenversorgung,
verschiedene (politische) Förderprogramme und            Nutzung leerstehender (kommunaler) Gebäude z.B.
instrumente. Viele dieser politischen Maßnahmen          für nicht-kommerziell betriebene coworking spaces,
zielen darauf ab, wirtschaftliches Wachstum zu er-       Werkstätten oder Orte des öffentlichen Lebens (Treff-
zeugen und so die kommunale Entwicklung positiv          punkt, Bibliothek), autarke Energiesysteme oder
zu beeinflussen. Solche Ansätze setzten jedoch ein       Regionalwährungen. Häufig bleiben aber solche suf-
gewisses wirtschaftliches (Innovations-)Potential,       fizienten Initiativen im ländlichen Raum Einzelfälle
exportorientierte Branchen und eine kritische Mas-       und es fehlen Bemühungen, Suffizienz als gesamt-
se sowohl an Unternehmenden und Schlüsselak-             gesellschaftliche Handlungsweise und politische
teuren voraus, die Innovationsprozesse initiieren,       Entwicklungsstrategie zu verankern.
Projekte umsetzen, als auch an Konsument*innen,          Dabei können gewisse Merkmale ländlicher Räu-
die diese Angebote in Anspruch nehmen. Doch ein          me Suffizienz befördern: Das häufig überschau-
solches Potential ist gerade in strukturschwachen,       bare Sozialgefüge und engmaschige Netzwerke
ländlichen Regionen nur schwach vorhanden, wes-          (z.B. Vereinskultur) können dabei helfen, dass
halb die regionalpolitische Ausrichtung auf Wachs-       solidarische Aktivitäten wie z.B. Tauschringe oder
tum in diesen Regionen häufig nicht fruchtet.            Nachbarschaftshilfen in ländlichen Räumen ein-
Darüber hinaus verhindert die Konzentration auf          facher umgesetzt werden können als in anonymen
Wachstumsförderung, dass alternative Entwick-            Großstädten (Schulz 2017: 11; Linz 2015: 20). Solche
lungspfade kaum gesellschaftlich verhandelt und          Angebote können Einzelne dabei unterstützen, auf
politisch diskutiert werden. Besonders ländliche         die Erwerbung bestimmter Gegenstände zu verzich-
Schrumpfungsprozesse werden von der Politik als          ten und diese stattdessen bei Bedarf mit anderen zu
auch der Gesellschaft häufig trivialisiert, tabuisiert   tauschen. Auch andere Dienstleistungen wie Fahr-
oder dann vehement bekämpft. Doch immer mehr             gemeinschaften oder Kleinkindbetreuung können
Kommunen in Deutschland, aber auch in Großbri-           durch Solidarität erleichtert werde. Aber auch meh-
tannien oder den Niederlanden, setzen sich damit         rere Kommunen, die sich zusammenschließen, um
auseinander, solche Prozesse zu akzeptieren und          gemeinsame größere Anschaffungen, wie z.B. Kehr-
politische Maßnahmen darauf auszurichten, die ne-        maschinen oder Feuerwehrautos, zu tätigen, können
gativen Auswirkungen von Schrumpfung zu mildern          von regionaler Solidarität profitieren und gleichzeitig
(Hospers 2014: 1513).                                    sowohl ihre Ausgaben als auch ihren Ressourcen-
                                                         verbrauch drosseln. Regionale Entwicklungsträger
Wo dies jedoch nicht geschieht, können wachs-
                                                         können Kommunen darin unterstützen, gemeinsam
tumsorientierte Entwicklungsstrategien dazu
                                                         zu planen und sich gegenseitig abzustimmen – z.B.
führen, dass sich die Probleme in den betroffenen
                                                         bei Schulen, Seniorenheimen oder bei der Revitalisie-
Kommunen verstärken: Die umworbenen jungen
                                                         rung von Leerstand um eine Bebauung auf der › grü-
Familien und Firmenzuzüge bleiben trotz bereit-
                                                         nen Wiese ‹ zu verhindern. Weiter bieten ländliche
gestellter Infrastruktur und Flächenausweisungen
                                                         Räume viel Platz für die Selbstversorgung mit und
aus oder der Steuerwettbewerb und der Unterhalt
                                                         Lagerung von Lebensmitteln (Hahne 2017: 53), aber
leerstehender und überdimensionierter Infra-
                                                         auch für die Erzeugung erneuerbarer Energie. Gerade
struktur verstärken die finanziellen Engpässe vieler
                                                         hierbei bieten sich neue Land-Stadt-Beziehungen in
Kommunen. Vereinzelt wird darauf hingewiesen,
                                                         Regionen an. Auch die solidarische Landwirtschaft,
dass das » Aussterben des ländlichen Raums […] in
                                                         die neben der Versorgungssicherheit auch auf soziale
besonderem Maße denjenigen Regionen [droht],
                                                         Kohäsion setzt, findet gute Voraussetzungen in länd-
die weiterhin auf Wirtschaftswachstum und Export
                                                         lichen Räumen.
setzen « (Deimling & Raith 2017: 12).
                                                         Regionalpolitische Förderprogramme könnten
Vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen,
                                                         durch die Ausrichtung auf Suffizienz neu gedacht
ob und inwiefern Suffizienzstrategien dabei helfen
                                                         und formuliert werden. Obwohl dieser Ansatz im
könnten, alternative Lösungen für den ländlichen
                                                         Grunde nicht neu ist – über die › Grenzen des Wachs-
Raum zu entwickeln. Im Zentrum steht die Verände-

                                                                                                                   11
tums ‹ wird seit den 1970er Jahren debattiert und
     spätestens seit den 1980er Jahren ist die › endogene
                                                                Literatur
     Regionalentwicklung ‹ ein bekanntes Thema – ist es         Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL)
                                                                    (2019): Ländliche Räume. Nachrichten der ARL. 02/2019.
     angesichts der heutigen nicht-nachhaltigen globa-              49. Jahrgang. Hannover.
     len Produktionsmuster und der Übertretung der              Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR)
     Grenzen der ökologischen Tragfähigkeit mehr denn               (2017): Raumordnungsbericht 2017. Daseinsvorsorge
     je an der Zeit für eine Renaissance dieser Ansätze             sichern. Bonn.
     in Form von suffizienten Entwicklungsstrategien.           Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR)
     Diese könnten Kommunen dabei helfen, den Fokus                 (2015): Kreativ aus der Krise. Vorstudie. Bonn.
                                                                Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
     auf das Vorhandene zu legen, anstatt Angebote                  (BMEL) (2019): Ländliche Regionen verstehen. Fakten
     für › die großen Unbekannten ‹ – neu zuziehende                und Hintergründe zum Leben und Arbeiten in ländlichen
     Einwohner*innen sowie Firmen – zu ersinnen. Dies               Regionen. Berlin.
     würde auch bedeuten, bewusst auf einen weiteren            Burger, P., Hess, A.-K., Parlow, S., Schubert, I., Sohre, A.
     Infrastrukturausbau zu verzichten und nicht länger             (2019): Suffizienz im Alltag. Vielversprechende Schritte
     Neuansiedlungen zu bewerben und zu planen.                     auf dem Weg zur Erreichung einer CO2-armen Gesellschaft.
                                                                    Basel.
     Stattdessen ständen die qualitative Verbesserung           Debiel, S., Engel, A., Hermann-Stietz, I., Litges, G., Penke,
     des alltäglichen Lebens und die Bedürfnisse der                S., Wagner, L. (Hrsg.) (2012): Soziale Arbeit in ländlichen
     Bewohner*innen im Fokus.                                       Räumen. Wiesbaden. S. 17-27.
     Damit könnten gerade ländliche Räume zu neuen              Deimling, D., Raith, D. (2017): Regionale Resilienz als alter-
                                                                    native ökonomische Perspektive nachhaltiger Regional-
     Reallaboren werden, in denen altbekannte Wachs-
                                                                    entwicklung. Vorlage an das Amt der Steiermärkischen
     tumspfade verlassen werden, um neue, suffiziente               Landesregierung. Abteilung 17 – Landes- und Regional-
     Wege auszuprobieren und neue Lebens-, Lern- und                entwicklung. Graz.
     Arbeitsformen zu wagen. Denkbar ist sogar, dass            Franzen, N., Hahne, U., Hartz, A., Kühne, O., Schafranski,
     ländliche Räume damit eine » Vorreiterrolle bei der            F., Spellerberg, A., Zeck, H. (2008): Herausforderung
     aktiven Bewältigung « (BBSR 2015: 6) der ökolo-                Vielfalt – Ländliche Räume im Struktur- und Politikwandel.
                                                                    E-Paper der ARL Nr. 4. Hannover.
     gischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
                                                                Folkers, M., Paech, N. (2020): All you need is less. Eine Kultur
     Veränderungen einnehmen könnten. Doch trotz                    des Genug aus ökonomischer und buddhistischer Sicht.
     erster Erkenntnisse über die Chancen der Suffi-                München.
     zienzstrategien für ländliche Räume sind weitere           Hahne, U. (2017): Die Region in der Postwachstumsdebatte.
     Forschungsprojekte nötig, um zu verstehen, wie                 In: Knieling, J.: Wege zur großen Transformation. Heraus-
     suffiziente Strategien und Initiativen in ländlichen           forderungen für eine nachhaltige Stadt- und Regionalent-
                                                                    wicklung. München. S. 49-64.
     Räumen entstehen, welche Faktoren diese fördern
                                                                Henkel, G (2020): Der Ländliche Raum. Gegenwart und Wand-
     oder hemmen und was gegebenenfalls die öffent-                 lungsprozesse seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland.
     liche Hand dazu beitragen kann, Menschen in                    Stuttgart.
     ländlichen Räumen ein ressourcenleichtes Leben             Hopkins, R. (2014): Einfach. Jetzt. Machen! Wie wir unsere
     zu ermöglichen.                                                Zukunft selbst in die Hand nehmen. München.
                                                                Hospers, G.J. (2014): Policy Responses to Urban Shrinkage:
                                                                    From Growth Thinking to Civic Engagement. European
                                                                    Planning Studies. 22:7. S. 1507-1523.
                                                                Kliemann, C. (2016): Die Ökodorf-Bewegung: Degrowth als ge-
     Dr. Yasmine Willi		                                            lebte Realität? URL: https://www.degrowth.info/de/dib/
     ist Geographin, forscht an der Eidg. For-                      degrowth-in-bewegungen/oekodoerfer/ (letzter Abruf:
     schungsanstalt für Wald, Schnee und Land-                      22.04.2020).
     schaft (WSL) zu Governance, Regionalentwicklung und        Kopatz, M. (2016): Kommunale Suffizienzpolitik. Strategische
     nachhaltigen Transformationsprozessen und leitet das           Perspektiven für Städte, Länder und Bund. Köln.
     von der Stiftung Mercator Schweiz geförderte Forschungs-   Linz, M. (2015): Suffizienz als politische Praxis. Ein Katalog.
     projekt › Suffizienzpolitik in ländlichen Gemeinden ‹          Wuppertal.
     (2020-2023).                                               Küpper, P. (2016): Abgrenzung und Typisierung ländlicher
                                                                    Räume. Thünen Working Paper 68. Braunschweig.
                                                                Penke, S. (2012): Ländliche Räume und Strukturen – mehr
                                                                    als eine » Restkategorie « mit Defiziten. In: Debiel, S., En-
                                                                    gel, A., Hermann-Stietz, I., Litges, G., Penke, S., Wagner,
                                                                    L. (Hg.): Soziale Arbeit in ländlichen Räumen. Wiesbaden.
                                                                    S. 17-27.
                                                                Schulz, C. (2017): Postwachstum in den Raumwissenschaf-
                                                                    ten. In: ARL: Nachrichten der ARL 04/2017. Hannover. S.
                                                                    11-14.

12
13
Suffizienz und
 Umweltpsychologie
 Karen Hamann und Josephine Tröger im Gespräch
     Gleich zu Beginn: Was ist eigentlich Umweltpsycho-        der Bahn oder dem Auto zur Arbeit fahren? Kann
     logie?                                                    ich das Rad nehmen? Habe ich die Möglichkeit, im
                                                               Homeoffice zu arbeiten, oder verbietet das meine
     Karen Hamann: Die Umweltpsychologie ist eine              Tätigkeit? Haben wir also überhaupt die Gelegen-
     ziemlich umfangreiche, anwendungsorientierte              heit, uns zu verändern, Dinge zu hinterfragen und
     Teildisziplin der Psychologie, in der eigentlich jede     entsprechend unserer Werte zu handeln? Der vierte
     Form von Mensch-Umwelt-Interaktionen behandelt            genannte Aspekt aus der Studie ist die Verlagerung
     werden kann – das reicht von Architekturpsycho-           von Verantwortung. Denn über Suffizienz wird häufig
     logie über Mensch-Maschinen-Interaktion. Der              als individuelles Verhalten gesprochen, eigentlich ist
     stärkste Fokus liegt jedoch aktuell auf der Erfor-        es aber eine kollektive Aufgabe, die eben von einer
     schung umweltschützenden Verhaltens. Dabei                Gesellschaft und dessen Strukturen ermöglicht und
     verwenden wir meistens quantitative Methoden,             gemeinsam umgesetzt werden muss.
     schauen uns also eine große Anzahl von Menschen           Und klar, die individuelle Perspektive darf nicht weg-
     an, um generelle Trends erkennen zu können.               fallen. Auch hier sehe ich noch großen Forschungs-
     Josephine Tröger: Was zudem an der Umweltpsy-             bedarf zur klareren Definition von Suffizienz und
     chologie sehr besonders ist und ich sehr schätze,         zu den Prädiktoren – also Vorhersagevariablen – für
     ist die große Interdisziplinarität, also der Einbezug     suffizientes Verhalten.
     und die Nutzung von Ansätzen und Methoden diver-          KH: Ich finde es auch sehr sinnvoll, diese Perspektive
     ser Wissenschaftsdisziplinen. Das ist teilweise sehr      kollektiven Handelns stärker zu betonen, besonders
     herausfordernd, bietet aber auch reichlich Chan-          wenn es um Organisationen wie Hochschulen geht.
     cen. Ein Projekt wie die sozial-ökologische Trans-        Durch den Fokus auf individuelles Verhalten wird
     formation ist nur zu bewerkstelligen, wenn viele          leicht die Verantwortung für Konsumentscheidungen
     Disziplinen zusammenarbeiten und -denken.                 auf das Individuum abgewälzt. Dabei ist ein suffizien-
                                                               ter Lebensstil sehr schwer umsetzbar, da er tägliche
     Für viele Menschen ist Suffizienz die anstrengendste      Routinen und langfristige Gewohnheitsänderungen
     und unbeliebteste Nachhaltigkeitsstrategie. War-          erfordert. Verhalten, das man eher der Effizienz- oder
     um fällt suffizientes Handeln so schwer?                  Konsistenzstrategie zuordnen würde, z.B. den Wech-
                                                               sel des Stromanbieters, ist hingegen meist einmalig.
     JT: Weil unsere gegenwärtigen gesellschaftlichen
     Strukturen dafür sehr hohe Hürden etabliert haben         JT: Aus meiner Sicht ist es wichtig zu betonen, dass
     und wir in einem System leben, in dem versucht            Verzichtsorientierung auch eine Rolle bei der Suffizi-
     wird, Suffizienz v.a. auf die individuelle Ebene zu       enz spielt – Suffizienz heißt weniger. Punkt. Doch da-
     verlagern. Dazu habe ich mithilfe von Expert*in-          bei geht es nicht um erzwungenen Konsumverzicht.
     nen-Interviews vier zentrale Hürden und Hebel             Es geht vielmehr um die Einsicht in die Notwendig-
     gefunden: Erstens, Narrative. Damit haben die             keit der Verhaltensänderung aufgrund moralischer
     Expert*innen gemeint: Wie besprechen und be-              Prinzipien und Gerechtigkeitsüberlegungen. Dass
     werten wir als Gesellschaft die Regeln in unserem         das bei manchen Personen eine ganz entscheidende
     System, wie z.B. unsere Wirtschaftsverhältnisse,          Rolle spielt, lässt sich auch empirisch nachweisen.
     unsere ökonomischen Leitbilder – und haben wir            Was im ersten Moment wie Verzicht wirkt – wie die
     überhaupt Gegennarrative? Wird dabei von Ver-             Einsicht, dass ich zu viele Ressourcen verbrauche und
     lust bzw. Verlustangst gesprochen oder von einer          deswegen nicht mehr fliegen möchte – kann Men-
     lebenswerten Zukunft? Der zweite große Punkt sind         schen langfristig stärken, weil sie sich aus Überzeu-
     die Belohnungs- und Anerkennungsstrukturen, die           gung suffizient verhalten.
     in unserer Gesellschaft etabliert sind. Das heißt z.B.:
                                                               Was bedeutet eurer Meinung nach Suffizienz für eine
     Was bedeutet Erfolg für uns selbst, für Gruppen, für
                                                               Organisation wie die Hochschule, die sehr stark auf
     Unternehmen? Hier spielen besonders Wachstum
                                                               Internationalisierung, Exzellenz und wachsende Stu-
     und Steigerung eine zentrale Rolle. Drittens wur-
                                                               dierendenzahlen ausgelegt ist?
     den Zeitinfrastrukturen genannt. Daran entlang
     haben sich viele Pfadabhängigkeiten in unserem
                                                               JT: Internationalisierung sollte nicht gegen Suffizienz
     Alltag etabliert wie z.B.: Muss ich jeden Tag mit
                                                               ausgespielt werden; Suffizienz heißt nicht Protekti-

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onismus oder per se Begrenzung. Ich denke, dass          ausprobiert und erlebt werden. Reine Wissensver-
Suffizienz ganz elementar damit verbunden ist,           mittlung ist nur ein – und oft sogar der kleinere Teil
globale Entwicklungen und Zusammenhänge zu               – der den Weg ins tatsächliche Verhalten zeigt.
betrachten. Aber natürlich sehe ich den Konflikt an-     KH: Dabei stellt sich auch die Frage, ob nicht die
gesichts steigender Emissionen, etwa durch globale       intrinsische Motivation und das Eigeninteresse der
Mobilität. Allerdings hat uns die Corona-Pandemie        Studierenden gestärkt werden sollten, oder ob es
die Möglichkeiten der Digitalisierung gezeigt: Der       nach wie vor bei hochfrequentierter Benotung bleibt,
Wegfall der ein oder anderen Reise zur nächsten          die sie extrinsisch motivieren.
Konferenz hat nicht nur Stress, sondern auch CO2
gespart und digitale Vorträge sind plötzlich weltum-     Wie können studentische Initiativen andere Men-
spannend möglich.                                        schen an ihrer Hochschule von Suffizienz überzeugen?
Für Exzellenz gilt Ähnliches. Das heißt zunächst,
Profile zu schärfen und gute Forschung zu betrei-        KH: Erstmal braucht es wirklich die Vision einer
ben. Ich sehe aber die Schwierigkeit, dass hier ein      suffizienten Hochschule, die am besten gemeinsam
Konkurrenz- und Effizienzdruck in den Hochschu-          mit Studierenden und Mitarbeitenden erarbeitet wird
len entsteht, der dem Suffizienzgedanken wider-          – also nicht nur Top-down, sondern auch sehr viel
spricht. Dennoch kann die Hochschule ja auch nach        Bottom-up. Initiativen würde ich raten, ihre Zielgrup-
qualitativen Kriterien agieren und nach außen auf-       pe im Kopf zu haben, da der Anteil von Menschen,
treten. Letztlich ist es eine Haltung, die auch eine     die sich wirklich suffizient verhalten, ziemlich klein
Organisation vertreten kann, wenn sie es denn will.      ist. Deswegen könnte es sich lohnen, sich erstmal auf
KH: Hier finde ich die Frage spannend, was wir           Menschen zu konzentrieren, die bereits ein Interesse
eigentlich unter Exzellenz verstehen. Darunter           mitbringen, anstatt zu versuchen, direkt alle über-
könnte auch die Frage fallen, was für Studieren-         zeugen zu wollen. Außerdem sollte der Fokus auf der
de und Mitarbeitende ein gutes Leben auf dem             Gruppe liegen, also nicht nur die Verantwortung des
Campus eigentlich ausmacht, was essentiell und           Individuums betont werden, sondern vielmehr » wir
was eigentlich überflüssig ist. Das wäre natürlich       schaffen das zusammen, wir schaffen das als Hoch-
eine Herangehensweise, die den Status Quo nicht          schule «, weil die Hochschule eben auch eine ziem-
einfach akzeptiert, sondern die dazu führt, dass wir     lich bedeutsame Gruppe für Studierende ist. Auch
überhaupt über Suffizienz nachdenken können.             Aktionen in Form von Suffizienz-Challenges könnte
                                                         ich mir gut vorstellen.
JT: Auch bei wachsenden Studierendenzahlen sehe
ich jetzt nicht direkt einen Konflikt mit der Suffizi-   JT: Ergänzend dazu halte ich es für wichtig, dass
enz, weil das Studium ja Bildung und Ausbildung          auch die Initiativen Suffizienz in ihren Strukturen,
zur Befähigung wissenschaftlichen Denkens sein           in ihren Einstellungen authentisch verkörpern und
soll. Insofern kann das auch einen sehr positiven        eine Kultur des » Weniger « vorleben. Ich glaube, in
Effekt haben, weil in den Hochschulen Menschen           diesem neuen Narrativ der Entschleunigung und
sind, die sich für die Zukunft unserer Welt interes-     Genügsamkeit liegt auch ein großer Unterschied zu
sieren und sich dafür auch einsetzen.                    » klassischem « Umweltschutzverhalten, das eher auf
                                                         Effizienz ausgerichtet und noch stärker in die Debat-
KH: An dieser Stelle möchte ich gerne eine provo-
                                                         te um die Begrenzung des Klimawandels mit tech-
kante These aufstellen: Aktuell konsumieren sich
                                                         nologischen Mitteln eingebettet ist. Und ich halte es
Hochschulen und Studierende gegenseitig. Zum
                                                         in diesem Prozess für extrem wichtig, mit anderen
einen ist die Lehre wenig partizipativ, meistens neh-
                                                         Hochschulmitgliedern über Suffizienz zu sprechen
men Studierende Informationen aus Vorlesungen
                                                         und auch gegensätzliche Positionen zu verhandeln.
nur passiv auf. Gleichzeitig sehen wir den Effekt,
dass auch die Hochschulen ihre Studierenden
konsumieren, was sich besonders darin ausdrückt,
dass meist nur die Zahl der Studienanfänger*innen        Karen Hamann
Bedeutung hat, weniger die Zahl der Absolvent*in-        promoviert an der Universität Koblenz-­
nen. Vielleicht wäre ein Weg zu einer suffizienten       Landau zum Thema › Psychologisches
Hochschule, weniger, aber dafür intensivere Lehr-        Empower­ment im Umweltschutz ‹, ist
veranstaltungen anzubieten, verbunden mit einer          Stipendiatin der Deutschen Bundesstiftung
stärkeren Eigenverantwortung der Studierenden.           Umwelt und bringt mit dem Verein Wandelwerk e.V. das
                                                         Wissen der Psychologie in den aktiven Umweltschutz.
Auch die studentische Partizipation könnte noch          (Foto: Claudia Menzel)
sehr viel stärker gefördert werden – hier halte ich
es für sinnvoll, nicht genügsam zu sein, sondern         Josephine Tröger
Mitgestaltungsrechte einzufordern.
                                                         promoviert an der Universität Koblenz-
JT: Hier wünsche ich mir auch noch mehr Freiraum         Landau zu Suffizienz­orientierung, enga-
in Lehrveranstaltungen, damit Studierende ihre           giert sich bei den Scientists for Future und
Potentiale kreativ ausleben und praktische Projekte      hat den S4F-Podcast mit ins Leben gerufen
                                                         (www.s4f-podcast.de).
umsetzen können. Suffizienz muss schließlich auch

                                                                                                                  15
Virtueller Lehr- und
     Erlebnispfad KARN

                                                            Illustr. Foto: Patrick Mueller ■ Unsplash

     Im Rahmen des Umweltprojekts » Grüner Aal « der UN-De-
     kade Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ein virtueller
     Naturpfad entlang der vier Gewässerverläufe um Aalen ent-
     standen. Seitdem kooperiert die Hochschule Aalen mit Or-
     ganisationen rund um Aalen, um an diesem Weg Projekte zu
     realisieren.
     Bisherige Erfolge:                                  Hochschulbereich
     Aalener Schulen haben Patenschaften von ein-          Lehre
     zelnen Wegabschnitten übernommen. Nachhal-            Forschung
     tigkeit ist durch den Pfad direkt zu erfahren und
                                                           Betrieb
     Aalen unmittelbar zu genießen. Letzteres gelingt
     durch die in das Projekt eingebundenen Museen         Governance
     und Erlebnisbereiche wie z.B. Spielplätze.            Transfer

     Besteht seit:                                       Initiiert von
     2010                                                  Studierenden
                                                           Lehrenden / Forschenden
     Hochschule &
                                                           Verwaltungsmitarbeitenden
     Kooperationspartner*innen:
                                                           Hochschulleitung
     Hochschule Aalen, Stadt Aalen und Bildungsträger
     der Stadt Aalen                                       Lokale Agenda 21

     Kontaktdaten für Interessierte:
     Prof. Dr. Ulrich Holzbaur
     ulrich.holzbaur@hs-aalen.de

16
Entschleunigung

KONTEXT
                                                        und barrierefrei gestaltet sein. Studierende haben
                                                        bereits die erste KARN-Tafel entworfen, die an der
                                                        Hochschule aufgestellt wird.
Der virtuelle Lehr- und Erlebnispfad KARN (Ko-
                                                        Die Grundstruktur und der Name orientieren sich
cher-Aal-Rombach-Nachhaltigkeitsweg) ist ein
                                                        dabei an den Gewässern Kocher, Aal und Rombach.
gemeinsames Projekt der Hochschule Aalen, der
                                                        Aufgrund der geologischen Besonderheiten der Aa-
Lokalen Agenda 21 Aalen und der Stadt Aalen. Er
                                                        lener Bucht bilden sie fast ein Rechteck. In diesem
entstand aus dem Wunsch, den Bürger*innen inter-
                                                        fließt der Rombach mit seinen Nebenbächen von
aktiv und raumbezogen in Landschaft und Stadt das
                                                        der Quelle zunächst nach Süden, als Aal nach Osten
Thema Nachhaltigkeit nahezubringen. Überdies
                                                        und in Aalen mündet er in den nordwärts fließen-
soll der Pfad durch die Interaktion und den persön-
                                                        den Kocher, der nach Westen in Richtung Rhein
lichen Bezug auch Verhaltensänderungen bewirken.
                                                        abbiegt.
Im Laufe der Zeit sind Ideen aus vielfältigen Projek-
ten eingeflossen.
KARN besteht aus Teilwegen zu Themen der nach-
                                                        ZIELE
haltigen Entwicklung in und um die Stadt Aalen.            Vermittlung von BNE
Diese lassen sich zu einem Rundweg zusammenstel-           Interaktion und Motivation durch Beteiligung
len. Die Informationsvermittlung geschieht primär          und eigene Beiträge
durch Social Media (Facebook), soll aber durch             Herstellen eines persönlichen Bezugs zum The-
Apps, Flyer und Webseiten ergänzt werden. Entlang          ma und von Betroffenheit
des Pfads sollen kleine Schilder mit QR-Codes auf          Integration von Aktions- und Erlebnisorientie-
den Pfad und seine Verlinkungen aufmerksam                 rung mit raumbezogenen Komponenten
machen. Die Besucher*innen können auf Facebook             Integration von BNE und Social Media
auch selbst Inhalte, Bilder und Erlebnisberichte           Einbindung von Studierenden in Konzeption
einstellen (User-generated content, Web 2.0). Da-          und Umsetzung
mit werden die Besucher*innen zu Beitragenden,             Ansprache und Einbindung von Jugendlichen
die Wanderer zu Redakteur*innen. In den letzten
Jahren hat sich gezeigt, dass die Besucher*innen        BEZUG ZU SUFFIZIENZ
umfangreichere Informationen vor Ort wünschen.          ... Verhaltensänderungen durch Motivation und Auf-
KARN wurde deshalb um einige Tafeln ergänzt, die        zeigen von Konsequenzen: Das können direkt sicht-
auf den Weg und lokale Highlights hinweisen.            bare Veränderungen sein, die von Besucher*innen
Der Pfad greift Themen wie Stadtentwicklung, Wirt-      dokumentiert und in die KARN-Medien eingegeben
schaft und Industrie, Rohstoffe und Geologie, Bio-      werden (z.B. Fotos auf Facebook) oder komplexere
diversität, Integration und Inklusion, Ernährung,       Zusammenhänge, die das Redaktionsteam oder die
Wasser, Energie etc. auf und vernetzt diese mit der     Studierenden einpflegen.
Region und untereinander.                               ... direkte Verhaltensänderungen durch Aufzeigen
Die Konzeption des Pfads integriert Aktions- und        von Alternativen im Rahmen der KARN-Informati-
Erlebnisorientierung mit raumbezogenen Kompo-           onen zu Müll, Naturschutz, Einkaufsverhalten und
nenten. Zudem werden Bildung für nachhaltige Ent-       dem Umgang miteinander.
wicklung und Social Media verknüpft und inhaltli-       ... Verhaltensänderungen und Wertewandel hin zu
che Elemente der Geologie, Geschichte, Wirtschaft       einer nachhaltigen Entwicklung, indem ein Ver-
und Ökologie ebenso aufgegriffen wie gesellschaftli-    ständnis für globale Zusammenhänge anhand lo-
che Fragestellungen, Aspekte der Stadtentwicklung       kaler Bezüge vermittelt wird: z.B. Klima, Wetter und
und des Grünflächen- und Klimaschutzkonzepts der        Hochwasser; Ressourcen und Geologie; Flüchtlinge
Stadt Aalen. KARN bezieht das lokale Umfeld der         und Wohnsitzlose und globale Krisen; Wirtschaft
Bürger*innen und moderne technische Entwicklun-         und Energie; Stadtentwicklung; Natur und Grünflä-
gen ein, um globale Zusammenhänge zu vermitteln         chen uvm.
und insbesondere Jugendliche zur Mitgestaltung zu       ... Veränderungen des Konsumverhaltens im Be-
aktivieren.                                             reich der Mobilität, da die Leute zum Bewandern
Die Komponenten von KARN wurden in studenti-            des Pfads und weiterer Routen (Panoramaweg,
schen Projekten der Hochschule Aalen mit Unter-         Lehrpfade) motiviert werden.
stützung des Grünflächen- und Umweltamtes der
Stadt erstellt. Neben Inhalten und Konzepten haben
Studierende konkrete Implementierungen in Form
                                                        AUFBAU UND INHALT
von Flyern und Facebook-Seiten sowie im Gelände         Akteur*innen der Hochschule und der Lokalen
vorgenommen. Sie wirken als Redakteur*innen             Agenda 21 (Projektgruppe BNE / Grüner Aal) sam-
der KARN-Facebook-Seite mit. KARN selbst soll           meln Ideen. Daraus entstehen Themen für studenti-
im Internet und in der Realität möglichst partizi-      sche Projekte, die von den Projektteams in Ziele und
pativ, generationsübergreifend, umweltschonend          konkrete Aktionen umgesetzt werden.

                                                                                                               17
Die Schwerpunkte der studentischen Projekte vari-       erkannt. Das ermöglicht, den Pfad und das Konzept
     ieren jedes Semester. Beispiele für Projektschwer-      auf die Region Ostwürttemberg zu erweitern (Rems,
     punkte sind:                                            Jagst, Brenz).
        inhaltliche Themen wie z.B. Ressourcen, Wasser       Die Lokale Agenda 21 trägt mit den Projektgruppen
        und Politik                                          Grüner Aal und Weststadt zur Entwicklung von
        Themen über den Pfad wie z.B. Barrierefreiheit       KARN bei. Einige der beteiligten Schulen der erstge-
        und Erlebnisorientierung                             nannten Projektgruppe liegen am KARN-Weg und
        technische Themen wie z.B. GPS und QRC               integrieren u.a. diesen in ihr Lehrkonzept.
        räumliche Themen wie z.B. Innenstadt, Quartier,
        Bachabschnitt und Biotop
        aktionsorientierte Themen wie z.B. KARN-Wan-
                                                             STUDENTISCHE PARTIZIPATION
        derung, Umfrage und Schilder                         In fast jedem Semester sind Studierende über
                                                             lehrveranstaltungsbegleitende Projekte eingebun-
     ERGEBNISSE                                              den (siehe oben). Die Teams bekommen eine grobe
                                                             Aufgabe und können Inhalt, thematische Schwer-
     Der KARN-Weg existiert vor allem als virtueller
                                                             punkte und operative Ziele selbst bestimmen. Die
     Pfad im Rahmen einer Facebook-Seite. Diese hat
                                                             studentischen Projekte haben zum Konzept, zu
     inzwischen über 220 Likes bzw. Follower. Über zehn
                                                             einzelnen Punkten und zur Facebook-Seite (als Ad-
     Teams führten die Seite weiter. Bei engagierten
                                                             ministrator*innen / Redakteur*innen) einen Beitrag
     Teams fungierten die Projektleiter*innen gleich-
                                                             geleistet.
     zeitig als Administrator*innen. Diese Teams haben
     auch den Pfad weiterentwickelt und spezielle The-       Neben den Studierenden sollen auch Schüler*innen
     men (Ökologie, Wasserkraft, Unternehmen in der          über studentische Projekte in das Projekt KARN
     Aalener Geschichte, Nutzungskonflikte etc.) vertieft.   eingebunden werden.
     Weitere Gruppen haben Erweiterungen aus dem
     Rechteck Rombach-Aal-Kocher heraus in Rich-
     tung des Ursprungs des Kochers vorgenommen.
     Außerdem wurden weitere Gewässer und lineare            UMSETZUNG
     Strukturen (historische Bahntrasse) betrachtet.            2010: Konzeption virtueller Pfad
     Es gab Gruppen, die den Schritt vom Virtuellen             2012: Einbindung der Schulen im Grünen Aal
     zum Reellen gemacht haben. Circa 60 Studierende            2013: Start Facebook-Seite, kontinuierlicher
     beteiligten sich bislang direkt am Projekt, ungefähr       Aufbau
     800 wurden durch Semesterpräsentationen oder               2014: Anerkennung als Beitrag zu UN-Dekade
     kooperative Projekte erreicht.                             BNE
     Der KARN-Weg sensibilisiert und stellt Bezüge zur          2016: Ausbau der virtuellen Pfade auf Facebook
     Lebensrealität der Bürger*innen her. Dadurch wan-          2018: Durchführung Befragung – Teilnehmer*in-
     delt sich z.B. das Konsum- und Tourismusverhalten.         nen wünschen sich auch eine physische Präsenz
     Der Pfad vermittelt direkt auf der Strecke und durch       2019: Konzeption Beschilderung für 2020 (Verzö-
     Fotos Ansätze des Gelingens. Der Weg soll weiter-          gerung durch Corona)
     hin eine touristische Bereicherung sein sowie zur          2021: große Tafel und QRC-Schild an der Hoch-
     Naherholung einladen. Letztlich dient er auch der          schule
     Vernetzung der beteiligten Schulen und Bildungs-           2022: Hinweistafeln an markanten Punkten,
     träger. Die Schulen sind dabei direkte Anlieger des        QRC-Codes an allen Stellen
     KARN-Wegs, Beteiligte an Biotopen oder anderen
     Objekten, Beitragende zur Weiterentwicklung, zur        ERFOLGS­FAKTOREN
     Integration von KARN in den Grünen Aal oder allge-         Methoden PPM und ESPRESSO
     mein zur Bildung für nachhaltige Entwicklung.              Kooperation mit den Agenda-Gruppen Weststadt
                                                                und Grüner Aal
     VERSTETIGUNG                                               Kooperation mit Schulen, Stadtverwaltung und
                                                                Museen
     Durch die Projektmethoden PPM (Prepared Project
     Method) und ESPRESSO (Sustainability Projects)
     sind die studentischen Projekte fest in die Lehre
                                                             HERAUS­FORDERUNGEN
     der Hochschule integriert. KARN sowie die Themen        Herausfordernd waren die Prozesse bei der Stadt
     Regionalität und Suffizienz spielen im Rahmen des       und die Zuständigkeiten bei der Aufstellung von
     Projektportfolios in jedem Semester eine Rolle.         Informationstafeln im öffentlichen Raum.
     Das lokale Bildungsnetzwerk Nachhaltigkeit              Solange der KARN-Weg rein virtuell bleibt, müssen
     Ostwürttemberg (BN²OW) wurde durch die United           keine rechtlichen Schritte berücksichtigt werden.
     Nations University zur Bildung für eine nachhaltige     Zu beachten ist natürlich, dass Besucher*innen
     Entwicklung als Regionales Kompetenzzentrum an-         nicht in riskante oder gesperrte Gebiete geleitet wer-

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